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Erwin Reiner führte das Leben eines jener drei- oder viertausend Bevorzugten, die es in jeder großen Stadt gibt, ein Leben, das, auf dem Fundament eines unerschütterlichen Reichtums ruhend, nur mit Rechten ausgerüstet und keinen Pflichten unterworfen scheint. In einem solchen Dasein spielt der Luxus dieselbe Rolle wie die Repräsentation im Dasein eines regierenden Herrn. Die Söhne reichgewordener Bürger genießen nach jeder Richtung hin eine schrankenlosere Freiheit als etwa die Sprößlinge adliger Familien, die sich durch Erziehung, Vorurteile, persönliche und Standesrücksichten eingeschränkt und befehligt finden. Dies ist bezeichnend für die vorherrschende und stetig anwachsende Macht des Bürgertums, und ob die jungen Leute, die seinem Schoß entwachsen, als Gelehrte und Künstler figurieren, oder ob sie als Müßiggänger, Dandies und Genüßlinge einer frech erklärten Ungebundenheit huldigen, so sind sie doch eines der wesentlichen Hindernisse für die Bildung eines blutvollen und harmonischen Gesellschaftskörpers, ja eines Staates in humanem Sinn, und der Sozialforscher des einundzwanzigsten Jahrhunderts wird vielleicht nachweisen können, in welchem Maße sie zur Zersplitterung und Verstümmelung der Völker, der Ideen und der Ideale beigetragen haben. Jede große Stadt zählt unter ihren Bewohnern drei- bis viertausend Menschen von einer absoluten Einsamkeit, von einer unheimlichen Verführungskraft zur Einsamkeit und geistigen Anarchie.
Der Vater Erwin Reiners hatte sein Vermögen durch Grundstückspekulationen größten Stils erworben. Zu einer Zeit, wo noch niemand daran gedacht hatte, daß die im Westen der Stadt befindlichen Ländereien der Anlage einer umfangreichen Villeggiatur günstig seien, hatte er die Mitgift seiner Frau dazu verwendet, um ein respektables Gebiet von Gärten, Äckern und Wiesen aufzukaufen, das beständig im Werte stieg. Die Frau, eine Gutsbesitzerstochter aus der Gegend von Linz, eine einfache Natur, die nichts von den weittragenden Geschäften begriff und die Verwendung ihres Geldes für einen an den Kindern geübten Frevel betrachtete, war nicht geschaffen, um das Leben eines Spekulanten zu teilen. Hypochondrischer Kummer zerstörte ihre Gesundheit, die beiden ersten Kinder, die sie gebar, siechten an allgemeiner Schwäche hin, eines kam tot zur Welt, Erwin war das letzte, und die Mutter starb ein Jahr nach seiner Geburt.
Ihm wandte sich die ganze Zärtlichkeit, Sorgfalt und geängstigte Liebe des Vaters zu. Ein hygienisch abgerichteter Koch mußte die Nahrung des Kindes bereiten, und wie für einen Prinzen war beständig ein Leibarzt zu seiner Verfügung. Aus Furcht vor ansteckenden Krankheiten unterließ man es, ihn in die öffentliche Schule zu schicken; als er mit fünfzehn Jahren ins Gymnasium trat, erregte er Befremden durch seine Fremdheit, Spott durch seine Verwöhntheit, Ärger und Übelwollen durch sein launenhaftes und tyrannisches Wesen. Aber im Wetteifer mit den Gleichstrebenden traten seine angeborenen Geistesgaben alsbald in erstaunlicher Weise ans Licht. Er überflügelte alle. Lehrer und Mitschüler fügten sich einer Überlegenheit, die für jene zu augenfällig, für diese oft zu nützlich war, um bestritten werden zu können. Er hatte ein Gedächtnis wie der Kardinal Mezzofanti, eine Geschicklichkeit in der Aneignung der verschiedensten Disziplinen, die selbst bei Fachleuten Verwunderung hervorrief. Die Schularbeiten waren ihm ein Spiel; er kannte alle Daten der Geschichte, als ob er sie aus einem unsichtbaren Buch läse, übersetzte aus bloßer Liebe zur klassischen Philologie die entlegensten griechischen Schriftsteller und erschloß sich aus eigenem Trieb die höhere Mathematik und die mathematische Geographie. Schon mit achtzehn Jahren grenzte seine Belesenheit ans Unglaubliche; daneben dichtete und musizierte er; er ritt und focht, er turnte, schwamm, spielte Tennis und Fußball, und dank diesen Übungen kräftigte sich sein Körper; seine Muskulatur wurde zäh, seine Haut fest, seine Gestalt gedrungen, seine Bewegungen erhielten Energie, seine Haltung Anmut und seine Manieren eine außerordentliche Elastizität und Schmiegsamkeit.
Auf der Universität hörte er naturwissenschaftliche, philosophische und kunstgeschichtliche Kollegien, und im sechsten Semester verfaßte er seine große Doktorarbeit: Über das Individuelle und das Historische in der Porträtmalerei, eine Schrift, welche ihm die Anerkennung der Gelehrten erwarb und sogar im Publikum einigen Widerhall fand. Er verfolgte damals zwei Ziele: die Dozentur und seine Aufnahme in den Jockeyklub. Jenes war nur eine Frage der Zeit; dieses zu erreichen war ihm durch eine planvolle Ausnützung seiner aristokratischen Beziehungen möglich; er pochte gern darauf, daß seine Mutter eine Schanz, Edle von Jagstburg war, eine bekannte Familie, die während der Gegenreformation den Adelsbrief erhalten hatte. Solchen Bestrebungen entsprechend, waren seine Stunden genau eingeteilt, um den Pflichten der Arbeit und denen zu genügen, die ihm die Gesellschaft auferlegte; wie er denn überhaupt ein Mann der gründlichen Ordnung und der sorgfältig ausgeführten Programme war.
Der alte Reiner, der für seine eigene Person anspruchslos wie ein kleiner Kaufmann lebte, hatte dem Sohne ein Jahrgehalt von hunderttausend Kronen zugewiesen. Die Villa und der Haushalt kosteten den vierten Teil davon. Erwin rechnete mit der Köchin monatlich ab wie eine Ehefrau, die ihrem Gatten verantwortlich ist, und er kannte genau die Preise von Fleisch, Mehl, Zucker, Gemüse, Kaffee, Milch, Holz und Kohlen. Ihn zu betrügen war fast unmöglich. Er war weder ein Verschwender noch ein Knicker; er war der souveräne Herr seines Geldes, gab mit Anstand aus und hielt mit Anstand zurück. Die praktische Klarheit und Umsicht waren es auch gewesen, die Manfred zuerst für den um fünf Jahre älteren Erwin eingenommen hatten. Seine romantische Gemütsart fand in ihm einen bedeutenden Halt. Die Äußerungen einer tiefen Kenntnis der Menschen, eines kühnen und raschen Urteils, einer profunden Bildung, eines erlesenen Geschmacks wirkten auf Manfred unwiderstehlicher als die vollendet liebenswürdigen und geistreichen Umgangsformen des Freundes.
Erprobt war diese Freundschaft in keiner Weise. Dem Leben moderner junger Menschen, das sich gleichsam in gebrochenen Linien hinzieht, wo unter schamhaften Verkleidungen und beziehungsvoller Verschwiegenheit die Aktion zerschmilzt, sind Erprobungen so unbekannt wie dem Theater die Mordtaten alten Stils. Man kommt zueinander und redet; man hat auch unberedet dieselben Meinungen; man streitet nur, um zu finden, daß man dieselbe Meinung hat. Man ist immer weit vom Schuß, weit vom Geschehen, es ist, als ob die Zeit hoch über den Köpfen ihre Wirbel triebe, als ob das Schicksal weit unter den Füßen seine Gesänge heulte. Das Jahr ist umfriedet, eine undurchdringliche Mauer umfriedet Tag und Jahr, und vor den Toren wacht die Polizei. O Mann am warmen Ofen, scheinen bisweilen bleiche, zerwühlte Gesichter zu sprechen, die aus dem Unterirdischen auftauchen, von dort, wo das Schicksal seine Gesänge heult, stiller, verwerflicher Mann am warmen Ofen, steig nieder zu uns, horch und schaue!
Als Manfred den nahenden Schritt des Freundes vernahm, war es ihm eine Sekunde lang zumute, als ob er den Freund kaum kenne. Was weiß ich eigentlich von ihm? dachte er voll Unruhe; sein Gesicht ist mir vertraut, seine belebte Stirn, seine beschäftigten Augen, seine flinken Hände, seine angenehme Gestalt, seine bald helle, bald dunkle Stimme, aber was weiß ich von ihm? Er gibt sich nicht. Was er gibt, ist sein abgemessener Wille.
Das Bedenkliche solcher Skrupel mag sich aus dem angespannten Seelenzustand des Grüblers und aus der Furcht erklären, eine dauernde Hingebung nicht mit gleicher Glut und Offenheit erwidert zu sehen. Als Erwin ins Zimmer trat, lächelnd und heiter angeregt, füllte er wie jedesmal den Raum mit Sympathie, und Manfred machte eine Gebärde, wie um sich der Erinnerung an einen häßlichen Traum zu entschlagen. »Wo warst du?« fragte er.
»Wärst du nicht so faul und so verliebt, du hättest den Abend nützlich verbringen können«, antwortete Erwin. »Arensen, der dänische Südpolfahrer, hat in der Geographischen Gesellschaft Vortrag gehalten. Es war mir wichtig, ihn zu hören. Ich glaube nicht daran, daß Alexander den Diogenes beneidet, aber Diogenes ist in meinen Augen ein Schwein, wenn er Alexander nicht von ganzem Herzen bewundert. Alles kann ich fassen: höllische Strapazen erleiden, Hunger und Durst ertragen, zweimal eine sechs Monate lange Nacht durchleben, in erstickenden Schneestürmen über die Gletscherabgründe des antarktischen Eises klettern, im Tran- und Kohlenstank einer schneebegrabenen Bretterhütte wissenschaftliche Arbeit heikelster Art verrichten, eine Einsamkeit mit Gefährten teilen, die einem alsbald ekel werden wie ein Hemd, das man nie vom Leibe ziehen darf; gut, ich kann's fassen. Aber den Entschluß dazu, den faß ich nicht. Der Entschluß zu solchen Dingen muß eine Raserei sein. Der Entschluß hält ja die Taten, er ist der eiserne Tragbalken, der das Gebäude des Willens vor dem Zusammenbruch bewahrt. Ich hab' mir den Mann genau angesehen; harmlos, denkt man sich, ein Schulmeister. Aber zwischen Stirn und Nase war jene fixe Idee kenntlich, von der die Menschen der Tat besessen sind. Diese Leute sind die Dramen, die Gedichte, die Lieder Gottes, das Dargestellte, das Offenbarte, das, was Unbegreiflichkeiten und Hintergründe hat. Wir aber, wir sind die langweiligen Kompendien, die flachen Schilderungen, das naturalistische Quiproquo, die Makulatur.«
Das alles sagte er ziemlich hastig und sehr gestenreich, während der Diener das Abendbrot servierte. Manfred schaute gebannt auf diese flatternden, flackernden Lippen, diese eindringlichen Augen mit dem festen Blick, diese entschieden geeckte Stirn unter braunen und sorgfältig gescheitelten Haaren, dies glattrasierte, weiße, milchig blasse, zartgeäderte und zarthäutige Gesicht mit der feinen, schmalen und neugierigen Nase und den beim Sprechen vibrierenden, wie bei einem Schauspieler sich verfaltenden und wieder straffenden Wangen. Die ganze Erscheinung hatte etwas vehement Überzeugendes.
»Hast du schon gegessen?« fragte Erwin. »Nein? So setz dich her. Wichtel! Einen Teller und Besteck!«
Als Manfred ihm gegenüber Platz genommen hatte, fuhr er fort: »Entschuldige das Wir von vorhin, Manfred; ich meine eigentlich nur mich. Die richtigen Egoisten sagen immer ›Wir‹, wenn sie sich selber verdammen. Ich habe keine fixe Idee, das macht mich so ruhelos. Ich bin eine unpolitische Natur, ich habe keinen Anschluß, ich bin kein Vertreter, kein Repräsentant, ich bin nichts weiter als ein Ich, ein Ichlein, das sich manchmal einbildet, die geistige Maschinerie Europas mit in Bewegung zu setzen. Du, du bist ein Träumer. Träumer können aufwachen, von Träumern weiß man nie das Ende. Dir ist's ja auch geglückt, deiner schwebenden Leidenschaft einen Inhalt zu geben, was mir nie gelingen wird. Ich habe bloß die Leidenschaft und keinen Inhalt. Ich kann nicht lieben, ich kann nur hassen. Meine Leidenschaft erkaltet, wenn sie einen Gegenstand umklammert, mein Herz wird matt, wenn es besitzt. Vor Wochen lernte ich ein junges Mädchen kennen, gleichviel wo, gleichviel wer es ist. Frisch und duftig wie eine Feldblume, sag' ich dir, und graziös wie nur irgendeine in dieser wunderbaren Stadt. Ich hielt es für unmöglich, sie zu entflammen. Ich wünschte es gar nicht, mich quälte der Gedanke, daß diese Unschuld aus der Sternensphäre sinken könnte. Unschuld, siehst du, das ist es! Das ist die Göttin, vor der ich liegen und beten möchte! Aber Unschuld ist offenbar nur ein Reiz und nicht eine Wirklichkeit. Na, und diese – zwei Monate hat es gedauert, da kam sie, schmiegsam wie ein junges Kätzchen und traurig und zärtlich wie eine schon Gefallene. Mir wurde weh dabei. Ich nahm sie, gewiß, ich nahm sie, aber mit Wut, mit Verachtung, und dann gab ich ihr zu verstehen, daß alles aus sei zwischen uns. Ich war enttäuschter und zerstörter als sie, das kannst du mir glauben.«
»Du wirst sie zerbrochen haben«, bemerkte Manfred kurz.
Erwin zuckte die Achseln. »Sie wollte zerbrochen werden«, entgegnete er.
»Man macht dir's eben viel zu leicht«, sagte Manfred kopfschüttelnd. »Bisweilen ist mir, als ob dich dein Dämon ins Unwegsame locken wollte, um dich zu verstricken.«
»Wär's doch so!« rief Erwin aus. »Besser als, wie jetzt, durch das Leben zu rasen, mitten drin zwischen der Tat und dem Entschluß. Aber lassen wir's. Das klingt alles so großartig und ist simpel wie eine Leichenrede. Wann reisest du?«
»Übermorgen.«
»Und dein Mädchen? Wie verhält sie sich zu einer so langen Trennung?«
»Ich mag nicht, wenn du ›dein Mädchen‹ sagst«, versetzte Manfred umwillig. »Im übrigen wollt' ich dich bitten, morgen mit mir zu Virginia zu gehen. Sie will dich kennen lernen.«
Erwin rümpfte kaum merklich die Nase. »Ich vermute, daß du sie endlich so weit gebracht hast, einen Störenfried bei sich aufzunehmen«, sagte er dann. »Aber ich werde ihr versichern, daß ich von meinen Vormundschaftsrechten nur sparsamen Gebrauch machen will.«
»Das magst du nach Gutdünken halten«, erwiderte Manfred ernst. »Immerhin vergibst du dir nichts und mußt nicht fürchten, feierlich zu sein, wenn du nur versprichst, deine Freundschaft gegen mich auf sie zu übertragen. Sie ist allein, sie ist schutzlos. Ihre Mutter zählt kaum. Qualvoller Gedanke, solch ein Wesen auf sich selbst gestellt zurückzulassen. Nenn es Phantasterei, nenn es Mangel an Gläubigkeit, nenn's wie du nullst; wir sind ja alle dem Ungefähr ausgeliefert, und ich sehe nur das Verderben auf allen Seiten. Ich würde nicht reisen, wenn ich dich nicht wüßte.«
»Aber lieber, lieber, guter Mensch!« Erwin erhob sich und streckte Manfred beide Hände entgegen, die dieser ergriff, schüchtern und von dem ungewohnten Ausbruch freier Herzlichkeit bewegt. »Ich stehe dir mit allem, was ich bin und habe, zur Verfügung«, sagte Erwin mit einer Wärme, die der Stimme einen sonoren und seelenvollen Klang verlieh. »Ich übernehme die Verantwortung gern und ohne Vorbehalt. Du hast mein Wort, ich fasse die Sache so wörtlich auf, wie du sie verstehst.«
»Dank, tausend Dank«, entgegnete Manfred. »Ich brauche ja nur die Sicherheit, daß du im Notfall für sie da bist. Du schreibst mir gelegentlich über ihre Gesundheit, ihre Stimmung, darüber, wie sie aussieht, was sie spricht und tut, das ist alles. Ich traue dir Geschicklichkeit genug zu, um sie nicht durch eine Aufsehermiene störrisch zu machen.«
Beide lachten. »Ich muß dir ihr Bild zeigen,« fuhr Manfred fort, indem er einen handgroßen Karton aus der Brusttasche zog und ihn Erwin reichte, »sie hat endlich meinen Wunsch erfüllt und sich photographieren lassen.«
Erwin nahm das Bild und legte es wieder weg. Dann nahm er es abermals, hielt es in Armlänge vor die Augen, und seine Brauen rundeten sich.
»Es ist keineswegs geschmeichelt«, sagte Manfred mit naiver Eitelkeit.
»Donnerwetter – ja«, murmelte Erwin. »Prächtig, ganz prächtig. Ich dachte immer, du übertreibst, und habe insgeheim deine Schilderungen belächelt. Aber das scheint ja eine vollendete Schönheit zu sein.«
»Und noch mehr.«
»Mehr? Was noch? Mehr gibt es nicht. Ist ohnehin selten. Darin ist alles beschlossen.«
»Wenn wir im Zeitalter Platons lebten, würde ich sagen: eine vollendete Tugend. Aber heutzutage macht sich das schlecht.«
»Gewiß. Tugend hat immer etwas Ranziges. Ein odioser Begriff.«
»So nennen wir es Unschuld. Trotzdem du die Unschuld leugnest.«
»Geht es nicht ein wenig wider die Schamhaftigkeit, von jemand zu sagen, er sei unschuldig?« fragte Erwin stolz. Manfred senkte die Stirn. »Wozu einen Titel? Besitze, Freund, genieße und laß den Kommentar. Worte zerstören. Und wirf einen Ring ins Wasser wie Polykrates, denn du bist beneidenswert.«
Wichtel brachte eine Karte, auf welcher der Name Ottokar Graf Palester stand. Erwin lächelte. »Der gute Graf ist immer Mitternachtsgast. Bringen Sie kalten Aufschnitt, Wichtel,« wandte er sich an den Diener, »der Herr Graf hat sicher noch nicht gegessen.«
Graf Palester war ein hochgewachsener, schlanker, junger Mann von vornehmer Haltung und schweigsamem Gehaben. Er hatte ein blasses Gesicht, einen rötlichen Spitzbart, schlichtes gelbliches Haar und traurige Augen, die so blau waren wie Kornblumen. Die Finger seiner schmalen Hände waren stets zusammengepreßt und edel gebogen, als ob sie aus Gips wären. Sein Anzug verriet die Sauberkeit und Sorgfalt eines Menschen, dem alles daran liegt, seine Armut vor der Welt zu verbergen. Er war bis vor einem Jahr Marineoffizier gewesen, hatte dann aus unbekannten Gründen seinen Abschied genommen und lebte mit einem weiblichen Wesen geheimnisvoll zurückgezogen in der Vorstadt. Er besuchte seine wenigen Freunde, die Freunde nicht ihn; dies hatte sich so gefügt. Man achtete seine Armut und sein Geheimnis.
Erwin hatte ihn vor zwei Wintern in Kairo kennen gelernt. Er hatte schon damals erfahren, daß der Graf im Besitz der sogenannten Froweinschen Miniaturen war, die nach einem Sammler oder Mäzen des achtzehnten Jahrhunderts ihre Bezeichnung hatten. Es gab nur drei Exemplare dieses Werks; das eine befand sich in der vatikanischen Bibliothek, das zweite war Eigentum eines Lord Pembroke in Schottland, das dritte war zur Zeit der österreichischen Herrschaft in Toskana durch einen Vorfahr des Grafen, die Palester waren italienischen Ursprungs, aus Florenz nach Wien gekommen. Während das Geschlecht immer mehr verarmte, gingen diese mittelalterlichen Malereien, die nach Erwins Meinung einen außerordentlichen Wert hatten, als abergläubisch behütetes Erbstück von Generation zu Generation. Man wähnte, daß der Name Palester nicht untergehen könne, ja, daß ihm einst noch ein neuer Glanz beschieden sein werde, solange dieser Schatz Familiengut blieb. Graf Ottokar war nicht mehr in der Lage, das Archiv eines Ahnenschlosses damit zu schmücken; obwohl er die Überlieferung als Fabel hinnahm, so achtete er sie doch in einer Treue, welche nicht mäkelt, und in einem Trotz gegen weltliches Gut, der durch eine philosophische Lebensführung gehärtet wurde. Vor Wochen hatte er das Buch mitgebracht, um es Erwin zu zeigen, und schon eine flüchtige Prüfung hatte diesen belehrt, daß er ein Original vor sich habe. Die drei in Europa verstreuten Exemplare waren einst ein Ganzes gewesen, aber Erwin, der das römische kannte, stellte entzückt das Palestersche höher, und seine Begierde nach dem Gegenstand wuchs im selben Maß wie der Widerstand, den sie erfuhr. Wenn er zu ungestüm und zu phantastisch mit seinen Angeboten wurde, lächelte Graf Ottokar voll Nachsicht und versprach mit reizender Ironie, er werde ihm den Frowein hinterlassen, wenn er ohne Leibeserben von hinnen gehen müsse. »Das dauert mir zu lang«, entgegnete Erwin. »Ich will nicht erben, ich will erobern.«
Auch jetzt geriet das Gespräch auf die Miniaturen, und während der Graf sich an den Tisch setzte und aß, wie man im Wirtshaus eine bestellte Mahlzeit zu sich nimmt, schlich Erwin vorsichtig und lüstern um das Thema.
»Was stellen denn die Bilder dar?« fragte Manfred.
»Es sind Heiligenlegenden«, erklärte Erwin; »einfach und primitiv gemalt, aber mit einer Innigkeit, die ganz ohne gleichen ist.«
»Das mag ja sein,« antwortete Manfred, »trotzdem begreif' ich dein heftiges Verlangen nicht. Die Welt ist voll von schönen Werken der Kunst, bekannten und unbekannten; warum soll tyrannische Habsucht den Geist in Fesseln binden und den Genuß beschränken?«
Graf Ottokar blickte Manfred wohlwollend an, schwieg jedoch, um Erwin nicht in seiner Entgegnung zu stören. Erwin legte die Hände flach zusammen und sagte mit einem Ausdruck von Festigkeit und Glut: »Die Welt ist groß und klein, wie man's nimmt. Groß für die Wahllosen und klein für die Wählenden, groß für die Augen und klein für die Hand. Ich bin kein Augenmensch. Ich muß haben, ich muß greifen, zwischen den Fingern muß ich's haben und halten, auch auf die Gefahr, zu zerstören.«
»Nun ja, da ist der Punkt, wo Gott aufhört und das Chaos anfängt«, bemerkte Graf Ottokar trocken.
Man stritt noch eine Weile für und wider, bis sich der Graf erhob, um sich zu verabschieden. Manfred, der müde war, folgte seinem Beispiel, nachdem er mit Erwin die Stunde festgesetzt hatte, zu der er ihn morgen abholen wollte.
Als er mit Palester auf die ländlich öde Straße trat, schneite es. »Ich gehe nie ohne ein befeuertes Gefühl von Erwin weg,« gestand Manfred, »er hat die Gabe, mich ehrgeizig zu machen.«
»Ein interessanter Mensch, ein höchst interessanter Mensch«, erwiderte Graf Ottokar leise. »Aber ich möchte sein Gesicht sehen, wenn er allein ist, ganz allein. Er gehört zu denjenigen, deren Gesicht ich mir nicht vorstellen kann, wenn ich sie allein denke. In einer großen Stadt, in einem großen Haus und dann in einem großen Zimmer ... mir ist, als ob er ein anderer wäre.«
Manfred blickte verwundert lächelnd auf, aber die Züge des Grafen hatten einen ernsten, beinahe düsteren Ausdruck, als er fortfuhr: »Ich nämlich, im Gegensatz zu Erwin Reiner, bin Augenmensch. Ich sehe zu viel, und was ich nicht sehen kann, quält mich. Neuneinhalb Jahre hat mein Blick nur auf der unermeßlichen Fläche des Ozeans geruht; nun ist mir alles vermauert, Leben und Menschen. Ich komme mir vor wie ein Zwangsarbeiter in einem Bergwerk. Wohin geht eigentlich Ihre Fahrt?«
»Über Madagaskar und Ceylon nach Sumatra, Australien, Polynesien.«
»Madagaskar, Ceylon, Sumatra«, wiederholte der Graf sinnend. »Und das alles ist vorhanden. Jetzt, indem wir sprechen, rauschen dort die Palmen. Nichts ist aufwühlender als das Gefühl der Gleichzeitigkeit. Sie werden nachts auf Deck liegen, und das Meer wird leuchten, und die Maschine wird pochen wie ein Herz.«
»Ich würde gern mit Ihnen tauschen«, entschlüpfte es Manfred.
»Ich verstehe,« antwortete Palester, »ich verstehe. Um so mehr wird Sie die Reise verwandeln. Wir verwandeln uns nicht, wenn die Erlebnisse mit unseren Wünschen übereinstimmen. Schreiben Sie mir einmal von dort drüben, vom andern Ende der Welt.«
»Mit Vergnügen.«
»Vielleicht werde ich Ihnen ebenfalls schreiben. Ich werde bei Nacht schreiben, Sie werden es bei Tag lesen, und so ist es auch gemeint. Leben Sie wohl, Sie müssen einsteigen, ich gehe zu Fuß.«
»Zu Fuß bis nach Hietzing?« fragte Manfred erstaunt.
»Ja. In zwei Stunden bin ich zu Hause. Ich vertrage nicht den Lärm dieser Vehikel. Leben Sie wohl.«
Manfred schaute dem Davonschreitenden mit unruhiger Teilnahme nach.
Am andern Nachmittag um drei Uhr fuhr er mit Erwin in dessen Elektromobil zu Virginia.
Beim ersten Anblick des Mädchens stand Erwin ein paar Sekunden lang steif wie eine Latte. Manfred konnte durchaus nicht erraten, was in ihm vorging. Er selbst gab sich weniger natürlich als sonst; der Wunsch, Erwin und Virginia möchten aneinander Gefallen finden, machte ihn verlegen, und er beobachtete gespannt Haltung und Blicke von beiden.
Die Eitelkeit des Liebenden ist dem mütterlichen Stolz verwandt, auch der Unruhe des Künstlers über die Wirkung seines Werkes; er suchte aus Erwins Miene zu lesen, ob die Erwartung, die Virginias Bild geweckt, unbefriedigt geblieben oder übertroffen worden war. Virginia ihrerseits blickte dem Freund des Verlobten furchtlos forschend ins Gesicht. Nie zuvor war sie Manfred so damenhaft erschienen; das Phlegma, das die Schönheit verleiht und das vielleicht nur durch die Schönheit reizvoll wird, gab ihr eine Distanz und eine Würde, die Manfred alsbald an Erwins Belebtheit entzückt triumphierend genoß, etwa wie man zwei seltene Leckerbissen zusammen in den Mund schiebt.
Es machte den Eindruck, als ob Virginia mit Erwins Betragen zufrieden sei. Seine betonte Höflichkeit gefiel ihr, die Knappheit seiner Ausdrucksweise ließ ihren Gedanken Spielraum, seine Zurückhaltung war bedeutsamer als Schmeichelei und Bewunderung; er kündigte damit an, daß ihm durch die Umstände sehr heikle Grenzen gezogen waren. Sie hatte seine Kritik ein wenig gefürchtet, seine unbedingte Billigung, die sie spürte, hob ihre Sicherheit. Seine Manieren hatten nichts Nachlässiges, auch nichts absichtlich Fremdes; er war bescheiden, ganz einfach bescheiden. Sogar Frau Geßner konnte nicht umhin, Manfred anerkennend zuzunicken, als sie sich von Erwin unbeobachtet wußte.
Nach Verlauf einer Stunde, die mit belanglosen Gesprächen hingegangen war, brach Erwin auf. »Ich hoffe, mein gnädiges Fräulein, daß Ihnen die Rolle, die mir Manfred während seiner Abwesenheit zuweist, kein Kopfzerbrechen verursacht«, sagte er, indem er in den Pelzmantel schlüpfte. »Ich überlasse Ihnen das Kommando. Betrachten Sie mich als einen, der zur Verfügung steht. Vergessen Sie die Person und denken Sie nur an das Amt.«
Lächelnd reichte ihm Virginia die Hand, die er küßte. »Ich kann nicht kommandieren«, versetzte sie. »Sie würden mich auch viel zu eigensinnig finden, wenn Sie kommandieren müßten. Es wird hoffentlich nichts dergleichen nötig sein.«
Manfred begleitete Erwin über die Wendelstiege hinab. Auf der letzten Stufe blieb Erwin stehen und sagte, indem er Manfred durchdringend anschaute: »Hör' mal, es ist doch ganz unmöglich, daß dieses Mädchen, diese ... Dame, diese ... Aristokratin, diese ... Diana aus einer Ehe stammt, wie du sie mir geschildert hast –?«
Manfred, mit niedergeschlagenen Augen, doch vor Freude lächelnd, erwiderte unbedacht: »Wie scharf und wahr du siehst!« Sogleich merkte er, daß er zuviel gesagt; er wollte seine Worte zurücknehmen, verstrickte sich noch mehr, und weil ihn Erwins maliziöse Miene ärgerte, glaubte er nichts Übleres zu tun, als was er schon getan, wenn er das rührende Erlebnis von Virginias Mutter in Kürze berichtete.
»Es ist klar,« meinte Erwin, der aufmerksam zugehört, »solche Früchte reifen nicht auf dem dürren Baum des bürgerlichen Behagens. Amüsant wäre es, von diesem Punkt einmal die Naturgeschichte unserer großen Männer zu durchforschen. Leider erheben sich davor die Festungswälle tausendjähriger Heuchelei.«
»Versprich mir, daß du darüber schweigst«, sagte Manfred hastig.
Erwin zog verwundert die Stirne kraus. »Oh, wie das Grab«, antwortete er, als könne eine solche Aufforderung nur scherzhaft genommen werden. Sie drückten einander die Hand, und Manfred kehrte ins Haus zurück.
Alles, was nun kam, war Abschied. Daß auch Virginia langsam ihre Fassung verlor, traf Manfred tiefer als der eigene Schmerz. Ihm war, als ob er sterben müsse, um erst nach einer Ewigkeit das Dasein wieder von neuem beginnen zu dürfen. Sie blieben bis über Mitternacht in der Stube beisammen sitzen. Frau Geßner hatte sich zu Bett begeben. Ihr Gebetbuch lag noch an der Ecke des Tisches, auf welchem eine Teekanne, drei Tassen und eine mit Äpfeln gefüllte Schale standen.
Der Novemberwind surrte im Ofen. Sie redeten erstickte Worte; wenn sie schwiegen, empfanden sie die Schauer als gefährlich, die über ihre Haut rannen. Manfreds Hände suchten die Hände des Mädchens und flohen wieder. Seine Blicke begehrten und krochen erschrocken in die Winkel; spürbar kreiste das Blut in den Adern, und an den Kleidern trug er eine Last wie ein Badender, dem eine Fessel nicht zu schwimmen erlaubt. Virginia schien gefaßt, ja heiter; mit gütigem Lächeln kämpfte sie gegen die bedrohliche Glut; in der Tiefe ihres Herzens begriff sie und wehrte ab, sanft und mitleidig, bittend und beteuernd. Wie stolz sie ist, dachte Manfred, von Liebe berauscht; wie unbezwingbar und wie schön!
Endlich küßte sie ihn auf die Stirn und bat ihn zu gehen. Und er ging, bestürzt, fast zornig, bleich und verwirrt.
Am nächsten Mittag, geschlafen hatte er nicht, brachte er ihr einen Ring mit zwei prachtvollen Smaragden. Es war das erste Geschenk, das sie annahm. Er war fertig, alles zur Reise bereit, das Gepäck war schon auf dem Bahnhof, und um zwei Uhr, nachdem Manfred von Frau Geßner herzlichen Abschied genommen, fuhren sie hin.
Sie gingen vor dem Zug auf und ab. Die Frist war bald verstrichen. Virginias Geicht wurde plötzlich weiß wie Porzellan, und als sie an seiner Brust lag, schluchzte sie wie ein Kind. Manfred preßte sie an sich, bog mit der Linken ihre Stirn zurück, schaute in ihre Augen und dann empor. Es erlöste ihn kein Wort, kein Ausbruch.
Da kam Erwin, um dem Freund Lebewohl zu sagen. Rücksichtsvoll hatte er die letzte Minute gewählt. Als er Virginia so hingeschmiegt erblickte, war in der Linie ihres Körpers ein Etwas, das ihn stutzig machte. Er sah zu Boden. Virginia gewahrte ihn und nahm sich zusammen. Schwerfällig wie ein Greis stieg Manfred in den Wagen. Sein edles Gesicht zeigte sich noch einmal am Fenster, lächelnd und sich verdunkelnd, dann rollte der Zug aus der Halle.