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17

Sie kamen erst gegen zwei Uhr in den kleinen Gasthof »Zum Leopoldsteiner See«; die schattendunkle Veranda ging auf den See hinaus und duftete stark nach feuchtem Holz und Schilf.

Sie bestellten Forellen, die ihnen die Wirtin selbst brachte. Das war eine noch junge Frau, blühend und lachend, die mit ihnen schnell ins Gespräch kam und erzählte, sie sei sehr glücklich, obwohl ihr Mann sechs Tage in den Hüttenwerken in Hieflau arbeite und nur über den Sonntag herüberkäme.

Sie hatte zwei Kinder, ein zehnjähriges Mädchen und einen kleinen Buben, der vier Monate alt war. Erik bat sie, das Kind zu bringen. Es war schläfrig, wackelte mit seinem blonden, fast kahlen Köpfchen hin und her, schloß die Augen, geblendet vom Licht, und griff mit den winzigen Fingerchen der Mutter ins Gesicht.

Helene verlangte von Erik, er möge Mutter und Kind photographieren. Obwohl er nur zwei Platten übrig hatte, erfüllte er Helene den Wunsch. Fast eine Stunde lang saßen die drei beisammen beim Tisch, und Frau Ahorner, die Wirtin, erzählte von ihrem Leben.

Als Helene sie nach ihren Wünschen fragte, überlegte sie eine Weile, und dann fragte sie, ob der Kaiser sehr alt sei; sie möchte ihn noch sehen, aber erst dann, wenn Franzi, der kleine Bub, groß wäre und als Soldat in Wien bei den Deutschmeistern dienen würde.

Dann fragte Helene, ob man in dem See baden könne. »Ja«, meinte Frau Ahorner, »aber nicht hier, wo fast nie die Sonne herüberkommt, sondern nur an dem kleinen, flachen Stück drüben, wo der Sonnenschein das Wasser erwärmt, – und auch nur an so heißen Tagen wie heute.« Und ob die Herrschaften Badekleider wollten, sie hätte noch welche von Sommergästen, die vor drei Jahren hier gewesen wären; sie wollten wiederkommen, hätten aber ihr Versprechen nicht gehalten. Die Dame hätte akkurat die Statur der gnädigen Frau gehabt – und die Herren behülfen sich so leicht.

Helene ging mit der Wirtin; aus einem geschnitzten und altertümlich bemalten Kasten wollten sie die Badekleider herausnehmen.

In der einen Minute, die ihn Helene allein ließ, starrte Erik auf das Wasser hinaus, das wie Käferdecken grün irisierte und leuchtete.

Ihm war, als verlöre er plötzlich das klare Bewußtsein und eine leise, unsagbar vertraute Stimme spräche ihm zwei Vokale vor: einen tiefen, e, crescendo hervortretend hinter dunklem Vorhang mit weißen Armen und zarten Fingern – und einen leisen, flüsternden, i, demütig ins Schweigen zurückkehrend im Diminuendo –, wie der Seufzer in der Mozart-Sonate. »Edith«, sagte es und rührte mit weichen Fingern an sein Herz; er fühlte ein fast schmerzliches Zucken in seiner Brust, körperlich erschreckend.

»Was ist dir, Erik? Du erschrickst?« fragte Helene.

Er antwortete nicht, er konnte nicht sprechen; er fürchtete sich vor dem Gedanken; er war nicht mehr aufrichtig gegen seine Geliebte, das fühlte er.

Aber alles rings um sie schwieg das sonnendurchglühte Schweigen des Pan – da hörte Helene aus Eriks Schweigen nicht die Lüge, sie hörte nur wortlosen, beglückenden Frieden, sie fühlte nur mittägliche Glut, langsam verzitternd in einen wolkenlosen Abend.

Dann ruderten sie wieder hinaus, das flache Ufer schien so nah in der unbeschreiblich klaren Luft, in der fast vollkommenen, pianissimo singenden Stille.

Endlich kamen sie hinüber. Der Kahn stieß kreischend an die Kiesel. Helene nahm ihr Badekleid und lief das Ufer entlang, hinter graugrüne Weidenbüsche, die sie verbargen.

Erik ruderte wieder hinaus, ließ sich in das Wasser hinab und stieß den Kahn vor sich her, bis an das flache Ufer, und machte ihn an einer Weide mit der Eisenkette fest. Dann schwamm er wieder in die wunderbare, laue, liebkosende Bläue des Sees hinein, schloß die Augen – ließ sich willenlos treiben –, hörte hinter sich leises Plätschern. Helene schwamm mit ihren schlanken Gliedern sehr anmutig und sicher; sie kam ihm nach. Immer weiter; das Ufer lag undeutlich hinter ihm; es wurde langsam dunkel.

Ein kleiner Schneefleck oben auf einer steinernen Wand wurde zitronengelb, dann leicht rot, wie eine unreife Erdbeere, dann tief dunkelblau. Helene schwamm ruhig neben Erik. Er haschte nach ihrer Hand; sie entschlüpfte ihm; er fing sie wieder. Dann nahm er die andre, sie wollte sie ihm nicht geben; wie im Scherz kämpften sie miteinander und mußten, um das Gleichgewicht zu halten, mit den Beinen das Wasser schlagen, so daß es rauschte.

Und in diesem scherzhaften Kampf erwachte in ihm die Begierde nach ihr, eine namenlose, wild beängstigende Begierde stieg in ihm empor, floß herüber von ihr zu ihm, von jedem ihrer Finger, von ihren Augen, von ihren Bewegungen, die sich gegen ihn sträubten und sich gegen ihn wehrten. Er flüsterte ihr zu, er flüsterte wie damals auf der »Hohen Warte«, auf dem Weg zu seiner Villa: »Komm zurück, Helene!«

Aber sie sah ihn an, biß die Zähne zusammen und sagte: »Laß mich los – ich will nicht, Erik.«

»Komm zurück, oder –« seine Stimme war heiser, seine Augen weit, wie nachterschreckte Kinderaugen, dunkel, die Pupillen riesengroß. »Komm zurück, oder ... – du!«

Plötzlich ließ all ihre Kraft nach, und sie wäre untergesunken, wenn er sie nicht gehalten hätte. Aber das alles war so unsagbar – die Liebkosung des warmen, klaren Wassers, die Liebkosung seiner herrischen Worte und Blicke. Ganz berauscht ließ sie sich nach dem Ufer ziehen. Sterben – jetzt sterben vor dem Glück, das da auf sie wartete! Wie schön, wie schön! Wie süß! – Das Ufer war noch weit – jetzt noch fünfzig Meter, jetzt zwanzig, jetzt fünf, jetzt stieß sie schon an den Boden und mußte über den steinigen Grund gehen. Aber der Schmerz der vielen spitzen Kiesel und Muscheln war Wollust. Zwei Schritte vom Ufer – nun lehnte er sich an sie und nahm sie in die Arme, Mund an Mund, Brust an Brust, Hüfte an Hüfte. Er küßte sie mit harten, wilden Lippen, löste das Badekleid von den Schultern, mit zitternden, ungeschickten Händen.

Sie stand da, hilflos durchschauert, langsam von ihm entkleidet. Er warf das Kleid weit weg in das dunkelnde Wasser. Weiß leuchtete ihr Körper durch die sommerliche Dämmerung.

Ungeschickt gingen sie über das steinige Ufer gegen den Rasen, auf dem Helenes Kleider lagen. Aber sie waren erst in der Mitte des Weges, da verließ Helene die Kraft – sie blieb stehen; das einzige Wort sagte sie – verlangend, dürstend, vergehend vor Sehnsucht und doch rein in ihrer Leidenschaft, das zärtlichste, tiefste Wort, das einzig vertrauende: »Du!«

Diese Nacht fühlte Helene als ihre erste Liebesnacht. Es standen schon zitternd die Sterne auf dem kleinen zackigen Stück Himmel über ihnen – durch ein wundervolles Dunkel leuchtete das Licht des kleinen Wirtshauses »Zum Leopoldsteiner See«, als Erik und Helene wieder den Weg suchten zu der Wirklichkeit um sie.

Erik ruderte, den Kopf gebeugt, halb im Traum hörte er Helene schluchzen – sie weinte erst erstickt, dann laut mit einer müden Verzweiflung. Er verstand sie nicht; er wußte nicht, daß der tiefsten Wonne tiefste Müdigkeit folgt.

Erik wollte sie trösten; er strich mit der Hand über ihr Haar; das war feucht. Sie schluchzte, so sehr sie sich auch beherrschen wollte.

»Sei mir nicht böse!« Es kam in einzelnen Worten ganz langsam heraus. – »Sei mir nicht böse – ich – kann – nichts – dafür.«

Und plötzlich fühlte er ihre weichen, feuchten Lippen auf seiner Hand.

Sie kamen erst nach acht Uhr in den Gasthof. Erik raffte sich dann auf, ein Zimmer zu bestellen – sie sprachen nicht mehr – warfen sich ohne Licht ins Bett und schliefen traumlos in den Morgen.


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