Frank Wedekind
Der Marquis von Keith
Frank Wedekind

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Dritter Aufzug

Man sieht einen mit elektrischen Lampen erleuchteten Gartensaal, von dem aus eine breite Glastür in der rechten Seitenwand in den Garten hinausführt. Die Mitteltür in der Hinterwand führt ins Speisezimmer, in dem getafelt wird. Beim Öffnen der Tür erblickt man das obere Ende der Tafel. In der linken Seitenwand eine Tür mit Portiere zum Spielzimmer, durch das man ebenfalls in den Speisesaal gelangt. Neben derselben ein Pianino. Rechts vorn ein Damenschreibtisch, links vorn eine Causeuse, Sessel, Tischchen u. a. In der Ecke rechts hinten führt eine Tür zum Vorplatz.

Im Speisezimmer wird ein Toast ausgebracht. Während die Gläser erklingen, kommen Sommersberg, in dürftiger Eleganz, und v. Keith, im Gesellschaftsanzug, durch die Mitte in den Salon.

v. Keith die Tür hinter sich schließend Sie haben das Telegramm aufgesetzt?

Sommersberg ein Papier in der Hand, liest »Die Gründung der Münchner Feenpalast-Gesellschaft versammelte gestern die Notabilitäten der fröhlichen Isarstadt zu einer äußerst animierten Gartenfeier in der Villa des Marquis von Keith in der Brienner Straße. Bis nach Mitternacht entzückte ein großartiges Feuerwerk die Bewohner der anliegenden Straßen. Wünschen wir dem unter so günstigen Auspizien begonnenen Unternehmen...«

v. Keith Ausgezeichnet! – Wen schicke ich denn damit aufs Telegraphenamt...?

Sommersberg Lassen Sie mich das besorgen. Auf all den Sekt hin tut es mir gut, etwas frische Luft zu schöpfen.

Sommersberg nach dem Vorplatz ab; im gleichen Moment kommt Ernst Scholz herein; er ist in Gesellschaftstoilette und Paletot.

v. Keith Du läßt lange auf dich warten!

Scholz Ich komme auch nur, um dir zu sagen, daß ich nicht hier bleibe.

v. Keith Dann macht man sich über mich lustig! Der alte Casimir läßt mich schon im Stich; aber der schickt doch wenigstens ein Glückwunschtelegramm.

Scholz Ich gehöre nicht unter Menschen! Du beklagst dich, du stehest außerhalb der Gesellschaft; ich stehe außerhalb der Menschheit!

v. Keith Genießt du denn jetzt nicht alles, was sich ein Mensch nur erträumen kann?!

Scholz Was genieße ich denn! Der Freudentaumel, in dem ich schwelge, läßt mich zwischen mir und einem Barbiergesellen keinen Unterschied mehr erkennen. Allerdings habe ich für Rubens und Richard Wagner schwärmen gelernt. Das Unglück, das früher mein Mitleid erregte, ist mir durch seine Häßlichkeit schon beinahe unausstehlich. Um so andächtiger bewundere ich dafür die Kunstleistungen von Tänzerinnen und Akrobatinnen. – Wäre ich bei alledem aber nur um einen Schritt weiter! Meines Geldes wegen läßt man mich allenfalls für einen Menschen gelten. Sobald ich es sein möchte, stoße ich mit meiner Stirn gegen unsichtbare Mauern an!

v. Keith Wenn du die Glückspilze beneidest, die aufwachsen, wo gerade Platz ist, und weggeblasen werden, sobald sich der Wind dreht, dann suche kein Mitleid bei mir! Die Welt ist eine verdammt schlaue Bestie, und es ist nicht leicht, sie unterzukriegen. Ist dir das aber einmal gelungen, dann bist du gegen jedes Unglück gefeit.

Scholz Wenn dir solche Phrasen zur Genugtuung gereichen, dann habe ich auch in der Tat nichts bei dir zu suchen. Will sich entfernen.

v. Keith hält ihn auf Das sind keine Phrasen! Mir kann heute kein Unglück mehr etwas anhaben. Dazu kennen wir uns zu gut, ich und das Unglück. Ein Unglück ist für mich eine günstige Gelegenheit wie jede andere. Unglück kann jeder Esel haben; die Kunst besteht darin, daß man es richtig auszubeuten versteht!

Scholz Du hängst an der Welt wie eine Dirne an ihrem Zuhälter. Dir ist es unverständlich, daß man sich zum Ekel wird wie ein Aas, wenn man nur um seiner selbst willen existiert.

v. Keith Dann sei doch in des Dreiteufels Namen mit deiner himmlischen Laufbahn zufrieden! Hast du erst einmal dieses Fegefeuer irdischer Laster und Freuden hinter dir, dann blickst du auf mich elenden armseligen Sünder wie ein Kirchenvater herab!

Scholz Wäre ich nur erst im Besitz meiner angeborenen Menschenrechte! Lieber mich wie ein wildes Tier in die Einöden verkriechen als Schritt für Schritt meiner Existenz wegen um Verzeihung bitten müssen! – – Ich kann nicht hierbleiben. – Ich begegnete gestern der Gräfin Werdenfels. – Wodurch ich sie gekränkt habe, das ist mir einfach unverständlich. Vermutlich verfiel ich unwillkürlich in einen Ton, wie ich ihn mir im Verkehr mit unserer Simba angewöhnt habe.

v. Keith Ich habe von Frauen schon mehr Ohrfeigen bekommen, als ich Haare auf dem Kopfe habe! Hinter meinem Rücken hat sich aber deswegen noch keine über mich lustig gemacht!

Scholz Ich bin ein Mensch ohne Erziehung! – und das gegenüber einer Frau, der ich die allergrößte Ehrerbietung entgegenbringe!

v. Keith Wem wie dir von Jugend auf jeder Schritt zu einem seelischen Konflikt auswächst, der beherrscht seine Zeit und regiert die Welt, wenn wir andern längst von den Würmern gefressen sind!

Scholz Und dann die kleine Simba, die heute abend hier bei dir als Aufwärterin figuriert! – Solch einer heiklen Situation wäre der gewandteste Diplomat nicht gewachsen!

v. Keith Simba kennt dich nicht!

Scholz Ich fürchte nicht, daß mir Simba zu nahetritt; ich fürchte Simba zu kränken, wenn ich sie hier ohne die geringste Veranlassung übersehe.

v. Keith Wie solltest du denn Simba damit kränken! Simba versteht sich hundertmal besser auf Standesunterschiede als du.

Scholz Auf Standesunterschiede habe ich mich gründlich verstehen gelernt! Das sind weiß Gott diejenigen Fesseln, in denen sich der Mensch am allereindringlichsten seiner vollkommenen Ohnmacht bewußt wird!

v. Keith Glaubst du vielleicht, ich habe mit keinerlei Ohnmacht zu kämpfen?! Ob mein Benehmen so korrekt wie der Lauf der Planeten ist, ob ich mich in die ausgesuchteste Eleganz kleide, das ändert diese Plebejerhand so wenig, wie es aus einem Dummkopf je eine Kapazität macht! Bei meinen Geistesgaben hätte ich mich ohne diese Hände auch längst eines besseren Rufes in der Gesellschaft zu erfreuen. – Komm, es ist sicherer, wenn du deinen Paletot im Nebenzimmer ablegst!

Scholz Erlaß es mir! Ich kann heute kein ruhiges Wort mit der Gräfin sprechen.

v. Keith Dann halte dich an die beiden geschiedenen Frauen; die laborieren in ähnlichen Konflikten wie du.

Scholz Gleich zwei auf einmal?!

v. Keith Keine über fünfundzwanzig, vollendete Schönheiten, uralter nordischer Adel, und so hypermodern in ihren Grundsätzen, daß ich mir wie ein altes Radschloßgewehr erscheine.

Scholz Ich glaube, mir fehlt auch nicht mehr viel zu einem modernen Menschen. Scholz geht ins Spielzimmer ab; v. Keith will ihm folgen, doch kommt im selben Moment Saranieff vom Vorplatz herein.

Saranieff Sagen Sie, kriegt man noch was zu essen?

v. Keith Lassen Sie bitte Ihren Havelock draußen! – Ich habe noch den ganzen Tag nichts gegessen.

Saranieff Hier nimmt man's doch nicht so genau. Ich muß Sie nur vorher etwas Wichtiges fragen. Saranieff hängt Hut und Havelock im Vorplatz auf; derweil kommt Sascha in Frack und Atlas-Kniehosen mit einem gefüllten Champagnerkühler aus dem Spielzimmer und will in den Speisesaal.

v. Keith Wenn du nachher das Feuerwerk abbrennst, Sascha, dann nimm dich ja vor dem großen Mörser in acht! Der ist mit der ganzen Hölle geladen!

Sascha I hab koa Angst net, Herr Baron! In den Speisesaal ab, die Tür hinter sich schließend.

Saranieff kommt vom Vorplatz zurück Haben Sie Geld?

v. Keith Sie haben doch eben erst ein Bild verkauft! Wozu schicke ich Ihnen denn meinen Jugendfreund!

Saranieff Was soll ich denn mit der ausgepreßten Zitrone? Sie haben ihn ja schon bis aufs Hemd ausgeraubt. Er muß drei Tage warten, bis er mir einen Pfennig bezahlen kann.

v. Keith gibt ihm einen Schein Da haben Sie tausend Mark.

Simba, ein echtes Münchner Mädel, mit frischen Farben, leichtem Schritt, üppigem rotem Haar, in geschmackvollem schwarzem Kleid mit weißer Latzschürze, kommt mit einem Tablett voll halbleerer Weingläser aus dem Speisesaal.

Simba Der Herr Kommerzienrat möchten noch an Spruch auf den Herrn Baron ausbringen.

v. Keith nimmt ihr eines der Gläser ab und tritt inmitten der offenen Tür an die Tafel. Simba ins Spielzimmer ab.

v. Keith Meine Damen und Herren! Die Feier des heutigen Abends bedeutet für München den Beginn einer alles Vergangene überstrahlenden Ära. Wir schaffen eine Kunststätte, in der alle Kunstgattungen der Welt ihr gastliches Heim finden sollen. Wenn unser Unternehmen allgemeine Überraschung hervorgerufen, so seien Sie der Tatsache eingedenk, daß stets nur das wahrhaft Überraschende von großen Erfolgen gekrönt war. Ich leere mein Glas zu Ehren des Lebenselementes, das München zur Kunststadt weiht, zu Ehren des Münchner Bürgertums und seiner schönen Frauen.

Während noch die Gläser erklingen, kommt Sascha aus dem Speisesaal, schließt die Tür hinter sich und geht ins Spielzimmer ab. Simba kommt mit einer Käseglocke aus dem Spielzimmer und will in den Speisesaal.

Saranieff sie aufhaltend Simba! Bist du denn mit Blindheit geschlagen?! Bemerkst du denn nicht, Simba, daß dein Genußmensch auf dem besten Wege ist, dir aus dem Garn zu gehen und sich von dieser Gräfin aus der Perusastraße einfangen zu lassen?!

Simba Was bleibst denn da heraußen? – Geh her, setz dich mit an den Tisch!

Saranieff Ich werde mich unter die Karyatiden setzen! – Simba! Willst du denn das ganze schöne Geld, das dein Genußmensch in der Tasche hat, diesem wahnsinnigen Marquis von Keith in den Rachen jagen?!

Simba Geh, laß mi aus! I muaß servieren.

Saranieff Die Karyatiden brauchen keinen Käse mehr. Die sollen sich endlich den Mund wischen! Setzt die Käseglocke auf den Tisch und nimmt Simba auf die Knie Simba! Hast du denn gar kein Herz mehr für mich?! Soll ich mir von dem Marquis die Zwanzigmarkstücke unter Heulen und Zähneklappern erbetteln, während du die Tausendmarkscheine frisch aus der Quelle schöpfen kannst?!

Simba I dank schön! Es hat mi fei noch koa Mensch auf dera Welt äso sekiert as wie der Genußmensch mit seim Mitg'fühl, seim damischen! Mir will der Mensch einreden, daß ich a Märtyrerin der Zivilisation bin! Hast schon so was g'hört?! Ich und a Märtyrerin der Zivilisation! Ich hab ihm g'sagt: Sag du das dena Damen in der G'sellschaft, hab i g'sagt. Die freut's, wann's heißt, sie san Märtyrerinnen der Zivilisation, weil's sunst eh nix san! Wann ich an Schampus trink und mich amüsier, soviel ich Lust hab, nachher bin ich a Märtyrerin der Zivilisation!

Saranieff Simba! Wenn ich ein Weib von deinen Qualitäten wäre, der Genußmensch müßte mir jeden feuchten Blick mit einer Ahnenburg aufwiegen!

Simba Akkurat a solche Sprüch macht er a! Warum as er a Mann ist, fragt er mi. Als gäb's net schon G'spenster gnua auf dera Welt! Frag i denn an Menschen, warum daß ich a Madel bin?!

Saranieff Du fragst auch nichts danach, uns wegen deiner verwünschten Vorurteile fünfzig Millionen aus dem Netz gehen zu lassen!

Simba Mei, die traurigen Millionen! An oanzigs Mal, seit ich den Genußmenschen kenn, hab ich ihn lachen g'sehn. I hab ihm doch g'sagt, dem Genußmenschen, daß er muaß radfahren lernen. Nachher hat er's g'lernt. Mir also radeln nach Schleißheim, und wie mir im Wald san, bricht a G'witter los, daß i moan, d'Welt geht unter. Da zum erstenmal, seit ich ihn kenn, fangt er z' lachen an. Mei, wie der g'lacht hat! Na, sag i, jetzt bist der rechte Genußmensch! Bei jedem Blitzschlag hat er g'lacht. Je mehr als blitzt und donnert hat, je narrischer lacht der! – Geh, stell dich doch net unter den Baum, sag i, da derschlagt di ja der Blitz! – Mi derschlagt koa Blitz net, sagt er, und lacht und lacht!

Saranieff Simba! Simba! Du hättest unmittelbare Reichsgräfin werden können!

Simba I dank schön! Sozialdemokratin hätt i können werden! Weltverbesserung, Menschheitsbeglückung, das san so dem seine Spezialitäten. Noa, woaßt, ich bin fei net für die Sozialdemokraten. Die san mir z' moralisch! Wann die amal z'regieren anfangen, nachher da is aus mit die Champagnersoupers. – Sag du, hast mein Schatz net g'sehn?

Saranieff Ob ich deinen Schatz nicht gesehen habe? Dein Schatz bin doch ich!

Simba Da könnt a jeder kommen! – Woaßt, i muaß fei Obacht geben, daß er koan Schwips kriagt, sunst engagiert ihn der Marquis net für den neuen Feenpalast.


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