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Ein Duell

. Eines Tages wurde ein wenig gebieterisch die Glocke gezogen, Frau Geßner öffnete und trat mit Marianne von Flügel ins Zimmer. »Sie dürfen mir nicht böse sein, daß ich Sie überrumple«, sagte das Fräulein, auf Virginia zugehend und ihr die Hand reichend, mit einer Stimme von geübtem Wohlklang. »Erwin Reiner hat mich ermutigt, Sie aufzusuchen. Erwin und ich, wir sind alte Freunde, mehr als Freunde, fast wie Geschwister. Er hat mir soviel von Ihnen erzählt, und seit ich Sie kennen gelernt, hab ich soviel an Sie gedacht, daß es mich eigentlich keine Überwindung gekostet hat, den ersten Schritt zu tun.«

»Es ist sehr lieb von Ihnen«, antwortete Virginia ziemlich steif.

Frau Geßner, die gleich angefangen hatte, Stühle zu rücken, Deckchen zu glätten und ein paar Sächelchen dorthin zu tragen, wo sie ohnehin schon gestanden waren, schleppte einen Sessel herbei und bat das Fräulein, »sich nur ja nicht umzuschauen«, als ob eine so glänzende Dame hier Schaden erleiden könne, wiewohl in letzter Zeit viel für die Wohnung geschehen war. Neue Vorhänge hingen über den Fenstern, einige Möbelstücke waren neu beschafft worden, und ein bescheidener Blumentisch stand an sonnigem Platz. Virginia ärgerte sich über das demütige Wesen der Mutter, und ihre Miene wurde zusehends fremder, bis die besiegende Herzlichkeit der andern ihrem spröden Widerstand ein Ziel setzte.

Es war etwas Aufgelöstes und Ungehemmtes an Marianne von Flügel. Sie gab sich wie jemand, der das Leben groß sieht und die Menschen klein. Sie war um Worte nicht verlegen, um die kühnsten nicht; ihre Zunge spielte wie ein Weberschifflein hinter den starken Zähnen. Wie sie saß und ein Bein über das andre schlug, wie sie ein goldenes Zigarettendöschen aus der Tasche nahm, ein winziges Zigarettchen zwischen die Lippen schob und beim Plaudern den Rauch verfließen ließ, das hatte seine Art; da steckte Humor drin. Und Humor steckte in ihren Bemerkungen über das Treiben der Leute; es waren kleine, schelmische Nadelstiche, ein Lächeln, ein Wenden der Hand und alles war vorüber: irgendeiner war tot, der vorher noch lustig gelebt hatte. Um so gewichtiger mußte der Ausdruck der Bewunderung klingen, die sie Virginia entgegenbrachte. »Es ist mein fester Vorsatz, daß wir Freundinnen werden müssen«, sagte sie, und Virginia konnte nicht umhin, sich darein zu ergeben. Als Marianne ging, bat sie Virginia, einen Abend, der sogleich bestimmt wurde, bei ihr zu verbringen; es kämen nur einige Freunde, Erwin natürlich auch. Virginia versprach es.

Am Morgen des betreffenden Tages wurde Frau Geßner unwohl und legte sich fiebernd zu Bett. Virginia telephonierte vom nahen Postamt dem Doktor Zimmermann, einem seit dreißig Jahren im Bezirk sässigen Arzt, der schon den Vater Virginias behandelt hatte und, so selten er kam, ein obsorgendes Verhältnis zu den beiden Frauen unverbrüchlich pflegte. Es war ein graubärtiger Herr von gedrungener Gestalt, stramm und scharf in Geste und Wort und infolge einer leichten Taubheit zu selbstgefälliger Beredsamkeit geneigt. Er glich den Fehler aus durch Klugheit, Erfahrung und ein expressives Temperament.

Er war nicht wie die meisten jungen Ärzte gekränkt, wenn man ihn zu einem Schnupfen holte. Ein Schnupfen gehörte zur Soldateska des Todes so gut wie ein Magengeschwür. Er erklärte den Fall für harmlos und verfaßte ein tröstendes Rezept. Dann setzte er sich ans Bett der Patientin und fragte nach diesem und jenem. Frau Geßners Erlebnisse waren nicht so weitschichtig, daß sie den Namen Erwin Reiners bei solchem Anlaß unerwähnt gelassen hätte. Das Gesicht des alten Doktors veränderte sich; er hielt die Hand ans Ohr und ließ sich den Namen wiederholen. »Ist das der Sohn von dem reichen Michael Reiner?« fragte er. »Dieser – besondere Erwin Reiner? Der ... Kunstgelehrte oder ... Naturforscher, was weiß ich? Der?« Und als Frau Geßner triumphierend nickte: »Den Mann kennen Sie? Doch wohl« – mit dem Daumen über die Schulter nach Virginia weisend – »das Fräulein Tochter nicht?«

»Ja, gewiß,« entgegnete Frau Geßner, »er ist der intimste Freund von Ginas Bräutigam.«

Virginia war draußen im Wohnzimmer mit Holz und Schnitzmesser am Tisch gesessen; jetzt erhob sie sich und trat leise durch die offene Tür.

»Na, da gratulier' ich«, murmelte der Doktor und schüttelte den Kopf.

»Was gibt's denn?« fragte Virginia heiter, indem sie sich gegen die Schulter Doktor Zimmermanns herabneigte; »was haben Sie denn gegen Erwin Reiner einzuwenden?«

Mit energischem Ruck wendete sich der Doktor und blickte das Mädchen mit seinen braunen, lebhaften Augen an. »Ich?« antwortete er mit der geräuschvollen Stimme der Schwerhörigen; »was ich einzuwenden habe? Das will ich Ihnen erzählen. Ich habe einen Neffen, Ulrich Zimmermann mit Namen, der einzige Verwandte, den ich besitze, überhaupt der einzige Mensch, der mir dem Blut nach nahesteht. Diesen Neffen hab ich von früh auf bewacht, bemuttert darf man sagen, denn er verlor beide Eltern nach seiner Geburt. Ich habe für seine Erziehung gesorgt, ich habe ihn aufs Gymnasium und auf die Universität geschickt, kurz, ich habe meine Hoffnung auf ihn gesetzt und gedacht, der junge Mensch wird mal meine Praxis übernehmen und quasi mein Leben fortsetzen. Wir führen ja einen guten Namen, schon mein Vater war Arzt dahier und mein Großvater gleichfalls. Eines Tages kommt der Bursche zu mir und sagt; ›Onkel, ich will nicht mehr studieren.‹ ›So?‹ frag ich, ›und aus welchem Grunde denn, mein Verehrtester?‹ ›Ich habe keine Lust an der Medizin‹, sagt er. ›Nun, wozu hast du aber Lust?‹ frag ich. ›Ich will Dichter werden‹, gibt er mir zur Antwort. Ich schau ihn mir von oben bis unten an und sage: ›gut, mein Junge, wenn du Dichter werden willst, so laß dir das von deinen zukünftigen Lesern bezahlen, von mir bekommst du keinen Heller.‹ Er geht weg, und von der Stunde an hab ich ihn nicht mehr gesehen. Das ist jetzt drei Jahre her. In liederlichen Kneipen hat er die Nächte durchschwärmt und die Tage, Gott weiß wo, verschlafen. Ist ein Schuldenmacher, ein Schwarmgeist und Phrasenritter geworden, ein Kerl, der nichts arbeitet und in der Welt herumschmarotzt. Und wer, glauben Sie nun, hat das auf dem Gewissen? wer, glauben Sie, hat mir meinen ordentlichen, fleißigen, treuen und dankbaren Ulrich gestohlen und zu einem Landstreicher gemacht? Ihr Erwin Reiner war das. Ganz genau derselbe. Von dem Tag an, wo Ulrich den Mann kennen gelernt hat, war er verhext. Ich habe ihm das Geld entzogen, um ihn durch Not zur Vernunft zu bringen, aber der gewissenlose Freund hat ihn unterstützt, hat seine Einbildungen genährt, sein angebliches Talent aufgebauscht, hat ihn, mit einem Wort, unglücklich gemacht. Vor einem Jahr ist Ulrich nach Amerika gefahren; dort wird er vollends verdorben sein.«

Der Doktor starrte eine Weile düster vor sich hin, dann fuhr er fort: »Das wäre meine private Erfahrung. Von andrem möcht ich nur ungern reden, um Ihnen den Gusto nicht zu verderben, mein schönes Kind, obwohl die Spatzen es von den Dächern pfeifen. Der Mann ist über Leichen gegangen, im wörtlichsten Sinn. Er atmet in der Luft des Skandals. Ein Blütenzerknicker; ein Seelendieb; der echte moderne Selbstgott. Da war vor ein oder zwei Jahren eine unselige Affäre, eine Weiberaffäre natürlich, wobei es zum Duell kam. Ein junger, hoffnungsvoller Mensch, Offizier, einziger Sohn seiner Eltern, hat sein Leben lassen müssen. Die Sache ist vertuscht worden, kam nicht einmal in die Zeitungen, aber Ihr Erwin Reiner kann das junge Blut nimmer von seinen Händen abwaschen. Die Eltern sind bald darauf vor Kummer gestorben, und die Frau, um deretwillen das Unheil geschah, hat den Schleier genommen.«

Virginia hatte den Kopf gesenkt und schwieg.

»Kennen Sie ihn denn persönlich?« fragte Frau Geßner mit bekümmerter Miene.

»Wie?«

»Ob Sie ihn persönlich kennen?«

»Nein. Ich kenne ihn nicht. Ich wünsche ihn nicht zu kennen. Ich kenne seinen Vater. Ein vortrefflicher Herr. Wir sehen uns bisweilen bei Frau Malwine Engelhardt. Dort hat der alte Mann, der sich einsam fühlt, etwas wie ein Heim gefunden. Es wird sogar davon gesprochen, daß die beiden sich heiraten sollen. Aber der junge Reiner sucht das natürlich zu verhindern. Es wäre eine Mesalliance in seinen Augen.« Der Doktor lachte heiser und erhob sich. Virginia reichte ihm kühl die Hand. Es tat ihr weh, den Freund Manfreds so verunglimpft zu wissen. Da Erwin die Beschuldigungen des Doktors nicht widerlegen konnte, Aug in Auge, wie es hätte sein sollen, nahm sie im Innern seine Partei.

Desungeachtet war sie verstimmt und hatte, auch weil die Mutter bettlägerig war, die Lust verloren, den Abend außer Haus zu verbringen. Erwin hatte versprochen, sie abzuholen, und gegen acht Uhr kam er. Virginias Weigerung erstaunte ihn; den Hinweis auf die Kranke ließ er nicht gelten. Er trat ins Nebenzimmer an Frau Geßners Lager und fragte sie selbst. Sie redete Virginia zu, aber ihre Verlegenheit fiel Erwin auf. Er roch Unrat, und alsbald erfuhr er, daß Doktor Zimmermann dagewesen sei.

»Ach so«, sagte er; »ach so.« Er schaute Virginia, die ihm gefolgt war, forschend an und trommelte mit den Fingern auf den Bettpfosten. »Und da hat er wohl von seinem Neffen erzählt?« Virginia nickte. »Und bei dem Neffen ist es wohl nicht geblieben?« Virginia nickte.

»Wissen Sie, wie sich die Geschichte mit dem Neffen verhält?« begann Erwin ruhig. »Ich lernte Ulrich Zimmermann im Hörsaal der Anatomie kennen. Er interessierte mich durch ein Wesen, das ich tönend nennen möchte und das man nur bei genial veranlagten Naturen trifft. Wir traten uns näher, und ich hatte bald Gelegenheit, mich seiner anzunehmen. Seit seiner frühen Jugend ging er künstlerischen Neigungen nach, sah aber keine Möglichkeit, sich vom verhaßten Brotberuf zu befreien. Sein Onkel ist reich; er hat im Verlauf einer langen Praxis ein Vermögen zusammengescharrt, ist aber von einem unnatürlichen Geiz besessen.«

»Das stimmt, geizig ist er«, fiel Frau Geßner ein. »Seit zehn Jahren spricht er von einer Reise nach Italien, was seine größte Sehnsucht ist, aber er hat nicht das Herz dazu. Er gönnt seinem Stellvertreter nicht die Einnahmen, die ihm dann entgehen würden.«

»Man macht oft die Erfahrung, daß Leute, die sehr langsam und durch mühselige Arbeit zu Geld gekommen sind, sich ebenso schwer davon trennen, wie sie es erworben haben«, erwiderte Erwin verteidigend. »Nun, dieser Geiz allein hatte Ulrich verzweifelt und trübsinnig gemacht. Jedes Mittagessen, der Kauf jedes Buchs mußte schwarz auf weiß bescheinigt werden. Er hatte wochenlang gedarbt, um von dem Alten nicht Geld fordern zu müssen, aber dieser Umstand erlöste sein Gemüt auch allmählich von der Last der Dankbarkeit. Mich fesselte es, das wilde Talent zu formen und aus dem Staub zu ziehen. Ich habe den unbeschreiblichen Genuß gehabt, Zuschauer zu sein, wie ein lebendiger, wollender Geist zu seiner Bestimmung heranwächst. Daran ändert kein Onkel auf Erden etwas.«

Das klang nun ein wenig anders.

»Übrigens können Sie Ulrich heute abend in Mariannes Salon sehen«, fügte Erwin, gegen Virginia gewandt, hinzu.

»So?« fragte Frau Geßner erfreut, »er ist also nicht in Amerika zugrunde gegangen?«

Erwin lächelte. »Er ist vor acht Tagen zurückgekommen«, sagte er. »Ich kann Ihnen ja verraten, daß ich selbst es war, der ihm die Mittel verschafft hat, nach Amerika zu gehen. Es hatte einen bestimmten Zweck; davon zu sprechen, ist hier überflüssig. Aber ich merke schon und sehe es Ihnen beiden an,« fügte er bitter hinzu, »daß man mir einen tüchtigen Nasenstüber versetzen wollte. Glauben Sie, es überrascht mich? Es ist mir nichts Neues. Ich greife zu, wo die andern schwatzen, mich lockt das Leben überall, das schöne, große, bunte, dunkle Leben, aber hab ich in irgendeinem pestvergifteten Schacht eine Goldader gefunden, dann fährt mir die ganze Meute der Neinsager und der Kopfschüttler ans Genick, und wo ich etwas gerade gebogen habe, da kommen alle, die sonst ihre Löcher nur verlassen, wenn's brennt, um zu konstatieren, daß das Krumme besser war. Ich schäme mich meiner Taten nicht. Ich verheimliche sie nicht. Ich rechtfertige sie nicht. Ich schäme mich meiner selbst nicht. Ich flüchte nicht vor mir. Ich habe geliebt, ich wurde geliebt, ich habe gehaßt, ich wurde gehaßt, und ich resigniere nicht, niemals, denn jede Form des Handelns ist besser als selbst die edelste Resignation.«

Er stand da mit funkelnden Augen und schüttelte den ganzen Arm mit der ausgestreckten Faust. Virginia, die sich um eine Last erleichtert fühlte, blickte ihn mit ehrlicher Freude an und sagte: »Ich gehe mit Ihnen, Erwin. Warten Sie. In einer Viertelstunde bin ich fertig.«

Und sie verschwand in ihrem Kabinett.

 

Der Abend verlief angeregt. Die Huldigungen, die Virginia erfuhr, beeinträchtigten keineswegs die bescheidene Meinung, die sie von sich hatte. Erwin tadelte ihre hervortretende Bescheidenheit. »Ein bißchen Hochmut ist nützlich,« sagte er, »das erzeugt Distanz.« Aber sie konnte nicht hochmütig sein, weil ihre Anmut sie daran verhinderte. Fritz Kynast, einer von Erwins Freunden, wollte finden und wünschte es von Erwin bestätigt zu hören, daß sie der Lukrezia Tornabuoni von Botticelli ähnlich sehe. »Nur ist die Tornabuoni tragisch gefaßt, während für Fräulein Geßner eine innere Heiterkeit charakteristisch ist.« Virginia nahm diese umfassende Kritik lieblich zweifelnd hin. »Man soll nicht Seelenanalysen auf Grund eines Soupers treiben«, sagte Erwin kalt.

Es hatte natürlich bei dem einen Abend sein Bewenden nicht. Marianne von Flügel schien die Aufgabe übernommen zu haben, Virginia in die Gesellschaft einzuführen. Virginia sträubte sich oft, aber Mariannes Energie entwaffnete ihren Widerstand. Sie ging zu einem Tee bei der Baronin Resowsky, und mit dieser Dame fühlte sie sich alsbald durch eine lebhafte Sympathie verbunden. Marianne bemerkte es ungern und säte Mißtrauen.

Marianne von Flügel war die Tochter des berühmten Professors und Klinikers von Flügel, der sich eines Tages, verfolgt von Erpressern, zerrütteten Geistes, eine Kugel in den Kopf geschossen hatte. Beschmutzende Gerüchte hafteten an dem Ereignis. Mariannes Mutter war vor zehn Jahren mit einem Pianisten durchgebrannt. Nach dem Tod ihres Gatten war sie zurückgekehrt, alt und stumpf. Sie war wunderlich geworden, und man versteckte sie vor den Leuten. Drei Brüder lebten wie große Herren, auch nachdem sie ihr Erbteil verpraßt hatten. Marianne führte ein Haus; niemand wußte, woher das Geld kam. Verleumder erzählten, in ihrem Salon werde nächtlicherweile gespielt. Verblaßter Glanz war in den Räumen, welche aussahen, als ob die Sonne sich von ihnen abgewendet hätte. Das Elend, das hinter Damastvorhängen und fahlen Gobelins grinste, hatte Marianne gelehrt, wie man kurzsichtige Gäste täuscht. Der Name ihres Vaters schien ihr die Pflicht der Haltung aufzuerlegen. Die Brüder waren wie Bastarde, die das Gut dieses Namens frech verschleuderten, die Mutter hatte ihn längst mit Füßen getreten. Es läßt sich schwer ein Begriff von dem vernichtenden Hohn geben, mit dem das achtundzwanzigjährige Mädchen heimlich auf das Getriebe einer Welt blickte, die sich in immer konzentrischen Kreisen ermüdend um sie bewegte. Die einzige Rettung war eine reiche Heirat, das stand für sie fest. Ebenso fest stand es für sie, daß Erwin es war, der sie heiraten mußte.

Man konnte in Zweifel sein, ob sie hübsch war. Sie wußte sich zu tragen. Sie hatte die Grazie zweiten Ranges, die auf Übung, Urteil und Geschmack beruht. Sie hatte Figur. Sie war es nicht. Sie täuschte gefällig. Ihr Teint hatte etwas von der entwerteten Mattheit gewaschener Seide. Ihr Profil war bewundernswert. Es gab Bilder von ihr, auf denen das Profil statuenhaft bedeutend war. Im Leben war es tot.

Ihre Undurchdringlichkeit hatte Erwin einst gefesselt. Auch jetzt noch liebte er die Schauder, von denen er sie durchzittert fühlte, wenn er neben ihr ging oder saß. Das war es eben, was ihn lockte, was ihn unersättlich machte. Die Schauder waren es, die ein liebendes Geschöpf vor ihm entkleideten, eine Stunde der Ergriffenheit, der Anblick stiller Ekstase, die sein Welt- und Selbstgefühl zur weitesten Schwingung trieben. Die sich an ihn verloren, die Seelen, von denen nährte er sich, ihre Sehnsucht war seine Erfüllung. Da war er dann brüderlich rücksichtsvoll, und seine Gebärden waren einschmeichelnd wie die eines entflammten Knaben.

Jetzt spannte sich sein Wille glühend gegen ein anderes Ziel. Marianne ertrug es wie ein Schicksal. Sie war erbötig, das Sprungbrett zu halten, von welchem er in die Brandung stürzte, und sie hoffte, sie erwartete es, sie rechnete damit, daß er einmal mit zermalmtem Herzen zurückkommen würde, um nach ihr zu greifen, weil keine sonst ihm nahte. Sie dachte niemals ohne Haß an ihn, und nie ohne Furcht, und nie ohne die Neugier eines Menschen, der nicht weiß, was sich hinter einer Mauer begibt, an der er täglich vorübergeht.

Es war an einem Abend im Januar. Marianne von Flügel feierte ihren Geburtstag, deshalb war Virginia zu ihr gegangen. Sie traf Ulrich Zimmermann dort, den sie heute erst zum zweiten Male sah. Marianne bemutterte ihn; sie behandelte ihn als einen Poeten, das heißt, sie behandelte ihn schlecht. Er war schweigsam. Er gehörte zu jenen Naturen, die in Gesellschaft ein unsichtbares Schneckenhaus um sich tragen, worin sie trotzig und scheu menschenfeindlichen Anwandlungen zur Beute werden, die eine Folge unbefriedigter Eigenliebe sind. Virginia fand sich beengt, da seine Blicke mit Hartnäckigkeit an ihr hingen. Zum Glück kam Erwin bald; er brachte den Grafen Palester mit. Der Graf kannte Marianne flüchtig. Als er Virginia vorgestellt wurde, war sein Gruß ohne Förmlichkeit, sein Lächeln ohne Zwang. Seine vornehme Art gefiel ihr; bald war sie mit ihm in eifriger Unterhaltung über Manfred und Manfreds Reise, und sie spürte, wie sie es noch bei keinem gespürt, daß er Manfred aufrichtig zugetan war.

Im Verlauf des Abends war Marianne so munter und kapriziös, daß Mitrede und Widerpart allen Vergnügen bereiteten, und schließlich hatte sie den Einfall, man solle doch an einem der nächsten Tage eine Schlittenpartie ins Hochgebirge machen. Dem wurde beigestimmt, man setzte den zweitfolgenden Tag fest, auch die Stunde des Stelldicheins auf dem Bahnhof; Erwin sollte den Schlitten telegraphisch bestellen. Er fragte Virginia um Einzelheiten, als ob sie Sachverständige in Schlittenpartien sei; sie war im Zweifel, ob sie mittun solle, fügte sich aber dem allgemeinen Drängen.

Während der nachflatternden Erörterungen ergriff Marianne plötzlich Virginia bei der Hand und führte sie in ein Gemach nebenan. Ein Hängeteppich statt der Tür trennte den Raum von dem Zimmer, wo die andern waren. »Sie sind schön, Virginia«, sagte Marianne leise, »Sie müssen auf Ihrer Hut sein.«

Virginia entfärbte sich. Ihre Lippen öffneten sich zur Frage. »Haben Sie wissentlich jemand beleidigt?« fuhr Marianne fort, »vielleicht bei der Resowsky? Oder gestern bei Wellhausens? Besinnen Sie sich einmal.«

»Ich weiß von nichts,« hauchte Virginia erschrocken, »was ist denn geschehen?«

»Also unter dem Siegel der strengsten Verschwiegenheit, Virginia: Erwin hat Ihretwegen ein Renkontre gehabt.«

»Was heißt das?«

»Was das heißt? Ein Herr hat eine ungehörige Bemerkung über Sie geäußert, und Erwin hat ihn zur Rede gestellt.«

»Eine ungehörige Bemerkung? Über mich?« Virginias Augen funkelten, aber aus ihren Wangen wich vollends jede Farbe. Marianne hatte eine Regung des Mitleids und der Reue, andrerseits entzückte sie das Bild rührender Entrüstung und schmerzlichen Erstaunens. »Seien Sie vernünftig,« mahnte sie, »beherrschen Sie sich. Solchen Dingen ist man eben preisgegeben. Die meisten Gespräche in unseren Kreisen sind Hinrichtungen Abwesender.«

»Was war es für eine Bemerkung?« – »Das weiß ich nicht.« – »Wer war es?« – »Das – brauchen Sie gar nicht zu erfahren.« – »Und Erwin?« – »Erwin? Er hat geantwortet, wie ein Freund antworten muß. Ich habe Ihnen ja gesagt ...« – »Ich versteh' es nicht.« – »Er wird sich schlagen.« – »Ein Duell?« – Marianne nickte.

Noch einmal funkelten Virginias Augen auf, dann bemächtigte sich ihrer eine tiefe Verstörtheit. »Ich möchte jetzt nach Haus«, sagte sie; »kann ich von hier aus gleich in den Flur?« – »Ja, aber Sie können doch nicht allein gehen.« – »Ich fürchte mich nicht. Ich will allein sein.« – »Das geht nicht, in der Nacht ... Ulrich soll Sie begleiten.« Marianne schob den Teppich zur Seite und rief Ulrich Zimmermann. Er übernahm den Auftrag mit befangener Freude.

Marianne begab sich ins Speisezimmer zurück. »Fräulein Geßner läßt Sie beide grüßen, sie hat sich unwohl gefühlt und wollte nicht weiter stören«, sagte sie zu Palester und Erwin. Dieser zuckte auf und sah Marianne drohend an. Wenige Minuten später empfahl sich Graf Ottokar. »Was habt ihr miteinander gehabt?« fragte Erwin, als jener gegangen war, und sein Blick wurde noch drohender.

Marianne zog ihr Döschen aus der Tasche, zündete eine der winzigen Zigaretten an und fragte gleichmütig: »Wie stehst du denn eigentlich mit ihr?«

Erwin zuckte mißfällig die Achseln. »Du bist taktlos, Marianne, diese Eigenschaft ist mir neu an dir«, sagte er.

»Ich will dir behilflich sein, weiter nichts,« erwiderte Marianne, und über Erwins verständnislose Miene etwas gezwungen lachend, fuhr sie fort: »Ich habe dich unwiderstehlich gemacht. Ich habe dich in ein Duell verwickelt. Man hat in Gesellschaft abschätzig über sie gesprochen, – das fleckenlose Lamm hat gar nicht daran gezweifelt –, du bist als Ritter für ihre Ehre aufgetreten, die Folgen ergeben sich von selbst. Ich habe einfach etwas erfunden, wozu die Wirklichkeit zu stümperhaft war.«

Erwin machte große Augen. »Und du denkst im Ernst, daß ich das aufrecht erhalten werde?« fragte er.

»Du mußt. Was ficht's dich an?«

»Köstliche Antwort: was ficht's dich an. Ich meinerseits habe einen Ruf zu verlieren.«

»Bah. Dir glaubt man alles. Du bist in Mode.«

»Ein Duell ohne Gegner, ohne Ursache, ohne Folgen?«

»Findest du das nicht prachtvoll? Endlich einmal etwas Originelles. Du führst die ganze Gesellschaft an der Nase herum, denn alle müssen es natürlich wissen, sonst hat es keinen Zweck, sonst bleibt deine marmorne Göttin ungerührt. Ein Weiberherz, und mag es beschaffen sein wie es will, wird immer davon bestimmt, wie die Welt über einen Mann urteilt. Für die Verbreitung werde ich schon sorgen. Was riskierst du? Nichts. Du hast deinen Gegner nicht getötet, denn er hat nie gelebt. Und weil er nicht lebt, wird man ihn auch nicht finden. Wir beide, wir schweigen.«

Erwin setzte sich rittlings auf den Stuhl und packte die Lehne mit beiden Händen. So, den Kopf vorgeneigt, lachte er lautlos mit offenem Mund, in dem die starken weißen Zähne blitzten und eine Goldplombe leuchtete. »Deine Experimentalpsychologie ist unbezahlbar, liebe Marianne«, versicherte er endlich, wobei in seiner Miene das Vergnügen über den Einfall mit einer gewissen Verachtung gegen die Person kämpfte. »Das hat Geist, ja, das hat Geist, ich kann's nicht leugnen. Aber du nimmst mir's ja nicht weiter übel, wenn ich Virginia so bald wie möglich aufkläre. Der papierne Lorbeerkranz ist mir ein bißchen peinlich.«

»Das wäre die größte Dummheit, die du begehen könntest. Du würdest das Mädchen für immer erkälten. Sie würde dir niemals verzeihen, daß sie umsonst für dich in Sorge war.«

»In Sorge?«

»Gewiß. Sie ist besorgt für dich. Sie muß es sein, wenn sie Gemüt im Leibe hat. Sie ist gekränkt worden, und du bist der Rächer. Zerstörst du diese Einbildung, so erscheinst du ihr lächerlich, ob sie will oder nicht. Das ist Frauenart. Der gut imitierte Lorbeerkranz ist also besser als eine Narrenkappe.«

»Weshalb?« sagte Erwin leichthin, »man kann Narrenkappen so würdevoll tragen wie Kronen.« Er runzelte die Stirn und stützte das Kinn auf das Holz der Lehne.

»Außerdem – soll ich vielleicht als Lügnerin dastehen?«

»Mein Gott, ein Irrtum, ein Klatsch –«

Marianne sah ihn fest an. »Du wirst es nicht tun, Erwin. Ich kenne dich. Es wäre ja philisterhaft, den Faschingsscherz ins Tragische zu wenden. Der Kavalierstandpunkt gilt doch nicht unter uns.«

»Aber welches Interesse hast du daran, Marianne, du?«

»Ach, ich möchte, daß das kleine Abenteuer bald hinter dir liegt, es beschäftigt dich über Gebühr«, entgegnete Marianne etwas frostig.

Erwin mußte lächeln. Es war Lust und Begierde in seinem Lächeln. Indem er an Virginia dachte, sah er sie wie eine Lilie, deren weißer Glanz allein Schutz genug ist gegen häßliche Berührung, und indem er das Bild Mariannes hinzugesellte, wurde es von dem weißen Glanz verzehrt wie Fackellicht von einer Magnesiumflamme. Ihn ekelte ein wenig vor der billigen Heldenrolle, die ihm Marianne aufdrängte, doch sah er ein, daß er damit viel gewann; und weil eine ihm tief innewohnende Geringschätzung gegen Menschen und ihre Einrichtungen ihn stets reizte, die Fesseln der Konvention für nichts zu nehmen, so pedantisch er sie auch zu achten schien, überredete er sich leicht, in diesem Wagnis ein heiteres Spiel zu sehen, welches er in jedem Augenblick mühelos beenden konnte.

Ohne sich von solcher Erwägung etwas anmerken zu lassen, erhob er sich und sagte kühl: »Auf übermorgen also. Ich hole dich und Virginia ab.«

»Gibst du mir nicht die Hand?«

Er reichte ihr die Hand, wie man einem Bedienten den Hut reicht.

»Und die andre, was ist's mit der?« fragte Marianne mit gesenkten Lidern.

»Welche andre?«

»Die Schwester von Fritz Kynast ...«

»Frau Zurmühlen meinst du? Es geht ihr vortrefflich. Gute Nacht, Marianne.«

Als Erwin das Zimmer verlassen hatte, blieb Marianne an der Tür stehen, um seinem verklingenden Schritt nachzulauschen und dann zu grübeln. Der freundliche, gesellige Ausdruck ihrer Züge hatte sich im Nu verwandelt, von Müdigkeit in Düsterkeit, von Düsterkeit in jene Verzweiflung, die ein altgewohnter Kampf hoffnungsloser Gedanken erregt. Sie fühlte sich schon an der Wende der Jugend, übersättigt und lustlos, ohne Zuversicht und ohne Liebe, ohne Kraft und ohne Ruhe. Die Spule leerer Vergnügungen war abgesponnen, und die öden Tage folgten einander scheinbar belebt, wie auf einer Bühne ein schlechtes Stück, das nur Neulinge flüchtig zerstreut, ewig wiederholt wird.

Sie bildete sich aber ein, daß sie zu den Schauspielern, zu den Hauptdarstellern dieses schlechten Stücks gehöre, und das war ein Glück für sie. Denn es verursachte immerhin Bewegung, gebot die Pflicht der Haltung, ließ Schminke und Verstellung unerläßlich erscheinen. Die amüsierten Zuschauer vernahmen nicht den blechernen Klang der Stimmen und das puppenhafte Knarren der Gebärden, und so führte man die Rolle zähneknirschend durch und konnte der Versuchung endlich kaum mehr widerstehen, einmal aufzuschreien, den Ingrimm sich einmal vom Herzen zu schreien und das blutsaugerische Lügenwesen zu enthüllen.

Hätte man nur nicht fürchten müssen, dann zur Rolle des Zuschauers verdammt zu werden.

 

Virginia konnte die Nacht hindurch kein Auge schließen.

Hundertmal überlegte sie, was sie dort, wo sie gewesen, für Worte gesagt, was man ihr geantwortet, sie ließ die Gesichter vorüberziehen, die untreuen, die undurchdringlichen. Um drei Uhr machte sie wieder Licht, nahm ihren Handspiegel und prüfte mit Sorgfalt die eigenen Züge. Sie argwöhnte, zu oft gelächelt zu haben.

Am andern Vormittag krochen die Stunden träge hin. Sie konnte nichts arbeiten, und ihre Befürchtungen schlugen folgsam die Richtung ein, die Mariannes Worte ihr gewiesen. Es wurde ihr schwer, sich vor der Mutter zusammenzunehmen, obgleich diese nicht viel sah, weil sie viel spintisierte. Sie wollte eine Absage für den morgigen Ausflug schreiben, blieb jedoch unschlüssig. Unschlüssigkeit war ein Zustand, den sie sonst nicht kannte, ein verhaßter Zustand, der ihre Sinne trübte.

Da Erwin am Nachmittag nicht kam, ging sie gegen sechs Uhr zu Marianne. Marianne war nicht zu Hause. Sie bat das Dienstmädchen, telephonieren zu dürfen, und ließ sich mit Erwins Villa verbinden. Erwin war gleichfalls nicht zu Hause. Während sie abklingelte, vernahm sie aus einem der Zimmer zwei wild streitende Männerstimmen. Plötzlich stürzte ein großer, totenbleicher Mensch im Zylinderhut heraus, an ihr vorüber und durch die offene Tür die Treppe hinunter. Nun blieb es still. Virginia ging erschrocken weg.

Kaum war sie daheim, so läutete es. Es war Marianne. Sie trug einen kostbaren Chinchillamantel und einen großen Hut mit schwarzen Straußfedern. Die Winterkälte hatte ihr Gesicht gerötet, und Schneeflocken hingen in ihrem Haar. Sie weigerte sich, ins Zimmer zu treten, da sie in Eile war. »Ich wollte Ihnen nur sagen, daß alles glücklich vorüber ist«, flüsterte sie atemlos, schlang ihre Arme um Virginias Hals und küßte sie schnell auf die Wange.

»Alles vorüber? Erwin ist gesund?« fragte Virginia, der es zumute war, als löse sich eine klammernde Hand von ihrem Nacken. »Und der andere?«

»Unbedeutende Verletzung. Ein Denkzettel, weiter nichts. Gute Nacht, Liebe, auf Wiedersehen! Halten Sie sich bereit für morgen. Wir werden sehr, sehr lustig sein.«

Virginia blieb nachdenklich, und nicht froher wurde ihr ums Herz. Andern Tags um neun Uhr früh fuhr sie mit Marianne und Erwin zum Bahnhof, wo Ulrich Zimmermann und Graf Palester warteten. Im Kupee setzte sich Ulrich Zimmermann neben Virginia; so scheu er noch gestern gewesen, so zutraulich gab er sich jetzt. Virginia, die ein feines Gefühl für äußere Formen besaß, hatte bislang an seinen Manieren Anstoß genommen, nun versöhnte sie sich damit, denn was er sagte, hatte eine geistige Schwere, die durch Selbstironie wohltuend gemildert wurde. Er erzählte von Amerika wie jemand, der des Anblicks einer erhabenen und schrecklichen Vision teilhaftig geworden ist.

Von Payerbach aus wurde der Schlitten benutzt, und die Fahrt ging ins Höllental. Die Luft brannte vor Kälte, der Himmel vor Bläue, es wehte kein Wind, über den Bäumen lag der Schnee gleich riesigen Watteknäueln, grünblaue Eiskatarakte glitzerten an den Felswänden, die Häuser nah und fern schienen ausgestorben, leergefroren, und in der höchst feierlichen Stille tönten nur die zahlreichen Glöckchen am Geschirr der Pferde.

Auf einer einsamen Meierei wurde ein Imbiß genommen. In einem Nebengelaß spielte ein alter Bauer die Harmonika, Marianne führte ihn Arm in Arm herüber, und er sollte Walzer zum besten geben. Dies vermochte er jedoch nicht, und man holte einen, der die Kunst verstand. Erwin und Ulrich tanzten mit den Mädchen. Graf Ottokar blieb ruhig auf seinem Platz. Marianne ersetzte durch Temperament, was ihr an junger Grazie fehlte, aber Virginia, die tanzte! Die konnte tanzen, als ob die ganze Süßigkeit und Glut eines Frühlings in ihren Adern gärte, als ob die liedervolle Stadt da unten im Tal ihre Zauber, ihre Rhythmen nur ihr allein zu eigen gegeben hätte. Sie war aus allem Gleichmut gerissen, von Licht und Luft und Sonne und blühweißem Schnee berauscht und wiegte sich in Erwins Arm, Kopf hintüber, Hals gespannt, Schultern gelöst, Glieder beschwingt, mit unhörbarer Sohle wie ein Elfenwesen am Rand mondbeschienener Wässer. Die andern ließen ihr beschwerteres Treiben und schauten zu, auch die Hausbewohner drängten sich auf die Schwelle.

Auf einmal, mitten im Tanz, hielt Virginia inne, blieb ein Weilchen inmitten der verdämmernden Stube stehen, schloß die Augen und trat dann erbleichend aus dem Kreis.

Sie dachte an Manfred – und an das, was zwischen ihr und Erwin lag. Sie tanzte nicht mehr.

Auch auf der Rückfahrt schien sie verstimmt, und was ihr sonst immer ergreifend war, der Abend in der Natur, sie vermochte ihn nicht zu spüren. Marianne, der Graf und Ulrich waren auch schweigsam geworden, nur Erwin, immer befeuert, immer an ein Ungemeines gebunden, rezitierte Verse, alte deutsche Lieder und solche, deren Herkunft nicht genannt wurde; eins davon bewegte Virginia, so daß sie ihn bat, es zu wiederholen. Er wiederholte das Gedicht, mit dem Refrain hinter jeder Strophe: »Einst konnt' ich gehen, ohne müd' zu werden, jetzt bin ich müd', ohne zu gehen.«

Aber als sie in der Dunkelheit Erwins dunklen Blick auf sich ruhen fühlte, wallten plötzlich Zorn und Scham in ihr empor. Denn sie mochte diesem Manne nichts verdanken, sie mochte ihm nicht das Recht einräumen, für sie aufzutreten, sie wollte keinerlei Verpflichtung tragen, sie wollte ihm nichts schuldig sein. Es mußte kommen, daß darüber geredet würde; ach! Zungen, die hinter ihr her zischten! Manfreds Stolz war in ihr beleidigt, ihr Zuihmgehören war bedroht.

Das Leben erschien ihr nicht mehr so einfach wie bisher. Insonderheit mit Manfred war es so wunderbar einfach gewesen. Jetzt wirkten einfache Ereignisse bedeutungsvoll, ohne daß sie den Grund erkannte. An einem der nächsten Vormittage ging sie durch eine enge Gasse in der Stadt. Ein daherstürmender Fiaker streifte einen Handwagen, von welchem ein länglicher Blechkasten, durch den Anprall aus dem Gleichgewicht gebracht, aufs Pflaster stürzte. Der Deckel des Kastens fiel ab, Wasser strömte heraus, und sogleich wimmelten Dutzende von Goldfischen auf dem frischgefallenen Schnee. Wimmelten und wandten sich, schnappten mit den Kiefern, schlugen mit den Schwänzchen und schnellten kraftlos in die Höhe. Es war ein liebliches und schmerzliches Schauspiel. Virginia blieb stehen und sah versunken den Händen vieler Leute zu, die geschäftig waren, die Tierchen wieder in den Trog zu werfen. Zu spät; als man Wasser herbeigeschafft hatte, waren die meisten schon tot.

Das Bild verfolgte sie. Auch in ihrem Brief an Manfred war sie versucht, es zu schildern, fand aber keine sinnvolle Anknüpfung. Es war ein stürmischer Abend, das Mondlicht glitzerte auf den Schneebändern der äußeren Fenster. Vom Turm der Piaristenkirche schlug es zwölf Uhr; sie saß, den Federkiel an der Stirn, den Blick gegen die absterbende Kohlenglut im Ofen gerichtet und dachte an die Goldfische. Die Mutter rief sie zur Ruhe, aber Virginia antwortete, sie hätte noch viel zu schreiben. Im Honigschatten ihres aufgelösten Haares lag das schmale Antlitz, wie die Putten auf alten Gemälden in rosige Wolken geschmiegt sind.


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