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Im Spiegel

Wenn ich das Haus denke, darin ich meine Kindheit verlebte, meine ich, daß ich mir die peinliche Selbstbespiegelung füglich ersparen könnte, sofern es mir gelänge, dessen Seele aufzudecken; denn mir scheint, daß dann alles klar werden müßte, was mein Leben angeht und meinen Weg bestimmte. Dieses Haus war klein und von vielen Fenstern erhellt; aber in meiner Erinnerung steht es weiträumig und reich an dunkelm Geheimnis, und eigentlich trennte der breite Gang, der gradaus von der vorderen zur hinteren Haustür lief, zwei Welten: Auf der Sonnenseite die kleinen hellen Zimmer, wo man aß, lebte, lernte, musizierte, wo Mutter uns drei Schwestern an den Nachmittagen unterrichtete und uns des Abends Geschichten erzählte oder aus den großen Dichtern vorlas. Hier verkehrten die heiteren Gäste, und wohl niemals haben Wände herzlicheres Lachen wiedergegeben und flammendere Begeisterung gesehn als die weiß und rosenrot gestrichenen dieser Sonnenzimmer. Jenseits des Korridors aber, auf der Schattenseite, lagen die großen, dunkelbraunen Stuben. Oben die stillen, wo man die Nacht verbrachte, unten die geheimnisbelebten, wo neben dem gewaltigen Schreibtisch der rätselhaft bewegliche Lederstuhl thronte, wo wändelang die funkelklaren Glasgefäße standen, wo auf schlichten Bänken bedrückte Menschen warteten. Und wohl kaum je haben Räume mehr Menschenschicksal erlebt als diese verschwiegenen braunen Stuben, die Angst, Marter, Blut und Sterben und alles innige und furchtbare Geständnis vernahmen und durch die im Lauf der Jahrzehnte ein ganzes Volk von Leidenden, Verzweifelten, Hilfesuchenden und Getrösteten ging. Denn hier übte mein Vater an den Vormittagen seinen schweren Arztberuf aus. Mutter half ihm dabei, und sie, die in den weißen Zimmern drüben sprühend beweglich, leuchtend von Geist und Frohsinn sein konnte, wurde hier ernst und gemessen und ihre glänzenden Augen dunkel. Nur die feinen emsigen Hände, die so gut beschwichtigen konnten, und die warme Stimme, die das Trösten so wohl verstand, blieben dieselben hüben und drüben.

Es war dies aber kein Zufallsdoktorhaus und kein Zufall, daß es mitten im bernischen Bauernland stand. Wenn ich über die Reihen unserer Vorfahren zurückschaue, entdecke ich an allen Linien ein Gemeinsames: Im bernischen Bauerntum nahmen sie alle ihren Ursprung, und alle mündeten irgendeinmal im Gelehrten- oder Künstlerstand. Theologe läßt sich keiner finden; aber Ärzte gab es auf allen Seiten, so daß sich leicht deren ein Dutzend herzählen ließe. Und die wundertätigen Frauen fehlten nicht. So steckt denn meinem Vater sein Beruf im Blute von Vorfahren her, und innerlich ist er ihm treu geblieben bis heute, trotzdem er, seitdem Mutter uns verließ, ihn nach außen aufgegeben hat. Und er hat ihn ausgeübt unter Menschen, die den Doktor nur dann brauchen, wenn leibliche oder seelische Not aufs höchste gestiegen ist, und die also von ihm nicht bloß den klugen Kopf und die sichere Hand, sondern auch ein ganzes Herz verlangen und alle Weisheit. Unserer Mutter aber war es angeboren, daß sie helfen und trösten mußte und aufrichten und erlösen. Dermaßen taten meine Eltern in Wahrheit beide dasselbe; allein jedes vollbrachte es auf seine besondere Art, und wenn die Erinnerung das kleine Haus meiner Kindheit weiträumig macht, so liegt das wohl kaum an seinen gewissen äußerlichen Eigentümlichkeiten, wie etwa der breiten Terrasse, der mächtigen Glyzinenlaube, dem weitgebreiteten Estrich und der Sternwarte auf dem Dach, die das bodenfeste Häuschen an die ewigen Gestirne band, und wenn meine Vorstellung das helle, fensterreiche mit Geheimnis füllt, so sind daran gewiß nicht seine paar Dunkelheiten schuld, der unbegreiflich tiefe Keller mit dem Brunnenschacht, von dem es hieß, daß einer drin liege, die Fledermauswinkel über der Vogeldiele und das schwarze Kämmerchen unter dem Dach mit der dunkelroten Kiste, darin die Menschenschädel ruhten und das Kinderskelett, Weiträumigkeit und Geheimnis lagen weniger an des Hauses äußerer Art als an seiner Seele, und das heißt: am Wesen meiner Eltern.

Meine Mutter hatte es an sich, daß alles um sie weitatmig und groß wurde, und als der junge Ferdinand Hodler sie, die in Wirklichkeit klein und zierlich und voll funkelnder Lebendigkeit war, im Bildnis so darstellte, daß sie fast mächtig und eigentlich heroisch erscheint, so hätte man daraus erkennen können, wie dieser Künstler berufen war, an den Sinn des Lebens zu dringen; denn in Wahrheit war alles in ihr großgezogen, weit und klar wie das Gesetz. Und hätte sie nicht diese selbstlos hingebende Nächstenliebe besessen, man hätte sie eine Gestalt vom Zuschnitt der Antike nennen müssen. Gut und schlecht waren vor ihr klar geschieden wie Tag und Nacht. Sie wußte um die ewige Gerechtigkeit, und Schönheit war ihr oberstes Gesetz. Schönheit aber hieß für sie: Kraft, Ordnung, Zusammenklang, und alles Krankhafte, Verworrene, Zerquälte und Unlautere war ihr von Grund aus verhaßt. Die weitgebaute, göttlich-schöne Welt, das klargefügte, gesunde Leben war es, dem sie sich zugetrieben fühlte. Sie lehrte uns die Landschaft in ihren großen Linien sehen, die Gewalt der fernen Berge verstehen und die ewige Melodie der nahen Hügel. Sie verstand es, die mächtigen Gestalten aus Vergangenheit und Dichtung so vor uns hinzustellen, daß sie riesenmäßig wurden und doch klar und innerlich vertraut, und ihr gelang es, uns auch in Nähe und Umgebung den ganzen Menschen sehen zu machen. Als solchen aber erkannte sie nur den an, der innerlich gesund ist und stark und rein genug, um sein Schicksal zu erfüllen. Die halben, schwächlichen, schweifender Triebhaftigkeit ausgelieferten Zufallsmenschen hätte sie am liebsten vom heiligen Erdboden weggetilgt. Für sie gab es nicht Zufall, Versuchung und Reue, bloß Bestimmung.

Hingegen ist es, als ob mein Vater dorthin blicken müßte, wo das Gesetz sich verdunkelt und das Geheimnis beginnt. Und es ist wohl nicht allein sein Helferberuf, der ihn zwingt, das Kranke, Verworrene, Groteske aufzusuchen, sondern der Drang dessen, der nach Erkenntnis ringt, dem Weisheit höchstes Ziel ist, den das Absonderliche lockt, weil er nicht allein das Geheimnis des Gesetzes, sondern auch das Gesetz des Geheimnisvollen und Rätselhaften wissen möchte. Wenn er mit uns Kindern über Land ging, dann waren es weit weniger die großen Formen der Erdgestalt, die er uns wies, als das kleine, betriebsame Leben in Pflanzen- und Tierreich, und es gab da nicht nur Schönes zu schauen, sondern viel Furchtbares und Aufwühlendes, Kampf, Jammer und Zerstörung. Er aber suchte uns den Sinn des scheinbar Sinnlosen, die Schönheit des Häßlichen zu zeigen und uns Schmerz und Tod als natürliche Einrichtungen vertraut zu machen. Im Grunde erstrebten ja beide Eltern für uns dasselbe Ziel des Gesunden, Natürlich-Schönen und der heiligen Ordnung; aber es war so, daß Mutters Wege über die weitatmigen Höhen des Herrlichgewordenen führten, während Vaters Pfade in geheimnisdunkle Tiefen drangen, in die brutale Werkstatt von Werden und Vergehen, in die bangen Winkel des Unbewußten und Geahnten: denn wenn auch Aufklärung sein Wille war, es blieb doch stets im Natürlichen ein Kern des Wunders, im Göttlichen ein Rest des Dämonischen.

Daher kommt es, daß meine Erinnerung das kleine helle Haus weiträumig und geheimnisvoll macht. Klare Ordnung und bedrängendes Rätsel bestimmten den Geist dieses Häuschens, in dem es keine Schnörkel und keine Leere gab. Und weil die nahe und fernere Umgebung, das bunte Dorf mit seinen närrischen, grotesken und rührenden Gestalten, die ich durch Vaters Beruf alle unter dem Schatten ihres besonderen Geschickes sah, und die herrlich geordnete, wundervolle, satte Weite der Hügellandschaft, wo auf den stolzen Höfen die adelig alten Bauerngeschlechter ihr schicksalhaftes Dasein führen – weil so auch Dorf und Land den Doppelgeist des Hauses gesondert widerspiegelten, konnte ich mir nicht denken, daß es auf der Welt irgendwo anders zugehe als weiträumig und wundervoll.

Als mir dann draußen die andere Wirklichkeit bewußt wurde und ich begriff, daß es Winkel geben kann ohne Geheimnis, Weite ohne Fülle, Wirrnis ohne Wunder und Ordnung ohne Schönheit und Zusammenklang und daß solches nicht Ausnahme ist, sondern das Gewohnte, wurde mir das einst Selbstverständliche zum Ersehnten, und ich glaube, daß mein Leben fürder nicht viel anderes war als Suchen nach diesem Ersehnten. Auf seiner Fährte nahm ich den Weg aus der engen Mädchenschule ins freiere Bubengymnasium und durch die Hochschule hinaus in die Weite, zunächst nach dem Land der großen Linien und großen Rätsel, Italien. Und als der Beruf mich eingezogen hatte und das heiterbunte Zürich meine neue Heimat werden sollte – diese saubere Stadt der geputzten Winkel, diese ordentliche Stadt ohne ordnenden Rhythmus –, da trieb es mich aus der gegebenen in eine selbsterschaffene Welt. Immer mehr schienen mir Menschen und Dinge sich zu trennen in Weiträumige und Enge, Geheimnisvolle und Leere, aber nur da, wo Geheimnis und Klarheit sich treffen, wo Göttliches und Dämonisches sich anrühren, finde ich höchste Erfüllung – zu den Gähnenden und den Überschnörkelten fand ich noch nie den Weg. Und dieses Höchste kann nahe Vertrautes sein wie mein altes Bern mit der Herrlichkeit seiner geräumigen, in prachtvollem Gleichtakt aufrückenden Gassen und mit den geheimnisträchtigen Winkligkeiten seiner Lauben und Höflein, es kann etwas ganz Geringes sein wie der simple Ackermohn mit der klargefügten brennenden Blume auf abenteuerlich geschlängeltem Stiel und dem nie zu ergründenden Vergänglichkeitsgeruch, etwas so Erhabenes wie die äschyleische Tragödie, in der Gesetz und Wunder als Schicksal ineinander wachsen, und etwas so Einzigartiges wie die Welt des Lionardo, des Göttlichsten und Dämonischsten unter den Menschen: immer ist dieses Höchste irgendwie dem Geist der alten Heimat nahe.

Im Streben nach diesem Geist liegt auch der gewaltsame, alle äußeren Hemmnisse eines arbeitsreichen Frauendaseins überwindende Antrieb zum eigenen Schaffen: denn wenn nun auch wiederum ein liebes Häuschen mir Heimat geworden ist, das aus vielen Fenstern über den weiten See nach gleitenden Hügeln blickt und in dem zwei erkenntniswundrige, freiheitsfrohe Jungen weder Enge noch Leere aufkommen lassen, die alte Sehnsucht brennt immer noch, nicht schmerzhaft mehr, aber anfeuernd. Oder war es anderes als Sehnsucht nach der geheimnisreichen Weite meiner Kinderheimat, was mich zwang, die Geschichte der Zürcher Malerin zu erzählen, die aus der nüchternen Enge eines bürgerlich geordneten, aber der sinnvollen Ordnung entbehrenden Daseins innerlich den Weg zu Wunder und Weite und schließlich im Tod zur letzten Freiheit der ewigen Gesetze gewinnt? Die Landschaft meiner Heimat, als Sehnsucht und Symbol, steht auch hinter den kleinen, im Herzen der mütterlichen Frau sich abspielenden Geschichten der »Scala Santa«, und sie wiederum ist der große stumme Gegenspieler der abseitigen, nicht ganz auszudeutenden Gestalten in den Novellen »Von der Liebe und vom Tod«. Mehr als Symbol noch, Verheißung und letztes Ziel über einer Welt grotesker und liebenswerter Narren bedeutet dieses großgebaute, fruchtbare und geordnete Land in meinem neuesten Roman »Wir Narren von gestern«. Hier ist die Landschaft nicht bloß Hintergrund und stummer Gegenspieler, sie bekommt eine Sprache und ihre Seele Verkörperung in der mütterlichen Frau. Erst aber, wenn es mir gelänge, den Geist meiner Heimat, jener weiten Hügelwelt und des kleinen Hauses voll Raum und Rätsel, aus Dunst und Sehnsucht zu lösen und ganz Form werden zu lassen und also aus Wirklichkeit und Ahnung Wahrheit zu gestalten, hätte ich meine Aufgabe erfüllt, und dann dürfte ich auch, was ich heute, dazu aufgefordert, nur widerstrebend versuchte, getrost wagen: den Blick in den Spiegel.


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