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Auch in Alderscourt gab es nach einem gewitterschwülen Nachmittag einen bedrückten, ungemütlichen Abend. Da die erboste Molly zu einem ehrlichen offenen Krieg nicht zu haben war, mußte sich die arme Mrs. Drew in Anspielungen Luft machen.
»Das hätte man ersäufen sollen, wie eine nichtsnutzige Katze«, äußerte sie giftig. »Man hat nur Schande davon und schrecklichen Undank. Verrät für zehn Schillinge – oder vielleicht waren es noch ein paar mehr«, der stechende Blick der entrüsteten Frau streifte die verstockt maulende Tochter, »die leibliche Mutter. Genau so, wie der gemeine Kerl in der Bibel, der Judas. Man sollte nicht glauben, daß so etwas von Schlechtigkeit in der Welt herumläuft . . .«
Molly hieb zum soundsovielten Male an diesem kritischen Tage wortlos die Tür hinter sich zu, und Mrs. Drew holte in ihrer Wut so temperamentvoll mit der Rechten aus, daß sie fast ins Wanken geraten wäre.
Der Teufel mochte wissen, was in das Mädel auf einmal gefahren war. Sonst hatte sie doch das Mundwerk auf dem rechten Fleck, und es gab gleich Feuer am Dach, aber heute konnte man herumzündeln, so viel man wollte, es wurde nichts daraus. Und man konnte sich nicht so aussprechen, wie es sich zwischen Mutter und Tochter doch eigentlich gehörte.
Die schwer gekränkte Molly hielt eine solche Aussprache für zwecklos, denn sie hatte sich in aller Stille und Heimlichkeit reisefertig gemacht. Seit der unliebsamen Begegnung im Garten brannte ihr der Boden von Alderscourt unter den Füßen. Wenn sie sich nicht einmal hier mehr sicher fühlen durfte, konnte ihr dieses langweilige Rattenloch gestohlen werden. Und sie fühlte sich gar nicht mehr sicher. Sie wußte nicht, was sie aus dem feinen Herrn, der so gemein mit ihr umgesprungen war, machen sollte, aber was er angedeutet hatte, war ihr arg in die Glieder gefahren. Falls er davon anderwärts sprach, war es gleich für ein paar Jahre Schluß mit der Herrlichkeit. Vorläufig schien er heute nur der Alten etwas von dieser dummen Geschichte gesteckt zu haben. Anders konnte sie sich den Krach und das Geraunze über Undankbarkeit und die zehn Schillinge nicht erklären. Wenn die Alte erst erfahren würde, daß es fast ebenso viele Pfunde gewesen waren . . .
Mollys Entschluß stand also unwiderruflich fest, und sie paßte nur auf eine günstige Gelegenheit, um ihn auszuführen. Wo die mütterlichen Ersparnisse ruhten, die sie ja doch einmal erben würde, wußte sie bereits, und auch oben bei der fremden Miss hatte sie sich schon gründlich umgesehen. Wenn sie nur zehn Minuten Zeit hatte . . .
In späteren Tagen, als ihr Leben durch dicke Mauern gegen alle Wechselfälle gesichert war und, wenn auch nicht angenehm, so doch wenigstens ohne aufregende Überraschungen verlief, dachte Mrs. Drew oft und oft darüber nach, wann und wie diese schreckliche Nacht auf Alderscourt eigentlich begonnen hatte und was wohl vorgegangen sein mochte. Aber nie kam sie zu einem Ergebnis, das ihre lebhafte Wißbegierde völlig befriedigt hätte.
Begonnen hatte es jedenfalls wieder mit dem verdammten Biest, dem Hund . . .
Es mochte so gegen elf Uhr sein, als er wieder einmal einen Höllenspektakel schlug und Mrs. Drew aus ihrem geräuschvollen Schlummer aufschreckte. Sie war noch völlig angekleidet, denn bis Mitternacht hatte sie immer auf den Herrn zu warten. Zunächst lauschte sie, weil sie fürchtete, vielleicht das Klingelzeichen überhört zu haben, als aber die Glocke still blieb, verwünschte sie Molly, die an allem schuld war. Das faule Ding wälzte sich drüben in ihrer Schlafstube bereits im Bett, die arme alte Mutter aber kam nicht dazu, auch nur für fünf Minuten ein Auge zuzumachen.
Mrs. Drew schmerzte der Kopf, da sie wegen des schrecklichen Ärgers den ganzen Nachmittag und Abend immer wieder von ihrem Beruhigungsmittel hatte nehmen müssen. Da würde ein bißchen frische Nachtluft ganz gut tun, und dabei konnte auch der verdammte Köter eins über die Schnauze bekommen, daß er sie die ganze Nacht nicht mehr aufbrächte.
Der Hund ahnte so etwas, als er seine Herrin mit einem kräftigen Besenstiel auftauchen sah, und er wußte auch, daß er da nicht einmal in seiner Hütte vor empfindlichen Püffen sicher war. Er zerrte daher mit einem schauerlichen Geheul voll Wut und Furcht verzweifelt an der Kette, und eben, als der Besenstiel ausholte, gelang es dem Köter, loszukommen. Mrs. Drew sandte ihm zwar den schweren Knüppel nach, kam aber beträchtlich zu spät, und das war nicht danach angetan, ihre Laune zu verbessern. Es war ein ganz verhexter Tag, an dem alles schiefging. Aber wenigstens würde das Biest sich jetzt nicht gerade vor ihren Fenstern austoben.
Mrs. Drew wollte sich's nach diesem neuerlichen Ärger und nach dieser Anstrengung ein wenig auf der Hausbank bequem machen, kam aber nicht dazu. Die Klingel in der Wohnstube ratterte nun wirklich plötzlich Sturm, daß man es bis auf den Hof hinaus hörte. Das war noch nie vorgekommen, und es fuhr Mrs. Drew so in die empfindlichen Beine, daß sie einen Augenblick nicht vom Fleck konnte. Aber dann raffte sie sich auf und schnaufte ins Haus. Der Zwist mit Molly war völlig vergessen, und sie klopfte hastig an deren Tür.
»Komm rüber und hilf mir«, flüsterte sie aufgeregt. »Der Herr ist da und scheint es schrecklich eilig zu haben.«
Aber Molly gab eine so unartige Antwort, daß die gekränkte Mutter ein verzweifeltes Fauchen hören ließ und vor Empörung mit der Laterne nicht zurechtkommen konnte. Mittlerweile gellte die Klingel ununterbrochen weiter, und im gleichen Tempo schepperten auch die Knie der armen Mrs. Drew.
Endlich war es aber doch soweit, und die alte Treppe ächzte wehleidig, als die eilige Frau ihre zweihundert Pfund Stufe um Stufe hinaufstemmte.
Molly hatte ihr Ohr an der Tür und begleitete im Geiste die Mutter auf ihrem Gang. Sowie die Alte auf dem ersten Absatz angelangt war, schlüpfte sie blitzschnell in die Wohnstube hinüber und fuhr mit sicherem Griff in den Strohsack der mütterlichen Lagerstatt.
Als sie die Hand leer herauszog, schnitt sie eine wütende Grimasse und drohte mit der Faust grimmig nach oben, hielt sich aber nicht weiter auf. Wenn ihr die Sache bei der Miss gelang, konnte sie auf die paar lumpigen Pfund pfeifen. Das Wertvollste schleppte dieser alberne Goldfisch zwar mit sich herum, aber in dem großen Koffer gab es ein Bündel Geld, mit dem ein bescheidener Mensch eine ganze Ewigkeit auskommen konnte. Und verschiedene andere Dinge, zu denen man nicht alle Tage kam, waren auch noch da . . .
Mrs. Drew langte so atemlos oben an, daß sie sich ehrlich auf ihren Sessel freute, aber daraus wurde nichts. Sie hatte kaum das Zimmer betreten, als hinter dem Vorhang bereits die krächzende Stimme des Herrn erscholl.
»Zum Teufel, wo stecken Sie denn so lange? – Die Miss – aber rasch.«
Noch mehr als die Worte, jagte Mrs. Drew der Ton über den Gang zurück. So aufgeregt hatte sie den Herrn noch nie sprechen hören.
Isabel Longden wartete bereits an der Tür. Die Unruhe im Haus hatte sie aus ihren Träumen aufgestört, und sie ahnte, daß eine Entscheidung bevorstand. Der Unbekannte, von dem ihre Gedanken nicht loskamen, schien also wieder einmal recht zu behalten. Einen Augenblick wollte sie so etwas wie Furcht beschleichen, aber dann fühlte sie nach der Waffe in ihrer Handtasche und ließ sich von der keuchenden Mrs. Drew widerstandslos fortschleifen.
Auch Isabel fiel die ängstliche Hast auf, mit der der Mann hinter dem Vorhang sich heute gebärdete.
»Gehen Sie hinunter und rühren Sie sich nicht aus der Stube, bis ich läute«, befahl er der Frau, aber deren schlürfende Schritte waren noch zu hören, als er sich bereits in derselben ungeduldigen Art an Isabel wandte.
»Nun, was ist's? Haben Sie das Papier? Ist es richtig ausgestellt? Sind es fünfzehntausend Dollar?«
»Es lautet auf fünfzehntausend Dollar und ist richtig ausgestellt«, erwiderte Isabel etwas eingeschüchtert und öffnete ihre Handtasche.
»Gut«, kam es etwas liebenswürdiger zurück, »reichen Sie es durch den Vorhang. Und dann machen Sie sich sofort fertig, denn Sie müssen noch heute nacht von hier weg. Die gewisse Sache ist zwar in Ordnung, aber hier können Sie nicht länger bleiben. Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich keine Scherereien haben will. Also tummeln Sie sich . . .«
Isabel horchte betroffen auf, denn sie verstand das nicht. Wenn man das Geld nahm und alles in Ordnung war, weshalb sollte sie dann in solcher Eile mitten in der Nacht fort? Welche Scherereien konnte es dann noch geben?
»Wohin soll ich?« fragte sie ratlos.
»Woher Sie gekommen sind.« Die Stimme klang wieder ungeduldig und fast gereizt. »Ich habe Ihnen ja gesagt, daß keine Gefahr mehr besteht.«
Der Vorhang teilte sich, und in seinen Falten erschien eine Hand.
Aber Isabel Longden, die bereits das Papier aus dem Täschchen geholt und einen Schritt vorwärts getan hatte, zögerte mit einem Mal, und ihre Finger nestelten erregt an dem Verschluß, unter dem sich die Waffe barg. So harmlos die letzten Worte geklungen hatten, es war ihr dabei plötzlich die Warnung ihres geheimnisvollen Freundes eingefallen.
»Ich soll denselben Weg zurück, den ich gekommen bin«, fragte sie, indem sie den kalten Stahl krampfhaft umklammerte. »An dem Schwarzen Meilenstein vorüber?«
Die Hand verschwand mit einem jähen Ruck, und aus dem Nebenraum war sekundenlang nicht der leiseste Laut zu vernehmen. Nur auf dem Korridor knarrten die alten Dielen, aber Isabel achtete nicht darauf. Ihre Augen hafteten starr auf dem Vorhang, und ihr Finger lag auf dem Abzug des Brownings.
»Was reden Sie da für dummes Zeug?« ließ sich die krächzende Stimme endlich wieder vernehmen. »An dem Schwarzen Meilenstein vorüber . . . Wer hat Ihnen davon etwas ins Ohr gesetzt? Sie sind doch dort schon einmal nachts vorbeigefahren. Und Sie werden –«
»Ich werde –«, fiel Isabel Longden entschlossen ein . . .
Und dann vernahm sie noch das Klirren der Laterne, die jäh vom Tisch polterte, und verspürte noch die stickende Wolke, die aus der Finsternis in ihr Gesicht stob und sie verzweifelt nach Atem ringen ließ.
Den Schuß, den ihr Finger auslöste, als sie niedersank, nahmen ihre schwindenden Sinne nicht mehr wahr und auch den zweiten nicht, der ihm noch in der gleichen Sekunde folgte. Sie hörte nicht den kurzen Tumult im Nebenraum, nicht das Schlagen einer schweren Tür und nicht das eilige Poltern auf der Treppe und die wütenden Jagdlaute des Hundes auf dem Hof.
Von all dem merkte Isabel nichts mehr. Sie fühlte auch nicht, wie zwei kräftige Arme sie aufnahmen, und sie wußte nichts davon, als zehn Minuten später ihr Wagen sie in wilder Fahrt in der Richtung des Schwarzen Meilensteins entführte.
Nur die arme Mrs. Drew, die folgsam in ihrer Wohnstube saß, hörte den ganzen wilden Spektakel, und er klang ihr wie die Posaunen des Jüngsten Gerichts. Sie vermochte vor Schreck kein Glied zu rühren und erwartete mit stieren Augen und klappernden Zähnen irgendein furchtbares Ende. Wenn sie wenigstens Molly an ihrer Seite gehabt hätte . . .
Aber Molly war bereits unterwegs. Es war alles leichter und glatter gegangen, als sie zu hoffen gewagt hatte, und sie stolperte nun mit ihrem schweren Handkoffer frohen Mutes dem Fahrweg zu.
Nun tauchte schon die alte Scheune auf, die dicht am Weg lag, und Molly mäßigte ihre Flucht, um Atem zu schöpfen. Sie hatte jetzt wohl genügend Vorsprung.
Aber im nächsten Augenblick fuhr sie jäh herum, denn hinter ihr kam etwas mit lautem Keuchen angeschnellt.
Molly unterschied nur eine Gestalt in einem langen Mantel und wußte nicht, ob die wilde Jagd wirklich ihr galt, aber sie begann plötzlich zu rennen, als ob es ums Leben ginge.
Aber der Mann hinter ihr war schneller. Es nützte nichts, daß sie den schweren Koffer opferte, und es hatte keinen Zweck, daß sie zu einem verzweifelten Schrei ansetzte, als sie den fliegenden Atem in ihrem Nacken verspürte.
Ihr Schrei erstickte in einem dumpfen Röcheln, und Molly Drew schlug mit krampfhaft gereckten Armen zu Boden.
Dann flogen die Tore des alten Schuppens auf, und ein Wagen mit abgeblendeten Lichtern schoß fast geräuschlos irgendwohin in die Nacht.