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Als Burns im Kastanienhaus eintraf, hatte die gerichtliche Aufnahme des Nachlasses eben begonnen.
Sie brachte einige Überraschungen. Mit Ausnahme einige Industriepapiere im Werte von wenigen tausend Pfund und eines Bankausweises über ungefähr siebenhundert Pfund wurde in dem primitiven Kassenschrank nur Gold und Papiergeld gefunden, das sich auf die ansehnliche Summe von rund zweiundsiebzigtausend Pfund belief. Die Scheine – zumeist englisches Geld und etwa achttausend Dollar – waren mit peinlicher Sorgfalt geordnet und gebündelt, und ein einfach, aber sehr übersichtlich geführtes Kassabuch, das sich in einem kleinen Fach des Tresors befand, bot die Möglichkeit einer genauen Kontrolle. Dabei stellte sich plötzlich heraus, daß ein Betrag von zwölftausend Pfund nicht gebucht war. Milner hatte zwei Tage vor seinem Tode einen Abschluß gemacht, der auf der Vermögensseite vierundachtzigtausend Pfund auswies, aber sooft die Kommission auch das Geld überzählte, es blieben immer nur zweiundsiebzigtausend Pfund und selbst die wiederholte Durchsuchung der Kasse und des Schreibtisches förderte nicht einen weiteren Geldschein zutage.
Diese Unstimmigkeit war um so auffallender, als Milner auch die kleinsten Posten gebucht zu haben schien, wenn auch zuweilen ganz eigenartige Eintragungen vorkamen, offenbar nur Milner verständliche Chiffren.
Aber die Ziffern stimmten auf den Penny, und das Manko blieb einfach unerklärlich.
Daß der Betrag nach dem Tode Milners aus der Kasse entnommen worden war, erschien ausgeschlossen, denn erstens war der Tresor bereits wenige Stunden später versiegelt worden, und zweitens war es unwahrscheinlich, daß in diesem Falle nur diese verhältnismäßig kleine Summe entwendet worden wäre.
Der Leiter der Kommission machte Burns auf dieses Ergebnis aufmerksam, aber der Oberinspektor schien nicht allzu überrascht zu sein. Er sagte nur einfach »Oh«, und als der Gerichtsbeamte ihn fragend ansah, fügte er etwas widerstrebend und orakelhaft hinzu: »Das habe ich erwartet. Ein recht rentables Geschäft. Zwei Fliegen auf einen Schlag.«
Sehr gründlich wurde auch nach irgendwelchen testamentarischen Bestimmungen gesucht, aber es fand sich auch nicht eine diesbezügliche Zeile vor. Überhaupt war die Ausbeute an Schriftstücken gering. Der große Schreibtisch enthielt, von einigen alten, geschäftlichen Korrespondenzen und Rechnungen abgesehen, fast nur Zeitungsausschnitte, die völlig belanglos schienen. Nur Burns interessierte sich dafür und belegte sie mit Beschlag, ebenso ein altes, abgegriffenes Notizbuch, das der Gerichtsbeamte nach flüchtiger Durchsicht achtlos beiseite gelegt hatte.
Crayton hatte sich als Anwalt Milners verpflichtet gefühlt, der Kommission beizuwohnen, obwohl er hierzu nicht aufgefordert worden war. Er hielt sich die ganze Zeit über bescheiden im Hintergrund, aber es entging ihm kein Wort, und seine erwartungsvoll funkelnden Augen verrieten, daß er ununterbrochen bei der Sache war.
Als endlich die Frage des Kurators aufgeworfen wurde, die sich durch das Fehlen eines Testaments ergab, hielt er seinen Augenblick für gekommen.
»Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß ich den Toten seit fünfzehn Jahren vertreten habe und mich daher wie kein anderer in seinen Angelegenheiten auskenne«, sagte er bescheiden und machte vor jedem der Kommissionsmitglieder einen Bückling. »Ich habe auch noch eine Forderung von ungefähr achthundert Pfund . . .«
Burns fuhr wie der Blitz herum und sah den Anwalt durchdringend an.
»Wofür?«
Crayton knickte etwas zusammen, aber dann setzte er eine gekränkte Miene auf.
»Das werde ich natürlich spezifizieren und belegen«, erwiderte er mit Würde. »Übrigens glaube ich, daß dies nicht Sache der Polizei, sondern des hohen Gerichtes ist«, fügte er mit einem devoten Blick auf den Beamten hinzu, und dieser schien derselben Ansicht zu sein.
»Wenn Mr. Crayton den Verstorbenen tatsächlich so lange vertreten hat, so finde ich es allerdings richtig . . .«
»Einen Augenblick, Sir«, schnitt ihm Burns das Wort ab. »Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß eine voraussichtlich erbberechtigte Person, Miss Ann Learner, im Hause ist, und daß diese das Recht hat, in dieser wichtigen Frage ebenfalls gehört zu werden. Bitte, lassen Sie sie holen, bevor Sie Ihre Entscheidung treffen.«
Der Beamte zuckte etwas ärgerlich die Schultern, ließ sich aber doch bestimmen, dem Wunsche Burns' Rechnung zu tragen.
Als Ann Learner eintrat, machte ihre Erscheinung sichtlich einen außerordentlichen Eindruck. Sie sah von einem zum andern, und ihre Miene verriet, daß sie zur Abwehr irgendeines Angriffs gerüstet war.
Crayton ließ es sich nicht nehmen, sie sofort mit einer Herzlichkeit zu begrüßen, als ob er mit ihr auf sehr vertrautem Fuße stände, aber Ann sah ihn nur verwundert an und kehrte ihm den Rücken.
Der Anwalt hätte seine Sache jedoch sicher nicht so leicht verloren gegeben, wenn nicht Burns in seiner entschiedenen Art eingegriffen hätte. Er schob den schwatzenden Crayton mit einer ruhigen Armbewegung beiseite und nahm dann Ann bei der Hand.
»Die Sache ist die, Miss Learner«, erklärte er, und seine Stimme klang sanft und väterlich, »daß wir kein Testament vorgefunden haben und daß daher ein Vermögensverwalter bestellt werden muß, bis die gesetzlichen Erbansprüche geregelt sind. Nun meint Mr. Crayton, daß er dafür der geeignete Mann sei, aber ich habe beantragt, daß man auch Sie darüber hören soll. Wie ist es also: Sind Sie mit Mr. Crayton einverstanden?«
Ohne einen Augenblick zu überlegen, warf Ann den Kopf zurück und antwortete mit einem scharfen »Nein«.
»Schön«, meinte Burns. »Können Sie nun vielleicht jemanden anders vorschlagen, Miss Learner? Wissen Sie irgend jemanden, zu dem Sie Vertrauen haben und der für dieses Amt geeignet wäre?«
Das junge Mädchen geriet in Verlegenheit, denn sie mußte sich sagen, daß sie völlig allein stand und auch nicht einen Menschen kannte, dem sie zumuten durfte, sich für ihre Interessen einzusetzen. Endlich fiel ihr ein, daß sie vielleicht William Brook darum bitten könnte, der ihr stets soviel Anteilnahme entgegengebracht hatte, und sie nannte zögernd seinen Namen.
»Brook & Sons . . .? Kenne ich«, sagte Burns. »Eine der ersten Firmen der City, Sir«, wandte er sich an den Gerichtsbeamten, »und ich glaube, daß dagegen das Gericht wohl keinen Einspruch erheben wird.«
»Jedenfalls werde ich den Antrag stellen«, erwiderte der Beamte, der plötzlich überaus entgegenkommend geworden war, und machte Ann eine sehr höfliche Verbeugung.
Als Ann das Zimmer verlassen wollte, stürzte Crayton auf sie zu und faßte sie unsanft am Arm.
»Das soll Ihnen teuer zu stehen kommen«, zischte er ihr zu, und in seinen geröteten Augen blitzte es drohend auf.
Ann entwand sich seinem Griff und eilte fluchtartig davon.
»Mr. Crayton«, sagte Burns, »finden Sie sich damit ab, und machen Sie keine Dummheiten. Ich glaube, daß Sie für die Sache ohnehin nicht genügend Zeit gefunden hätten, weil Ihnen in den nächsten Tagen das Eiserne Tor einiges zu schaffen geben dürfte.«
Der Anwalt zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen und starrte den Oberinspektor mit entsetzten Augen an.