David Friedrich Weinland
Rulaman
David Friedrich Weinland

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15

Obu erlegt seinen Bären

Obu wollte Mann werden; er mußte einen Bären erlegen. Das wußte Rulaman und versprach ihm seine Hilfe.

Ohne jemand etwas von ihrem Vorhaben mitzuteilen, verließen die beiden in einer Nacht wohlbewaffnet die Tulkahöhle.

Es war Spätherbst. Die alten Höhlenbären hatten sich nach fetter Herbstmast bereits in ihre Höhlen zur Winterruhe zurückgezogen, während die Jungen, die ein-, zwei- und dreijährigen – denn der Bär braucht fünf Jahre, bis er ausgewachsen ist – noch in der Nähe der Winterhöhle der Mutter herumstreiften. Nur zeitweise, an warmen Tagen, erschien noch die Alte. Jedenfalls aber war sie immer bereit, einem Jungen in Not zu Hilfe zu eilen.

Obu hatte etwa eine halbe Sonne, das heißt Tagereise weit von der Tulka entfernt, nach der Nallihöhle hin, den Felsschlupf einer Bärenfamilie ausgekundschaftet. Es war ein einzelner Fels mitten in einem dichten Kiefernwald. Unten ausgehöhlt und nach Süden geneigt bildete er eine tiefe, wettergeschützte Grotte. Etwa eine Viertelstunde davon entfernt auf einer kleinen Waldblöße stand ein alter Holzapfelbaum, dessen Früchte Bären und Menschen – jene bei Nacht, diese bei Tag –- eifrig sammelten. Dort hatte Obu einen Pestun mit zwei Jungen vom letzten Jahre gesehen. Pestun nannte man den drei- bis vierjährigen, nahezu erwachsenen Bären, der bis zu seiner Volljährigkeit bei der Alten blieb und förmlich die Dienste eines Knechts, besonders eines Kinderwärters, verrichten mußte. Ihre Spuren verfolgend, hatte Obu auch den Schlupf der Alten entdeckt.

Gegen Morgen langten die beiden Freunde in der Nähe des Apfelbaums an, versteckten sich in einem dichten Gebüsch und lauerten. Es wurde heller Tag, und kein Bär wollte sich zeigen. Ein Eichelhäher kam auf den Baum geflogen, und dieser Verräter der Jäger hatte sie kaum erblickt, als er laut kreischend im Kreis über ihnen herumflog, recht als wollte er sagen Hier sind sie! Wütend legte Obu einen Pfeil auf seinen Bogen und schoß ihn herunter.

Es lohnte sich nicht mehr, auf die Bären zu warten, denn am Tag, das wußten sie, verließen diese ihre Höhlen selten in menschenbewohnten Gegenden. Sie suchten nach frischen Spuren unter dem Apfelbaum, und bald fanden sie deren genug. Viele der kleinen, herben, gelben Äpfelchen waren angebissen und wieder weggeworfen worden. Das konnten nur die kleinen, übermütigen Bärchen getan haben. Auch fanden sie Bärenhaare am Stamm des Apfelbaums, wo sich die Kleinen das Fell gerieben hatten. Obu und Rulaman waren darüber sehr vergnügt, obgleich sie nun warten mußten bis zur nächsten Nacht.

Vorsichtig und sorglich, um keine Spur zurückzulassen, schlichen sie sich fort, wohl eine Stunde weit, schossen auf dem Weg einige Wildtauben zum Morgenimbiß, machten Feuer an und verzehrten sie mit jugendlichem Hunger.

Auf einmal hörten sie ein Flüstern von Stimmen in der Nähe. Es war ein junges Mädchen mit kleinen Kindern, vermutlich aus der ungefähr eine Meile entfernten Nallihöhle, die Brombeeren gesucht und dem Rauch, den sie von ferne gesehen hatten, nachgegangen waren. Als sie sahen, daß es Fremde waren, erschraken sie und wollten davonspringen. Obu aber rief sie herbei und gab ihnen von den Tauben zu essen. »Wie heißt du?« fragte der Jüngling das Mädchen, »bist du nicht die schöne Ara von der Nallihöhle?«

»Ich heiße Ara« antwortete sie schüchtern. »Der Nargu von der Nallihöhle ist mein Urahn.«

Bild: Die Jünglinge lernen die schöne Ara kennen

Die Jünglinge lernen die schöne Ara kennen

Mit Wohlgefallen ruhten die Blicke Obus auf der schönen Gestalt, denn sie war groß und schlank und heller von Farbe als die anderen Aimatmädchen. Ihre Haare waren nicht straff, sondern flossen wellig und weich über den Rücken hinunter und wurden auf dem Kopf zusammengehalten von einem breiten, glänzenden Kupferreif; ihre großen, dunklen Augen leuchteten wie die Sonne und erwärmten den, den sie anblickten. Auch trug sie kein Fellkleid, sondern ein rotes Röckchen aus Wolle, wie es Obu und Rulaman nie gesehen hatten.

Rulaman fragte das Mädchen: »Woher hast du den glänzenden Reif und das schöne Kleid?«

»Sie sind von meinem Ahn, dem Nargu«, antwortete Ara; »er hat noch schönere zu Hause in seiner Grotte. Er sendet Boten weit nach dem Aufgang der Sonne zu den Kalats, und die Boten bringen sie mit. Er hat auch glänzende Armringe aus Sonnenstein und Halsketten und große, glänzende Messer und Beile. Aber er will sie niemand zeigen als nur mir, denn er hat mich lieb.«

Lange saßen sie dort zusammen im Wald und plauderten miteinander wie Kinder. Dann streiften sie herum und schossen einige Vögel. Mittags wurde nochmals ein gemeinschaftliches Mahl gehalten und nachher getanzt.

Es wurde Abend, die Nallikinder mußten nach Hause. Obu nahm seine schöne Zahnkette vom Hals und reichte sie dem Mädchen zum Abschied. Sie nahm sie an und dankte mit einem freundlichen Blick.

Von der beabsichtigten Bärenjagd hatten sie vorsichtig geschwiegen. Jetzt aber war es höchste Zeit, zurückzukehren auf den Anstand.

Mit angefeuchteten Fingern erforschten sie die Windrichtung und legten sich dieser entsprechend so in ein Gebüsch, daß der Wind von dem Bärenwechsel her zu ihnen kam.

Es wurde finstere Nacht, alles blieb still. Sehnsüchtig warteten sie auf den Mond, der um Mitternacht aufgehen sollte. Endlich erschien er und erleuchtete taghell die Waldblöße und den Apfelbaum vor ihnen.

Der Wald rings herum war herbstlich braun; weiße Birkenstämme glänzten da und dort aus dem Dickicht hervor. Einzelne gelbbelaubte Äste, die weit in die Lichtung hereinragten, leuchteten goldig im Mondlicht. Die Blätter zitterten im leichten Herbstwind und warfen unheimlich bewegte Schatten auf den Boden. Da der Wald größtenteils schon entlaubt war, konnten sie weit in der Richtung sehen, aus der sie die Bären erwarteten. »Die Sonne der Jagd« - so nannten sie oft den Mond – »ist uns Freund«, sagte Rulaman. Obu antwortete nicht. Er schien zu träumen. Dachte er an das schöne Nallimädchen?

»Lege deinen Pfeil auf«, flüsterte Rulaman, »rasch, sie kommen!« Er hatte in weiter Ferne ein leises Knistern im Laub gehört. Das Geräusch kam näher. Noch konnte man nichts sehen. Plötzlich ertönte das schrille Kreischen eines jungen Bären.

»Der Kleine hat eine Ohrfeige von dem Pestun erhalten«, flüsterte Obu; »vermutlich ist er vorausgelaufen.«

Es währte noch eine halbe Stunde. Endlich sahen sie einen breiten Schatten, es war der Pestun, und hinter ihm trollten demütig zwei runde, mollige Bärchen.

Noch trat der Pestun nicht heraus auf die Lichtung, sondern lief, immer im dichten Gebüsch sich haltend, am Rand hin und her. Endlich wagte er es. Sobald er den freien Platz betreten hatte, richtete er sich auf den Hinterpranken auf, und, den Kopf hoch in die Höhe reckend, schnüffelte und windete er nach allen Seiten. Es war, obgleich noch ein junger Bär, doch ein stattliches Tier, weit über Mannshöhe und bedeutend größer als der erwachsene braune Bär von heute.

Unsere jungen Jäger zitterten vor Freude. Sie hatten ihren Platz gut gewählt. Der Bär witterte sie nicht. Vollkommen beruhigt, trollte er nach dem Apfelbaum zu, die runden, braunen Kleinen hinter ihm her. Mit wahrer Gier warfen sich diese auf die heruntergefallenen Äpfel und kauten und schmatzten nach Herzenslust.

Längst lagen die Pfeile auf den Bogen, und die Sehne war halb gespannt. Sie erwarteten, daß der Pestun den Baum besteigen würde, um frische Äpfel zu holen und zu schütteln. Erst wenn er dort oben war, wollten sie auf ihn schießen. Dann durften sie hoffen, ihm eine größere Anzahl Pfeile beizubringen, ehe er sich auf sie stürzen oder flüchten konnte.

Aber der Pestun schien sich heute die heruntergefallenen Äpfel genügen zu lassen. Er suchte sich die besten auf dem Boden aus und dabei kam er immer näher an das Gebüsch, hinter dem Rulaman und sein Freund knieten.

Die Kleinen hatten genug gefressen, denn sie wälzten sich voll Wohlbehagen auf den Äpfeln herum. Wenn der Pestun jetzt fortging, ohne den Baum zu besteigen, so war nochmals eine Nacht verloren.

Sollte man es wagen, ihn auf dem Boden zu schießen? Beide hatten diesen Gedanken, aber von Zuflüstern war keine Rede mehr.

Jetzt war der Pestun nur noch sechs Schritte von ihnen entfernt. Nun hatte er auch plötzlich von ihnen Wind bekommen. Blitzschnell richtete er sich auf und schnüffelte in ihrer Richtung.

Wie auf ein Zeichen blickten sich Obu und Rulaman an, und im nächsten Augenblick schwirrte der Pfeil Obus. Er sollte den ersten Schuß allein haben, darüber waren sie einig geworden.

Mit einem fürchterlichen, aber kurzen Gebrüll stürzte der Bär nach hinten über. Er war offenbar ins Herz getroffen, denn bald stöhnte er nur noch leise, rollte auf dem Boden hin und zurück, stampfte mit den Beinen und schien tot.

Kreischend und grillend sprangen die beiden Kleinen nach dem Pestun hin, krallten sich in sein dickes, schwarzbraunes Fell ein und blickten so halbversteckt in Todesangst um sich.

Es war still geworden, denn auch die kleinen Bärchen wagten kaum zu atmen. In weiter Ferne antwortete ein dumpfes Geheul auf den Todesschrei des Pestun.

Wie Habichte schossen die jungen Jäger voll Siegeslust auf ihre Beute los. Natürlich konnten sie nur daran denken, den Kopf des Tieres und ein Junges heim zu bringen. Die Höhle der Alten war so nah, daß sie in kürzester Frist zur Stelle sein konnte. Dieser in ihrer Wut waren sie nicht gewachsen. So schnell als möglich wurde der Kopf des Pestun abgeschnitten und an einen Riemen gebunden, um ihn über die Schulter zu hängen. Dann fesselten sie einem der Kleinen die Füße, rissen den Siegespfeil aus, um ihn als Zeichen mitzunehmen, und fort ging es, in rasender Eile der Heimat zu, Obu den schweren Kopf des Pestun, Rulaman das kleine Bärchen auf dem Rücken.

Nur einige hundert Schritte waren sie gelaufen, da versagte ihnen wegen der schweren Last der Atem. Einen Augenblick hielten sie an und horchten. Noch war es totenstill.

Wieder rannten sie eine Strecke vorwärts, und wieder hielten sie an. Da hörten sie den Kleinen, den sie bei dem toten Pestun zurückgelassen hatten, jämmerlich schreien. Gleich darauf erdröhnte der ganze Wald von dem furchtbaren Wutgebrüll der Alten. Offenbar war sie schon zur Stelle. Die jungen Jäger wußten, daß sie sich eine Zeitlang mit dem Kleinen und mit dem toten Pestun zu schaffen machen würde, ehe sie an Verfolgung dachte.

Was war zu tun? Um keinen Preis hätte Obu den Kopf zurückgelassen, ebensowenig Rulaman seine Beute. Also weiter!

Um sich blickend, sah Obu im Mondschein deutlich den Schatten der ungeheuren Este, so nannte man den alten weiblichen Bären, hinter ihnen auf ihrer Fährte.

Vorsichtig hatten die beiden in ihrem Lauf Ränke, das heißt scharfe Zickzackwindungen gemacht, um die witternde Alte zu verwirren.

Aber bald war diese so nah, daß an weitere Flucht nicht zu denken war. Also auf einen Baum und zwar einen, der schwach genug war, daß die Bärin nicht daran denken durfte, ihn zu erklettern, aber auch dick genug, daß diese sie nicht herabschütteln konnte. Ein solcher fand sich bald; es war eine weit hinauf astlose Fichte, die mit Windeseile erklettert wurde.

Jetzt erst, hoch in den Ästen des Baumes, atmeten sie leichter. Noch war die Gefahr schrecklich genug, und doch fühlten sie sich schon fast gerettet.

In raschem Trott, immer wieder die Nase auf dem Boden, zuweilen auch den Kopf in die Luft reckend und windend, sahen sie die Este, genau auf dem Weg, den sie zurückgelegt hatten, auf ihren Baum zukommen. Sie banden den Bärenkopf und das Junge an einen Ast, nahmen Bogen und Pfeile von der Schulter und machten sich zum Empfang des Feindes bereit. Noch hatte jeder Pfeile genug, das war ein Trost.

Die Alte ließ nicht lange auf sich warten. Unten am Baum angekommen schien sie einen Augenblick verwirrt, als die Spur nicht weiter ging. Sie lief im Kreis um die Fichte herum, dann richtete sie sich in ihrer ganzen Größe auf und windete zu der Krone des Baumes hinauf. Sie erblickte die Jünglinge und stieß einen furchtbaren Wutschrei aus. Kreischend antwortete das gebundene Kleine vom Ast herunter.

Im selben Augenblick schossen Rulaman und Obu ihre Pfeile ab. Ohne sich darum zu kümmern, faßte die Alte den Baum und schüttelte ihn so, daß sie sich mit ganzer Kraft festklammern mußten. Dann versuchte die Este, den Baum umarmend, ihn mit ihrem Gewicht zu Boden zu drücken. Der Baum krachte, aber er stand noch fest. Jetzt kratzte und biß sie in ihrer Wut die Rinde ab. Endlich ließ sie sich ermattet am Fuß der Fichte nieder und starrte schnaubend und von Zeit zu Zeit kurz brüllend hinauf.

Sobald der Baum nicht mehr schwankte und unsere Jäger die Arme wieder frei hatten, flog ein Pfeil nach dem anderen auf die Bärin herunter. Die Este beachtete das kaum und schlug nur dann und wann einen, der etwas tiefer ins Fleisch eingedrungen war, ärgerlich mit der Pratze ab.

Jetzt traf sie ein Pfeil ins Auge. Der rasende Schmerz durchzuckte den ganzen mächtigen Körper, sie drehte sich taumelnd im Halbkreis nach der Seite des verwundeten Auges, legte sich nieder und riß stöhnend den Pfeil aus dem Auge heraus.

Jubelnd rief Obu Rulaman zu: »Ein Auge ist fort; wenn wir das andere noch treffen, sind wir gerettet!«

Indes war das Kleine, das die Este in ihrer Aufregung bei dem Pestun zurückgelassen hatte, nachgekommen und sprang freudig quiekend auf die Mutter zu. Und die Alte, obgleich aus wohl dreißig schmerzenden Wunden blutend, nahm es in ihre Arme und herzte und leckte es.

Kaum hörte das kleine Bärchen oben auf dem Baum die Stimme seines Zwillingsbruders, so fing es aufs neue kläglich zu winseln an. Das erinnerte die Este wieder an ihre Feinde. Es schien der Halbblinden plötzlich ein neuer Gedanke gekommen. Sie begann den Baum an der Wurzel auszugraben. Schon hatte sie einige der Hauptwurzeln wütend zerrissen und entzwei gebissen. Der Baum neigte sich stark nach einer Seite. Alle Pfeile waren verschossen. Für den Notfall hatten sich die Jünglinge aus den Ästen der Fichte Speere gemacht.

Jetzt schüttelte die Alte nochmals aus Leibeskräften am Baum, während Rulaman, frei auf einem der unteren Äste stehend, zum Speerwurf ausholte. Wie ein Stein flog der kühne Junge, der sich nicht festgehalten hatte, auf den Boden herunter. Noch stand der Baum.

»Stelle dich tot«, rief Obu laut. Rulaman lag regungslos auf der Erde. Die Este stürzte auf ihn zu, schüttelte ihn, wendete ihn mehreremal um und beroch ihn im Gesicht. Rulaman hatte die Augen geschlossen. Er zuckte nicht.

Indes hatte Obu das kleine Bärchen losgebunden und war mit ihm in einem ungeheuren Satz auf der anderen Seite des Baumes auf den Boden gesprungen. Das noch gefesselte kleine Tierchen schrie jämmerlich, und sofort wandte sich die Alte von Rulaman ab nach ihrem Jungen. Obu aber schleuderte es, so weit er konnte, in den Wald hinein. Ihm nach rannte die Este, denn ihre Mutterliebe war stärker als der Durst nach Rache.

Eine Zeitlang war die Alte, wie Obu richtig berechnet hatte, mit dem Kleinen beschäftigt. Sie suchte auf alle Weise die Riemenfesseln von ihm loszumachen. So hatten unsere Freunde eine kleine Weile Luft.

Rulaman lag still am Boden. Obu sprang zu ihm hin und suchte ihn aufzurichten. Er war nur wenig verletzt, aber etwas betäubt vom Sturz, und mit einiger Mühe bestiegen sie zusammen einen anderen Baum, nachdem Obu alle Pfeile, die er unten fand, eilig zusammengerafft hatte.

Nicht lange dauerte es und die Bärin erschien an dem neuen Baum. Sie richtete sich an ihm auf und suchte mit dem einen Auge, das ihr geblieben war, nach den Jünglingen. Jetzt faßte Obu einen kühnen Entschluß. Er stieg am Baumstamm herunter, so nahe zu der Este hin, daß sie ihn fast erreichen konnte. Dort hielt er sich fest und stieß mit seinem Speer, so rasch er konnte, wiederholt nach dem gesunden Auge der Este. Wütend schlug die Bärin nach ihm mit der Tatze, aber Obu ließ nicht ab, und endlich, ein fürchterlicher Schrei, das Auge war getroffen, und die Bärin sank umnachtet und blind am Fuß des Baumes nieder.

Laut jubelte Obu und stieg zu Rulaman hinauf, der todesmatt oben auf einem Ast sitzen geblieben war. In überwallender Freude umarmten sich die beiden. Jetzt waren sie gerettet.

Rulaman war neu belebt. Sie konnten der gefährlichen Alten entfliehen, sogar mit ihrer Beute, dem Pestunkopf und dem Kleinen. Aber was ihnen vor einigen Augenblicken noch als Höchstes erschienen war, das genügte ihnen jetzt nicht mehr.

»Rulaman«, sagte Obu, »wir müssen zwei Bärenköpfe mitbringen, du einen und ich einen. Aber wie die Alte töten?«

So geräuschlos als möglich kletterten sie vom Baum herunter und schlichen sich, der eine von hinten, der andere von vorn, nur mit den Steinbeilen bewaffnet, an die blinde Este heran. Die Bärin witterte sie und schlug rasend nach allen Seiten um sich; ja sie sprang auf sie los, stieß aber dabei den Kopf an einen Baum und setzte sich in stummer Verzweiflung nieder.

Da verfiel Obu auf den Gedanken, die Este mit einer Schlinge zu erwürgen. Aus allen Riemen, die sie bei sich hatten, machte er eine starke Schleife. Dann verfertigten sie aus langen, dünnen Fichtenästen, die sie durch Drehen gelenkig machten, ein langes Tau und banden die Schlinge daran.

Diese Arbeit hatte fast eine Stunde in Anspruch genommen. Die Este schien, vom Blutverlust erschöpft und ermattet, eingeschlafen. Alles war still, nur die kleinen Bärchen ließen hin und wieder ein feines Winseln ertönen.

Sobald sie mit dem Seil fertig waren, warfen sie es über einen starken Baumast in der Nähe, um das Tier, wenn es in der Schlinge gefangen, daran zu erdrosseln.

Obu ergriff die Schlinge und warf sie der Este über den Kopf. Aber noch ehe er sie zuziehen konnte, hatte diese, ruhig wie im Traum, mit ihrer Pfote die Schlinge abgestreift. Jetzt sprang Obu tollkühn von hinten heran, griff nach der Schlinge und wollte sie rasch dem Bären wieder über den Kopf ziehen. Es war, als ob die Alte dies erwartet und nur auf ihn gelauert hätte. Blitzschnell warf sie sich nach hinten herum, packte Obu mit einer Pfote und riß und drückte ihn mit beiden Armen an sich.

Obu stieß keinen Laut aus. Rulaman rief verzweiflungsvoll seinen Namen. Er erhielt keine Antwort. Die Este warf sich brummend mit ihrer Beute auf den Boden und bedeckte den armen Jüngling ganz mit ihrem schweren, mächtigen Körper. Es war, als ob sie ihn in stiller Wut erdrücken und zermalmen wollte.

Rulaman sah nichts mehr von seinem Freunde und war überzeugt, daß er tot sei. Seine Lage war verzweifelt. Sollte er so nach Hause zurückkehren? Er machte sich die bittersten Vorwürfe. War er nicht schuld an dem Tod seines Freundes? Hatte er ihn nicht veranlaßt, mit ihm allein den kühnen Jagdzug zu unternehmen? Und warum hatten sie nicht genug gehabt an der herrlichen Beute? Warum kehrten sie nicht heim, als die Este geblendet war? In einem langen Schrei des Schmerzes machte sich sein junges Herz Luft.

Er überließ sich nicht lange seiner Verzweiflung. Konnte er Obu nicht mehr retten, so wollte er ihn rächen. Aber wie? Konnte er die Este nicht, so lange sie dalag, mit einem Schlag auf den Kopf betäuben und dann mit einem Messer erstechen? Der erste Schlag mußte entscheidend sein, sonst war auch er verloren, das wußte er. Konnte er einen derartigen Schlag mit der Steinaxt führen? Es erschien ihm unmöglich. Eine starke Holzkeule, so schwer er sie haben konnte, mußte es sein. Blitzschnell jagten sich diese Gedanken in seinem Gehirn und fort sprang er, um einen geeigneten Baum zu suchen und zu fällen.

Bild: Rulaman tötet die alte Bärin

Rulaman tötet die alte Bärin

Als er endlich nach einer halben Stunde zurückkam, fand er die Este wie tot auf dem Rücken liegend; Obu lag auf ihr, von einem ihrer Arme festgehalten. Die Este schnarchte laut. Der Augenblick schien günstig, Rulaman sprang herzu und führte wütend und Rache schnaubend beim Anblick seines toten Freundes mit aller Kraft einen furchtbaren Keulenhieb auf den Schädel der Bärin. Mit tiefem Stöhnen und Röcheln ließ sie den Kopf zurückfallen; auch der Arm, der Obu festhielt, fiel schlaff herunter. Sie war jetzt schwer betäubt und ehe sie wieder erwachte, hatte ihr Rulaman eine tiefe klaffende Wunde seitlich in den Hals geschnitten, aus der das rote Blut wie aus einer Brunnenröhre herausschoß. Die Bärin kam nicht mehr zu sich. Mit dem Blut war ihr Leben entströmt.

Rulaman warf sich auf seinen entseelten Freund und weinte laut.

In der Verzweiflung trug er ihn eine Strecke weit der Heimat zu.

Aber es war ja nicht möglich, ihn heim zu schleppen. Er mußte nach Hause, um Hilfe zu holen.

In einem dichten Gebüsch machte er ein weiches Lager von Moos und legte Obu darauf, das Gesicht nach Sonnenaufgang gerichtet. Dann bedeckte er ihn mit Zweigen und legte sein Steinbeil sowie seinen Bogen und einige Pfeile neben ihn. Endlich holte er auch den Pestunkopf vom Baum herunter und setzte ihn zu seinen Füßen nieder.

Die fürchterliche Nacht war vorüber. Der Morgen graute, als Rulaman sich zur Heimkehr nach der Tulka anschickte.

Aber war Obu auch wirklich tot? Er dachte an seinen Vater nach dem Burriakampf. Er kniete nieder und legte sein Ohr an die Brust Obus; jedoch er hörte keinen Herzschlag mehr. Er ergriff die kalte Hand und heiße Tränen fielen darauf. Dann sprang er rasch auf und rannte fort.

Aber sollte er ganz leer nach Hause kommen? Er kehrte nochmals um, schnitt den schweren Kopf der Este vollends ab, band ihn an einen Riemen, indem er Löcher in das dicke Fell bohrte, und trat, mit der großen Siegesbeute schwerbeladen und doch tiefbetrübt, den Rückweg zur Tulka an.


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