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Pfeilschnell flog der Dampfer den Fluß Mersey hinunter. Ein paar Minuten lang ergötzte uns noch das bunte Treiben der Liverpooler Docks, das Singen der Matrosen, das Flattern von tausend Wimpeln und die Stadt selbst mit den greulich hohen Warenhäusern, die so voll sind von süßem Zucker, von langweiligem Tee und ambrosischem Rum, daß ich nicht begreife, weshalb ein solches Haus nicht gelegentlich den Verstand verliert, zu taumeln beginnt und weit hinaus ins Meer springt – einen Hering zu fangen! Denn ein Hering schmeckt vorzüglich, wenn man Tee mit unermeßlichem Rum genoß. Im Grunde des Herzens war ich froh, daß wir Liverpool bald im Rücken hatten. Herr Venedey hat recht, es ist eine ermüdende Stadt. Ich fand hohe Häuser, kleine Menschen und große Kaufhäuser darin; außerdem etwas Welthandel und frische Austern im Keller des Adelphi-Hotels. Gibt man diesen letzteren, nämlich den Austern, ein gutes Wort, so schlagen sie dreißig Purzelbäume in der Kehle und schreien: »Billig, sehr billig, nur acht Pence das Dutzend!« Sonst wußte ich nicht viel zu notieren. Jedenfalls sind mir aber zwei junge Hamburger unvergeßlich, die ich am Abend vorher gegen elf Uhr auf der Straße fand. Die Hamburger sind gewöhnlich nicht dumm, und diesen Vorzug hatten auch die beiden braven Leute, welche mich damals in gebrechlichem Englisch anredeten und mir treuherzig mitteilten, sie hätten sich fest vorgenommen, unter allen Umständen, à tout prix, sich den Rest der Nacht ganz ungeheuer gut zu amüsieren, und ich, als Eingeborener, sollte ihnen dabei behilflich sein. Natürlich eröffnete ich ihnen zuerst, daß ich nicht die Ehre hätte, ein Eingeborener zu sein, sondern weit hinten in dem Lande der Faiaken zu Hause wäre, und daß ich zweitens, bei ja oder nein, der ihrige sein wolle, Abenteuer aufzusuchen, zu finden und zu bestehen. Wir machten daraufhin gemeinschaftliche Sache, jagten lange vergebens unserem Glücke nach und wären vielleicht ruhmlos in die Heimat zurückgekehrt, hätte sich nicht die – Polizei unser angenommen ...
Unser Schiff schwankte mit knarrenden Masten in die Irische See. Wo blieb meine schöne deutsche Tochter? Marie war eine Deutsche, zum Besuch bei einer englischen Familie aus Manchester, mit der sie eine Reise nach Wales machte. »Holde Männin, teure Landsmännin, was fällt Ihnen ein?«, sogar der graue Kapitän wurde von schauerlichem Entzücken erfaßt, denn die verwegene Schöne hatte eben ihre verzweifelt kleinen Füße auf das purpurne Kissen einer Schiffsbank gesetzt und bog sich weit über den Rand des Verdecks hinaus. »Liebes Kind, Sie fahren nicht auf unserm gemütlichen Rheine, zwischen Bonn und Bingen, wo sich gleich tausend Poeten in die Wellen stürzen würden, wenn Ihnen etwas Menschliches begegnete. Sehen Sie die Irische See, wie sie tobt, wie sie schäumt! Jene Felsen sind das Grab mancher stolzen Fregatte – und Sie achtzehnjährige Blume ... ?« Keine Antwort. Ihre braunen Augen schweiften sehnsüchtig über die tanzenden Wogen, und der Morgenwind, wie galant machte er sich auf und riß den grünen Schleier von ihrem weißen Angesicht. »Halt an, du Geselle!« Er riß das seidene Tuch von ihrem Nacken und die Locken von ihrer Stirn; und wie die rote Korallenkette an ihrem Halse zu rasseln begann und wie die Falten des langen Gewandes immer toller um die leichte Gestalt wogten und wie sie weit schöner war auf der donnernden See als einst auf den heimischen Bergen, da wollte es auch dem alten Ozean nicht länger auf kaltem Grunde behagen: er hob sich murmelnd über die Planken des Fahrzeugs empor und küßte den Saum ihres Kleides, der alte Kerl!
»Ich bin des Spaßes müde, deutsche Donna! Schämen Sie sich gütigst. Lassen Sie sich doch nicht von diesem irländischen Ozean verführen! Seien Sie patriotischer! Und jetzt steigen Sie von der Bank herunter ...« Maria sah mich mit ihren liebenswürdigen Augen so sträflich an. »Ach, ich vergaß ganz, Sie meinen Reisegefährten vorzustellen!« rief sie. »Sehen Sie, hier, Sir John und Miß Clara!«
Ein kleiner Mann und eine große Dame standen vor mir. Sir John aus Manchester – ein Baumwollen-Lord, wie man gewöhnlich die Leute nennt, welche durch den Handel mit Baumwolle oder durch Verarbeitung derselben zu unanständigen Reichtümern gelangten – küßte vor dreißig Jahren zuerst das Töchterchen Clara auf die beiden Lippen. Er war damals ein schlichter Mann, vierschrötig und steif wie fast alle Lancashire-Leute, und Clara war nicht höher, versteht sich, als eine Wachskerze damals.
Als aber aus dem trüben Manchester immer mehr Fabriken aufstiegen, immer schlankere Kamine emporwuchsen, immer mehr Mühlen und Maschinen in den Tag hinein rasselten, als die Arbeiter stets bleicher und stiller wurden und die Herren stets lustiger auf die Börse stolzierten: da war auch aus dem gewöhnlichen steifen Lancashire-Mann ein reicher geschliffener Gentleman und aus dem wachskerzenhohen Töchterlein eine fast sechs Fuß lange Miß geworden, die ihre großen Füße so stämmig auf den Boden setzte wie ein Dragoner, trotzdem daß der Tanzmeister ihr ein über das andere Mal geraten, leicht zu wandeln wie eine Elfe und melodisch wie eine Göttin...
»Sehen Sie, teurer Herr!« sagte der komfortable Cotton-Lord zu mir, »mit den Matrosen ist es gerade wie mit den Fabrikarbeitern. Das sind auch niedrige Menschen. Ich versichere Ihnen, ein solcher Arbeiter denkt nie an den folgenden Tag, und daher kommt es auch, daß er so oft unglücklich wird. Gebe ich einem Arbeiter dreißig Schilling die Woche, da erübrigt er keinen Pfennig – gebe ich ihm fünfzehn Schilling, da wird er auch fertig, nur mit dem Unterschied, daß er bei dreißig Schilling zehnmal betrunken war und bei fünfzehn Schilling nur fünfmal. Nichts aber wirkt verderblicher auf Geist und Körper als Trunkenheit!
Ergo: Man gebe den Arbeitern geringen Lohn, da sorgt man am besten für sie, man gebe ihnen fünfzehn Schilling statt dreißig – da haben sie genug, um zu leben, und zu wenig, um ausschweifen zu können. Der hohe Lohn in England, das ist der Grund der schrecklichen Demoralisation der arbeitenden Klassen! Seien Sie versichert, teurer Herr, ich verstehe mich auf diese Sachen. Seit dreißig Jahren halte ich mich an diese Prinzipien.« – »Und sind ein reicher Mann dabei geworden!« – »Nun ja, man sagt so, aber...«
Von der See aus gesehen, nehmen sich die Berge von Nord-Wales nur wie mäßige Hügel aus. Mehrere Male war es mir, als führen wir auf dem Rheine, von Andernach hinunter, und die Höhen des Siebengebirges stiegen aus der Flut empor. Die vordere Kette der Berge in Wales hat auch wirklich viele Ähnlichkeit mit den rheinischen Gebirgsformen. Alles nahm aber eine andere Gestalt an, sowie wir das Land selbst durcheilten: da gab es keine sanften Täler, voll von blühenden Obstbäumen wie die zu Honnef und Heisterbach – nur rechts und links finstere Schluchten mit einem See in der Tiefe und emporsteigend immer gewaltigere Massen, kahl, dunkel und unheimlich, die sich hin und wieder schroff zerteilen, um stets neue phantastische Felsenbogen erscheinen zu lassen. Kein Baum, kein Strauch schmückt bald die Gegend mehr, nur silberhelle Bäche springen hell aus den Steinen, rieseln erst einzeln und brausen dann, vereinigt in prächtigen Kaskaden, der Tiefe entgegen. Diese Bäche sind eine sehr nützliche Erfindung, denn Mensch und Tier, welche die Berge hinankeuchen, können sich alle zehn Minuten einmal erfrischen; auch wir benutzten sie häufig, indem wir das klare, eiskalte Wasser mit Brandy und Zitronensaft vermischten und auf diese Weise den erfreulichsten Grog américain bereiteten. An jedem Quell machten wir halt und beschauten, was ringsumher von neuen Landschaften sichtbar wurde. Zuerst das Dorf Llauberis mit dem See, dann auf mehreren Hügeln die Trümmer zerstörter Kastelle, die Menai-Straße dann und die Insel Anglesea, welche bald in ihrem ganzen Umfange vor uns lag. Die Aussicht nach der offenen See versperrte uns noch ein kolossaler Bergrücken.
Während unsere Pferde munter vorwärts kletterten, zog von der anderen Seite plötzlich ein sehr beunruhigender Nebel aus den Schluchten empor, die Gipfel waren bald schwarz verhängt, die Gegend unten zwar noch sichtbar, oben aber totale Finsternis. Wir hatten dies nicht zu bereuen, denn wie der junge Held im Titan sich selbst die Binde vor die Augen band, um sie erst auf dem höchsten Punkte der Inseln im Lago Maggiore zu zerreißen und die Alpen und die Seen mit einem Male zu überschauen, so wand uns die Natur ihre Wolkenschleier um die Köpfe, damit wir nun von dem Gipfel des ehrwürdigen Snowdon plötzlich das Wundervollste erblicken möchten. Das war wieder sehr liebenswürdig von der Natur! – Der Snowdon ist der höchste Punkt der Gebirge in Wales. Wir erreichten ihn, ohne es zu wissen, und wunderten uns, als wir mit einem Male vor dem kleinen hölzernen Hause des bekannten William Williams standen. Dieser gute Mann hielt es für seine Bestimmung, auf dem erhabensten Orte Großbritanniens, der, nebenbei gesagt, nur etwa zehn Fuß breit und fünfzehn Fuß lang ist, jahraus jahrein den vorzüglichsten Kaffee zu brauen. William war früher ein Gärtner und sehr glücklich unter seinen Rosen und Veilchen. Eine zornige Ehefrau verbitterte ihm aber das Leben. Da hing er eines Morgens ein Schaffell um die lieben Glieder, stieg den Berg hinan, zimmerte aus Tannenbrettern eine Hütte und weilte nun dort, bibellesend, kaffeekochend und schlafend, ein einsamer Mann, der höchste Mann Englands. Er empfing uns mit offenen Armen...
In Williams Hütte fing es aber an zu stinken – das Fegefeuer auf dem Herde brannte zu arg –, der Kaffeekessel kochte über, es wurde mir ganz teekesselig zumute, mir armem Teufel. »Goddam!« klang es draußen vor der Tür. Es war unser Führer, der aus Herzensgrunde so rief. Der Mann hatte recht, daß er so freundlich andächtig fluchte, denn eben blies der Wind von Irland herüber – noch zwei, drei Stöße – und zusammenstürzten die verräterischen Wolkenmassen. In wildem Strudel wälzte sich der Nebel vom Haupte des Gebirges, und in den Schluchten, wo kein Entrinnen war, zerstob er an den Zacken der Felsen, und höhnisch pfiff der Sturm hinter ihm her und pfiff so lange, bis aus dem Pfeifen ein Heulen und Donnern wurde und die ganze Natur aufzuschreien schien in einem einzigen ungeheuren, in einem zerschmetternden Goddam!
Prächtig aber wandelte die ewige Sonne durch den reinen, heiteren Himmel, und die Wogen des Meeres leuchteten in ihren Strahlen. Rechts in blauer duftiger Ferne die Spitzen der schottischen Berge, links England und Wales und vor uns die See, die unendliche See – mit dem Lande des unendlich verachteten, geknechteten Volkes. Einen Gruß dir, Irland!
Ich blieb allein mit dem Lord zurück. Der gute Mann war selig entschlafen. Er hielt die Hände über der »Times« gefaltet, sein Kopf war rückwärts auf die Lehne des großen Stuhls gesunken, und die Beine, kurz und kräftig, wie sie einem Lancashire-Mann zukommen, ruhten weit voneinander auf dem dunkelroten Teppich. Seliger Mann, glücklicher Handelslord, wie sanft ist dein Schlummer! Welch reizende Träume mögen deiner ewigen Seele jetzt vorüberschweben! Du denkst vielleicht zurück an die Tage deiner Kindheit, deiner stürmischen Jugend, wo du zuerst auf deiner Bleiche ein Stückchen Garn begossest. Die goldgelben Butterblumen nickten dir weissagend aus dem Grase entgegen. Es wurde dir ganz goldgelb vor den Augen, und kühn entwarf dein rastloser Geist die verwickeltsten Pläne. »Ich will der Industrie einen Tempel bauen!«, so klang es von deinen kirschroten Lippen. Du gingst in die nächste Taverne, trankst ein Glas Brandy mit Wasser und wurdest deiner Sache noch viel gewisser und wurdest deiner Sache so gewiß, daß, als wieder die goldgelben Butterblumen im folgenden Jahre auf deiner Wiese blühten, schon eine milchweiß angestrichene Fabrik ins Land hinausschaute und der gewaltige Schornstein, gleich einem einsamen Zeigefinger, dem Vorübergehenden zu gebieten schien: »Wanderer, wer du auch seiest, stehe still! Hier wohne ich!« Gutmütige Ochsen bewegten anfangs deine Maschinen. Aber du schlachtetest deine Ochsen und spanntest den Dampf vor die schnurrenden Räder, und die Räder schnurrten, und die Maschinen stöhnten, während deine Seele jauchzte über die stets wachsende Zahlenkolonne deines riesigen Hauptbuches. Ein wahres Weltbewußtsein bemeisterte sich deiner; mit dem Glanz deiner Stoffe schmücktest du den alten Erbfeind, den Türken – Mitleid ist eine schöne Tugend! –, und den langen Irokesen und den Buschmann, und in hundert Meetings schwärmtest du für die Befreiung der Sklaven und vergaßest schier aus Sorge für die entlegensten Völker, daß deine eigenen Arbeiter, die Gründer deines Glückes, lumpiger einhergingen als Türk, Irokese und Buschmann und geknechteter waren als die geknechteten Schwarzen. – Wie sanft ist dein Schlummer! Blankgemünzte, goldgelbe Butterblumen, freundliche Baumwollballen und zärtliche Dampfmaschinen nicken erheiternd in deine Träume hinein – o gewaltiger Lord!
Aber da erwachte der Lord und fragte mich mit schlaftrunkener, lallender Stimme: »Sagen Sie mir doch, haben Sie in Wales Geschäfte... ?«