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Das Gespenst im Antistitium

Es ging hart auf Mitternacht. Am Schreibtisch seiner dumpfen Studierstube saß der Zürcher Antistes Antony Klingler. Mühsam, stolpernd ging die Feder durch den kläglichen Schein des Öllämpchens über reichlich gebreitetes Papier; denn die dicken Finger, die den Kiel führten, zitterten, und des Schreibers ängstliche Augen tasteten immer wieder durch die Düsternisse des Raumes nach der verborgenen Lehnstuhlecke, wo überm matten Schein des weißen Kragens die unsicheren Umrisse eines dunkelumwallten Hauptes erkennbar waren.

Die Luft schwelte von den übermäßigen Hitzen des großen Ofens.

Jetzt holten die Türme der Stadt zum Zwölfuhrschlag aus. Erst das Großmünster, gewaltig und so nahe, daß die Scheibchen der breiten Fenster leise klirrten. Nun ennet der Limmat ein zweistimmiges Echo von Fraumünster und Peter, und irgendwo in der Ferne der gleichmütige Gesang des Nachtwächters.

Dann schwieg alles.

Auch das Kritzeln des Kiels war verstummt; denn des Antistes Hände hielten jetzt die breiten Armlehnen seines Schreibstuhls umklammert, derweil der schwere Kopf langsam zwischen die hochgezogenen Schultern der mächtigen Gestalt herabsank. Das winzige Schnurrbärtchen über dem vollen Mund zitterte, und die braunen Augen blinzten unter der engen Stirn hervor, als ob sie in lauter Feuer hätten blicken müssen. Doch in der Lehnstuhlecke reckte sich eine schlanke Mannsgestalt hoch, und man spürte das Blitzen erwartungsvoll geöffneter Augen.

Aber alles blieb still.

Aus der Ecke kam eine flüsternde Stimme: »Weiß man davon, daß ich da bin?«

Der Antistes schüttelte die grauen Locken: »Nein, niemand.«

Und wiederum Stille.

Auf einmal öffnete sich die Stubentüre, ganz langsam und ohne das mindeste Geräuschlein, und aus der stickdunkeln Finsternis des Ganges schwebte etwas Weißes herein, zog bogenweis unter der niederen Balkendecke durch und fiel leise knisternd neben dem Antistes abhin und war ein dicker Mühlsteinkragen.

Und nun ein feines Geklingel mitten in der Stube, und ein silberner Becher und ein großer Garnklüngel tanzten und rugelten umeinander über den weißen Boden hin.

Dann schloß sich die Türe wieder, wie von selber und ohne daß wo eine menschliche Hand zum Vorschein kam und ohne daß man etwas anderes vernahm als des Antistes stöhnenden Atem und das Krachen seines Stuhles, der nun auch den mühsam heraufgezogenen Beinen Raum geben mußte.

Aber jetzt, vom höchsten Zimmer des Hinterhauses her, das Schlagen einer Tür, zwei-, dreimal – und dann gleicherweise ganz nahe am großen Saal drüben – und jetzt in der Erkerstube grad unter den Füßen ein furchtbarlich grausam Gepolter, als ob das ganze Haus brechen müßte.

Der Antistes preßte beide Hände auf die Ohren, und sein Gesicht ward fahl und dick und hangend wie das eines alten Weibes, und sein Mund wimmerte. Aber auf einmal zog dieses Wimmern durch das ganze Haus und schwoll und wuchs an und ging vom tiefen Keller in die Winde hinauf, als ob alle Wände klagsam geworden wären und alle Stufen weinten.

Und dann aus der Höhe die schrillen Schreie eines Raubvogels, in rascher Folge, dreimal und dreimal und dreimal, und nun von der tiefsten Treppe herauf ein scharfes Pfeifen, wie wenn einer den Pferden pfeift, und auf den Stufen Degenklirren und Sprünge die ganze lange Treppe herauf und durch den Gang schlirpende Schritte wie von den Füßen eines Betrunkenen.

Die Türe nach der anliegenden Kammer sprang auf. Im grauen Nachtgerust, mit flatternder Haube stürmte die Obristpfarrerin ins Zimmer. Ihr weißes fleischiges Gesicht war wie zerrissen, und die nahgestellten Augen lagen als erloschene Kohlen darin.

Mit einem Schrei stürzte sie auf ihren Eheherrn zu, der sich in die dunkle Ofenecke geflüchtet hatte und nun wirr betend am Boden kniete. »Er ist es,« keuchte sie, »der Bub, der Chueri! Oh, seine arme Seel …; Und ich …; Gott sei mir gnädig! Die fünfhundert Gulden …; Gott sei mir gnädig!«

In diesem Augenblick schlirpten die Schritte nahe der Stube vorbei gegen die hintere Treppe.

Der Herr in der Lehnstuhlecke sprang auf nach der Türe; aber der Antistes ergriff ihn am langen Rock: »Ums Gotts willen, Schwager, bleib …; Die armen Seelen nicht stören …; Ein Unglück …;«

Aber der andere befreite sich unwirsch: »Ach was, laß mich und bet' du doch!« flüsterte er, und dann hatte sich schon die Türe hinter dem geräuschlos Enteilenden geschlossen.

Des Antistes Betstimme wurde lauter und wurde aus sinnlosem Stottern ein sicheres Wort und eigentlich Gebet: »O Herr, seye eine feurige Mauer du selbst um uns her, auf daß der Teufel nicht mehr zu unseren Hütten noch unseren Seelen und Leibern sich nähern mög, daß wir unter denen Fauststreichen des Engels des Satans uns deiner Gnad vergnügen mögen und dem Teufel widerstehn, auf daß er nach deiner Verheißung von uns weichen muß!«

Und die Pfarrerin greinte dazwischen: »Der arm Bub, gnad Gott der armen Seel …; Eine himmlische Erbärmde der armen, armen Seel!«

Aber auf einmal stand der beiden Rede still, mitten im Satz.

Von draußen waren sonderbare Töne zu ihnen gedrungen. Worte und Poltern, die nicht gespensterhaft schienen und auch nicht nach des Poltergeistes Art, und dann irgendwo im hinteren Haus ein dumpfer Fall.

Aber gleich darauf wurden des Ratsherrn Landolt herrische Schritte laut auf der oberen Stiege, und man hörte seine barsche Stimme, wie sie nach dem Gesinde rief, und dann Laufen und Rufen und allerlei verstandsam irdisches Gered.

Langsam kam der Antistes auf die Füße und richtete den schweren Körper auf, daß er groß und stattlich dastand, und als er nun des Schwagers Stimme und Schritte näher hörte, wagte er es gar, die Türe um ein kleines zu öffnen.

Da kam der Ratsherr eben mit einem Lichtstock die Treppe herab, groß und heiter, und hatte vor sich den Kesselring, den Tischgänger, und faßte ihn hart an der Schulter, drehte ihn der unteren Treppe zu und wies ihm mit dem Lichtstock den Weg: »Dort, Herr Studiosus, in der Gartenkammer steht Euer Bett und allweg nicht bei denen Röcken und Zöpfen oben!« und gab ihm einen sänftiglichen Mupf, daß der Kleine stolpernd und mit eingezogenem Kopf in den Schatten des tieferen Stockes versank. Dann lüpfte er im Vorbeigehen den schweren Messingleuchter vom Gangkasten herunter.

Auf des Antistes Schreibtisch stellte er ihn ab, mitten in die Paperassen hinein, und steckte ohne Verzug mit dem Lichtstock alle fünf Kerzen in Brand, daß dem Öllämplein das Scheinen verging.

Die Pfarrerin sah ihn erschreckt an: »Was ist jetzt das, haben doch kein Fest herinnen?«

Herr Landolt lachte über das ganze helle Gesicht: »Allweg nicht, aber Licht vonnöten, Frau Schwägerin, Licht vonnöten und etwan auch Luft!« und schritt nach dem breiten Fenster hinüber und riß mit zweien Händen Flügel und Laden auf.

Aber die Frau fiel ihm unsanft in den Arm: »Nicht, nicht, du weißt doch, der Antony!«

Der Ratsherr stutzte; aber wie sein Blick auf den Kirchhof draußen fiel, der zwischen Pfarrhaus und Großmünster still gebettet lag, sprang ein verstehendes Lächeln um seine Augen. »Ja so, der Herr Antistes, den Anblick verträgt er nicht, Herr Jesuslein, und weiß mir doch nichts Lieberes, als sie da so beisammen zu sehen, ruhig und friedsam, und alles Gestürm hat ein End!« und er schloß gutmütig die Laden. »Aber eine schnaufende Luft müssen wir einenweg haben!« und lief nach dem anderen Fenster hinüber, das nach dem Garten ging, und stieß es auf.

Einen Augenblick sah er weit vorgebeugt in den weißen Garten hinunter und auf des Haselbaums tausend zuckerige Fingerchen: »So rein, so still da außen und drin diese Dusternis!« Und er reckte die langen Arme, daß sie schier die Decke erreichten, und zog begierig die hartkalte Luft ein.

Diesmal war es der Antistes, der Einspruch erhob: »Meine Frau Liebste, den Tod könnt sie sich holen in der Teufelskälte, lützel gewandet wie sie ist!« und schlug kurzerhand die Läden wieder zu.

Wie nun Herr Landolt der Pfarrerin schlotteriges Gerust und gekränkte Mienen bemerkte, tat's ihm schier leid: »Ich bitt ab, vieledle Schwägerin, teuerste Rägel, ich bitt ab!« und machte seine Reverenz. »So wird er halt in Gotts Namen herinnen bleiben müssen, der Stickdunst,« und er wandte sich der Helle der Stube zu.

Jetzt erst wurden die anderen gewahr, wie des Ratsherrn Gewand etwas in Unordnung war, der Kragen verschoben und zerdrückt, und über den dunkeln Rock liefen weiße Striemen und große weiße Spinnen, grauslich wie Geisterhände.

Aber Herr Landolt, der ihre schreckhaften Blicke auffing, schlug mit der breiten Hand auf Ärmel und Rock, daß eine weiße Wolke herausstob, und lachte: »Ja, seht nur, der Teufel hat abgefärbt, der Mehlbögg der; aber das muß ich schon sagen, feste Knochen haben Hierzuland die Geister, und gleitig war er und glimpfig wie ein Wetterleich. Hätt ihn das Lilachen nicht gehindert, leicht hätt's mir schlimm gehen können, und hab doch auch kein Schlottergebein. Aber entwischt ist er mir doch, der Donnerskerl, als ich ihn schon vermeinte in Händen zu haben. Wer hätt's auch glauben sollen, daß einer es wagt, so frechlings über die hohe Laube hinunter und auf den steifgefrorenen überreiften Boden? Freilich, nachher ging's minder hitzig; wie ein angeschossener Has hat er sich davongeschleikt, und wär ihm Dunkelheit und Ausschlupf des Zwinglihauses nicht so nah gewesen, ich hätt ihn noch erreichen können. Aber so viel ist gewiß, der geistet euch morgen nimmer umeinander!«

Die Pfarrersleute starrten den Ratsherrn an, sprachlos, und des Antistes Augen quollen auf; aber plötzlich fiel Frau Rägel dem Schwager um den Hals: »Ist's wahr, angerührt hast du's, und ist's also kein arme Seel und ist nicht der Rittmeister, mein armer Bub?« Und ihr weißes Gesicht wurde fast rosenrot und die Augen naß.

Aber Herr Landolt schüttelte den Kopf: »Rägel, Rägel, bin ich wirklich allhier im Antistitio, und ist das die Frau Obristpfarrerin, die also spricht, und ist es menschenmöglich, daß eine Mutter glaubt, ihr eigen Blut komme aus dem Grab herauf und komme mit Bröggereien aus der Ewigkeit ins schlimme Leben zurück?« Und wie der Antistes mit hochgewölbten Brauen und wichtig geblähten Nüstern dreinreden wollte, wehrte er ihm ab und kam seinen Worten zuvor: »Schau, Antony, ich bin kein Theologus und hab mich all mein Leben blutwenig um die Gottesgelahrtheit bekümmert, weil ich meine, daß einem der Glauben nicht durch den Kopf ins Herz falle, wohl aber aus dem Herzen ins ganze liebe Blut schieße; aber so viel weiß ich doch annoch aus der Schrift, wie da allenthalben ein klar und deutlich Zeugnis darin steht, daß weder der Gläubigen noch Ungläubigen Seelen, nachdem sie vom Leib geschieden, auf Erden wandlen und daß, wie etwan Abraham zum reichen Mann sagt, zwischen uns und ihnen eine große Kluft befestigt ist und die Türen beschlossen, daß es kein Herüber und Hinüber gibt.«

Der Antistes horchte auf, und etwas wie ein befreiendes Glänzen ging über sein Gesicht: »Das glaubst, daß sie nimmer zurückkommen können und uns plagen?« Doch dann zog wieder die pfarrherrliche Würde über den Vollmond, er ließ den Leib gravitätisch sich wölben, als ob er sich etwas vergeben hätte, da er dem Laien zustimmte: »Das aber, Schwager, wirst nicht bezweifeln, dieweil wir genugsam Beweistum dafür haben, daß es in des Satans Macht und Gelüsten steht, sich in jegliche Erscheinung zu vergstalten, in die einer abgestorbenen Seele sowohl als in einen Engel des Lichts. Und an den Teufel, denk ich, wirst annoch glauben!«

Der andere ließ unter der glatten Lippe die starken Zähne schimmern: »Wohl, wohl, das müßte kurios zugehen, wenn einer ins Fünfundfünfzigste käme und hätte noch nicht gelernt, an den Teufel zu glauben; aber daß der mit Poltern und Lilachenschwenken, mit Kragenbenggeln, Klüngelrugeln und Becherzwirbeln sich dartue, mit Vergunst, das glaub ich nimmer; in denen Stücken halt ich es allerdings mit Zwinglis Wort: Hexen- und Teufelswesen – Träume und Wind!«

Des Antistes Gesicht wurde rot und röter. »Du scheinst ein kurzes Gedächtnis zu haben, Herr Schwager, da dir nicht mehr bewußt, wie vor wenig Zeit noch der Teufel mit ebensolchen Bröggereien unweit in ein armes Dörflein gefahren ist und allda sein schlimmes und unzüchtiges Wesen getrieben hat und christliche Leut in Schand, Elend und Tod gebracht.«

Da reckte sich der Ratsherr lang auf, daß er des Antistes gewaltigen Leib zu überragen schien, und seine Züge wurden knapp, und auf einmal sah man, welch scharfe und feine Adlernase in dem gütigen Gesicht stand. »Nein, Antistes,« sagte er mit gedämpfter Stimme, »das hab ich nicht vergessen, und wenn ich hundert Jahr alt würde, den Gestank von denen sieben brennenden Hurden könnt ich nicht aus der Nase und das Geschrei von denen sieben armen Tröpfen nicht aus den Ohren verlieren und das Gewimmer von denen Weiblein, den todalten und den kindsjungen. Aber – diese Nacht, wenn du willst, daß ich allhier bleibe und euch helf, die Teufelskomödie zu End zu führen, dann laß mir die Hexen von Wasterkingen aus dem Spiel! Wir haben anderes zu tun; denn glaub mir, was da über die Laube abhin geplatscht, ist allweg noch nicht der ganze Teufelszauber.«

Diese letzten Worte ließen den Antistes den Zorn vergessen, den er über die frühern verspürte. Seine Stirne wurde wieder ängstlich und schmal: »Noch nicht alles?«

»Davon wollen wir nun eben reden« – des Ratsherrn Züge heiterten sich –, »aber ein Tränklein könnte man, dazu brauchen, der Satansofen da dörrt einem ja die Zunge!« Und da der Antistes an ein verborgenes Wandkästchen ging und ihm Krug und Becher entnahm: »Recht so,« schmunzelte er, »das ist gewißlich kein schlechtes Tröpflein, das du in deinem Heiligtum versteckt hältst,« und hob den Becher vom Boden auf, der da immer noch neben dem Klüngel lag. Als aber der Antistes stutzte: »Daraus trinken willst, aus dem Teufelsinstrument?« lachte er: »Nicht klupfherzig sein, Herr Antistes, nicht klupfherzig! Ist ein schönes silberigs Becherlein!« und schenkte sich's selber voll und stürzte es mit raschem Schluck herunter.

Dann warf er sich aufs Lotterbett an der Wand, schlug die langen Beine übereinander, und derweil das Ehepaar ihm gegenüber Platz nahm, mit steilem Rücken und unsteten Händen die Frau, der Antistes mit untergezogenen Beinen und leise schlückelnd, aber erwartungsvoll beide, fuhr der Ratsherr fort: »Daß es nicht bloß ein Gespenst allein ist, was euch da heimsucht, nehme ich daraus ab, daß nicht wohl einer zur selben Zeit droben in der Mägdekammer und unten im Saal Türen schlagen, in der Stube Tisch und Sidelen übereinanderwerfen und unterm Dach Habichtsschreie ausstoßen kann, auf der untersten Treppe Degen rasseln und das Kamin abhin Klagheulen. So hab ich denn auch gleich bemerkt, wie, als das Langbein über die Laube hinab entwischt und im Schatten verloffen war, das Rumoren oben immer noch weiterging, zwar mehr mit Gugelfuhren und Rumpeln, wie mir schien, als mit rechtem, erschrecklichem Geisterspuk. Und da ich hernach die Treppe hinaufstieg, war es mir gar kurios, wie mir da die Anna Schädlerin, die flinke Thurgauerin, mit rotem Kopf entgegenlief, den Lichtstock in der Hand, und also ängstlich die Kammertür hinter sich schloß. Ich aber ließ mich nicht fecken, dieweil mir ein verdächtiger Tubaksgeruch in die Nase stach, stoß die Tür auf und zünde hinein, und wißt ihr, was ich seh? Zwischen einem Hokispokis von Lilachen, Federbetten und Weibsröcken den Kesselring, das lammfromme Studentlein, beineben dem Lisebethli, der Schwäbin, und der Student hat die lange Tubakspfeife im Maul, und auf dem Tisch ein Zinnkrug und vier Becher drum. Nun, den Theologen hab ich einmal herabgenommen; aber, mit Verlaub, Herr Schwager, ich muß schon sagen, wann mir einer, wie euch der Pfarrer Kesselring getan, seiner Buben in Sorg gäbe, ich würd's bei Gott nicht zulassen, daß er bei den Mägden steckt, gar bei dem Schwabenmeitli, dem rotfrechen Ding mit den kurzen Röcken und den Rundlichkeiten um und um.«

Der Antistes wehrte sich: »Das ist nicht zu verargen in solchen Teufelsnächten, wenn die jungen Leute sich etwan zusammentun in ihrer Angst zu gegenseitigem Trost und Beten, und das Lisebethli ist nicht schlimm, ein sauberes Meitli, ich mag's recht wohl.«

Aber die Pfarrerin fuhr auf: »Recht hat der Schwager,« rief sie, und ihre angstvolle Zitterstimme wurde auf eins scharf wie am hellichten Tag, »ein freches, grobschlachtes Mensch ist sie, und was den Kesselring angeht, hundertmal hab ich den aus der Küche weg und zu den Büchern gejagt und ihm bedeutet, wenn er solchen Platz nicht verlasse, so werd ich ihn mit dem Prügel abtrocknen.« Und sie machte dazu ein Paar Augen, daß keiner gewagt hätte, an der Ernsthaftigkeit solcher Drohung zu zweifeln, und daß es ergötzlich um Herrn Landolts Mund und Augen zwitzerte; aber er gab der Schwägerin recht und riet ihr sehr, die Weibsbilder so schnell als tunlich aus dem Haus zu schaffen, alle beide, das Schwabenmeitli sowohl wie die flinkäugige Thurgauerin, da sie ihn recht von der Sorte derer dünkten, denen man nicht zu viel trauen sollte.

Der Antistes suchte auch jetzt zu widersprechen: arme Meitli seien es, hätten nun all das schwere Unglück mit ihnen getragen und oftmals ganze Nächte dagegen geschafft mit Wachen und Beten, daß ihnen der Bös – Gott sei bei uns! – mehr denn einmal das Betbuch aus der Hand gerissen und die Treppen abhin geschmissen habe.

Aber der Ratsherr blieb ungerührt. »Ich hab die Betkammer gesehen vorhin; sonderlich andächtig sah die allerdings nicht aus mit dem Gehursch und Tubak und Weinkrug …; Und warum die vier Becher, da doch nur drei durstige Betmäuler vorhanden?« Und es zuckte ihm zwischen den Augen, und plötzlich sprang er über: »Der Vikar Wirz, dein Pedell, schläft der eigentlich nicht im Haus?«

Und als nun der Antistes erzählte, wie sein lieber Bernhard Wirz mit Ausbruch der großen Heimsuchung und Teufelsschrecken allerdings aus seiner Pedellenwohnung ins Antistitium herübergezogen sei und daß er ihnen als ein frommer und herzhafter Junggesell beigestanden habe, auch oftmals gegen den Poltergeist agiert und ihn vertrieben, für viele Täg, daß er aber gestern um Erlaubnis eingekommen sei, diese Nacht bei den Eltern zu verbringen, weshalb man auch den Ratsherrn hergebeten habe, weilen schon oftmals beobachtet worden, wie der Böse grad in der Abwesenheit des Pedellen sich am schlimmsten dartue, da wurden des Ratsherrn Augen immer größer, und der feste Mund spitzte sich scharf zu und ließ einen feinen kleinen Pfiff fahren, als auch rühmend bemerkt wurde, wie sich der junge Mann die Mühe nicht habe reuen lassen, ein eigentlich und genau Verzeichnis und Tagebuch von all denen Gespensterstreichen aufzuschreiben.

»Das muß ich sehen, dieses Teuselstagebuch!« rief er und sprang auf und half dem Schwager, es aus dem tiefen Schreibtisch hervorlotsen.

Andächtig und nicht ohne Beben legte der Antistes die dichtgehäuften Blätter vor sich hin zur Lektur; aber da fanden die Herren, daß es, weil ja offenbar der Polterer für heute seine Greuel abgestellt habe, ratsam wäre, wenn Frau Regula sich solch betrübendem und herzbelastendem Anhören entziehen und ins Bett begeben möchte, auch um des Dorothelis willen, des armen Kindes, das nun vielleicht in seinem Kämmerlein in großen Ängsten liege. Aber die Pfarrerin beruhigte sie: ein merkwürdiges Geschöpflein sei es, das Dorotheli, wisse nichts von Angst und könne bei dem größten Höllenspektakel ruhig schlafen oder mit großen glanzsamen Augen daliegen, als ob es alles nichts anginge, das frage ihr gewiß nicht nach; wenn die Herren es aber sonst gerne sehen, so könne sie ja gehen. Da das erwartete Nein ausblieb, erhob sie sich geräuschvoll und verließ die Studierstube mit stolzem Rücken, als ob sie rauschende Seide und Brokat hinter sich nachzöge und nicht ein elendiges graues Nachtgerust.

Herr Landolt lächelte ihr nach: »Das hat nun deine Frau akkurat wie die meine, wenn sie auch sonst gar ungleiche Schwestern sind, deine räße schwarzhaarige Rägel und mein freudbereites blondes Lisi, es macht sie allemal falsch, wenn sie aus der Stube gehen und das Mannsvolk allein lassen soll.« Und er setzte sich wohlig zurecht und nahm die Pfeife herfür, deren Atem der Obristpfarrerin so verhaßt war wie den obrigkeitlichen Mandaten, und über den neugefüllten Bechern begann die Lektur, die der Antistes erst mit unsicherer Stimme anhub: »Diarium Tragoediae diabolicae«. Aber dann wuchs alsgemach der Kanzelton über die Herzensangst, daß er vernehmlich und wohlgesalbt lesen konnte all die zahllosen bösen, herzbedrückenden, furchtbarlichen Teufeleien, so ein schlimmes, vom Satan geordnetes Gespenst und Poltergeist seit Jahr und Tag in dem Antistitio angerichtet, Tag und Nacht, allen frommen Seelen zum Ärgernis, aber dem Obersten Pfarrer einer edeln zürcherischen Kirche zur Qual und Not und seelenquellendem Jammer. Und Herr Landolt hörte zu mit klugen Augen und ernsten Mienen, durch die nur hie und da ein spitzbübisches Lächeln ging, etwa wenn berichtet wurde, wie dem Antistes, eben da er in der Eckkammer seine schönen Früchte segnete, also sprechend: »Das sind schöne Früchte Gottes, zu denen hat Satan kein Gewalt!« hinterrücks eine dicke Küttenbirne an den Kopf geflogen sei, oder wie ihm der böse Geist die Sonntagspredigt, so er über den wahren Glauben und gegen das schlimme un- und abergläubische Wesen gar erbaulich aufgesetzt, vom Schreibtisch weggenommen und in den Roßstall abhin getragen habe.

Schier eine Stunde dauerte es, bis der Antistes unter schmerzlichem Erseufzen das traurige Tagebuch zu Ende gelesen hatte.

»Und das alles hat dein Pedell aufgeschrieben?«

Der Antistes wandte die Augen zum Himmel: »Ich hätt's nimmer gekonnt, meine arme blutende Seele hätte das nicht vertragen.«

»Von dem Armseelenwandel, von dem Rittmeister steht nichts darin?«

Der andere wehrte entsetzt ab: »So hoff ich doch zu Gott, daß keiner es bemerkt hab, daß es der Chueri Hartmann war, auch der Pedell nicht. Die Schand, daß das eigne Blut umwandeln soll, meine Frau stirbt mir ja schier daran, das arme schwache Geschirr. Hat sich ja sonst genug geplagt, als ihr Sohn so plötzlich und mitten im schlimmen Trunk von dannen gemußt, denn das Lustigsein und Trinken hat er von seinem Vater, dem Hartmann – Gott hab ihn selig – geerbt. Und dann ist da noch ein anderer Schmerzensgrund« – seine Stimme sank zum Flüstern, und er neigte sich weit gegen den Schwager vor – »du weißt ja, der Erbschaftsstreit, der elende, und wie sie meiner Frau immer vorwerfen, daß sie mit Unrecht ein Geld zurückbehalte, das des Rittmeisters Kind, ihrer Enkelin, zugehören müßte, dieweil sie doch in guten Rechten dasteht und mit saubern Nieren. Aber wenn das nun kanntsam würde mit dem Seelenwandel, da finge der schlimme Geruch neu an, und es würde grad einmal heißen, das Geld holen wolle er von seiner Mutter.«

Der Ratsherr war aufgestanden, lief mit raschen Schritten ein paarmal durchs Zimmer und redete zu sich selbst: »Also der Vikar hat's geschrieben. Ist gut abgefaßt, anschaulich und fast grausig – aber – aber, ich weiß nicht, will mich immer bedunken mit einer minder betrübten als schalkigen und spottsamen Feder …;« Und plötzlich blieb er stehen, legte die beiden Hände dem Antistes auf die Schultern und sah ihm nah ins Gesicht: »Weißt, wer es ist, dein Teufelsgespenst? Kein anderer als der V. D. M. Bernhardus Wirzius, dein Pedell!«

Der Antistes zuckte zusammen. Langsam stiegen die grauen Brauen in die gerunzelte Stirn hinauf und ließen den Augen Raum, sich zu weiten, und der breite Mund wurde rund und einfältig; aber plötzlich lief der rote Zorn über das ganze Gesicht. Unwirsch schüttelte er des anderen Hände ab und sprang auf: »Bist nicht bei Trost, Schwager, der Pedell, mein guter Bernhard? Da schau her!« Und er zeigte auf den Platz neben dem Ofen: »Hier an dieser Stelle haben wir gekniet nebeneinander, nebeneinander gekniet manches Gottsmal und selbander gebetet, daß Gott das von uns nehme, und nun soll er es sein und soll in eigener Person den Teufel agiert haben, darunter er ja selber so erschrecklich leidet?« Und er lachte heraus, rauh und unbändig, aber schwieg gleich wieder.

Herr Landolt hatte sich an den langsam erkaltenden Ofen gestellt. Er war jetzt sehr ernst, und seine Worte klangen auffallend ruhig und fast herzlich: »Daß du ihn wohl magst, läßt sich verstehen; der Bernhard ist schon ehnder zum Gernhaben mit seinem schönen gelben Haar und den lustigen blauen Augen und dem ganzen erquicklichen Bubengesicht auf dem langen Hals, angenehm zum Schauen und zum Anhören mit seiner Musikantenstimme und der unterhaltsamen schlagfertigen Rede. Er ist nicht umsonst seiner Mutter Bub. Weißt noch, was das für ein Meitli war, daß jeder seine Freude an ihm haben mußte vom bloßen Ansehen? Und ich glaub, noch heutigstags geht keiner an des Wagmeisters Wirzen Butike vorbei, ohne mit Augen nach der lustigen Meisterin zu suchen, ob sie auch gleich nicht mehr auf der jungen Seite steht. Aber das mütterliche Erbe will den Jungen nicht gut anschlagen. Die Kleophea, die Schwester mit dem frechen schauderechten Haar, scheint ein recht liederliches Mensch werden zu wollen, und der Bernhard – für einen Theologen kann der mir zuviel weltliche Künst: Musizieren, Singen, Schildereien machen, Schnitzen, Arztnen, Viehzeug abrichten und weiß was für Taschenspielereien. Ein rechter Tausendkünstler und Eulenspiegel, daß man nie bar weiß, ob seine schwerfrommen und herzandringenden Predigten am End nicht auch zu denen Scheunpurzlereien gehören. Aber das Schlimmste, daß er, der nun mit einem Fuß schon auf der Kanzel steht, dem Frauenzimmer also nachstellt!«

»Sag besser, das Frauenzimmer ihm!« warf der andere ein.

»Ja, hast recht, das Frauenzimmer ihm, und das ist das Allerschlimmste und Allergefährlichste; denn das macht, daß einer Liebeshändel führen und dabei doch ein kaltes Herz behalten kann. Herzlose Holdschaft, das allergrößte Übel für junge Leut! Wie hat er's der Anna Nötzli gemacht? Zuerst mit Hofieren und Lautenspiel dem braven Meitli den Kopf verdreht und bis zur Verlobung getrieben, und dann eines Tages lachend davon, daß sie sich nun schier hintersinnen will, und kann immer noch nicht von ihm lassen, ob er gleich schon längst wieder nach andern Schürzen auslugt. Und wie war's mit deiner Nichte, dem Regeli Klingler? Wie ihr Verlobter die vor Ehegericht gezogen hat zu Verantwortung und Buße für die schändliche Auflösung des Verlöbnisses, da ward auch allenthalben gemunkelt, daß ihr der hübsche Pedell vor den Bräutigam gekommen sei. Und ich denke, ihr werdet auch gewußt haben, weshalb ihr die Jungfer so Knall und Fall aus dem Haus schicktet!«

Der Antistes, dessen Zorn unter des Ratsherrn Rede alsgemach einem bangen Unbehagen gewichen war, ließ sich trübsinnig auf seinen Stuhl nieder. »Sie hat uns viel Kummer gemacht, die Bruderstochter. Weiß der Herr, wo sie das heiße und begehrliche Blut her hat. Und grad wegen denen Heimsuchungen des Satans sind wir lange nicht drauf gekommen, da es wohl ohngefähr zur selben Zeit anging.«

»Zur selben Zeit?«

»Ja, als wir, die Rägel und ich, aus Schinznach heimkehrten – ach, nach einer so guten, ersprießlichen Badkur –, da kam uns das Regeli mit der Jammerzeitung von denen Anfechtungen und Bröggereien entgegen.«

»So, so, damalen hat's angefangen?« Der Ratsherr schnellte mit den Fingern. »Damalen, als die Herrschaften fort waren und das Jungvolk allein daheim? Und daraufhin nahmt ihr den Pedellen ins Haus zu Schutz und Hilf gegen den bösen Geist und gabt ihm Kammer und Bett unter einem Dach mit dem Regelein? Schwager, Schwager Antistes, ein bißlein mehr weltliche Künst und Kenntnis von denen menschlichen Dingen hättest dir schon borgen dürfen von deinem Pedellen, heiliger Strohsack!« Und er streckte die Hände zur Decke und stöhnte mit einer komischen Stimme wehlich und ausgiebig.

Dann holte er aus der tiefen Ofenecke Mantel und Hut hervor: »Das Nachtwachen hat wohl keinen Verstand mehr und keine Not. Tu du am Tag die Augen auf, Schwager, und wenn etwan dein Herr Pedell morndeß nicht erscheinen und wegen Hexenschuß oder derlei zu Bett bleiben sollte, so denk dran, daß die obere Laube hoch über dem Boden hängt und daß selbiger hart ist, wann ihn der Jännerfrost gesteift hat.«

Aber wie er beim Abschied auf des Antistes Gesicht die allergramvollste Betrübnis las, da ließ er sein gutmütiges Lachen klingeln: »Mach fertig, Alter, putz das Nest aus, ohne Verzug und gründlich, und mach, daß wir recht bald den Titul von dem traurigen Stück ändern und aus einer Tragoedia eine Comoedia diabolica machen können!«

Und jugendlich rasch schritt er über die langen Treppen hinunter in den frostdunkeln Morgen hinaus.

 

Des Ratsherrn Worte hatten zunächst in der angstgequälten Seele des Antistes einen Sturm von Widersprüchen entfesselt; aber die Pfarrerin schenkte den Verdächtigungen, die ihr der Eheherr noch zu bettruhender Zeit anvertraute, schon mehr Glauben, und als anderntags an des Pedellen Statt die rothaarige Kleophea erschien mit der Zeitung, daß der Bruder nicht kommen könne, derweil er über Nacht von einer schlimmen Gleichsucht befallen worden sei und nun mit viel Schmerzen zu Bett liege, da hatte die Sache doch schon ein anderes Gesicht, und die Vermutungen bekamen Hände und Füße und einen greifbaren Leib. Und wie man nun mit geschärften Augen an den Mägden ein verdattertes und unaufrichtiges Wesen immer besser verstand und die Frau Pfarrerin auch sonst an dem Schwabenmeitli eine äußere Veränderung wahrnahm, die ihrem Hause keineswegs zur Ehre gereichte, da jagte sie die beiden kurzerhand davon. Das Lisebethli ging unter großem Wehklagen in seine schwäbische Heimat zurück, während die andere, die Anna Schädlerin, hurtig und hochnäsig den Weg nach Arbon unter die Füße nahm, allwo ihr Bräutigam mit der Hochzeit und mit dreien Kindern auf sie wartete. Gleich darauf aber verschwand auch der Frau Pfarrerin Göttibub, der Tischgänger und Theologiestudent Erhard Kesselring, und keiner wußte wohin.

So kam es, daß man im Antistitium nach vielen Monaten schlimmer Qual, nach soviel Schmerzen und Teufelsängsten wieder in Frieden leben und bei Tag und Nacht in Ruhe sitzen konnte. Aber als der Pedell von seiner Gleichsucht genesen war und er wieder auf Füßen gehen konnte, da führte ihn sein Weg nimmer nach der Pfarre zurück, wohl aber zwischen zweien Häschern nach dem festen Rathaus. Doch er ließ den Kopf nicht hangen, wie andere auf solchen Wegen tun. Aufrecht ging er fürbaß und heiteren Gesichts, und die Sonne glänzte auf seinem hochgehobenen blonden Scheitel, und als die jungen Weiber und Mädchen am Straßenrand ihm betrübt nachsahen und ihn beklagten, da lachte er: »Was sollte mir geschehen? Hab doch allerdings nichts Schlechtes getan. Wann Schalkerei und Possenspielen zum todeswürdigen Verbrechen würden, dann müßte die Welt gar bald ab- oder aussterben!« – und machte lustige Augen und einen lieben Mund und weckte mit Gruß und Winken manches errötende Lächeln.

Aber als man ihn nach vielen Tagen aus dem Rathaus ins Oetenbachgefängnis überführte, da war der Schalk in seinen Augen erloschen, und er lachte nimmer.

Und wieder nach etwas Zeit wurde ruchbar, daß nun der Pedell im Wellenberg liege und daß der Conrad Froschauer, der Turmhüter allda, erzählt habe, wie man ihm den Delinquenten aus dem Oetenbach gebracht und solcher sein schwarzes Gefängnis und den Gestank und Rattengreuel wahrgenommen habe, da sei ihm der lange Kerl um den Hals gefallen: »Da komm ich nimmer heraus!« und habe geschluchzt wie ein Bub.

Und mehr und aufregendere Kunde drang aus dem schwarzen Wellenberg in die neubegierige Stadt, wie die durch Folter erpreßten Geständnisse immer neu Beteiligte in den Teufelsprozeß zögen und wie auf des Antistes Nichte, die Jungfer Regula Klingler, der schlimme Verdacht der Anstiftung falle. Aber als man nach der Angeklagten fahndete bei ihrem Schwager, dem Diakon Steinbrüchel in Turbental, wo sie seit Verlassen des Antistitiums weilte, war sie ausgeflogen, und nirgendhin führte ihre Spur. Auch die Arbonerin, um deretwillen der Rat weitführende Nachforschungen anstellte und selbst mit den Herren von Konstanz, wo man ihren Unterschlupf vermutete, schwierige Unterhandlungen pflog, war nicht zu finden. Nur das Lisebethli ließ sich aus dem Schwabenland herbringen und in den Oetenbach legen, wo ihm aber in Ansehung seines besonderen Zustandes die Folter erspart blieb. Und die arme Dirne klagte auf den Kesselring als ihren Verführer; aber der blieb verschollen.

Im Wellenberg wurde die Folter wiederholt und verstärkt und wieder verstärkt zur Erlangung eines runden, herzräumenden Bekenntnisses; aber über die eingestandenen gewissenlosen Bübereien und Schalkheiten hinaus, die geschickten und kindischen Possen, die schließlich keinen äußeren Schaden brachten, und die verschmitzten Liebeshändel mit des Antistes Nichte ließ sich von dem gemarterten Pedellen nichts abdringen, und auch kein äußeres Beweistum von Schwarzkunst und Teufelsgemeinschaft lag vor, so daß es dem Rat schwer wurde, zur scharfen Strafe genugsame Ursache und handgrifflichen Grund zu finden.

Aber gegen Mitte Mai gelangte an den Bürgermeister ein umfangreiches Memorial, darin der Antistes Antony Klingler mit Aufbietung seiner ganzen Wissenschaft und menschlichen und theologischen Beredsamkeit dartat, wie der Malefiziant nicht allein große menschliche Übeltat verbrochen, sondern auch durch Vergehen an der Seele eines Abgeschiedenen eine Todsünde auf sich geladen und durch Ausübung fremder und gänzlich unerklärlicher Bröggereien sich der schwarzen Kunst und also der Gemeinschaft mit dem Bösen schuldig gemacht habe. Und er bat die hohe Obrigkeit eindringlich um das gerechte Urteil. Wie aber dieses Urteil gemeint war, darüber konnte nach dem Wasterkinger Hexenprozeß kein Zweifel mehr bestehen, und so wenig wie damals verfehlte des Obristenpfarrers Meinung und Bitte ihr Ziel.

 

Einige Tage nach Einreichung des Memorials saß der Antistes mit Frau und Töchterlein nach beendeter Mahlzeit in erbaulichem Gespräch an der Abendtafel. Die Luft troff noch vom fetten Duft der an Spießchen gebratenen Schmorrleberlein, und der Antistes ließ sich ihn nachkostend durch die breite Nase gehen. Da wurde seine Behaglichkeit durch hartes Pochen gestört und das eilige Erscheinen des Schwagers, des Ratsherrn Heinrich Landolt; dessen blasses Gesicht und knappes Wesen verhießen nichts Vergnügliches. Mit kurzen Worten schnitt er die ausgiebige Begrüßung, die Frau Regula dem nach längerer Abwesenheit Zurückgekehrten widmen wollte, ab und verlangte dringend eine Unterredung mit dem Antistes.

Dieser führte den Schwager unwillig nach der Studierstube, und während er die Treppe hinaufstieg, legte sich ein böser, störrischer Zug in das eben noch so behagliche Gesicht.

Der Ratsherr machte keine langen Umschweife: »Sie hat sich ja nett ausgewachsen, deine Teufelskomödie!« rief er, kaum daß die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte. »Wie ich gestern heimkam von meiner Reise, nicht glauben hab ich's gekonnt und habe selbst nachsehen müssen. Jetzt komm ich aus dem Wellenberg.«

Der Antistes betrachtete ihn erwartungsvoll: »Hast du ihn gesehen?«

»Ja, das hab ich. Wie einem, der aus der Hölle kommt, schnurschlichtig aus der Hölle, so ist mir zumut. Von dem Gefängnis will ich nicht reden – man kennt das schreckenvolle schwarze Stickloch, spätere Zeiten werden uns einen schlimmen Tadel daraus machen – auch nicht von des armen Kerls leiblichen Zuständen, dem zehenmal gemarterten Körper, den wunden, aufgelaufenen Füßen, den schwarzen, blutrünstigen Händen mit den zerrissenen, ausgedrehten Handgelenken und nicht von den stinkenden Brandmalen an Rücken und Hals – aber die Augen! Herr Antistes, die Augen! Bis an mein seliges End werd ich die nimmer vergessen, diese gänzlich ausgelöschten, grausenvollen Klägeraugen in dem weißen, verzerrten Bubengesicht!« Er fuhr sich mit der langen Hand über die Stirn, und der Antistes betrachtete ihn lauernd und mit einem gierigen Ausdruck, als ob er neuerlich den Duft der fetten Schmorrleberchen einsöge.

Mit hastigen Worten fuhr der Ratsherr fort: »Ich habe mir die Verhörprotokolle weisen lassen, der Schwäbin ihres und seins, und hab's gründlich geprüft. Und was kommt nun da einmütig heraus? Wie ein paar ausgelassene junge Leute, angestiftet von einer liebestollen Jungfer, sich die kurzsichtige Klupfherzigkeit ihres Herrn zunutze machen, um unter dem Mantel kindischer Bröggereien ihren Liebeshändeln einen Vorschub zu geben und dem allzustrengen Regiment einer räßen Herrin Ablenkung. Ein schlimm spitzbübisch und gewissenloses Gebaren, ohne Zweifel, das Strafe und vielleicht vor allem die Rute verdient; aber bei Gott kein todeswürdiges Verbrechen! Und nun, was hör ich? Wie da einer, eben der Oheim jener Anstifterin, der Kläger ist und zugleich allmächtig in unserer edeln Republik, hingeht und als ein schlimmer Ratgeb des armen Schalken Tod verlangt. Sag, Herr Antistes Antony Klingler, ist das wahr?«

Der Antistes stellte sich gewaltig vor den anderen hin, mit gewölbtem Leib, breitspurig und magnifique, und es zuckte höhnisch um sein winziges Schnurrbärtchen: »Ja, hochgelobter Herr, das hab ich, das hat der Antistes Antony Klingler getan, und ich werd nicht lugglassen, bis meiner Meinung Folge wird.« Und er wehrte des Schwagers Einspruch ab: »Was die Todeswürdigkeit des Verbrechens angeht, so mag sich der Ratsherr besser umsehen, was Sitte hierzuland und Recht, und mag sich erinnern, daß man vor etwas Zeit einen Patrizius zum Tode beförderte, weil er seinem besten Freunde verraten, wie ihn beim Genuß des heiligen Abendmahls der Gelust angekommen sei, über den Kelch hinweg seiner Liebsten zuzuwinken, und der Freund fand solches zu melden seine Schuldigkeit, ja – und einen Juden fand man todeswürdig, weil er sich vernehmen ließ, der Herr Jesus sei auch ein Jude gewesen.«

»Das laß ich nicht gelten, das geschah zu einer Zeit, da noch der große Krieg wütete, da ein Menschenleben nichts galt, da Haß und Roheit alle Herzen fraß und Dummheit Meister war; doch jetzt haben wir ein neues Jahrhundert begonnen, dem sind wir Besseres schuldig.«

»Aber eins, in dem, so hoffe ich, Schlechtigkeit immer noch als Schlechtigkeit erkannt wird und seelentötende Schwarzkunst und Teufelsbündnis immer noch als ein todeswürdiges Verbrechen angesehen werden.«

»Schwarzkunst, Teufelsbündnis! Habt ihr mit all euern Martern und Folterqual dem armen Menschen ein einziges derartiges Geständnis auspressen können?«

Der Antistes lächelte überlegen: »Das versteht der Ratsherr scheint's nicht, wie eben solche Verstocktheit das allerbeste Beweistum teuflischer übernatürlicher Kräfte ist.«

»So, so …;« – Herrn Landolts Gesicht wurde schmal, und die Hände ballten sich – »so redet Ihr jetzt, Ihr Sinnverdreher, und bei dem Hexenprozeß, dem verfluchten, als da das arme Kind, das vierzehnjährige Ding, unter tausend Tränen schwor, daß es von all den unmenschlichen Teufeleien, die es in der Folter bekannt, nichts wüßte und daß es Euch solches nur zugestanden aus Angst vor größerer Pein und weil der krank gemarterte Bruder es ihm geraten, da hieß es genau: Folterbekenntnis trügt nicht, Punktum! Und jetzt soll das Nichtbekennen ein untrügliches Bekenntnis sein? Pfui Teufel, Herr Obristpfarrer und Hexenverbrenner, pfui Teufel!« Und er lief voller Ekel nach dem Fenster.

Aber dann raffte er sich auf und hielt die Worte auf der zernagten Lippe zurück und wandte sich wieder dem Antistes zu, der ihn mit kühl verächtlichen Mienen maß, und fuhr fort mit gedämpfter Stimme: »Ich sehe schon, so kommen wir nicht weiter. Dem Antistes hab ich nichts mehr zu sagen. Aber mit dir möcht ich noch reden. Nicht allein mit dem Schwager, aber mit dem Jugendfreund, wie wir uns von Kindsbeinen an kennen, oder noch weiter zurück, als unsere Mütter auf der Schanze unsere Kütschlein nebeneinander durch die Sonne zogen. Sag, Antony, willst du das, deine Händ mit dem jungen Blut besudeln? Der Pedell steht jetzt grad in dem Alter wie du, als du von Hanau zurückkamst. Sag, wie wär's deiner Seel bekommen, wenn du damalen hättest das Zeitliche lassen müssen?«

Der Antistes wurde dunkel im Gesicht, und es ging ein Schlotter durch die geschwollenen Wangen: »Willst du mir das aufmützen, was ich in meiner heißen und unbeschützten Jugend getan?«

»Nein, nein, nicht aufmützen, bloß daran erinnern, daß auch wir andern froh darum sind, wenn uns Zeit gegeben ist, im ruhigen und stillstehenden Alter gutzumachen, was die rasche Jugend verdarb. Und heute im Wellenberg: ›Daß ich sterben soll, ist mir all gleich, der Tod scheint mir süß nach so vieler Qual; aber daß ich gehen soll, da ich nun alles niedergerissen habe, und soll nimmer aufbauen können, das druckt mir das Herz ab!‹ Verstehst, Schwager, was das heißt?«

»Aufbauen, aufbauen mit Satans Hilf, das gäb ein schönes Gebäude, das!«

Wieder suchte der Ratsherr sich zu bezwingen und die aufquellenden Worte zu schlucken: »Noch eins, Antony, denk an deine Nichte, sie ist der Anstiftung bezichtigt, was soll mit ihr geschehen?«

»Es ist erwiesen, daß sie nicht selber agierte; ihre Strafe kann nicht schwer sein.«

»Als ob Anstiften minder schlimm wär als Agieren! Aber weiter: Denk daran, heute noch ist der im Wellenberg der Bösewicht, den alle Welt verflucht – denn es ist gar nett, sich an einem Schlimmern zu messen, weil man sich selbst dann so brav und sauber dünkt –, und du bist der Beleidigte, für dessen Kränkung und Not jeder Rache heischt und Vergeltung. Laß ihn morgen richten, am Abend schon redet man von ihm als von einem armen Verführten, einem zu grausam Bestraften; bevor die Sonne unter ist, wird er zum Märtyrer. Und der Teufelsspuk? Alter Weiber Tand und Kinder-Täding! Und du? Schon auf dem Weg von der Richtstatt zurück fängt das Frägeln an und Blinzeln: Vollkommen sei schließlich keiner, auch der gestrenge Herr Antistes nicht. Und dann das Aufmützen alter Gerüchte und Calomnien, und einem fällt's wohl gar bei, wie die Gespenstergeschichte so genau nach dem Hexenprozeß angefangen habe und nach dem Erbschaftsstreit der Obristpfarrerin deines Stiefsohns wegen, und ob's am End nicht als Straf gemeint war von dem Pedellen? Ein witziger Kopf sei der immer gewesen, und schließlich, gar so übel könnte man ihm das nicht einmal nehmen, und item – hätte man besser aufgepaßt und hätte weniger Aberglauben gehabt und mehr Herz, die ganze Geschichte wär nicht wahr geworden und der Pedell wär noch ein lustiger junger Mann – herrje, und nun liege er da draußen unterm Galgen …; Schwager, Antony, schau zu, daß du nicht ein falsches Gespenst umbringst, und ein echtes steht dafür auf!«

Der Antistes hatte die großartige Gebärde verloren. Heiß und eng stand er vor dem Schwager, und seine unsicheren Hände umklammerten die Stuhllehne: »So soll ich ihn denn laufen lassen, den Teufelsbraten, ohne Strafe, und unsere Stadt Schlupfwinkel des blutigen Lasters werden?«

»Solches mein ich nicht. Straf muß er haben, aber gewiß! Ein Pfarrer kann der nimmer werden – das war wohl sein Unglück, als man den Schalksnarren ins Prädikantengewand steckte – und auch kein Bürger unseres Zürich bleiben. Bannisiert ihn, meinethalben aus der ganzen lieben Eidgenossenschaft und lebenslänglich, laßt ihn vorher noch mit Ruten streichen – nach der ausgestandenen Marter wird es ihm ein kleines sein – aber laßt ihm sein junges Leben und Zeit, gutzumachen und das zu werden, wozu er nun in den langen Leidenswochen den Anfang allbereits gemacht hat, ein rechter, ein brauchbarer, tüchtiger Mensch!«

»Und ich?« Der Antistes lachte kurz. »Redest alleweil nur von dem andern! Und ich? Soll ich also weiterleben müssen in der grausenvollen Angst und Herzensnot?«

»Angst? Was kann dir jener schaden über der Grenze, in der Fremde draußen, wenn du ihn nimmer siehst?«

»Als ob es für den eine Grenze gäb und eine Fremde, der mit dem Bösen im Bund steht. Hat ein solcher nicht Macht, sich zu vergstalten, wie's ihm gefällt? Kann er nicht in einer Katze, eines Raben Gestalt herkommen und mir den Tod anängsten? Ja, das glaubst du nicht, weil du die harte Wahrheit nicht verträgst und nichts wissen willst von denen Tiefenen des Satans, von Teufelskunst und Teufelsart, und weil du nicht weißt, was ich gelitten hab in all der Zeit. Aber ich kann dir sagen: alle Folterqual und Marter und letzte Todespein zahlt die Not nicht, so ich ausgestanden habe, Herrgott, in denen scheußlichen, in denen Höllennächten. Da, spür einmal mein armes Herz: bevor das angefangen hat mit dem Teufelswerk, still und stet wie ein Uhrwerk ist es gegangen und jetzo wie eine Maus, die die Katze jagt, mit wilden Sprüngen und qualvollem Stillstand. Daher kommt es auch, daß ich ein banger grauer Mann bin und du noch frisch und braunhaarig wie ein Junger, und sind doch im selben Jahr zur Welt gekommen.«

Er hatte des Ratsherrn Hand ergriffen und sie an seine erregte Pulsader gedrückt, und als jener erschreckt zurückwich, da lachte er schier triumphierend: »Verstehst jetzt, daß der sterben muß, sterben muß und daß es keine Gnad geben kann? Denn, weißt, ich will leben, will leben! Ich brauch noch Zeit da unten. Viel Zeit und kostbare Zeit, viel zu kostbar, um sie an einen solchen Teufelsbraten hinzuwerfen. Ich hab ihn einmal liebgehabt; jetzt kann ich nur eins mehr denken: Marter und Tod!«

Der Ratsherr war still geworden, und mit erschreckten Augen forschte er in des Schwagers blau angelaufenem, gedunsenem Gesicht. Dann griff er langsam nach seinem Hut: »Da habe ich denn allerdings nichts mehr zu sagen.« Aber auf der Schwelle wandte er sich noch einmal zurück: »Und doch noch eins. Er weiß, daß morgen das Urteil fällt, und er hat keine Hoffnung mehr. Denk, was er durchmacht in dieser letzten Nacht mit ihren tausend Toden und ob er damit nicht etwas abkauft von deiner Angst. Und wenn nun morgen das Volk ums Rathaus steht und der arme Sünder mitten drin, und da wird zuerst das Bluturteil verlesen und dannenhin gesagt, daß der Neue Rat auf gütige Fürbitte des Klägers, des hochmögenden Herrn Antistes Antony Klingler, Gnade für Recht ergehen lassen und den Todeswürdigen zu ewiger Verbannung begnaden wolle – denk, wie das ein Jubel wär unter dem Volk, und was da vorgehen müßt in dem todbereiten jungen Herzen, und wie du dastündest – der schützende Engel Gottes selber, und wie man dich preisen würd, und wenn du fürder von der Liebe predigtest, wie man dir glaubte!«

Herrn Landolts schmale Wangen waren warm geworden, er trat in die Stube zurück und streckte dem Schwager frei und herzlich die beiden Hände entgegen; aber wie ihm dieser den breiten Rücken zuwandte mit einer harten, störrischen Bewegung, verließ er still das Gemach, und die braunen Locken verhüllten tief die hohe Stirn.

Der Antistes ließ sich schwer im Schreibstuhl nieder. Dann schlug er Feuer und zündete das Öllämpchen an, um der andringenden Dunkelheit zu wehren. Durch den gelben Lichtschein über weißes Papier kroch langsam eine mächtige schwarze Spinne. Der Antistes stutzte. Dann griff er behend nach dem scharfen Zirkel und steckte ihn ruhig mitten durch den aufgequollenen Leib des Tieres und sah zu, wie die dünnen Beinchen zappelten und wie etwas Feuchtes aus dem Innern trat. Dann hielt er das Tier über die Flamme des Lämpchens, nicht zu nah, und während die Beine verkohlten und zu glühenden Faden wurden und als weiße Asche niederfielen und während das Rund des Leibes zusammenschrumpfte und schwarz wurde und schließlich ein kleiner glühender Kern, glitt langsam eine glänzende Glätte über des Antistes Gesicht. Die unteren Lider zogen sich genießend über die vorspringenden Augäpfel, und es ging ein kleines Zittern durch das winzige Schnurrbärtchen, derweil die lächelnden Lippen vor sich hinmurmelten: »Eines Wagenrades Breite zwischen Kopf und Hals …; Eines Wagenrades Breite zwischen Kopf und Hals …;«

 

Indessen verließ der Ratsherr auf dem kürzesten Weg durch die hochgelegene Hintertür gartenwärts das Haus.

Als er den Garten betrat, mußte er unwillkürlich stillstehen und den Hut abnehmen vor der wonnesamen Feierlichkeit, die der Maiabend gab. Mit langsamen, verweilenden Schritten wanderte er zwischen den blühenden Büschen durch, deren Atem ihn mit den fernsten, holdesten Erinnerungen überströmte. Und ein feines Schmeicheln ging um seine hocherhobene Stirn, und zwischen den dichten Dolden des Blusts suchte sein Auge im unendlich weiten Grün des Himmels die ersten zaghaften Silbersterne.

Da tönte ein Gesänglein an sein Ohr, so fein und zitternd zart, als ob die fernen grünsilbernen Sterne ein Stimmchen bekommen hätten. Sachte folgte er den seltsamen Tönen, und da spürte er, daß sie aus dem alten Holzhaus herkamen, das zufernst, am Ende des Gartens beim Hühnerhöflein stand. Er ging behutsam hinein, zwischen Holz und altem Plunder durch, einem rötlichen Lichtschein folgend, und blieb schließlich mit andächtigem Herzklopfen vor einem unbegreiflichen, unsäglich rührenden Bilde stehen.

Zuhinterst in der Holzkammer, dort, wo ein mächtiger altersschwarzer Kasten einen freien Raum vor sich bewahrte, grad unter dem schmalen Giebelfenster, brannten zwei Kerzen, und ihr stiller Schein ging über tausend weiße Blütenblätter, die den Boden bedeckten und zwischen den Flämmchen ein kleines schimmerndes Bettlein wölbten. Darinnen lag eine lange Holzpuppe, starrte mit runden Augen ins Leere, und ihr Mund lachte; aber die hölzernen Ärmchen lagen kreuzweis über der starren Brust, und weißer Blust bedeckte die steifen Beine. Vor dem Bettlein kniete das große Kind, das Dorotheli, in einem langen, stillen, grünen Gewändlein, und ein dicker weißer Kranz ging auch ihm um die schwarzen Locken und preßte die bleiche, kindisch kuglige Stirn.

Als es des Ratsherrn Schritte vernahm, fuhr es schreckhaft zusammen; aber es wurde gleich wieder ruhig, da es ihn erkannte: »Ihr seid es, Onkel?« und stand auf und legte seine dünnen Händchen auf des Oheims Arm und bettelte mit den großen sonderbaren Augen: »Gelt, Ihr sagt es ihm nicht, dem Vater, und auch der Mutter nicht, keinem, gar keinem?«

Der Ratsherr streichelte die feuchten, unglaublich dünnen Finger: »Nein, nein, wo sollte ich auch!« und lächelte nach der Puppe hin: »Was machst du denn da mit dem Tolken?«

Die Kleine befreite hastig ihre Hände, und es ging ein Zucken durch das gelbliche Gesicht, als ob man sie schmerzlich berührt hätte. »Das ist kein Tolk,« sagte sie verletzt, »das ist ja mein Margineli! Aber nun ist es gestorben, weil der Vater es über die Mauer abhin geworfen hat, wißt Ihr, halt, weil es der Bernhard mir gemacht hat – vorher – und nun sagt der Vater, daß es ein Teufelskind sei; aber das ist nicht wahr, und auch der Bernhard ist kein Teufel, wenn es nun schon alle so sagen. Aber er hat den Vater bös gemacht, und das ist schlimm, und nun muß er sterben. Und dann halt, weil der Vater sich so gefürchtet hat. Aber ich hab mich gar nicht gefürchtet, o nein! Es war lustig, im warmen Bettlein zu liegen, wenn es draußen so rappelte und herumschlich und laut und gruselig durchs Haus tönte. Aber jetzt fürcht ich mich, weil es so still geworden ist bei uns, auch am Tag. Und keiner lacht mehr und erzählt lustige Geschichten. Und wißt, er hat so schön singen können, der Bernhard, mit der Laute und mit der Geige und noch mit dem kleinen lustigen Trommelein, wo lauter Glöcklein dranhangen. Und wenn es die Laute war, hab ich schier weinen müssen; aber bei der Geige und bei dem Trommelein hätt ich am liebsten getanzt, wenn das der Vater erlaubte …; Und nun singt keiner mehr …; Ja, und wenn er mit mir durch die Neustadt ging, dann kamen alle Tauben von den kleinen Giebeln herunter und flogen ihm auf die Achsel und fraßen ihm die Körner aus den Händen. Und er wollte es mich auch lehren, daß die Täublein so zu mir kämen und mich lieb hätten. Ach, Onkel, denkt, wie das lustig wär, so die lieben weißen Täubchen auf dem Arm zu haben, die blauen Äuglein ganz nahe und ihr Schnäblein am Mund und den Flaum an der Wange …; Aber nun ist es dahin. Und morgen muß er sterben, und dann begraben sie ihn unter dem Galgen, und das ist sehr traurig; denn dort steht der schwarze Teufel und macht, daß die arme Seel nicht in den Himmel kann, wenn nicht ein besonderes Engelein kommt, um sie zu holen. Vielleicht der Seelenengel von einem, der grad für die Armseel gestorben ist.«

Der Ratsherr strich dem Kind beschwichtigend über die heißen Wangen: »Dorotheli, lieb's Blütlein du, was erzählst da für Sachen!«

Aber das Kind fuhr unbehindert fort mit einem leisen hastigen Stimmlein: »Wohl, wohl, so ist es, wenn ich es doch weiß! Und seht, nun ist ja das Margineli gestorben, grad für ihn, für den Bernhard, und seinetwegen, und wenn ich ihm nun ein schönes Totenbettlein mache und bei ihm sing und bet, grad wie bei den rechten Leuten, und wenn es so gelegen hat die drei Nächte, dann mach ich ihm ein Grab. Oh, Onkel, gelt, Ihr sagt's dem Vater nicht, sonst verbrennt er mir's, und alls, alls ist vorbei! Aber wann ich ihm dann ein ehrliches Grab mache unter den Rosenstauden, im Angesicht der Großmünstertürme, und ein rechts Totenbäumlein, und der Mond scheint ins Grab, grad wenn ich's hinabtu, dann wird ein ganz rechtes Engelein aus ihm. Und wann dann morgen in der Nacht der Bernhard nicht fürhin kann unter dem Galgen, dann geht es zu ihm und zeigt ihm den Weg, und der Teufel kann gar nichts mehr machen.«

Der Onkel erfaßte die beiden Hände des Kindes, die es mit einer innigen Bewegung über der schmalen Brust gekreuzt hielt, und zog das arme Gestältlein an sich und suchte ihm den beängstigenden Glanz von den Augen zu küssen: »Hör, Dorotheli, möchtest nicht etwan zu uns herüberkommen und mit deinen Vettern und Basen spielen? Mein, da geht's lustig zu und wird gelacht und gesungen!«

»Nein, nein, die lachen mich doch aus, weil ich häßlich bin und klein und dumm!« Und als der Onkel sich wehrte: »Das sollt eins versuchen!« da ging ein eigensinniger Zug durch das spitze Gesicht und machte es eng und hart: »Ich will aber nicht mit ihnen spielen!« und sie riß sich hastig vom Oheim los.

»Du, Dorotheli« – er wies nach den Kerzen hinüber, die durch des Kindes heftige Bewegung ins Flackern gekommen waren –, »gib acht, ein Unglück könnte das leicht geben mit denen offenen Lichtern unter all dem Gerümpel.«

Da hatte sie ein unkindliches, bitteres Lächeln: »Seht, nun meint Ihr auch, daß ich dumm sei! Wenn ich doch immer dabei bin mit Beten und Singen. Und bald der Mond zum Fensterlein kommt, dann lösche ich ja, und dies ist ja die letzte Nacht.«

Dann wandte sie ihm den Rücken und kniete gegen das hölzerne Tödlein, und ohne sich weiter um den Onkel zu kümmern, hub sie wieder ihr seltsames Singen an. Es war ein Kirchenlied; aber sie sang es, nicht nach der gemeinen Weise, mit langen zitternden Tönen, und in der feinen Kinderstimme klangen die altklugen Worte fremd und unsäglich traurig:

»Des Menschen Leben ist gleich einem Grase,
Es grünt daher und blühet gleichermaße
Als eine Blum auf einer Heiden breit.

Baldwann ein scharfer Wind darüber wehet,
So fallt sie hin, verdorret und vergehet,
Man weiß dann nicht, wie sie stund vor der Zeit.«

Leise und fast verlegen verließ der Ratsherr den Holzschopf. Eben ging der runde Mond hinter den Bäumen auf und ließ am hohen Zwinglihaus die obersten Fensterlein blinken, derweil das Antistitium sich noch in die tiefen Schatten duckte. Und Herr Landolt sah hinauf nach jenen blitzenden Scheibchen, und es ging ihm durch den Sinn, wie da einer vor bald zweihundert Jahren hinter denen hellen Fenstern gewohnt und wie er vermeinte, der Welt das Licht zu bringen und die Klarheit. Ein schmerzlicher Seufzer drang ihm aus der breiten Brust, während er das Gartengatter hinter sich schloß, mit fester Hand, als ob man es nimmer hätte öffnen sollen.

 

Das Totengericht nahm seinen Lauf. Nur eine der Stimmen im Neuen Rat verlangte Gnade, alle anderen folgten dem Wunsch und Willen des Antistes und sentenzierten zum Schwert. Aber als man vom Rathaus herunter dem armen Sünder sein Todesurteil verlas, da konnten die tausend neugierigen Augenpaare der umdrängenden Menge kein Zittern an ihm vernehmen. Aufrecht stand er zwischen den beiden Geistlichen, den gemarterten, in Lumpen gehüllten Füßen zum Trotz, und auf dem weißen Gesicht lag es schier wie Heiterkeit. Die tief verschütteten Augen hatten wieder Leben bekommen unter dem breiten Glanz der Maiensonne, und das gelbe, allzulange Haar leuchtete.

Und aufrecht ging er den Armsünderweg, daß seine Augen über die beiden Pfarrherren zu seinen Seiten hinauslangten, und wo er unter der nachströmenden Menge, in den Gassen und in den menschengefüllten Fenstern einen sah, den er wohl kannte, da valedizierte er mit Hauptnicken – die armen verhüllten Hände lagen in Fesseln – und das gelbe Haar glänzte in der Sonne.

Die Weiber weinten, und die gekommen waren, um zu höhnen, wurden still.

Und er blieb aufrecht und unerschrocken bis zum allerletzten und sagte es herzhaft und vernehmlich, daß er gern sterben wolle, nicht aber als ein Übeltäter, sondern als ein Märtyrer.

Und das Wort ward herumgeboten, und dahinter stund das blutige junge Haupt – und hatten die Haare nicht seltsam geglänzt, im Tode noch? Wie ein Schein? Ja, wie ein Schein …; Und man dachte an des Antistes dicken roten Kopf, wie sicher der auf den breitgepolsterten Schultern saß, und das Murren begann und das Umleumden.

Aber der Antistes spürte es nicht. Von seiner hochgelegenen Stube aus hatte er mit wachsamem Ohr den Geschehnissen beigewohnt, hatte vom Rathaus her Stimmen- und Schrittgetöse der Menge vernommen und das Wimmern und Verstummen des Armsünderglöckleins und hatte gehört, wie es zurückrauschte in die stillgewordenen Gassen.

Dann hatte er sich vom Schreibstuhl erhoben, tiefatmend, und hatte mit lebhaften Schritten die Zimmer durchwandert, eins ums andere, eins ums andere, im oberen und unteren Stock, und die langen Gänge und breiten Flure und lustigen Lauben und wiederum die Zimmer und hatte sich allenthalben umgesehen mit erstaunten und heiteren Augen und jedes Ecklein gegrüßt wie einer, der von langer Reise heimkehrt. Auswendig war er wohl anzusehen wie ein gravitätisch schreitender Puter, mit dem glänzenden Gesicht und stolz gereckten Rücken; aber in seinem Innern war es sauber und hell wie am Kindersonntag, und die heiteren Seelenfähnlein flatterten, und das Herz ging froh und stet.

Und als er nach der Abendtafel das Haus besammelte zu einem Gnadengebet für des Gerichteten arme Seele und einem Dank an den Allmächtigen für die endliche Erlösung von denen Heimsuchungen des Satans, da war ein ungewohnter Ton in seiner Stimme, daß die anderen ihn verstohlen anblickten und vermeinten, sie hätten nimmer ein solches Gesicht an ihm gesehen, so glatt und gut.

Nachher nahm er das Dorotheli auf seine breiten Knie und streichelte ihm das schwarze Seidenhaar: »Mein, Dorotheli, ein schöns neus Gewändlein sollst bekommen, ein himmlisch blaues mit silbernen Kettenlein am Mieder!« Und das Kind lächelte und wurde dann ernsthaft: »Halt lieber ein weißes möcht ich, ein ganz weißes, mit einem grünen Käntlein dran.« Er nickte: »Gut, gut, ein schneeweißes dann, mit einem grünen Käntlein, sollst's haben, sag's nur der Mutter!« und sah dem großen Kind freundlich nach, wie es eilends der Pfarrerin zulief.

Dann stieg er nach seiner Stube hinauf, legte frische weiße Bogen auf den Tisch und fing unverzüglich mit Schreiben an, und großartig stolzierten die Buchstaben mit ihren allzu dünnen und allzu fetten Auf- und Abstrichen über das saubere Papier und formten den Text zu der Sonntagspredigt: »Ich will heimsuchen alle, die über die Schwelle springen und ihres Herren Haus mit Frevel und Betrug füllen.«

Aber plötzlich horchte er auf, legte die Feder ab und erhob sich, und das Wunderliche geschah, daß der Antistes ein eben erst begonnenes Schriftstück verließ und daß er nach dem offenen Gartenfenster hinüberlief und in den lichten Abend hinauslauschte.

Er selber wußte nicht, was es war, das ihn da plötzlich wegrief und ihn zwang, nach der Amsel zu suchen, die irgendwo draußen einen solchen seelenquellenden Lärm machte, und weshalb er nun gar ein Gelüste spürte, sich aus dem tiefen Fenster hinauszubeugen und die freie Stirne den vereinzelten Stößen des Föhnwinds preiszugeben, der wild und lustig in der überreifen Pracht des Blustes da unten wühlte und ihm die letzten starken Düfte der zerflatternden Birnenblüten heraufwirbelte.

Aber köstlich war das, der heiße Frühlingsatem und die trockenen Wohlgerüche, und ganz ferne, wie lange verlorene Tage, machten sie gegenwärtig, daß er den großen Antistes vergaß und meinte, wieder der kleine scheue Bub zu sein, der sich so gern an der Mutter Rock festhielt und in dessen tiefen Falten verbarg …; Ging er nicht eben jetzt mit ihr den Frühlingsberg hinauf? Das Klappern der väterlichen Mühle war lange verstummt, so weit war man schon. Und nun war sie gar nimmer die stille, ängstliche Mutter. Lustig lief sie mit ihm durch die Blustmatten – denn der Vater war nicht dabei – und setzte sich mit ihm unter den Birnbaum und erzählte Geschichten. Ein wenig gruslige; denn sie liebte das, und sie liebte es, wenn er ängstlich ward und sich mit bangen Händen an sie klammerte am hellichten Tag. Oben im Wald aber floh sie ihm wohl gar auf eins davon wie eine junge Dirn, daß die Haubenbänder hinterherflatterten, und verschwand plötzlich zwischen den vielen Stämmen und freute sich, wenn er sie endlich fand, schreiend und unter tausend Tränen, und sie den Angstzitternden in ihren Armen trösten konnte.

Wie das dann war nach der Todesangst, so nahe an ihrem warmpochenden Herzen, das nasse Gesicht ganz fest an ihrem weichen Hals und die beschwichtigenden Händ und die liebe, liebe Stimme …; Wie da alles still ward und gut, daß man nimmer aufstehen und weitergehen mochte! Ach, so wohl …; Und der Vater war nicht dabei …;

Noch weiter beugte er sich aus dem Fenster und lächelte und vermeinte nicht, daß es des hochmögenden Antistes steife graue Locken waren, die da der Föhn zauste, wohl aber des kleinen Buben helle Ringel – und kam nun nicht bald die liebe beschwichtigende Hand und strich sie wieder glatt …;

Ein lautes Pochen riß den Entrückten zusammen. Unter der Tür erschien die neue Magd, die Wehntalerin mit den langen Zöpfen, und meldete Herrn Johannes Meyer, den Kupferstecher.

Nicht ohne Erhabenheit, aber mit leutselig ausgebreiteten Händen ging der Antistes dem beweglichen Herrn entgegen, der unter vielfachen Scharringgeln sein spätes Kommen verexküsierte und dem obristen Pfarrherrn zu gehabter glücklicher Erlösung und gerechter Bestrafung des Widersachers felizitierte. Dann brachte er umständlich eine kleine Mappe fürhin: er hätte eben heut die Kupferplatte von Seiner Hochedeln Kontrafet vollendet und die ersten Abzüge so wohlgelungen befunden, daß er nicht umhin konnte, sie noch heutigen Abends einem hohen Herrn zu präsentieren.

Der Antistes zündete das Lämplein an – denn es war allbereits dunkel worden herinnen –, wischte die fettigen Finger am Rock ab, nahm das schöne Blatt hübschlich heraus, verglich es mit der zierlichen Miniatur auf kornblumenblauem Grund überm Schreibtisch und fand es nicht unbillig, daß der Kupferstecher ihn imposanter aufgefaßt hatte, mit höherer Stirn und edlerer Nase, als sein Bäschen, die verrühmte Miniaturmalerin, getan, die für seinen Geschmack nur zu genau denen Unebenheiten und Ungleichheiten seines Gesichtes nachgegangen war. Schon wollte er dem Künstler mit großartig bewegter Hand Dank und Lob spenden, als sein Auge plötzlich an der kleinen Schrift hangen blieb, die das Buch unter des abfigürten Antistes Hand schmückte, und er las die feingestochenen Worte: »Bestelle dein Haus, denn du mußt sterben und wirst nicht lebendig bleiben.«

Eine rote Wand stand vor seinen Augen. Die Ohren brausten, und in der Brust ein tiefer, heißer Schmerz. Und auf einmal lag das Blatt in hundert Fetzen vor des erschreckten Malers Füßen.

Und nun fand er auch die Sprache wieder und konnte den Unverschämten zur Rechenschaft rufen, wieso er es gewagt, ihm seinen Tod vorzuzeigen. Und ließ des andern Entschuldigung nicht gelten, der angstvoll explizierte, er habe ja bloß an jene Predigt erinnern wollen, darin der Antistes unlängst eben diesen Text in der Kirche verhandelt habe, männiglichem zu heilsamer Vorbereitung zu einem seligen Tod, sondern wies ihn hart zur Tür hinaus mit dem strengen Befehl, unverzüglich die schlimme Schrift von der Platte zu tilgen und alle liegenden Abzüge zu zerstören.

Lange starrte der Antistes nach der Tür, die sich polternd hinter dem angstvoll Enteilenden geschlossen. Hatte der nicht ein Lächeln gehabt wie einer, der etwas weiß, der mehr weiß? Dann ließ er sich schwer in den Schreibstuhl fallen und stützte den Kopf in die zitternden großen Hände und suchte Ordnung zu schaffen in seinem wirren, brennenden Gehirn.

Was war geschehen, daß er aus einer seltenen glückhaften Heiterkeit so plötzlich in diesen furchtbaren Jast und erstickenden Zorn gestürzt wurde?

Und die bleiche, timbere Stimme antwortete: Das ist die Todesfurcht, deine Todesfurcht, der Pfeil, dessen Gift deinen Geist aussaugt, und die so gäch den Strick der Verzweiflung dir an den Hals wirft …; Ein Beben ging durch den massigen Körper, und zwischen den dicken beringten Fingern hindurch tropfte es auf das unbeschriebene Papier.

Aber die seltenen, ganz ungewohnten Tränen befreiten seinen armen Kopf, daß er denken konnte, einmal denken und nachforschen den Gründen dieser furchtbaren Qual seines Lebens. Und seine suchenden Erinnerungen blieben in jener Nacht stehen, die wie eine tiefe Kluft sein Leben zerteilte, daß Hüben und Drüben sich nicht mehr kannten.

Er sah das Totenbett seiner Eltern, wie sie da beide nebeneinander lagen, starr und weiß und unbegreiflich groß, beide im selben breiten Bett. Die Mutter mit einem seltsam ängstlichen Fragen im hilflosen Totengesicht, aber der Vater schier grimmig mit verbissenen Lippen, als ob sie es nicht hätten fassen können, daß der Tod sie so grausam plötzlich selbander niedergestreckt hatte. Und er dabei, weinend und betend erst. Aber alsgemach verging ihm beides, Beten und Weinen. Und starrte immer auf die beiden weißen Gesichter und wußte, daß er allein war mit ihnen auf dem weiten dunkeln Boden …; Und die Mühle schwieg …; Und er starrte und konnte keinen Blick verwenden, Stunde um Stunde, und das Grauen saß ihm im Rücken und packte ihn mit der kalten Hand.

Er sah, wie der Mutter angstvolles Gesicht still wurde und fern und fremd und wie des Vaters Grimm sich in Milde glättete, und schaute, schaute unverwandt, Stunde um Stunde, bis der Morgen das flackernde Kerzenlicht verdrängte, und konnte auch jetzt noch keinen Blick abwenden.

Mit Gewalt mußten ihn die andern aus der Starrheit reißen, und sie meinten, daß auch ihn das Fieber erfaßt habe. Auch er glaubte es und wartete darauf, Tag für Tag, und wartete auf den Tod und vergaß darüber den Jammer um die Eltern.

Der Tod kam nicht, das Todesverlangen wich und machte langsam jener Todesfurcht Platz, die ihn seither nimmer verließ und ihn mit der kalten Hand bedrohte allenthalben und immer.

Sie machte, daß er kein Grab sehen konnte und keinen Sarg, daß ihn jede schwarz geöffnete Tür mit Grauen erfüllte, daß er sich im Bett vor seinem eigenen ausgestreckten Leib fürchtete und daß er keines Tages sich freuen konnte, aus Furcht, es sei der letzte.

Nur heute war es gänzlich von ihm abgefallen, daß er die Ruhe wieder hatte und wieder nach drüben sah und sich als Kind fühlen konnte …; So schön war das gewesen, und dann war der andere gekommen mit dem schlimmen Spruch, und alles war dahin und die alte Qual.

Wieder fühlte er, wie seine Fäuste naß wurden. Da preßte er sie zusammen und faltete sie ineinander und fing an zu beten. Ein unaufhörlicher Strom ergoß sich von seinen betgewohnten Lippen. Bald war es ein demütiges Flehen, bald ein eigensinniges Markten, bald ein Rechten mit Gott; aber die Bitte um das Leben blieb der alleinige Zweck.

Mit schmeichelnden Worten bat er seinen liebreichen Heiland, den Herzog unserer Seligkeit, ihn auszuhalftern aus dem Jammer und es ihm zu geben, daß er noch verweilen dürfe, recht lang und noch nicht gehen müsse. Und versprach, ihm inskünftig noch inniger zu dienen mit Vertreibung des Satans und Mehrung des göttlichen Reiches, wann er nur leben konnte und es wußte, daß der Tod noch fern war, und zählte auf, was er allbereits getan für das Reich Gottes auf Erden und daß er wohl als ein so treuer Knecht auch ein Ansehen verdient habe und Lohn – wenn es nur zehn Jahre wären oder fünfzehn, aber wissen müßte er es für sicher, daß er frei würde von dieser stündlichen Angst.

Das Gebet wurde eifriger und heißer und war wie ein Ringen mit dem Höchsten und eine leidenschaftliche Forderung, daß ihm ein Fingerzeig würde von oben, ein sicher unverkennbares Zeichen, was ihm noch fürgegeben sei, und daß er die Tage, die nun kamen, ruhig gehen konnte.

Erschöpft hielt er endlich inne und forschte um sich mit eigensinnigem Verlangen irgendwo nach einem Fingerzeig ins Unerforschliche.

Aber nichts war vernehmbar als draußen das stoßweise unterbrochene Jubellied des Föhns. Schien er jetzt nicht gar an der hintern Haustür zu rütteln?

Der Antistes lauschte hinüber mit zurückgewandtem Haupt, und da sah er gerade, wie seine Tür aufsprang, sperrangelweit. Der heiße Wind fegte herein, wirbelte die weißen Blätter durcheinander, löschte das karge Licht und warf das Gartenfenster schmetternd zu.

Dann war alles still.

Der Antistes saß im Dunkeln und sah nichts als die runden Scheibchen seines Fensters, die ihn wie so viele große milchige Augen anstarrten; denn die gegenüberliegende Mauer des Grünen Schlosses warf ihnen das weiße Mondlicht zu. Aber hinter sich fühlte er das Grauen der offenen Tür.

Die Hände tasteten nach dem Feuerzeug, und endlich gelang es den zitternden, Funken zu schlagen und das Lämpchen zu entzünden. Und wie der trauliche Schein wieder erwacht war, fand der Antistes auch den Mut, auf den unsichern, schwer nachschleppenden Füßen bis zur Tür zu gehen, daß er sie verschließen konnte, doppelt und dreifach mit Riegel und Schloß.

Und dann hinüber nach dem Fenster, um die Laden vorzuziehen, daß sie erloschen, diese schreckhaften weißen Augen.

Aber wie er hinauslangte, um den befestneten Laden zu lösen, blieb seine Hand in der Luft stehen, und die Augen wurden gläsern.

Drüben bei den Rosenstauden stand eine weiße dünne Gestalt, und wie der Wind das Flatterhemd zauste, sah man, daß kein menschlicher Körper darinnen war. Weiße, unmenschlich dünne Finger hielten ein Grabscheit und gruben und gruben mit gräßlichem Knirschen der Erde, und ein Grab öffnete sich, und da stand auch schon ein Totenbaum, ein winzig kleines Särglein, zwischen den huschenden Wolkenschatten und darauf etwas Starres …;

Die Flattergestalt wuchs und ward breit und allgemein wie das Mondlicht, und spitze weiße Lichter langten herüber und kamen näher und winkten und zeigten und waren Finger, die grauenhaften Finger einer kalten weißen Riesenhand.

Langsam glitt der Antistes neben dem Fenster nieder, eine gestaltlose Masse.

 

Als Mitternacht vorüber war, erhob sich die Obristpfarrerin, um nach dem Verbleiben ihres Eheherrn zu forschen.

Sie fand ihn hilflos zusammengekauert unter dem offenen Fenster. Er war nicht bewußtlos; aber seine Augen starrten verglast, und die schlotternden Lippen brachten keinen Laut herfür.

Jammernd und mit viel Mühe brachte sie den Haltlosen zu Bett, und sie meinte, daß er den Tag nicht erleben würde.

Aber am Morgen erhob er sich mit grauem Gesicht und ohne zu reden, und man spürte, daß man nicht fragen durfte nach dem, was in der Nacht geschehn war.

Und er ging der Arbeit nach wie sonst – heute und alle Tage.

Aber der Pfarrerin war, als ob sie seit jener Nacht einen alten gebrochenen Mann neben sich hätte und einen kranken Mann, den man behüten mußte wie ein gefährdetes Kind.

Wenn er jetzt am Abend in seine Studierstube ging, mußte sie ihn begleiten und wohl nachsehen, ob die Fenster geschlossen waren, beide, auch das nach dem Garten, das ganz besonders. Und dann mußte sie bei ihm bleiben, derweil er seine langen Predigten schrieb und seine von Gelehrsame schweren Traktate und die Gebete, die ihm ein Höherer eingeistete, und sie mußte so nahe bei ihm sitzen, daß sie jeden Augenblick seine Hand erfassen konnte oder hinter ihn treten und mit festen Fingern seine Stirn umklammern und mit ihrem Leib seinen bebenden Rücken decken, wenn einer der furchtbaren Anfälle kam, von deren jedem man meinte, daß es der letzte sei.

Und wenn dann die Qualen und fürchterlichen Herzstöße vorüber waren und er erschöpft zusammenbrach wie ein müdes Kind, dann stützte sie ihn mit ihrer kräftigen Schulter und betete ihm mit klarer Stimme vor; aber wenn sie ihm dabei in seine angstgequälten Augen sah, wie sie immer nach der dunkeln Fensterecke starrten, als ob dort etwas Grausenhaftes kauerte, das ihn jeden Augenblick anspringen konnte, dann lief auch ihr ein Schauer über den harten Rücken, und sie meinte irgendwo die kalte Hand zu fühlen, von der er so oft sprach in seinen Träumen.

Und doch war es seit jener Nacht, da der Schwager Ratsherr hier mit ihnen gewacht hatte, gänzlich ruhig geblieben im Antistitium, und obgleich viel Menschen durch das Haus gingen und darin lebten – denn die Mägde hatten kein Bleibens mehr seither und auch die Tischgänger nicht –, keiner konnte behaupten, jemalen etwas von Gespenstern gespürt zu haben.

Nein, das konnte keiner.


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