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Es bedurfte einer vollen Flasche gewöhnlichen, aber kräftigen Whiskys, um Sam Dickson, von seinen Freunden kurz »der Affe« genannt, wieder in sein altes Gleichgewicht zu bringen, aus dem er durch das unangenehme Abenteuer der verflossenen Nacht geraten war.
Seitdem er den gewaltigen Hieb auf seine Nase abbekommen hatte, brummte ihm der Schädel wie eine Maschinenhalle, und in der blaugrünen Beule zwischen den Augen verspürte er von Zeit zu Zeit einen Stich, der ihm durch den ganzen Kopf bis in seinen Stiernacken lief.
Dann hieb Sam mit seiner von einer dicken Hornhaut überwucherten Tatze immer dröhnend auf den Tisch, und seine tückischen, kleinen Augen suchten zwischen den verschwollenen Lidern hervor nach irgend jemandem, an dem er seine grenzenlose Wut auslassen konnte.
Aber mit Mr. George Thompson, der ihm gegenübersaß, konnte er nicht gut anbinden, denn erstens war dieser sein Vorgesetzter, und zweitens hatte er trotz seiner Bärenstärke einen gewissen Respekt vor diesem Mann. Sam bildete sich zwar ein, ein ganz kapitaler schwerer Junge zu sein, aber ein instinktives Gefühl sagte ihm, daß der andere einer jener großen Schurken sei, gegen deren teuflische Tricks selbst die schwersten Jungen mit ihrer Einfalt nicht aufzukommen vermögen. Deshalb hatte er bisher gekuscht wie ein furchtsamer Hund, und nur in der verflossenen Nacht, in der ihm so übel mitgespielt worden war, hatte er einmal aufmucken wollen. Aber da hatte ihn Thompson so eigentümlich angesehen, daß es ihm eiskalt über den Rücken gelaufen war.
Thompson, der mit weit ausgestreckten Beinen auf einem wackligen Stuhl saß und zu den rauchgeschwärzten Deckenbalken emporstarrte, fand die Situation nicht gerade nach seinem Geschmack. Der Sturm, der draußen heulte, drang empfindlich durch den morschen Laden und das schlecht schließende Fenster des Wildhüterhauses und brachte zuweilen sogar die armselige Petroleumlampe zum Flackern.
George Thompson war trotz seines abenteuerlichen Lebens an eine so primitive Umgebung nicht gewöhnt, und ebensowenig behagte ihm die Aussicht, diese ungemütliche Nacht in einem Raum mit Sam zubringen zu müssen, der für ihn nichts weiter war als ein widerliches Tier, dessen man sich leider zu gewissen Zwecken bedienen mußte.
Aber schließlich wollte er diese unangenehme Nacht gern in Kauf nehmen, wenn sein gestriger Mißerfolg im Kastanienhaus dafür ohne schlimmere Folgen blieb. Vorläufig war er dessen nicht so ganz sicher, und der Gedanke daran verursachte ihm gewaltiges Unbehagen. Er wußte, daß der ›Herr‹ in gewissen Dingen keinen Spaß verstand und nicht viel Federlesens machte. So mancher, mit dem er in den letzten Monaten gearbeitet hatte, war plötzlich spurlos verschwunden, und den einen oder andern von ihnen hatte man später aus der Themse gefischt.
George Thompson war zu gewitzigt und hatte zu offene Augen, um nicht zu wissen, was es damit für eine Bewandtnis hatte. Im übrigen hatte man ihn ja bei seiner Aufnahme unter ›die Diener des Herrn‹ auch gar nicht im Zweifel darüber gelassen, was ihn erwartete, wenn er nicht strengstens Order parieren würde.
Der mittelgroße, breitschulterige Mann, zu dem er eines Nachts mit verbundenen Augen gebracht worden war, hatte es ihm unter einer dichten Maske hervor mit einer Gelassenheit gesagt, als ob es sich um eine Kleinigkeit handelte. Aber Thompson hatte den Eindruck empfangen, daß es verdammt ernst gemeint war, und er wäre unter diesem beklemmenden Gefühl damals noch im letzten Moment abgesprungen, wenn es noch ein Zurück gegeben und wenn ihm nicht das Wasser bereits bis zum Hals gestanden hätte.
Seit jener Stunde hatte er den Mann nicht mehr gesehen, sondern immer nur seine mürrische Stimme am Telefon vernommen oder seine schriftlichen Befehle erhalten. Er wußte nicht, wer dieser Mann war, sondern erfuhr immer nur die ständig wechselnde Telefonnummer, unter der er ihn in dringenden Fällen erreichen konnte.
Nur soviel glaubte Thompson bestimmt zu wissen, daß es nicht der ›Herr‹ selbst war, der mit ihm in Verbindung stand, sondern ein ›Diener‹ wie er, wenn dieser auch einen weiteren Wirkungskreis haben und mehr wissen mochte.
Diese Vermutung hatten ihm die letzten peinlichen Telefongespräche bestätigt, die er gestern nachmittag und heute morgen wegen des Verlustes des Päckchens und wegen des Pechs im Kastanienhaus geführt hatte. Bei der ersten Gelegenheit hatte er einen gewaltigen Fluch und ein »blödes Vieh« anhören müssen, bei der zweiten Meldung aber war der Mann überraschend ruhig geblieben, und nur seine Stimme hatte sehr bedenklich geklungen, als er schließlich sagte: »Sie scheinen ja ein ganz verdammter Pechvogel zu sein, mein Lieber. Solche Leute können wir nicht brauchen. Es würde mich nicht wundern, wenn die Geduld des Herrn zu Ende wäre . . . Das Weitere werden Sie hören . . .«
Thompson hatte mit schlotternden Knien am Apparat gestanden. Das ärgste Donnerwetter hätte ihn nicht so in Angst und Schrecken versetzen können wie diese schneidenden Worte.
Immer wieder beruhigte er sich aber damit, daß er sich ja weder ein Versehen noch eine Nachlässigkeit hatte zuschulden kommen lassen.
Gewiß, daß ihm das Päckchen, das er sorgsam aufbewahren sollte, abhanden gekommen war, daran trug er die Schuld, aber so sehr er sich auch den Kopf zerbrach, er vermochte sich nicht zu erklären, wie dies geschehen war. Sein Auftrag ging dahin, um halb drei Uhr in das bestimmte Zimmer im Kastanienhaus einzudringen, dort zunächst mit größter Vorsicht ein Bambusrohr in Verwahrung zu nehmen, das vor dem Kamin liegen sollte, und dann nach Juwelen und einem Betrag von zwölftausend Pfund zu suchen, die er entweder irgendwo im Zimmer oder in den Taschen der anwesenden Personen vorfinden würde. Irgendwelche anderen Wertgegenstände oder Gelder mitzunehmen oder in geschlossenen Behältern Nachschau zu halten, war ihm strengstens untersagt worden, und Thompson hatte sich an dieses Verbot gehalten, obwohl er in den Brieftaschen manche Pfundnote gesehen hatte, die ihm hochwillkommen gewesen wäre.
Er wurde die Furcht, daß die Geschichte schlecht ausgehen könnte, nicht los, und als er an diesem Morgen wiederum eine schriftliche Nachricht erhalten hatte, war ihm der Schreck so in die Glieder gefahren, daß er das Schreiben kaum zu öffnen wagte. Es enthielt aber nur die Weisung, daß Sam sich gegen ein Uhr mit dem Rohr bereitzuhalten habe, und Thompson hatte daraufhin seinen Gehilfen vom Kastanienhaus, wo er aufpassen sollte, ob die Sache nicht etwa brenzlig wurde, eiligst herbeigelotst. Dann war das Auto vorgefahren, und Thompson hätte schwören mögen, daß die Gestalt im Wagen sein Mann gewesen war, obwohl er aus dem Hausflur in der kurzen Zeit, die der Wagen hielt, nur ganz undeutliche Umrisse hatte wahrnehmen können.
Einige Stunden später war ihm ein weiterer Befehl zugegangen, sich mit Einbruch der Dunkelheit in dem Wildhüterhaus einzufinden und darauf achtzugeben, daß Sam seiner Obliegenheit genauestens nachkomme.
Diese Obliegenheit bestand darin, einen Gefangenen zu bewachen, den man unter dem Dach hinter mächtigen Haufen alten Lagerstrohs untergebracht hatte. Der Mann war an Händen und Füßen kunstgerecht gefesselt und hatte einen Knebel im Mund. Als Thompson sich ihn beim Schein seiner Taschenlampe besah, sagte er sich erleichtert, daß ihm dieser Schützling gewiß nicht entweichen könnte. Er schichtete noch einige Strohbündel um den Hilflosen, stieg mit Sam wieder die Leiter hinab und schloß sorgfältig die Luke. Beide trugen dann die Leiter in die Stube, in der sie sich aufhielten.
Sam besah sich mit wehmütiger Grimasse den Rest in seiner Flasche und schüttete dann den ganzen ansehnlichen Schluck kurz entschlossen in seinen dicken Hals.
»Verdammt«, sagte er, indem er die leere Flasche kräftig auf den Tisch setzte, »das tut gut, wenn man nicht ganz beisammen ist. Aber ein bißchen wenig, Sir«, fügte er mit einem anzüglichen Blick aus den verschwollenen Äuglein hinzu, »wenn man bei solch einem Hundewetter in so einer vermaledeiten Hütte sitzen und aufpassen muß. Glauben Sie, daß es lange dauern wird? Ich habe jetzt erst den richtigen Durst und kann doch nicht Regenwasser saufen.«
Der Gedanke war für Sam so entsetzlich, daß er mit gesträubtem Bart an Thompson haarscharf vorbei an die Wand spuckte.
»Und wenn es vielleicht heute noch Arbeit geben sollte« – er machte eine bezeichnende Geste mit seinen gewaltigen Pranken, und grinste bösartig – »so möchte ich doch gern bei Kräften sein. Ich werde mir einbilden, daß ich den Kerl von gestern nacht unter den Händen habe. Sie wissen, Sir, daß man sich in solchen Dingen auf mich verlassen kann.«
Thompson war nicht in der Stimmung, die Geschwätzigkeit des Bärtigen über sich ergehen zu lassen, und er griff zu dem zuverlässigsten Mittel, um ihm den Mund zu stopfen. Er holte aus der Handtasche, die er mitgebracht hatte, zwei weitere Flaschen, setzte eine davon vor Sam hin und schob ihm dann auch noch ein Stück Speck und eine dicke Schnitte Brot zu.
Sam schlug vor Entzücken auf den morschen Tisch, daß alles nur so hüpfte.
»Der Teufel soll mich holen, Sir, wenn Sie nicht der anständigste Gentleman sind, der in ganz England herumläuft.« Er hatte mit blitzartiger Behendigkeit bereits die Flasche entkorkt und hob sie nun an die Lippen. »Auf Ihr Wohl, Sir!« Er tat einen langen Zug und schob dann von dem Speck und dem Brot einen gewaltigen Bissen in den Mund. »Gott lohne es Ihnen, Sir. Und ich will an der dreckigsten Stelle der Themse ersaufen, wenn ich Sie je im Stiche lasse.«
Draußen hatte das Unwetter an Heftigkeit zugenommen, und in das Heulen des Windes und das Prasseln des Regens klang das Krachen der dürren Äste, die von den Stämmen brachen.
Thompson fand dieses Konzert höchst unbehaglich, und er spürte, wie seine Nerven rebellisch zu werden begannen.
Plötzlich glaubte er zu bemerken, daß an Stelle der Tür, der er gegenübersaß, auf einmal ein dunkles Loch gähnte und daß zwei große, schwarze Gestalten zu beiden Seiten der Öffnung standen.
Er blinzelte mit verstörten Augen hin und griff zitternd nach der Flasche . . .
»Guten Abend, Gentlemen«, sagte da eine kalte Stimme aus der Dunkelheit. »Hebt gefälligst die Hände hoch, wenn ihr nicht lebensüberdrüssig seid.«
Thompson ließ entsetzt die Flasche zu Boden fallen und vermochte kein Glied zu rühren.
Sam aber bewies, daß er solchen Überraschungen gewachsen war. Er fuhr blitzschnell herum und stürzte mit dem kräftigen Messer los, mit dem er eben noch Brot und Speck geschnitten hatte.
Er kam aber nicht weit. Eine kräftige Faust flog ihm auf halbem Wege entgegen, traf ihn an der Schläfe, und Sams stämmiger Körper taumelte gegen die Wand, daß die morschen Balken in ihren Fugen krachten.
In der nächsten Sekunde erfolgte ein leises Klirren und ein kurzes Schnappen, und Sam Dickson war unschädlich gemacht. Thompson aber saß mit herabhängenden Armen und verglasten Augen unbeweglich auf seinem Stuhl und stierte entsetzt die beiden unheimlichen Wesen an, die die Dunkelheit ausgespien hatte: eine hohe, breitschulterige Gestalt, deren Gesicht unter der tief herabgezogenen Mütze nicht zu erkennen war, und einen Riesen von einem Neger, der ihn mit seinen glühenden Augen so vielsagend angrinste, daß er an allen Gliedern zu zittern begann.
»Mr. George Thompson«, forderte ihn der Herr mit der Mütze sehr liebenswürdig auf, »seien Sie vernünftig, und überlassen Sie uns Ihre Hände zu einer kleinen Formalität. Die Sache ist völlig schmerzlos, und Ihr Freund Sam war ein Dummkopf, sich deshalb solchen Unannehmlichkeiten auszusetzen.«
Der Mann mit dem roten Gesicht gehorchte wie ein Automat und streckte die Hände von sich. Er sah in das breite, vergnügte Gesicht des Schwarzen, fühlte, wie kalter Stahl sich um seine Gelenke legte und wie seine Arme hilflos herabsanken.
Sam hatte eine sehr zähe Natur, und so ausgiebig der Hieb auch gewesen war, den sein Schädel eben abbekommen hatte, lange hielt die Wirkung nicht an. Er kam bereits wieder zu sich und blinzelte eine Weile verwirrt umher – dann aber begann er unter wilden Flüchen an seinen Fesseln zu zerren und versuchte aufzuspringen.
Der Mann mit der Mütze trat dicht an ihn heran. »Du solltest dir Ruhe gönnen, Sam. Zwei solche Hiebe, wie du sie gestern und heute erhalten hast, sind selbst für dich etwas zuviel. Dein Schädel wird aus dem Brummen nicht herauskommen, und deiner Schönheit wird es auch nicht zuträglich sein . . .«
Sam brüllte in wahnsinniger Wut auf. »Du warst es? Du Hund, du!« Er stieß mit den Füßen nach ihm, aber der andere lachte.
»Unangenehm, was, lieber Sam? Aber das kommt davon, wenn man nachts die Nase in ein Zimmer steckt, in dem man nichts zu suchen hat.«
Der Bärtige wand sich unter grimmigem Geheul auf dem Boden, und der große Mann gab dem Neger, der ununterbrochen auf der Lauer stand, einen kurzen Wink.
Zwei riesige schwarze Fäuste ergriffen Sams Beine und schnürten sie zusammen, als ob es zwei Holzstückchen wären.
Der Herr mit der Mütze nahm Thompson gegenüber Platz, und dieser sah wie hypnotisiert in die unangenehme Mündung eines schweren Brownings.
»So, und nun wollen wir beide ein wenig plaudern, Mr. Thompson«, sagte der große Mann gemütlich. »Wenn Sie klug sind, wird die ganze Geschichte, die Ihnen nicht sehr angenehm zu sein scheint, bald vorüber sein, und Sie können sich dann mit Ihrem lieben Freunde Sam wieder die Zeit vertreiben. Ich möchte Sie nur ersuchen, mir einige Fragen zu beantworten. Ganz kurz und bündig, denn ich habe nicht viel Zeit. Vor allem: Wo ist Doktor Shipley?«
Thompson warf dem Sprecher einen raschen, forschenden Blick zu und empfand unwillkürlich eine gewisse Erleichterung. Er war bisher noch nicht dazu gekommen, sich über den Zweck der Überrumpelung völlig klarzuwerden, und hatte in seinem ersten Schreck nur gedacht, daß das Strafgericht des ›Herrn‹ über ihn hereinbreche.
Die Frage nach Dr. Shipley machte ihn aber stutzig und vorsichtig. Er war keineswegs feige, und nun, da er zu wissen glaubte, daß er nicht der geheimnisvollen Macht gegenüberstand, die er so fürchtete, gab er das Spiel noch nicht verloren. Auf Sam, der wie ein Haufen Unglück in der Ecke lag und mit den Zähnen knirschte, konnte er allerdings nicht mehr rechnen, aber wer weiß, was geschah, wenn es ihm gelang, Zeit zu gewinnen.
Er maß seinen Gegner lauernd von der Seite, um zu erfahren, was er von ihm zu gewärtigen habe. Sein von Pickeln übersätes, rotes Gesicht bekam einen höhnischen Ausdruck, und seine Lippen schlossen sich trotzig. Es war, als ob er die Frage gar nicht gehört hätte.
»Nun, Mr. Thompson?«
Sein Gegenüber klopfte mit dem Browning auf die Tischplatte, und Thompson fuhr unwillkürlich zusammen.
»Überlegen Sie sich's nicht zu lange, denn die Sache könnte für Sie unangenehm werden. Also, wo steckt Dr. Shipley? Ob Sie mir nun antworten oder nicht, ich werde ihn ja schließlich doch finden. Wenigstens hoffe ich es – auch um Ihretwillen . . .« Die Stimme des großen Mannes wurde plötzlich sehr drohend. »Denn wenn ich ihn nicht finde, so dürfte Ihnen in Ihrer alten Haut sehr unbehaglich werden. Und wenn Sie mir durch Ihre Verstocktheit die Mühe machen, dieses schmutzige Loch von oben bis unten durchstöbern zu müssen, so wird Ihnen für jede Minute, die ich damit vertrödle, der Schwarze dort einen anständigen Hieb verabreichen. Ich habe an alles gedacht, wie Sie sehen.«
Er griff in die Tasche seines langen Wettermantels und legte eine kurze, dicke Peitsche auf den Tisch, bei deren Anblick Thompson wütend auffuhr.
Aber er sah den Browning gerade auf seine Brust gerichtet, und der Gedanke, daß es nur einer winzigen Fingerbewegung des andern bedurfte, um ihn umzulegen, ließ ihn sofort wieder sanfter werden. Er begann langsam und vorsichtig gegen das Fenster zurückzugehen, aber der große Mann war damit nicht einverstanden.
»Behalten Sie gefälligst Platz, Mr. Thompson«, lud er ihn ein, und es klang so verflucht höflich, daß jener es vorzog, wieder näher zu kommen. »Im Stehen plaudert es sich nicht so gemütlich, und außerdem könnten Ihnen im Verlauf unserer Unterredung vielleicht doch die Knie zu zittern beginnen.«
Der Mann mit der Mütze legte seine Taschenuhr auf den Tisch. »Wie gesagt, für jede Minute einen Hieb. Die erste Minute hat bereits begonnen, Mr. Thompson . . .«
Er sah angelegentlich nach der Uhr, und Thompson verspürte die Sekundenschläge, die er deutlich zu vernehmen vermochte, wie einen körperlichen Schmerz. Er begann unruhig hin und her zu rücken, und seine geröteten Augen flogen verzweifelt durch den Raum.
Man sah ihm an, daß er mit seiner Fassung bald zu Ende sein würde, und das bemerkte auch Sam, der ihn aus seiner Ecke mit glühenden Blicken anstierte.
»Wenn Sie sprechen, Mr. Thompson«, brüllte er, »so reiße ich Ihnen die Zunge bei lebendigem Leibe aus dem Halse.«
»Sam Dickson, halte den Mund, und sorge dich um deine eigene Zunge«, lachte der große Mann. »Ich fürchte, sie wird dir nächstens etwas zu lang werden, weil sie wegen des Stricks um deinen Hals keinen Platz in deinem Mund haben wird. Ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, Mr. Thompson«, fuhr er fort, »daß die ersten fünf Minuten bereits vorüber sind. Sie würden gut daran tun, es dabei bewenden zu lassen, denn fünf Hiebe von Bob sind gerade genug. Mehr dürften Sie bei lebendigem Leibe nicht überstehen . . .«
Der Herr mit der Mütze sprach sehr sanft, aber auch sehr eindringlich, und Thompson war nun soweit, seinen Widerstand aufzugeben. Die Art, wie man mit Sam umgesprungen war, wollte ihm gar nicht gefallen, und fürchtete die ihm angedrohten Hiebe. Er befeuchtete seine trockenen Lippen mit der Zunge.
»Er ist da oben«, preßte er halblaut hervor und deutete mit einer Kopfbewegung nach der Decke.
Sein Gegenüber erhob sich mit einem Ruck. »Unter dem Dach? – Bob, nimm deine Taschenlampe und beeile dich! Aber sei vorsichtig. Halte den Revolver bereit, und wenn du die geringste Gefahr merkst, so drücke los. – Thompson«, wandte sich der große Mann an diesen, »ich mache Sie darauf aufmerksam: wenn oben ein Schuß fällt, so knallt es sofort auch hier, und Sie fahren mit Ihrem Spießgesellen zur Hölle.«
Thompson schüttelte nur den Kopf, aber als der Neger schon unter der Tür war, sagte er leise: »Die Leiter . . .«
Der Mann mit der Mütze sah ihn fragend an und folgte seinen Blicken.
»Ach so. Bob, nimm die Leiter mit! Ich sehe, Thompson, daß sich jetzt mit Ihnen reden läßt, und das wird Ihr Schaden nicht sein.«
Man hörte, wie draußen im Flur die Leiter angelegt und die in ihren Angeln kreischende Luke geöffnet wurde.
Der große Mann lauschte gespannt auf jedes Geräusch. Seine Rechte hielt den Browning umklammert, und seine Blicke schweiften unausgesetzt zwischen den beiden Gefangenen hin und her.
Endlich vernahm man oben rasche Schritte und dann wieder das Knarren der Leiter.
»Hast du ihn gefunden?« fragte der Mann mit der Mütze hastig, als das Gesicht des Schwarzen in der Tür erschien.
»Yes, Sir, sein oben . . . Hinter viel Stroh sein oben«, grinste er.
»Oh, viel leben, Sir . . . Sehr viel leben . . .«, nickte Bob eifrig.
Der große Mann ließ die Waffe sinken und atmete tief auf. Dann zog er den Neger beiseite und gab ihm leise einen Befehl, der Bob eilig wieder verschwinden ließ.
»Sie können von Glück sagen, Thompson, daß die Sache so ausgegangen ist, sonst hätte ich Sie an den Galgen gebracht. Und nur noch einige kurze Fragen, dann will ich Sie nicht weiter stören: Von wem kam das kleine Paket, das Sie gestern nachmittag auf dem Waterloo-Bahnhof erhielten?«
Thompson fuhr zusammen und sah den Frager scheu von der Seite an. Er war aber bereits so mürbe, daß er sich ohne weiteres zu einer Antwort verstand. »Von meinem Mann . . .«
»Wer ist das?« forschte der andere weiter.
»Ich kenne ihn nicht. Ich habe ihn nur einmal gesehen und weiß von ihm ebensowenig wie Sie«, erwiderte Thompson verdrießlich.
Plötzlich aber fühlte er ein reges Mitteilungsbedürfnis und erzählte alles, was er wußte.
Der andere hörte ihm gespannt zu und mußte sich sagen, daß das, was er erfuhr, herzlich wenig war. Aber er hatte den Eindruck, daß Thompson mit nichts zurückhielt.
»Und was wollten Sie gestern nacht im Kastanienhaus?«
»Juwelen und zwölftausend Pfund holen – Und ein Bambusrohr«, fügte er gewissenhaft hinzu.
Der große Mann stieß überrascht einen leisen Pfiff aus.
»Ein Bambusrohr?« fragte er verwundert.
»Es lag vor dem Kamin, und wir sollten damit sehr vorsichtig umgehen. Wir hatten extra einen Sack dafür bekommen . . .«
»Wo befindet sich dieses Rohr jetzt?«
»Das weiß ich nicht. Mein Mann hat es wieder an sich genommen.«
Der Herr mit der Mütze dachte eine geraume Weile nach.
Man hörte wiederum, wie die Leiter unter einer schweren Last knarrte, und dann kamen langsame, feste Schritte an der Tür vorüber.
»Hier, Thompson«, sagte der große Mann und legte einen kleinen Schlüssel auf den Tisch, »ist der Stecher für Ihre Handschellen. Mit einiger Geduld und Geschicklichkeit werden Sie die unangenehmen Dinger wohl herunterbringen. Behalten Sie sie als Andenken an mich und die gemütliche Stunde, die wir eben verplaudert haben. Aber hüten Sie sich, jemals wieder in solche Eisen hineinzugeraten, denn ich glaube, daß Sie sie dann kaum mehr losbekommen würden . . .«
Er stand bereits unter der Tür, als er sich nochmals umwandte. »Noch einen Rat möchte ich Ihnen geben: Beeilen Sie sich nicht allzusehr, Ihrem Freunde Sam zu Hilfe zu kommen, denn es könnte für Sie sehr schlecht ausfallen . . .«
Es war gegen zwei Uhr morgens, als die Glocke an Dr. Shipleys Haus, in dem trotz der späten Nachtstunde noch einige Fenster erleuchtet waren, plötzlich Alarm läutete.
Wenige Augenblicke später eilte John zur Haustür und öffnete. Als er an der Schwelle erschien, schoß ein großes Auto, das knapp am Gehsteig gehalten hatte, in rasender Fahrt davon. John blickte dem Wagen mit offenem Munde nach.
»Gaffe nicht, mein Lieber«, hörte er da irgendwo dicht neben sich eine ungeduldige, mürrische Stimme sagen, »sondern laß mich ins Haus.«
Dr. Shipley schob den völlig Fassungslosen beiseite und betrat die hellerleuchtete Halle. Er ging etwas schwerfällig, und als Mrs. Carringhton, die erregt und erwartungsvoll an der Treppe stand, sein blasses, verfallenes Gesicht sah, fuhr sie erschreckt zusammen. Sie schlang die Hände ineinander, und ihre Lippen bewegten sich, als ob sie etwas sagen wolle, aber es kam kein Laut über ihre Lippen, und nur ihre großen, leuchtenden Augen sprachen.
Dr. Shipley schien diese Begegnung zu überraschen. »Entschuldigen Sie, Mrs. Carringthon, daß Sie zu so später Stunde gestört wurden«, sagte er mit einem steifen Gruß und ging nach seinen Zimmern.
John machte Madam eine tiefe, respektvolle Verbeugung und eilte dann seinem Herrn nach.
Wenn Dr. Shipley etwas Aufmerksamkeit für gewisse Dinge gehabt hätte, hätte ihm auffallen müssen, daß Mrs. Carringhton trotz der ungewöhnlichen Stunde völlig angekleidet war und daß sie aussah, als ob sie sehr schwer gelitten hätte.
Aber Dr. Shipley war weder das eine noch das andere aufgefallen, sondern er war nur wieder an seine quälenden Zweifel erinnert worden, die ihn nun mehr beschäftigten denn je.
»Mrs. Benett, es wäre mir lieb, wenn Sie mir mein Appartement noch für eine weitere Zeit zur Verfügung stellen könnten«, sagte Harry Reffold, als er am nächsten Vormittag, von London kommend, frisch und lächelnd in die ›Queen Victoria‹ zurückkehrte. »Es ist bei Ihnen viel gemütlicher als in der Stadt, und ich möchte mich noch ein wenig erholen.«
»Ich freue mich herzlich, Mr. Reffold, daß Sie noch bleiben wollen«, lispelte Jane. »Sie wissen ja, wie . . .« – sie zögerte und sah zur Decke – »welch ein lieber Gast Sie mir sind. Und wenn Sie etwa noch irgendwelche Wünsche haben sollten . . .«
Harry hob abwehrend die Hand. »Ich wüßte wirklich nicht, was ich noch wünschen sollte, Mrs. Benett«, meinte er verbindlich. »Ich bin ausgezeichnet untergebracht und kann mir kein behaglicheres Heim denken.«
»Oh«, wehrte die Herrin der ›Queen Victoria‹ bescheiden, aber strahlend ab, »damit wollen Sie mir wohl nur etwas Angenehmes sagen. Mit London können wir es hier draußen natürlich nicht aufnehmen, das weiß ich nur zu gut. – Übrigens war ich sehr froh, daß Sie die heutige Nacht nicht hier verbracht haben«, sagte sie plötzlich mit lebhafter Mitteilsamkeit, »denn Sie wären um Ihre Ruhe gekommen. Ganz Newchurch war auf den Beinen.«
Reffold sah sie überrascht und fragend an, und Mrs. Benett nickte lebhaft.
»Ja, wir hatten Feueralarm. Etwa um drei Uhr. Es ist zwar nur ein altes Wildhüterhaus an der Straße nach Bedfont abgebrannt, aber da zu befürchten stand, daß das Feuer auf den Wald übergreifen könnte, wurde die Feuerwehr alarmiert, und auch eine Menge Leute ist trotz des strömenden Regens an den Brandplatz geeilt. Der Widerschein war bis hierher zu sehen, und ich selbst habe über eine Stunde am Fenster gestanden und beobachtet, wie immer wieder Feuergarben emporschossen . . .«
Mrs. Benett hätte nie geglaubt, daß ihre Mitteilung bei ihrem Gast ein derartiges Interesse auslösen würde.
Harry hatte sich in einen Klubsessel fallen lassen und starrte Mrs. Benett so seltsam an, daß ihr dabei fast unheimlich wurde.
»Es ist nichts geschehen«, versicherte sie beruhigend. »Das Haus war unbewohnt.«
»Ach so . . .«, meinte Reffold nach einer Pause etwas rasch und unvermittelt, strich sich über die Stirn und erhob sich. »Entschuldigen Sie, ich glaube, ich war nicht bei der Sache. Ich habe nämlich über etwas sehr Wichtiges nachgedacht.«
Er reichte der etwas verdutzten Mrs. Jane die Hand und ging in sein Zimmer.
Dort schloß er sich ein und grübelte lange über folgende Fragen nach:
Waren Thompson und Sam noch in dem alten Haus, als der Brand ausbrach?
Sind beide der Katastrophe entgangen oder nur einer? Oder keiner von beiden?
Wer hat den Brand angelegt?
Sam, um an Thompson Rache zu nehmen, oder irgend jemand anders, um beide zu vernichten?
Harry Reffold hätte viel darum gegeben, auch nur auf eine dieser Fragen eine zuverlässige Antwort zu erhalten.