Georg Weerth
Humoristische Skizzen aus dem deutschen Handelsleben
Georg Weerth

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Der Herr Preiss in Nöten

Wiederum stehen wir im Comptoire des Herrn Preiss. Rötlich strahlt der Morgen durch zwei große, halbverstaubte Fenster auf die Tintenkleckse des Schreibpultes. Sandbüchsen, Federmesser, Gänsekiele und ähnliche friedfertige Instrumente schlummern in holder Gemeinschaft neben Postpapier und Propatria. Hohe, ledergepolsterte Dreifüße umringen das Pult; und das Pult hat Schubladen mit Schlössern und Riegeln daran von echtem Eisen.

Totenstille.

»Das Jahrhundert ist sehr schlecht geworden«, seufzt endlich der Herr Preiss.

»Sehr schlecht!« erwidert der dürre Buchhalter mit außerordentlichem Nachdruck.

Armer Herr Preiss... Er war ordentlich mager geworden, unheimlich mager, der sonst so stattlich runde, der handfeste Mann. Die flinken, unternehmenden Falkenaugen hatten allen Glanz verloren; schärfer als früher war die Biegung der Nase, und das sonst so keck nach vorn stehende Kinn, es hing hinab, ja verdächtig hinab auf die Spitzen des Halstuches. An den Kleidern des ehrenwerten Handelsherrn, die, nicht zu vergessen, noch vor dem 24. Februar aus der Bude des kunstfertigsten aller Schneider gingen, sah man indes erst recht, welche Veränderungen sich zugetragen. Die Hose war voller Falten... Wahrheitsliebende Nachbarn behaupteten, der Herr Preiss habe vier geographische Meilen verloren, im Durchmesser.

»Aber mögen die Zeiten auch noch so schlecht sein, die Energie ist mir geblieben!« fuhr der Herr Preiss zu dem Buchhalter fort. Bitterkeit lag im Ton seiner Stimme.

»So Gott will!« seufzte dieser. »Aber die österreichischen Metallique-Coupons fallen mit jedem Tage.«

Wie dem Hexameter der Pentameter folgt, so folgte die Antwort des Buchhalters dem Ausrufe des Prinzipals.

Der Buchhalter Lenz litt mit seinem Herrn; wenigstens scheinbar; denn trotz der schlechten Zeiten erhielt er nach wie vor seine 600 Taler jährlich; das Neujahrsgeschenk extra. Der Herr Lenz hatte noch immer eine rote Nase – das Morgenrot einer bessern Zukunft. Auch im Prisen war bei ihm keine Reaktion eingetreten – braun und duftig tropfte es hinab auf die verblichene Weste. Man sah ihm an der Nase an, daß er noch der alte Buchhalter war, aber dennoch litt er. Seit dem 24. Februar war er dreimal zur Kirche gewesen; stündlich seufzte er sechsmal; zwölf alte Federn fraß er per Tag.

»Ich kann Ihnen versichern«, sprach der Herr Preiss weiter, »nichts auf der Welt konnte mir ungelegener kommen als diese Revolution.«

»Die verfl... Revolution!« hätte der Herr Lenz beinah gesagt.

»Wahnsinn ist es, nichts als Wahnsinn! Froh und glücklich lebten wir dahin. Ein lauterer Bach war unser Leben, kaum getrübt von einer Fallite. Ruhig schlafend bei Nacht, gestärkt erwachend am Morgen, taten wir, was Gott gebot und unser eigenes Interesse. Taten wir Böses, so lag es in der Natur der Sache, denn schwache Menschen sind wir, schwach und vergänglich. Zur Arbeit erhoben wir die Hände; steckten wir sie in die Tasche, so geschah es aus Gründen – um zu halten, was wir hatten. Segen folgte unserm Beginnen wie das Ende dem Anfang. Manchmal waren's 20 Prozent; manchmal darüber. Kam uns die Post, da gab's was. Ein Brief von den Ufern der Lahn, von der Mosel, von den Höhen des Schwarzwaldes: 10 Fässer Heringe, eine Ordre auf Rosinen, und jedesmal war verdient. Ruhig gaben wir Kredit, wie uns selbst kreditiert wurde von Bankier zu Bankier. Gab es Gefahr, da mahnten wir stark, aber immer mit Anstand. Vertrauen genossen wir, Vertrauen gaben wir. Wir zahlten stets so spät als möglich, aber immer in Zeiten. Wir waren immer gefällig, nur nicht zu unserm Nachteil. Sorgend für uns, schadeten wir niemand – uns am wenigsten. Wir ließen leben und lebten. Das letztere war die Hauptsache. Zufrieden waren wir mit Gott und aller Welt, weil wir zufrieden waren mit uns. Trotzend der Konkurrenz, überwanden wir vieles. Leuchtend lag die Zukunft vor uns – da schlägt die verfluchte Revolution hinein!«

»Und unsre Bons auf die Insel Sandwich fallen auf Null«, unterbrach der Buchhalter mit Schwermut.

»Ja, da schlägt die Revolution hinein, wie der Hagel in ein Kartoffelfeld, wie der Blitz in den Spinat! Verschwunden ist unser Hoffen, und unser Glück ist aus. In düstern Träumen wälzt man sich nachts auf seinem Lager, noch gestern träumte ich, eine Guillotine und ein Bettelsack tanzten einen schauerlichen Walzer. Schweißtriefend erwacht man am Morgen, und sieht man in den Spiegel, da glaubt man einen vom Galgen Gefallenen zu sehen. Ruhe suchend im Gebet, gelingt dieses doch selten, denn unheilschwanger steht einem der Tag bevor, und aus den frömmsten Erhebungen zu Gott taumelt man unwillkürlich mit den Gedanken zurück in die entsetzliche Wirklichkeit. Voll Angst beginnt man seine Arbeit, und zitternd eröffnet man jeden Brief, denn es ist nur zu wahrscheinlich, daß irgendeiner ›Mit traurigem Herzen‹ oder ›Ich sehe mich in die traurige Notwendigkeit‹ oder ›Bei dem Drang der Verhältnisse bedaure ich‹ oder mit irgendeiner andern bankrotten Phrase beginnen wird. Falliten folgen Falliten, und der Kredit ist erschüttert bis in seine Urtiefen. Throne wackeln, und es wackelt der letzte Seifensieder. Bankiers fallen wie die Fliegen im Winter, und die, welche auf den Beinen bleiben, sind so hartleibig, als hätten sie nur Wasser gesoffen und gekochte Eier dazu gegessen seit sieben Monaten. Wegen jedes Lauseposten wird man gemahnt, als schuldete man eine Million zwei Jahre über Verfalltag. Die gleichgültigsten Freunde und weitläufigsten Anverwandten pumpen einen an wie der Student seinen Stiefelfuchs. Aufträge bleiben aus; die, welche eintreffen: Ziel 14 Monate. Keiner traut seinem Nachbarn; man betrachtet sich wie ein Robert Macaire den andern. Auf der Straße geht man einher wie ein Leichenbitter, verhöhnt von rohen Proletariern, gierig angegafft vom nimmersatten Volk. Auf der Börse ist es still wie mitten in einem Kornfelde. Man hört die Mäuse an den Wänden krabbeln, und Tränen rinnen um die angeschlagenen niedrigen Kurse. Oh, Herr Lenz, wir sind heimgesucht worden von einer schweren, sehr schweren Landplage. Wie ein trauernder Jude an den Wassern zu Babylon, also sitze ich klagend auf meinem Comptoirstuhl.«

Eine Pause entstand. Herr Preiss bedeckte die gewaltige Stirn mit beiden Händen, indes der Buchhalter Lenz eine Prise nahm, von den allergrößten.

»Wir müssen uns einschränken!« fuhr der Herr Preiss endlich fort. Der Buchhalter spitzte die langen Ohren und hielt unwillkürlich in der zweiten Prise inne.

»Wir müssen uns einschränken, Lenz. Die Ökonomie ist das einzige, was uns retten kann.«

Der Buchhalter wurde immer aufmerksamer.

»Man muß sich durchlavieren wie ein guter Seeräuber. Wir verdienen nichts mehr; die Geschichte kann nicht länger so fortgehen.«

Dem Buchhalter wurde es schwül zumute.

»Vor kurzem habe ich noch unsern alten Kommis Sassafraß verabschiedet.« –

Dem Buchhalter ging ein Zittern durch beide Waden.

»Wir müssen in diesem System fortfahren –«

›Heiliger Gott!‹ dachte der Buchhalter.

»Mein Entschluß steht felsenfest! Ökonomie! Ökonomie! Dies sei die Losung.«

Des Buchhalters rote Nase erblaßte.

»So merken Sie sich denn –«

Abermals hielt Herr Preiss inne, und eine Pause fürchterlicher Angst raubte dem Buchhalter schier die Besinnung.

»So merken Sie sich denn, Herr Lenz – merken Sie sich.« Hier schlug der erschütterte Prinzipal mit der Faust auf das Schreibpult, daß alle Tintenfässer und Federn und Bleistifte das lustigste Menuett begannen.

»Merken Sie sich, Herr Lenz, wir müssen unsre – Wagenpferde abschaffen.«

Tief seufzte der Buchhalter auf. »Der Wille Gottes geschehe!« murmelte er, und seine Augen blickten gerührt gen Himmel.

»Aber damit sind wir noch lange nicht fertig, Lenz. Dem alten Sassafraß und den beiden Wagenpferden muß ein weiteres folgen.« –

›Es geht aufs neue los!‹ dachte der entsetzte Buchhalter.

»Daß ich den Wagen verkaufe, wenn ich keine Pferde mehr habe, das versteht sich von selbst –«

»Allerdings!« versetzte der Buchhalter, »das ist logisch.«

»Aber auch logisch ist es«, fuhr der Herr Preiss fort, »daß nicht nur in Stall und Remise Modifikationen eintreten –«

»Sondern auch in Küche und Keller«, warf der Buchhalter ein.

»Sowie namentlich im Getriebe meines Geschäftes«, vollendete der Prinzipal.

»Wir sind auf derselben Stelle«, seufzte der Buchhalter, und der Angstschweiß brach ihm aus allen Poren.

»Merken Sie sich deswegen ferner, Lenz –«

»Ich merke mir.«

»Und notieren Sie sich –«

»Ich notiere mir.«

»Die Produktionskosten und die Betriebsspesen müssen bis auf ein Minimum reduziert werden.«

»Bis auf ein wahres Minimum«, stotterte der Buchhalter.

»Zu diesen Reduktionen gehört erstens –«

»Erstens –«

»Daß in unserm Geschäftspersonal –«

»Verehrter Herr Preiss«, unterbrach der Buchhalter.

»Es geht nicht anders, Lenz! In unserm Geschäftspersonal –«

»Stoßen Sie nicht Ihre treuesten Diener von sich!«

»In unserm Geschäftspersonal –«

»Kann man mit den Arbeitern im Magazine anfangen –«

»Allerdings, Lenz! Und dann müssen wir ans Comptoir gehen –«

»Und den einen Lehrling abschaffen –«

»Und den jüngsten Kommis – Lenz!«

»Allerdings.«

»Sowie ferner – es tut mir leid – nein, der jüngste Kommis kann bleiben – es tut mir sehr leid – was Sie betrifft – Lenz.«

Hier hatte die Geduld des Buchhalters ein Ende. In großen Tropfen rann der Schweiß auf seine erblichene Nase. Die grüne Brille entglitt ihr, und wie eine Blume im Sturm brach er zusammen, der unglückselige Mann, und die Arme eines Comptoirstuhles nahmen ihn auf und hielten ihn fest umschlossen.

Der Herr Preiss hatte indes nicht vollendet. Der Schluß seiner Phrase war ihm auf der Zunge geblieben, denn eben trat der Postbote ins Zimmer und überbrachte die Zeitung. Seit den Februarereignissen in Paris und seit den eingetroffenen Wiener Nachrichten hätte sich der Herr Preiss nicht durch vierundzwanzig Pferde von sofortigem Lesen der Zeitung abziehen lassen. Die Unterredung mit dem Buchhalter wurde daher im Nu unterbrochen, und die grüne Mütze tief ins Gesicht drückend, die Beine fest ineinanderkneifend und das Zeitungsblatt mit beiden Händen ergreifend, schickte sich der würdige Herr auf der Stelle an, die Bühne der Welt rasch lesend zu durcheilen.

Armer Preiss! Du wußtest nicht, was du tatest. Seht ihn sitzen, den gewaltigen Mann. Er schaut in das verhängnisvolle Blatt, er liest nur einen Augenblick – da ergreift ein Zittern all seine Glieder, seine Knie schlottern, die Mütze fällt vom Haupte: »Revolution in Berlin!« ruft er mit erstickter Stimme, und wie der Buchhalter Lenz gegen Westen gefallen, so sinkt der würdige Prinzipal gen Osten in die Arme des Lehnstuhls. »Hallo! Jetzt ist der Teufel erst recht los –«, das sind die letzten Worte, die er zu sprechen vermag, die Zunge versagt ihm den Dienst, seine Augenlider sinken, und wiederum herrscht auf dem weiten Comptoir Todesstille.

Rötlich aber strahlt der Morgen durch die zwei großen, halbverstaubten Fenster auf die Tintenkleckse des Schreibpults.

 

Nach jener welterschütternden Nachricht der Berliner Revolution hatte der Herr Preiss einen kläglichen Tag verlebt. Da kam die schwarze Nacht, und seine Angst stieg um 20 Prozent. ›Die Nacht ist keines Menschen Freund‹, dachte der Herr Preiss und suchte in seinem Pult nach zwei alten türkischen Pistolen, die ihm einst sein Großonkel mütterlicher Seite von einer Entdeckungsreise in den Orient mitgebracht hatte. Er schickte in die Apotheke und ließ sieben Lot Pulver fordern, prima Qualität. Kugeln fehlten ihm – er nahm zwei Achatkugeln aus seinem Petschaft.

Nach dem Abendessen, welches lautlos und in ängstlicher Erwartung der Dinge, die da kommen sollten, verzehrt wurde, verriegelte Herr Preiss eigenhändig alle Türen des Hauses. Eine Dogge, halbe Rasse, wurde in der Küche hinter dem Fensterladen angebunden; ein Nachtlicht brannte auf dem Hausflur. Gegen 11 Uhr schlich der würdige Mann mit todesverächtlicher Miene die Treppe hinauf in sein Schlafgemach. Tiefe Stille. Es war sehr unheimlich – ›Jedenfalls siehst du einmal unter dein Bett!‹ dachte Herr Preiss – die eine türkische Pistole in der Hand, bückte er sich mühsam, und voll schauerlicher Freude überzeugte er sich davon, daß alles in Ordnung, daß kein Schinderhannes zugegen und daß nur der weiße, unschuldige Nachttopf ruhig und gelassen dastand in der Fülle seiner harmonischen Formen. Wie es jeder Fromme zu tun pflegt, zog der Herr Preiss auch diesmal vor dem Nachtgebet seine Uhr auf, eine Genfer Repetieruhr, laufend in sechs falschen Diamanten. Dann eine baumwollene Mütze mit großem Quast aus der Kommode ziehend, krönte er sein müdes Haupt bis tief über die Ohren.

»Die Unterhose kannst du anbehalten«, murmelte er. »Man kann nicht wissen, wofür es gut ist; auch die Strümpfe werde ich nimmer ausziehen; man weiß nicht, was passiert...« Da setzte er den Fuß auf die Lehne des Bettes.

Also dastehend in weißer Unterhose, in baumwollener Nachtmütze und das eine Bein auf dem Rande des Lagers, empfahl Herr Preiss sich dem allmächtigen Schöpfer Himmels und der Erde, und noch einmal hinaushorchend, ob sich auch gar nichts rege da draußen in der revolutionären Außenwelt, taumelte er dann mit einem kühnen Salto mortale in die sanften vaterländischen Kissen. Auf dem Nachttisch aber lagen die zwei türkischen Pistolen, ein Federmesser und drei Dutzend Schwefelhölzer.

Mehrere Stunden mochte der Schlafende ruhig geschnarcht haben, da neigte sich der Träume lieblicher Gott über die baumwollene Nachtmütze des würdigen Handelsherrn und ließ ihn träumen folgenden Traum. Der Herr Preiss träumte, alle Zahlen seines großen Hauptbuches hätten ein Komplott, eine Konspiration gegen sämtliche Nullen desselben gebildet.

Die Nullen, weil ihrer zwei hinter Eins: Hundert und weil ihrer fünf hinter Eins: Hunderttausend ausmachen, hatten nämlich seit undenklicher Zeit behauptet, daß sie allein Wert und Wichtigkeit in der Welt hätten und daß alle übrigen Zahlen nur existierten, um ihnen wohlgefällig zu sein. Bei öffentlichen Gelegenheiten in Adressen und Proklamationen vergaßen sie nie, diese Ansicht geltend zu machen, und wenn die guten, geduldigen Zahlen Einwendungen zu machen suchten, so wurden sie höchstens ausgelacht und mit einem Rüffel von wegen ihres beschränkten Untertanenverstandes wieder entlassen.

»Wir, von Gottes Gnaden, Null«, hatte manche dicke Null in dergleichen Fällen gesagt, »tun hiermit kund und geben zu wissen, daß ihr dummen, aber zudringlichen Zahlen euch jeglicher Einmischung in unsre Kraft und Herrlichkeit enthalten sollt, widrigenfalls wir euch laut einem funkelnagelneuen Strafgesetzentwurf mit Knütteln, Bajonetten, Kartätschen und Schrapnells allerhöchst vom Leben zum Tode befördern werden.«

In solchem Stile, umwunden von einigen bürokratischen Verblümungen, beliebten die Nullen ihre Weisheit den Zahlen gegenüber an den Tag zu legen; und wie ein ehrlicher Mann vieles glaubt, wenn es ihm nur mit dem gehörigen Nachdruck gesagt wird, so glaubten auch die Zahlen bald an das, was ihnen die Nullen vortrugen, und es konnte nicht fehlen, daß sich mit der Zeit zwischen beiden Parteien das allerschönste Untertanenverhältnis entwickelte und schnell eine ganze Hetze von königlichen, kaiserlichen, fürstlichen, landgräflichen und ähnlichen Nullen gleich einem Heuschreckenschwarme das Land bedeckte.

Die Zahlen, als schlichte, biedere Staatsbürger, die sich lieber mit ihren Gewerben, mit Künsten und Wissenschaften als mit groben Nullen abgaben, hatten kaum gemerkt, daß die letztern sich mit jedem Tage fester und feister fraßen. Sie fuhren mit Vieren, sie schossen alle Hasen, sie fraßen Eis en vanille und rochen wohlriechend. Dazu liebten sie ihrer Untergebenen Schweiß und Blut; beides zapften sie ab und tranken es zum Wohle ihrer Staaten. Bei dieser guten Lebensart wurden sie, je länger, je lieber, immer aufgeblasener und hochmütiger. Sie stifteten Zerwürfnisse durch ihre Strafentwürfnisse, sie preßten durch ihre Preßgesetze; sie verboten das Singen und das Reden, ja beinahe das Husten und das Pissen.

Da brach den Untertanen die Geduld; sie kamen zusammen in kleinen Waschzetteln und Wirtshausrechnungen; sie überlegten, was zu tun sei, und entwarfen folgende Adresse an die zunächst residierende Herrschaft:

»Allerdurchlauchtigste Majestät, allergnädigster König und Null! Ew. null und nichtigen Hoheit erlauben wir uns hierdurch die friedliche Bemerkung zu machen, daß wir zwar gern Dero Wichtigkeit insoweit anerkennen, als die Null überhaupt im Dezimal- und sonstigen Rechnungssystem Bedeutung hat, daß wir aber sehr bezweifeln, ob Ew. königl. Null noch dann irgendeinen Wert hätte, wenn Ihr nicht stets eine bürgerliche Zahl vorherginge. Indem wir daher Ew. null und nichtigen Hoheit dringend anempfehlen, gütigst sofort die Souveränität der Zahlen eintreten lassen zu wollen, verharren und ersterben wir freundschaftlichst und ergebenst Ew. königl. Null betreffende Zahlen: Eins, Zwei, Drei, Vier, Fünf, Sechs, Sieben, Acht und Neun.«

Die zwar höfliche, aber nichtsdestoweniger höchst energische, im sogenannten jakobinischen Stile abgefaßte Adresse der Zahlen an Se. Majestät, die königliche Null, zeigte nur zu deutlich, daß sich die Unterzeichneten bemühten, das Verhältnis zwischen Fürst und Untertan von dem weltbekannten, historischen Rechtsboden auf die breiteste demokratische Grundlage hinunterzuziehen. Ihre null und nichtige Hoheit gerieten deswegen in die außerordentlichste Mißstimmung. Minister wurden entlassen, Gesandte wurden abberufen, Kammerjäger bekamen Fußtritte, und die Orden verringerten sich bedenklich. Am entsetzlichsten machte sich indes der Unwille Ihrer Majestät in dero allerhöchsten Handschreiben an sämtliche null und nichtigen Vettern und lieben Getreuen des weiten Landes Luft. Der freche, unehrerbietige Tadel altehrwürdigen Herkommens, den sich die Volksversammlung der Zahlen in den Augen Ihrer Majestät zuschulden kommen ließ, wurde in den schwärzesten Couleuren geschildert. Man sprach geradezu von einer weitverzweigten Konspiration, welche den Umsturz alles Bestehenden zum Zweck habe und nach vielfachen anarchischen Volksbelustigungen mit einer blau-weiß-rötlichen Republik endigen solle.

Zahlreiche Spione mit blonden Schnurrbärten und tiefliegenden, schmutzig-blauen Augen, Leute von Gesinnung und Charakter, die sich zu des respektiven Landesfürsten wohldressiertesten Dienern rechneten, waren aufs eifrigste bemüht, der um sich greifenden Verderbnis der niederen Volksklasse nachzuspüren, und es bedarf wohl nicht der Versicherung, daß diese gefälligen, achtungswerten Männer zu Nutz und Frommen ihrer null und nichtigen Herrn aus der Mücke der Wahrheit jedesmal den Elefanten der Lüge zu bereiten wußten und so die unselige Kluft zwischen Null und Zahl nur noch immer weiter und tiefer machten. – Es würde zu weitläufig sein, diese zu einer unheilvollen Katastrophe sich entwickelnde Spaltung in allen ihren Details verfolgen zu wollen. Der Herr Preiss träumte sie auch nur abgerissen und fragmentarisch, und wir sind zu gewissenhaft, um irgend etwas schildern zu wollen, was nicht wirklich faktisch und historisch in der unsterblichen Seele des Schlafenden zur Welt kam.

Jedenfalls wurden die Sachen sehr schlimm. Der berühmten Petition der Zahlen war von seiten der Nullen die tiefste offizielle Stille, von seiten der Zahlen die Qual der peinlichsten Erwartung gefolgt. Die guten untertänigen Zahlen wollten eine Antwort auf ihre Eingabe, ehe sie dem Throne wieder frohlockend nahten; die hochgeborenen Nullen wünschten dagegen nicht früher etwas zu erwidern, als bis die gehörige Anzahl Schrapnells angefertigt worden sei und die außerordentlich kurzen diplomatischen Verhandlungen unter den verschiedenen Höfen ein anständiges Ende erreicht hätten.

Endlich waren diese durchaus nötigen Präliminarien erledigt, und da sich gerade ein sonderbares volkstümliches Gemurmel in den Grundschichten des bürgerlichen Lebens kundtat, so beeilte sich die eine namentlich angegangene Null um so mehr, ihren königlichen Gesinnungen in folgender höchster Proklamation den so sehr gewünschten Ausdruck zu verleihen.

Diese durch den »Staats-Charivari« veröffentlichte Proklamation hieß folgendermaßen:

»Irregeleitete Zahlen, sehr freche Landeskinder! Wurzelnd in dem Rechtsboden meiner glorreichen Ahnen und gehüllt in den Fabelmantel meiner absoluten Herrlichkeit, fühle ich das größeste Bedürfnis, ein unsägliches Mitleid mit euch zu haben. Die Forderung, euch die Souveränität zu bewilligen, beweist wohl am besten, daß ihr hiezu noch nicht reif seid. Der Untertan ist nicht ein fortdauernd nehmendes, sondern ein duldend empfangendes Wesen. Wehe euch, daß ihr herausgetreten aus eurer naturwüchsigen Entwickelung. Solange eine Null noch Wert und Wichtigkeit hat, wird euch nimmer gewillfahrt werden; denn es ist meine Pflicht, über euch zu wachen und zu herrschen wie eine wahrhaft landesväterliche, königliche Null.«

Ähnliche, von fast allen kaiserlichen wie land- und reichsgräflichen Nullen erlassene Proklamationen waren die Signale zu einem wahrhaft thronerschütternden Volksunwillen.

Man raunte sich überall in die Backenbärte: entweder müsse man eine Revolution veranstalten oder man blamiere sich vor der ganzen Tierwelt. In einer massenhaft besuchten Volksversammlung drang diese Ansicht noch mehr durch. Die Eins, ein gerade gewachsener, tüchtiger Mann, setzte sie ohne viele Gestikulationen in einer trefflichen Rede sehr verständlich auseinander. Die Zwei, wie ein listiges Fragezeichen aussehend, machte sie zwar durch einige Einwürfe für den Augenblick wankend; als dann aber die Drei, ein recht knorriger Mann aus dem Volke, auftrat, da war die Sache schnell wieder im Zuge, und es bedurfte schließlich nur der kantigen Vier, um für die betreffende Angelegenheit den schallendsten Applaus zu erregen.

Mit dem glänzendsten Pathos entwickelte dann die bombastische Fünf die Segnungen, welche einem Umsturz des Bestehenden folgen würden. Die Sechs, ein entschiedenes, energisches Wesen, drang da auf Abstimmung; man gab aber noch der Sieben das Wort, die nach ihrem galgenähnlichen Äußern einen außerordentlichen Redeerguß verhieß.

Die Acht zeigte sich ebenfalls noch auf der Tribüne; da sie aber durch ihre aus zwei Nullen bestehende Gestalt nur zu sehr an eine außereheliche Abkunft höhern Orts erinnerte, so entstand ein wahrer Orkan von Völkergeschrei, und schnell mußte sie der keulenähnlichen Neun den Platz überlassen, die ohne weitere Umstände die Motion machte, daß man die Sitzung sofort auf die Straße verlege, um ihr einen desto praktischern Anstrich zu verleihen.

Soweit hatte der Herr Preiss geträumt, da seufzte er tief auf, und der Quast der baumwollenen Nachtmütze bewegte sich über seinem Haupte. »Das Volk steht auf, der Sturm bricht los.« – Mit Schrecken gewahrte er, wie die Zahlen und die Nullen die weiße, ebene Fläche seines großen Hauptbuches dazu ausersehen, das Schlachtfeld ihres Souveränitätskampfes zu werden.

Deutlich sah er, wie die Nullen des Kapitalkontos in geordneten Linien von der einen Seite heranrückten und wie sich von der andern die Zahlen aus allen kleinen Rechnungsposten in zwar ungeregelten, aber desto wildern Massen in den Kampf drängten. Einige Kolonnen roter Zinszahlen, welche mit der republikanischen Infanterie des Auslandes die frappanteste Ähnlichkeit hatten, ließen ihre Fronten noch schauerlicher erscheinen und trugen nicht wenig dazu bei, das königliche Blut der Nullen vor Schreck erstarren zu machen. Nur der kommandierende Prinz, eine Null vom reinsten Wasser, der Abgott der legitimen Soldateska, hatte sein schreckliches Herz auf der rechten Stelle; er hatte zwei große historische Rittersporen an die Absätze seiner allerhöchsten Stiefel geschnallt; in der königlichen Faust trug er ein schartiges, sehr antikes Schwert aus der Blütezeit des Absolutismus. Manchmal reitend auf einem englischen konstitutionellen Renner, bestieg er doch heute einen vaterländischen urkräftigen Klepper. Den Schnurrbart streichend, kommandierte er in jenem berüchtigten fürstlichen Akzent das »Vorwärts«; die Garde blies auf ihren Schalmeien das entsetzliche Lied: »Liebe, Liebe ist mein Leben, Liebe ist mich nötig«, und unaufhaltsam wogte die Schar der Nullen ihren Feinden entgegen. Diese, mit bürgerlichen Mistgabeln, mit modernen Basaltblöcken und höchst beunruhigenden Eisenstangen, stellten sich ebenfalls in Reihe und Glied. Zarte Frauen schickten sich an, von den Dächern hinab die königlichen Nullen zum zweiten Male mit zwar erhitztem, aber dennoch ambrosischem Rüböle zu salben, während die Kinder nicht etwa Rosen und Aurikeln, sondern Scherben echten Kristalls dem heranziehenden Feinde entgegenstreuten. Selbst des Volkes verachtetste Hunde und des Märzes verliebteste Katzen schienen heute ihre Bravour außer alle Frage stellen zu wollen und erhoben als Antwort auf die Janitscharenmusik der königlichen Garde jenes herzerhebende nationale Geheul und Gezisch, das Steine erweichen, Menschen rasend machen kann. Während die beiden Parteien, kaum noch getrennt durch die Entfernung eines unwillkürlichen, gegenseitigen Respektes und durch einige in rein gotischem Stile aufgeführte Barrikaden, einander auf den Leib zu rücken suchten, rollten von der Stirn des Träumenden heiße, schwere Tropfen in den Brustlatz seines unschuldreinen Hemdes.

Der Herr Preiss erkannte nämlich gar nicht die welthistorische Bedeutung seines Traumes. In der Empörung der Zahlen gegen die Nullen seines Kapitalkontos sah er einzig und allein eine Gefährdung seiner kommerziellen Interessen. Gern hätte er deswegen das verhängnisvolle Hauptbuch hintereinander zugeschlagen, um auf diese Weise beide Parteien in der Geburt ihres Streites zu ersticken. Je näher der Ausbruch der Feindseligkeiten bevorstand, desto reaktionärere Gelüste erfaßten ihn. ›Am Ende sollst du mit deinem guten Gelde die Kosten dieser zwar sehr interessanten, aber dennoch verwerflichen Umwälzung bezahlen‹, dachte er, und ich frage jeden Unparteiischen, ob der würdige Handelsherr nicht das größte Recht hatte, in einen sehr wohltätigen Schweiß auszubrechen.

Das Röcheln seiner träumerischen Angst sollte indes noch größer werden, als nun endlich die erste königliche Kartätsche mit einer unbegreiflichen Unverschämtheit den kühnen revolutionären Zahlen auf die Köpfe fiel und sofort von einem solchen Meteorsteinregen erwidert wurde, daß zwei königliche Nullen klagend das Zeitliche segneten. Der Kampf war nun eröffnet, und mit Entsetzen bemerkte der Träumende, wie dem Angriff der Nullen nur eine immer wilder emporflammende Raserei der Zahlen folgte. Die Säbel der Insurgenten, die Kugeln ihrer Jagdgewehre und die von allen Dächern tropfenden Pflastersteine vernichteten ganze Kolonnen seines Kapitalkontos. Dazu klang das Läuten der Sturmglocken so schauerlich wie das Klappern von falschen Dukaten; es war ihm nicht anders mehr zumute, als hätte er sieben unversicherte Schiffsladungen Kaffee auf der See in einem Äquinoktialsturme; sein edles kaufmännisches Herz schlug wie der Wecker an einer Schwarzwälder Uhr, und mit jeder Null, die hinunter zum Styx fuhr, rollte ein neuer Angstschweißtropfen über seine olympische Stirn.

Alles dies ertrug indes noch die Seele des Gepeinigten; mit wahrem Heroismus sah der herrliche Dulder die Tausende durch das Fallen zweier oder dreier Nullen zu Zehnern oder zu Einern werden; als aber endlich den Kieselsteinen, den Büchsenkugeln, den Ölphiolen und den Bierglasscherben gar noch der Feuerbrand folgte, als man das ganze Hauptbuch mit sämtlichen kaiserlichen, königlichen, gräflichen und ähnlichen Nullen in Brand zu stecken suchte: da fuhr er empor mit dem Schrei der Verzweiflung, die baumwollene Nachtmütze entsank seinem Schädel, und die Decken zur Seite schiebend und mit beiden beunterhosten Beinen zu gleicher Zeit dem Bette entfahrend, griff er wie rasend nach einer der türkischen Pistolen des Nachttisches; rechts und links stürzten Leuchter und Schwefelhölzer, Pantoffeln und Nachttopf – losknallte das Pistol, und das Schlafgemach krachte bis in sein letztes Mauseloch.

Der Buchhalter Lenz, der eben seinen Herrn zu wecken gedachte und voll haarsträubender Angst, daß er sich frevelnd ein Leides angetan, ins Zimmer stürzte, fand den würdigen Prinzipal selig lächelnd am Fenster stehen. Der Herr Preiss sah, daß er geträumt hatte, und neugierig blickte er hinüber nach dem nächsten Kirchturme, von dessen Spitze die schwarzrotgoldene Fahne lustig im Morgenwinde flatterte.


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