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Die Dorfnäherin Maria Rosenauer saß mit ihrem Sohn in einem Wagen des Zügleins, das gemächlich aus dem grünen Gebirge zur Donau hinabglitt. Sie saß am Fenster und ließ die behagliche, innige Landschaft still an ihrem stillen Angesicht vorüberschweben.
Der schmale, hochaufgeschossene Bursch, der mit seiner klaren, klugen und beherrschten Stirn der Mutter überaus ähnelte, sah zuweilen heimlich die träumende Frau an. Aus seinem Auge spiegelte warmer Dank, sie hatte ihm ja die Fahrt in die uralte, berühmte Stadt ermöglicht. Und sein Blick senkte sich immer wieder in einer mit Kummer vermischten Ehrfurcht auf ihre schlanken, blutleeren Finger nieder, die so kunstvoll und so gar ohne Rast Tag und Nacht schafften.
Wie feierlich war die Mutter heute gekleidet! Sonst trug sie sich ganz schlicht und fast ärmlich, heute aber prunkte sie geradezu in einem schwarzen, schillernden, weich fallenden Seidenkleid und in neuen Schuhen, und über ihrem Haar lag ein dunkles Seidentuch, darein sie selber die zartesten Rosen gestickt hatte, in gedämpften Farben, die ihrem ruhigen Geschmack entsprachen. Vor die Brust hatte sie eine altsilberne Fürspange gesteckt. Sie wollte nicht in alltäglichem Gewand vor die starke und gnädige Muttergottes Mariahilf treten, deren Bergkirchlein zu Passau die Wallfahrt gelten sollte.
Und dieses Antlitz voll versonnenen Ernstes wurde heute bisweilen zauberhaft erhellt durch ein unerwartetes, unglaublich entzückendes Lächeln, das der Sohn an der Mutter nicht gewohnt war. Und wie er sie nun in ihrer stillen, stolzen Feier und in dem würdigen Kleid ruhen oder wiederum die Welt mit dem unerklärlich traumhaften Lächeln beschenken sah, da war sie ihm die schönste und edelste Frau der Erde, und er versetzte sie in Gedanken in den Reigen jener seligen Gestalten, die in strahlender Demut die göttliche Jungfrau droben durch den Himmel geleiten dürfen.
Hernach schaute er wieder andächtig an sich selber hinab und fegte sorgsam ein geringes Stäublein von seinem funkelneuen dunkelblauen Anzug, der in seiner Feierlichkeit sich gut zu dem Gewand der Mutter schickte.
Wie lange hatte die Mutter nähen und sparen müssen, ehe sie die zwei teuren Kleider hatte kaufen können! Ach, und wie hat die Maschine viele Jahre lang tief in die Nächte hinein rattern müssen, und wieviel stumme Sorge und Entsagung und verhehlten Schmerz hat dieses opferstarke Weib hier getragen, damit der Sohn, um den sich kein Vater kümmerte, die lateinische Schule besuchen könne! Seinen klugen, erwachten Augen war es nicht verborgen geblieben, wie die Mutter den Rat wohlmeinender Verwandter zurückgewiesen, dem oder jenem wackeren und gesicherten Handwerker als Hauswirtin zu folgen. Nur um ganz der Zukunft des Kindes leben zu können, war sie allein geblieben in ihrem kargen, mühseligen Dasein.
Das Opfertum der Mutter überdenkend, kniff der Sohn die Lippen herb zusammen. Wie eine schwere Schuld lastete es plötzlich auf ihm. Er starrte trüb in die lichte Welt hinaus.
Im Tal war ein kleiner Taufzug zu sehen. Dem jungen Bauer drunten schien das erste Prinzlein geboren worden zu sein, er schwenkte den Hut. Die Hebamme trug das Kind unter samtenem Tuch, und hinter dem glücklichen Taufvater schritten blasend drei Musikanten einher.
Diesem Klingklang entgegen fuhr auf weißer Straße ein Kammerwagen: mit einem flitternden Tännlein geziert, führte er Truhe, Bett und Spinnrad und all die traulich bunte Habe einer Braut, den Grundstock eines neuen Heimes, in das Dorf, wo der Bräutigam wohnte. Mit Bändern waren die gezöpften Mähnen der kugelrunden Rösser durchwunden.
Dieses Doppelbegegnis machte die Näherin traurig, ihre Miene, die vor kurzem noch geschimmert wie ein Maiengarten, vergrämte und beschattete sich.
»Mutter, was fehlt dir?« fragte der Sohn.
Sie seufzte: »Bei mir ist es anders gewesen mit Taufe und Hochzeit.« Und sie erhob sich aus ihrer Versunkenheit und sah ihr erwachsenes Kind scheu an. »Du bist jetzt alt und einsichtig genug, Ludwig, daß ich mit dir Dinge berede, die du am besten aus meinem Mund hörst. Drum wisse, wir fahren nicht nur nach Mariahilf, wir suchen auch deinen Vater heim.«
Der Sohn schrak zusammen. Entgeistert schaute er die Frau an. Niemals hatte sie vor ihm von seinem Vater gesprochen. Selbst dessen Namen hatte sie ihm als ein strenges Geheimnis verschwiegen. Von anderen Leuten nur hatte er manchmal eine flüchtige Andeutung vernommen, ein verletzendes oder ein mitleidiges Wort. Immer hatte es weh getan, wenn irgendwer seines Ursprungs erwähnt hatte, und darum hatte er sich auch nie überwinden können, nach dem Vater zu fragen, um den es daher wie Vergessenheit wob.
»Du sollst ihn kennenlernen und er dich,« sagte die Näherin. »Und du sollst von ihm nicht glauben, daß er ein Windfuß gewesen ist, der dem Herrgott seinen lieben Tag verschlendert und die Hände nicht gern zwischen die Arbeit gebracht hat. Er ist gut und fleißig gewesen.«
»Warum hat er dich dann nicht geheiratet?« hauchte Ludwig. Eine tiefe Anklage lag zwischen seinen gefalteten Brauen.
»Bub, es ist damals nicht gegangen. Ich und er, wir haben alle zwei nicht einen Groschen Geld gehabt. Er ist ein gelernter Spengler gewesen, und weil sein Geschäft im Dorf nichts eingetragen hat, hat er in die Fremde müssen. Und bei mir selber hat immer eine Not die andere ausgejagt.«
»Warum ist er aber später nicht um uns gekommen?« eiferte der Sohn. »Er muß es doch später zu etwas gebracht haben!«
»Ja, Ludwig, einmal ist er wieder heimgekommen. Auf der Gasse hat er mich angeredet, weil meine Mutter, deine Großmutter, Gott hab' sie selig, ihn nicht ins Haus hat lassen. Dich hat er sehen wollen. Da hab' ich noch schnell den feinsten Stoff beim Krämer gekauft, hab' dir über Nacht ein hübsches Kittlein geschneidert. Dein Vater hätte sehen sollen, wie gut du es bei mir hast. Aber da kommt meine Mutter daher. Sie ist eine brave Frau gewesen, aber dem Peter hat sie es bis zu ihrer letzten Stunde nicht verzeihen können. Wie sie das Kittlein sieht, hat sie gleich gespürt, worum es sich handelt. Und sie hat sich nicht erbändigen können, geschrieen hat sie, ich hätte keine [Ehre] mehr im Leibe, daß ich mich wieder dem schlechten Kerl an den Hals werfe, und das Kittlein hat sie mir aus der Hand gerissen und es mir ins Gesicht geschlagen.«
Der junge Mensch errötete und erblaßte, sein Mund bebte, als wolle er reden. Die Arme hingen ihm schlaff.
Die Näherin fuhr fort: »Da bin ich selber trotzig worden, hab' mir vorgenommen, mit ihm nimmer zu reden, und hab' mich mit dir eingesperrt. Eine ganze Woche ist der Peter um unser Haus geschlichen wie ein hungriger Hund. Erbarmt hat er mich. Aber mein Trotz ist größer gewesen als mein Erbarmen. Er hat dich nicht gesehen. Und dann ist er davon – und hat nimmer von sich hören lassen.«
»Mutter,« stammelte Ludwig, »das hättest du nicht –«
Seine Rede erlosch aus Ehrfurcht vor den leidenden Augen dieser Frau. In Scham und Schmerz verhüllte er die Stirn unter dem Arm.
»Ich hab' es bereut,« vollendete sie. »Aber in aller Reue und Not hat mich eines getröstet: daß ich einmal vor deinen Vater treten kann. ›Da, schau' dir deinen Buben an, was aus ihm worden ist! Da, schau', wie groß, wie gut und gescheit er ist! So hab' ich dir ihn erzogen. Du brauchst dich seiner nicht zu schämen!‹«
Ein wundervoller Strahl der Mutterliebe entglühte ihrem Auge, daß dem Sohn davon das Herz entzündet wurde. »Mutter, ich weiß ja alles,« sagte er heiß und heftig. »Ich weiß, wie du jahrein, jahraus um einen Schundlohn dich geplagt hast, wie du gespart und gehungert hast meinetwillen –«
Sie wehrte seiner Rede, und wieder verschönte das seltsame, weltversöhnte Lächeln ihr Antlitz.
»Die schlimme Zeit ist vorüber,« sagte sie. »Und auf diese Reise hab' ich gezittert und mich gefreut Tag und Nacht. Kind, jetzt führ' ich dich zu deinem Vater!«
Sie schwieg und sank in sich selber zurück, als hätte diese Beichte sie entkräftet.
Ihm war es lieb, daß sie nimmer redete. Nun blieb ihm Zeit, in das eigene Herz hinabzuspähen, und es glich einer Schwelle, die nach vieler Düsterheit nun von unerhofftem Glück beglänzt und mit Blumen bestreut war, als müsse ein geliebter, tiefvermißter Gast sie betreten. Und von dieser bekränzten Schwelle flog eine nie geahnte, sehnende Liebe nach dem fremden Vater auf und schwang sich jubelnd und taubenschnell gegen die Donau hin.
Mit ihren Bündlein wanderten sie an Strom und Dom vorbei durch die Stadt Passau. Der Student hielt einen billigen Gassenplan in der Hand und führte. Die Menschen sahen sich nach ihnen um, so feierlich schritten sie einher in ihren dunklen Kleidern.
Nachdem sie in einem unscheinbaren Wirtshäuslein eine Herberge bestellt hatten, setzten sie sich dort in die wölbige Gaststube. Die Näherin aß einige bescheidene Löffel Suppe und rührte dann nichts mehr an. Ludwig jedoch hatte sich das blendweiße Tellertuch fürsorglich im Knopfloch befestigt und faßte mit spitzen Fingern zierlich Messer und Gabel, und seine Mutter freute sich, wie höflich er zu essen verstand.
Einer weitschwiftigen Auskunft der Wirtin folgend, hielten sie bald danach in einem einsamen, altbiederen Gäßlein vor einem Tor, daraus der emsige Lärm eines Hammers scholl. Über dem Tor hing ein Schild mit der Inschrift: Peter Blumstingel, Spengler.
Die Näherin bebte am ganzen Leib vor Aufregung. »Dein Vater hämmert,« raunte sie.
Dem Sohn war, er müsse hineinlaufen in den halb dunkeln Gang, in den Hof, in die Werkstatt, und dem lieben Mann dort die Hand küssen oder den Hammer, den er eben schwang.
Sie hielt ihn zurück. »Jetzt noch nicht, Ludwig! Morgen! Zuerst müssen wir der Muttergottes auf den Knieen danken, daß es soweit gekommen ist.«
Der Sohn nickte. Noch einmal las er das Schild über dem Tor. Den Namen da droben sollte er von Rechts wegen tragen. Er formte ihn zaghaft mit den Lippen, er flüsterte ihn und kostete ihn aus wie eine gute Frucht, und schließlich redete er sich selber damit an: »Ludwig Blumstingel!«
Sie stiegen die unzähligen Stufen der gedeckten Wallfahrerstiege zu Mariahilf hinauf. Während die Näherin Maria Rosenauer mit aller Inbrunst ihrer dankbaren Seele unaufhörlich betete, las der Sohn die vielen hundert Sprüche, die die Pilger in Wunsch oder Erfülltheit an die Wände der Stiegenhalle geschrieben hatten, und einmal weckte er die Mutter aus der Tiefe ihres frohlockenden Gebetes und wies ihr eine der Inschriften, die eine schrankenlose Gläubigkeit hier verzeichnet hatte: »Die heilige Maria bringt alles zuweg!«
In der Kirche droben segnete eben der bärtige Altarmann die Menge, und sie verlief sich. Die lichten Kerzen, die am Gottestisch gegeneinander gestritten hatten, wurden verlöscht.
Doch die Näherin blieb knieen und schaute manchmal von ihrem Andachtsbüchlein zu der Heiligen empor und lächelte: »Sankt Helferin!«
Niemand störte sie. Ludwig hatte sich aus dem stillen Raum entfernt und schaute draußen hinab auf die Ströme. Und so waren die beiden Marien, die strahlende und die kniende, einsam einander gegenüber, diese verklammert in eine dunkle, ihr selber unklare Hoffnung, die sie an die morgige Zusammenkunft knüpfte. Und sie legte dem hohen Frauenbild am Altar vor allem ans Herz das Glück des Mannes, von dem sie Armut und der unversöhnliche Zorn einer alten, versteinerten Frau geschieden. Mit reglosem Munde bekannte sie der Himmlischen ihr irdisches Leid, ihr tiefstes Anliegen, ihren innersten, nur dämmernd gefühlten Wunsch legte sie ihr dar. Und ihrer eigenen Schuld klagte sie sich an.
Oh, war es denn Sünde, daß sie des Weibes Los erlitten? Und war diese Sünde nicht tausendmal gesühnt worden mit ihrer schmerzlichen Mutterschaft?
Wieder lächelte die Beterin. Sie dachte ihres wohlgediehenen, guten Kindes wie einer Gnade und wußte sich verstanden und losgesprochen von der himmlischen Schwester am Altar.
Auf der Landspitze, wo der jagende Inn an die Donau stieß, rasteten Mutter und Sohn auf einer Bank. Die zwei unbereisten, scheuen Leutlein schmiegten sich zärtlich aneinander und froh, sich zu haben, und die Hände einander halten zu können in der fremden Stadt. Und als die fremden Dämmerglocken stark und voll begannen, sehnten sich beide herzlich nach der Heimatstimme ihres schlichten Dorfglöckleins, und die Mutter meinte: »Daheim ist daheim, sagen die Leute.«
Verstohlen aßen sie von dem heimbackenen Brot, das sie im Bündel mitgenommen, wohlfeiler zu leben und die Kosten der Reise zu mindern.
Einmal fragte Ludwig in harter Neugier auf: »Mutter, wie schaut er aus?«
Sie beruhigte ihn. »Gedulde dich! Morgen siehst du ihn.«
Ein Fischer stand dunkel an der Donau. Kinder spielten geräuschvoll im Sand.
In unmittelbarer Nähe der Bank hatte sich ein winziges Mägdlein niedergelassen. Sie legte ihre Puppe trocken, schläferte sie ein und weckte sie wieder und flocht ihr ein Kränzel aus Gras um die Stirn.
Auf einmal hielt sie inne in dem schmeichelnden, mütterlichen Spiel. Das Fäustlein gegen das Auge pressend, rannte sie weinend zu der wohlgekleideten Frau hin, legte ihr die Puppe auf den Schoß und bettelte mit gefalteten Händen.
Die Näherin klemmte das Kind mit sanfter Kraft zwischen die Kniee und entfernte ihm geschickt das Sandkörnlein aus dem Auge.
Im Nu war der Schmerz gestillt und vergessen, und halb singend hub das kleine Ding einen alten Reim an.
»Heilige Frau von Bogen,
ist mir was ins Aug' geflogen.
Heilige Frau von Passer,
meine Augen stehn voll Wasser.
Heilige Frau von Heilingblut,
die mir's wieder ausher tut.«
Die Näherin streichelte dem lieben, vertrauenden Geschöpflein durch das lichte Haar. »Wie heißt du denn?«
Es schämte sich ein Weilchen, wandte sich halb ab und antwortete: »Stasi!«
»Und wie noch?«
Sie schwätzte: »Ich hab' nur einen einzigen Namen. Aber die Docke da hat zwei. Sie heißt Elsaliesel, weil der Kopf von der Elsadocke und der Bauch von der Lieseldocke ist. Meine Schwester hat sie zusammengeflickt.«
»Du mußt daheim nach deinem andern Namen fragen!« sagte die Frau. Sie deutete auf einen stromabwärts fahrenden Kahn. »Wenn dich ein Schifflein ins fremde Land führt, so brauchst du dort nur deinen zweiten Namen zu sagen, und man bringt dich zurück zu deiner Mutter.«
Das Kind erwog ein Zeitlein schweigend diese Angelegenheit, drückte dann hastig die Puppe an sich und rief: »Jetzt geh ich.«
»Wohin?« forschte Ludwig.
»Weit!« entgegnete es feierlich und mit vergessenem Blick.
Zwei größere Kinder kamen ihm entgegen, Knabe und Mädchen, offenbar seine Geschwister, und bestellt, es der einbrechenden Schlafenszeit halber zu Nest zu bringen.
»Gute Nacht, du liebe Frau von Heilingblut,« zwitscherte das hübsche Stimmlein noch zum Abschied.
»Jetzt sind wir allein,« sprach Ludwig traurig.
Die Ströme hauchten Kühle. Die Sterne erwachten über der Stadt.
Die beiden Menschen erhoben sich. Sie hatten keine Worte. Unendliches bedrängte sie.
In der Herberge angelangt, begaben sie sich gleich zu Bett. Jedes betete still und lange in sich hinein, bis ihre Gebete auf den sanft atmenden Lippen entschlafen waren.
Durch das offene Fenster wehte die Nacht, und die großen Ströme draußen vereinigten sich und zogen schwarz und schwer dahin wie ein rätselhaftes Schicksal.
Früh schon klang des Kuckucks einfältiger Ruf von der waldigen Uferhöhe nieder und weckte die Wallfahrer.
Sie kleideten sich sorgfältig an und musterten hernach einander peinlich, und da dies zur Zufriedenheit ausgefallen war, reichten sie sich die brennenden Hände und strahlten sich glücklich an.
Der Morgen war blau und freundlich. Die Gassen waren angenehm kühl, denn nachts war ein leiser Regen niedergegangen.
Wieder standen Mutter und Sohn in dem menschenleeren Gäßlein, und wieder hämmerte drinnen im Haus der unermüdliche Arm. Die beiden lauschten. Das Herz klopfte ihnen im Blut bis in den Hals hinauf, und vor Freude und unerklärlicher Bangnis wagten sie nicht, die Schwelle zu überschreiten.
»Warten wir noch ein bißchen, Ludwig!« bat die Mutter. Ihr Atem jagte zu wild.
Da kam es durch den Flur gerannt, jauchzend und winzig, mit goldseidenen Zöpflein. »Jetzt weiß ich es, liebe Frau! Jetzt sag' ich dir meinen Namen!«
Eine schroffe, unbarmherzige Ahnung bemächtigte sich der Näherin. Ihr stockten die Adern, das Haus vor ihr taumelte, wankte, finster wurde ihr der Tag.
Und mit toter Stimme fragte sie: »Wie heißt du, Kind?«
Es lachte: »Die Mutter hat es mir erzählt. Den schönsten Namen auf der Welt hab' ich. Ich heiß Stasi Blumstingel.«
Dies Wort stieß das Weib durch die Seele wie ein scharfes, doppelschneidiges Marienschwert. Ihr Hirn gellte es wider. Sie blickte den Sohn an und griff an das Herz, als wolle sie das entsinkende halten. Die Tränen stürzten ihr nieder auf die fremde Schwelle.
»Was weinst du?« fragte die Kleine. »Komm mit zum Vater! Horch, wie lustig er klopft!«
Der Sohn war schneeweiß geworden im Gesicht. Gram fraß an seinen stammelnden Lippen. »Was tun wir jetzt, Mutter?«
»Fort! Fort! In die Donau!« ächzte das Weib. Sie zog ihn mit sich. Ihre Hand war todeskalt.
Er riß sich los, stürzte zurück und küßte weinend das erschrocken staunende Schwesterlein.
Noch einmal saßen sie an den sich umfangenden Strömen, müd und zerschlagen, als wären sie eine weite, weite Straße gereist. Die Frau war wie versteint in ihrer Traurigkeit.
»Mutter!« mahnte der Sohn.
»Ja, Bub,« murmelte sie, »so ist es. Der Herrgott erschafft die Leut, nachher läßt er sie rennen.«
Nein, das hätte sie nimmer erwartet! Wie es ihr selbstverständlich gewesen, daß sie des Kindes wegen auf das eigene Leben vergessen, so hatte sie sich auch den Vater immer einsam gedacht und abseits der Menschen und harrend in seliger und qualvoller Sehnsucht. Wie ein unbeschreiblich böser Betrug erschien ihr nun Welt und Leben. »Weh! Weh! Weh!« klagte sie auf. »Oh, wir zwei armen und vergessenen Leut!«
Die Sonne droben schien so maienstark, die Wasser glänzten.
Wie mit abwesendem Geist zog das Weib sich die Schuhe ab. Blut war darin. Sie hatte sich blutig gegangen.
Es war alles wie in einem sehr traurigen Märchen.
»Wie weit muß der Mensch oft reisen, daß er zu seinem Leid kommt!« stöhnte sie.
Der Sohn saß stumm und mit ernstem Gewissen neben ihr. Er hatte dieses Erlebnis tief in sich geschlossen. Nun wurde in seinen Augen eine helle Ruhe.
Tröstlich strich er über das braune Haar der Mutter. Er nahm ihre blassen, ehrwürdigen Hände in die seinen. Indes noch der Gram an seinem Munde zuckte, sagte er leise und doch mit voller Kraft hohen Verzichtes: »Mutter, wir reisen sofort heim! Und der Vater darf nie erfahren, daß wir vor seiner Tür gestanden sind.«
Da erkannte sie, daß seine Seele schon reifer geworden als die ihre, und ergeben und erschüttert erhob sie sich und folgte ihm.