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Es war halb zwei Uhr in der Nacht, als die immer noch bewußtlose Virginia vom Wagen in Frau von Resowskys Schlafzimmer getragen wurde. Eine Viertelstunde später kam der Arzt. Da er eine Diagnose der nahenden Krankheit noch nicht stellen konnte, empfahl er die sorgfältigste Schonung und Pflege. Frau Geßner, die im Hause der Baronin auf den Ausgang der nächtlichen Expedition gewartet hatte, saß verzweifelt am Bette.
Virginia sah Treppen; schroff ansteigende einer weißen Wendelstiege, flache einer geeckten Holzstiege, und Treppen eines Turmes, auf denen Menschen ohne Arme gingen. Über unzählig viele Treppen rollte ein feuerglühendes Rad herunter und drang wie ein geschliffenes Messer mitten in ihre Brust. Gleich darauf kamen Scharen von Menschen auf sie zu und erkundigten sich nach ihrem Befinden, aber sobald sie antwortete, zeigte sich Entrüstung und Verachtung auf allen Mienen. Sie wiesen mit den Fingern auf sie; anfangs schlug sie nur die Augen nieder, das Herz voll bitterer Kränkung, dann floh sie in eine Regennacht hinaus. Ein Wagen rast einher, dessen Räderspeichen aus Flammen bestehen, und oben sitzen frech gekleidete Mädchen, welche unverständliche, doch schamlose Lieder singen. Irgendwer will sie überreden, mitzusingen; dies bereitet ihr den größten Schmerz, und sie gewahrt Ulrich Zimmermann und den Grafen Palester, eilt auf sie zu und bittet flehentlich um einen Mantel. Die beiden wenden sich schweigend ab, klettern die Stufen der weißen Wendelstiege empor und werfen viele Briefe in das brennende Ofenfeuer.
Wird es Tag? Ist dies graue, zerstreute Licht Tageslicht? Wie kann es aber so schnell wieder Nacht werden? Sie schleppt sich über eine leere Straße, traurige Menschen sitzen in der Ferne unter einem Baum und winken ihr. Sie kann jedoch nicht kommen, denn sie braucht erst einen Mantel. Einen Mantel! ruft sie weinend, einen Mantel! Man beschwichtigt sie, sie spürt etwas sehr Kaltes auf der Stirn, es scheint ihr dieses ein Schwan zu sein Ja, ein Schwan ist es, er schwimmt auf ihrer Stirn, und behutsam hält sie sich ruhig, um ihn nicht zu stören. Allmählich sieht sie, daß der Schwan auf seinem Gefieder Rostflecken hat, die wie Schmutz aussehen, und daß er untertauchen will, um sich wieder blendend weiß zu waschen. Sie sträubt sich verzweifelt dagegen, obwohl sie einsieht, daß das Gefieder rein werden muß. Da zucken Blitze über den Himmel, und jeder Blitz öffnet den Einblick in einen tempelartigen erleuchteten Saal. Sie will hinauf, wieder steigen zahllose Treppen empor, aber sie fürchtet sich hinanzusteigen, weil ihre Kleider naß sind. Und wie seltsam nun, der Himmel oben wird zum Meer, die ganze Welt ist umgekehrt, die Wolken verwandeln sich in zartgestaltete Fische, ein Dampfer gleitet lautlos wie der Mond, genau wie der Mond aussehend, und seine Schlote rauchen. Hinter dem Mond ist ein Nachen, in dem Nachen sitzt ein verhüllter Mensch, dessen Hand bisweilen ins Wasser taucht und Tiere hervorzieht, die Blumen gleichen. Es schmerzt sie, daß sie von diesen Blumen zu viele Geheimnisse weiß, in solcher Art, daß die Geheimnisse ihre eigenen sind. Von allen Seiten rufen Stimmen, die Stimme der Mutter schrillt heraus, in verstörter Beeiferung folgt sie den Leuten, die Kerzen tragen, miteinander raunen und lächeln. Sie tut die Augen auf und gewahrt sich selbst in einem weißen Seidenkleid, über welches von allen Seiten parallele Blutstreifen herunterrinnen. Wie kann man das ertragen? denkt sie, und ihre Angst bringt die Kinnlade zum Zittern.
Aber da ist nun der Mantel! Wunderbar gewebt, saphirblau gefärbt, sein Anblick ist Tröstung. Sie entfaltet ihn, und mehr als hundert winzige Schlangen kriechen davon. Plötzlich zeigen sich auf dem Mantel viele Gesichter, gemalte Gesichter, trotzdem lebendige. Aber jedes Gesicht stellt auch eine Landschaft vor; die Augen sind Seen, die Nase ein Berg, die Lippen mit dahinterstehenden Zähnen Tore mit weißen Wächtern, die Stirne ein Schneefeld, die Haare dunkle Wälder. Alle diese Gesichter ballen sich nach und nach zu einem einzigen zusammen, das einen mitleidswürdigen und gräßlichen Ausdruck hat. Sie kennt es, es nähert sich, über eine weiße, weite, endlose Ebene kommt es heran, stumm bitten seine Augen, böse ist der Mund, schmerzlich zucken die Muskeln, da erhebt sich eine Hand und drückt das Gesicht nieder, eine starke Hand, – o Gott, was bedeutet dies! Woher diese Hand? Was für ein namenloses Wohlgefühl! Welche Berührung!
Woher diese sanfte, ruhige, beruhigende Hand? Es ist, als ob etwas Süßes und Wohlschmeckendes auf der Zunge läge und ein Gefühl des Verschmachtens durch diese sättigende Süßigkeit beendet würde.
Sie schlägt die Augen auf. Sie schließt sie wieder, denn sie kann nicht glauben, sie fürchtet, daß die beglückende Erscheinung entschwinde, wenn sie zu lange hinschaut. Es ist Manfred, sie erkennt ihn. Der sekundenflüchtige Strahl des Bewußtseins hat genügt, ihr zu zeigen, daß seine Haut braun ist, sein Mund fest, sein Auge klar, ernst, mild und wissend, und daß er sie liebt, und sie spürt, daß sie erwachen wird, daß das Leben sie wieder besitzt.
Auf Neuseeland hatte Manfred den Brief des Grafen Palester erhalten. Als er den Brief mit den Blicken überflogen hatte, wußte er, daß er bis zu dieser Stunde ein glücklicher Mensch gewesen war.
Es dauerte fünf Tage, ehe das nächste Schiff nach England in See stach. Er lebte sie nicht, diese fünf Tage, er sah nicht mehr, er hörte nicht mehr, er dachte nicht mehr, er aß nicht und schlief nicht. Wer ihn vordem gekannt und ihm jetzt begegnete, erschrak wie beim Anblick eines wandelnden Leichnams. Er war erstarrt. Wüstenreisende kennen ein ähnliches Gefühl, wenn sie vom Wirbelsturm überfallen werden. Er hatte Lust zu morden. Er wünschte zu schreien, so lange sinnlos zu schreien, bis diese fünf Tage, ein Alpdruck, eine schauerlich endlose Kette qualvoller Augenblicke, vorüber waren. Er langte mit den Armen hinaus ins Leere, als ob er die Ferne überbrücken könnte; sein Gehirn war so von Lärm erfüllt, von Anklage, von Selbstbeschuldigung, von streitenden, klagenden Stimmen, daß er nicht auf einer Stelle zu bleiben vermochte, sondern laut sprechend, still tobend sich unstät herumtrieb.
Da geschah es, daß er eines Abends unter arbeitenden Matrosen am Hafen stand und daß unter morschem Balkenwerk hervor ein zottiger Hund auf ihn zulief. Der Hund erhob den Kopf und schaute ihn an mit Augen, die Manfred nie wieder vergaß. Zweifel und Vorwurf waren in den menschlichen Augen der Kreatur. Es war, als fragten die Augen des Hundes: das ist also die Bewährung? Er sah ein, daß er im Begriff war, sich zu verlieren, daß aber dieses das Schlimmste von allem war, denn er mußte sich halten und bewahren. Haben Tausende gedient und sind nicht Herr geworden, der Dinge nicht, der Menschen nicht, ihrer selbst nicht, der Leiden nicht, des Schicksals nicht, an ihn war ein Ruf besonderer Art ergangen, und sollte nicht alles als tauber Schall zerstieben, was in so vielen gesammelten Tagen den Geist zur Bereitschaft geweckt, zur Prüfung gestählt hatte, so mußte er um der tiefsten Ehre willen sich bezwingen.
Mit zugeschnürter Brust, aber äußerlich gleichmütig, betrat er das Schiff. Er schaute Stunde um Stunde hindurch vom Bord ins Meer hinab, und seine Lippen waren eisern geschlossen. Verwunderte, argwöhnische, teilnahmsvolle Blicke trafen ihn, er war fühllos dagegen. Während er einmal so saß, erschallte ein durchdringender Hilfeschrei in seiner Nähe. Ein vierjähriger Knabe hatte unbeaufsichtigt an der Brüstung gespielt, hatte sie überklettert und war in die See gestürzt. Seine Mutter, eine noch junge Frau, hatte es zu spät bemerkt, und ihr Weheruf alarmierte das ganze Schiff. Manfred sah, daß jede Sekunde des Zögerns und Abwartens verhängnisvoll werden mußte, er entledigte sich seines Rockes und sprang ins Wasser. Er schwamm nur mäßig gut, und als er den um sich schlagenden Knaben erreicht hatte, verließen ihn die Kräfte. Man rief und winkte aufgeregt vom Schiff, das sich entfernte, schwer atmend hielt er das Kind und war dem Untersinken nahe, als endlich das Boot kam und ihn und den Knaben barg. Still und erschöpft nahm er die Äußerungen des Dankes und des Jubels an Bord auf. Von da an war der Knabe, den er gerettet hatte, oft in seiner Gesellschaft. Die junge Mutter, die wohl merkte, daß ihn jede andere Annäherung verstimmte, hielt sich fern. Er erzählte dem Kind Märchen und Geschichten; der Knabe saß auf seinem Schoß und lauschte mit großen Augen, indes Manfred den Blick in die Richtung der Fahrt, auf den scheinbar unveränderlichen Kreis des Horizonts lenkte.
Endlich Land! Er telegraphierte, wartete jedoch dann die Antwort nicht ab und fuhr Tag und Nacht im Eisenbahnzug. So erschien die Stunde, wo er unter dem vertrauten Torbogen des Hauses in der Piaristengasse stand. Er fuhr durch vertraute Gassen in eine andere Wohnung, läutete vergebens, fragte vergebens, und ratlos, ohne Schmerz, doch mit ausgefrorener Brust begab er sich zu Palester. Er trat ein, er reichte dem Grafen die Hand, und seine Züge, seine Augen, seine Haltung gaben bei einer übermäßigen Anspannung der Seele solche Festigkeit, Gefaßtheit, Entschlossenheit und wartende Ruhe kund, daß Palester, der ungeachtet seiner phantastischen Geistesanlage durchaus kein sentimentaler Charakter war, Tränen in sich aufströmen fühlte.
Dieses Mannes Hand lag nun auf dem weißen Linnen über Virginias Hand. Die träge Zeit lief wieder ihre alte Bahn.
Die Zeit lief ihren schnellen Gang. Ihr gewohntes Amt, die Wunden der Jugend zu heilen, versah sie mit Umsicht und Gründlichkeit. Großmütig und weise, hatte sie aus Manfred nicht nur einen gesunden Menschen gemacht, sondern auch einen vertrauensvollen, einen, der sein Schicksal im Bewußtsein inneren Gesetzes trug und nicht traumsüchtig der wirkenden Welt sich entfremdete, der zu besitzen vermochte, ohne zu vergeuden, ohne zu geizen, und zu lieben, ohne zu fürchten.
Als Virginia genesen war, reiste Manfred nach Berlin und blieb dort vier Monate lang. Dies geschah auf Virginias ausdrücklichen Wunsch. Sie wollte sich nicht an Manfred hinschmiegen wie eine Bedürftige und wie eine Schutzsuchende; sie wollte nicht in der Betäubung seiner Liebe Geschehenes vergessen, sie wollte Klarheit gewinnen und sich prüfen, ob sie sich so offen und ohne rückziehende Last geben konnte, wie sie wußte, daß Manfred sich ihr gab und wie er es von ihr fordern durfte. Alles bewährte sich mit der weisen und großmütigen Zeit; die Liebe, das frei wählende Gefühl, die edle Tüchtigkeit, die auch in der Leidenschaft wohnen muß, die edle Selbstbestimmung, die gleich dem Saft im lebendigen Holz des Baumes das Leben aus blinder, wurzelhafter Sucht emporträgt in die heitere Sonne.
An einem Tag im Mai schritt das schöne, hochaufgerichtete Paar durch die abendlich feiernden Gassen der letzten Vorstadt und wandelte in sanften Gesprächen dem Wald entgegen, wo sie einander die Hände reichten und von ihren lächelnden Lippen zuversichtliche Hoffnung empfingen.
Ende