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VIII. Wie der Rauch von einer Glut ...

An einem sehr hellen Jännermorgen schritt Anna, von der mindern Stadt herkommend, der Limmat zu. Mütze und Überwurf aus langhaarigem Pelz waren vom Rauhreif überzuckert und die Wangen gerötet, gleichermaßen von Kälte und rascher Bewegung. Der überaus klare Morgen hatte sie zu einem kurzen Frühgang verlockt, und eben kehrte sie vom frostschimmernden Lindenhof zurück auf einem artigen Umweg, der ihr von der obern Brücke aus noch einmal den Blick auf See und Alpen gönnen sollte. Als sie indes auf die Brücke trat, war der Glast des sonnenbeschienenen Wassers so mächtig, daß sie ihre Augen geblendet vom See weg flußabwärts wenden mußte. Da fesselte auf der andern Seite des Stegs eine seltsame Erscheinung ihren Blick. Hinter dem lustigen Brunnenhäuschen, das stattlich aus vier Röhren sein helles Wasser spendete, erhob sich eine mächtige, glitzernde Zierlichkeit oder besser: ein Gebäude von tausend durchsichtigen Zierlichkeiten, darinnen die Morgensonne mit Funkeln und Blitzen ein abenteuerliches Wesen verführte. Anna beugte sich über den Brückenrand, um das wundersame Gebilde zu betrachten, und da sah sie, daß es nichts anderes war als Gerüste und Balkenwerk des großen Wasserrades, das diese hartkalten Tage durch Gefrieren der herausspritzenden Wellchen und Tropfen mit einem vielzackigen Eismantel bedeckt hatten. Und da durch das unaufhörlich herangeschleuderte Wasser immer neue Zapfen und Nadeln sich bildeten, hatte sich das Ganze zu einem vielgestaltigen Eiskoloß ausgewachsen, der wie eine funkelnde Kristallburg auf den breitfließenden Wellen zu schwimmen schien. Mittendurch aber rauschte das gewaltige Rad, unablässig das klare Wasser dem Brunnenhäuschen zuführend, und ein paar Möwen flogen ab und zu mit dünnem Kreischen und setzten sich träge auf den Querbalken, der zu oberst die kristallenen Säulen verband. Mit erfreuten Augen durchforschte Anna die fremdartigen und wundervollen Gestaltungen, und gern hätte sie ihr Skizzenbüchlein hervorgezogen, um einige der merkwürdigsten Figuren festzuhalten, wenn ihr solches des Aufsehens wegen, das jedes ungewöhnliche Tun gleich verursachte, nicht zuwider gewesen wäre. Sie begnügte sich deshalb mit scharfer Beobachtung, und dabei entzückten sich ihre Augen immer mehr an dem seltenen Anblick. Welch unermeßlich reiche Spenderin war doch die Natur! Aber solch regelvolle, kunstmäßige Erscheinungen förderte sie doch nur unter ganz besondern Verhältnissen zutage, nur aus der tiefsten, ungestörten Ruhe erwuchsen die scharfkantigen, lichtsprühenden Wunder der Steinwelt, und nur die härteste, unerbittliche Kälte brachte solche Eismärchen zustande. Und sie dachte weiter: War es mit den menschlichen Dingen anders? Kamen nicht aus der großen, ungetrübten Ruhe der Seele und aus dem klaren und kalten Geist allein die durchsichtigen, scharfen Gedanken und die ungetrübten, weittragenden Taten?

Ja, ja, daran hatte es ihr wohl gefehlt, an der sichern Ruhe und klaren Kühle. Aber in der letzten Zeit, war es nicht beinahe, als ob es sich in ihr gelegt hätte, all das Heiße und Getrübte und Qualvolle, und als ob etwas in ihr aufwachsen wollte, das kalt war und durchsichtig wie diese Eiskristalle und daraus eine scharfe und unbedingte Kraft entsprang?

Sie richtete sich hoch auf und atmete kräftig die trockene Luft, und ein stilles, schier glückliches Lächeln ging durch ihr Antlitz. Dann wanderten ihre Blicke flußabwärts nach der andern Brücke, die weiter unten neben dem Rathaus einen betunlichen Weg über die Limmat führte, und sie forschte mit geschärften Augen nach dem andern Wasserrad, das auch dort gleichermaßen einen Brunnen speiste, ob es wohl eine ähnliche Verzauberung erfahren. Aber Brücke und Brunnenhaus verdeckten ihr den Ausblick; dafür gewahrte sie zwei Herren, die gleich ihr über das fernere Geländer der Niedern Brück gelehnt, mit eifrigen Gebärden ebenfalls etwas Absonderliches zu betrachten und verhandeln schienen, und da sie in dem einen, dem lebhaftem kleinen, schwarz gekleideten, Professor Scheuchzer zu erkennen glaubte, beobachtete sie angelegentlich die beiden, bis sie eiligen Schrittes hinter dem Rathaus verschwanden. Aber gleich darauf tauchten sie wieder auf, drüben am Stad, und boten und entzogen sich ihren Blicken mit dem Weg, der hier und da ans Ufer trat, um gleich wieder unter den Tilenen, den gewölbten Lauben der Zunfthäuser, oder hinter diesen zu verschwinden. Das war der seltsame, verstückelte Weg, der sie so oft an ihr eignes Leben gemahnte, darinnen alles unganz war, zerschnitten und ohne Fortsetzung. Auch jetzt drängte sich ihr wieder dieser trübselige Vergleich auf; aber gleichzeitig kam ihr auch eine abergläubische Anwandlung, die sie hieß, die beiden Herren als Orakel zu benutzen: Bogen sie von der Wühre her in diese Brücke ein, die glatt und ungestört zur mindern Stadt geleitete, so sollte das ein gutes Omen sein, daß auch ihr Leben einst noch auf zusammenhängende Wege gelangte.

Mit einer Spannung, die sie kindisch schalt und doch nicht hindern konnte, sah sie den beiden entgegen, und da sie am Ende wirklich unter dem breiten Holzdach des Helmhauses, das den untersten Teil des Stegs verschlang, erschienen, trieb es ihr eine starke Freude zum Herzen, daß sie dem Professor freundlich zunickte, noch ehe dieser grüßen konnte, was er freilich unverzüglich mit einer allerehrfürchtigsten Reverenz nachholte und einem fröhlichen Lachen, das wohltätig über das blasse, blatternzerrissene Gesicht lief.

»Welch schöne Rencontre, liebste Waserin!« rief er erfreut, und rasch an Anna herantretend: »Da kann ich Euch ja gleich einen alten Bekannten präsentieren, der eben mit viel Eifer nach Euch geforscht.«

Jetzt erst faßte Anna auch den andern ins Auge, und ehe noch Scheuchzer dessen Namen genannt hatte, erkannte sie in dem stattlichen, braungewandeten Herrn ihren Jugendfreund Lukas Stark wieder. Sie erkannte ihn und war selbst darüber verwundert, denn was war da in dem festen, blühenden, von einer etwas aufdringlichen Perücke umwallten Gesicht noch von dem alten Lux zu entdecken? Aber da sie sich nun begrüßten, lag doch etwas im Druck der Hand, was sie irgendwie an ferne Zeiten erinnerte. Ja, das waren immer noch dieselben Hände, und sie mußte unwillkürlich denken, daß sich der ganze Mensch gleichsam ihnen angepaßt habe, diesen warmen, festen Händen, die einst recht wenig zu dem unberechenbaren Jüngling stimmten. Indes erzählte Scheuchzer vergnügt, wie er in Herrn Stark einen fürtrefflichen Förderer eigenster Sachen gewonnen, da dieser nicht bloß illustrationes zu seinem neuen Werke zu liefern gewillt sei, sondern auch ihn auf einer wichtigen Reise durch die Berner Alpen zu begleiten vorhabe, solche er aus ältester Vertrautheit aufs genaueste kenne, was für die Wissenschaft gar schätzenswert sei.

Überrascht sah Anna ihren einstigen Freund an: »So habt Ihr Euch denn auf alte Wege zurückgefunden?« rief sie erfreut.

Der andere aber gab ihr einen dringenden Blick: »On revient toujours à ses premiers amours!« und er versuchte zu lächeln. Nun saß aber dieses mißglückte Lächeln des kleinen Mundes so fremd in dem gewichtigen Gesicht, daß Anna beim Gedanken, alte Gefühle könnten unter so veränderten Verhältnissen wiederkommen, unwillkürlich und fast lustig lachen mußte, und ob diesem ungewohnten Lachen wurde ihr selber wohl, als ob sie damit irgendein altes Gespenst verscheucht hätte.

Stark aber ließ sich nicht beirren, obschon ihr Gebaren sein flüchtiges Lächeln gleich wieder gelöscht hatte. »Seid nicht zu absprechend, vieledle Jungfer,« sagte er mit einem ganz kleinen Spott, »hab' ich doch eben von Herrn Scheuchzer vernommen, daß auch Ihr nach langer, höchst bedauerlicher Unterbrechung zu alten guten Gepflogenheiten zurückzukehren nicht verschmäht.«

Anna war unter seinen Worten wieder ernst geworden. »Ganz die alten sind es wohl nicht,« entgegnete sie langsam und dachte an die großen Anstrengungen, die sie machte, um neue Bahnen zu finden in der alten Malerei.

Der andere aber schüttelte den Kopf: »Wohl, wohl, die alten, weilen es nichts Neues gibt für ein und denselben Menschen, bloß eine Stufe höher vielleicht auf der Schneckentreppe des Lebens, und da sieht man das Zeug ein wenig anders, ist aber alleweil dasselbe, alleweil dasselbe.«

Anna schwieg, und Herr Scheuchzer griff wieder in die Rede ein, und nachdem die Konversation eine Zeit lang mit frischer Bewegung über allerlei Dinge gelaufen, vergangene, gegenwärtige und zukünftige, und auch das Eiswunder der Wasserräder die gebührende Würdigung erfahren, verabschiedete sie sich mit freundlichem Gruß von den Herren. Da sie aber vom Ufer aus noch einmal nach der Brücke zurückschaute, gewahrte sie, wie die beiden ihr zugewandt standen und ihr unter lebhaftem Gespräch nachblickten, und da war es, daß sie an Stark, der in einer bezeichnenden Stellung, die Hand auf dem Rücken, dastand und mit etwas gedrehtem Kopf neben der Perücke die Schärfe des Profils hervorließ, plötzlich wieder den alten Lux erkannte, sodaß ihr nachträglich noch das Blut in die Wangen stieg und sie unwillkürlich mit der Hand zu ihnen zurückwinkte, über das trennende Wasser hinweg, was er alsobald mit einem lebhaften und erfreuten Hutschwenken beantwortete. Dann schritt sie weiter nach dem verborgenen, gegen den Fluß abgeschlossenen Rüdenplätzchen.

Es blieb ihr aber von dieser Begegnung eine freudige Erregung zurück, als ob sie die Jugend gegrüßt hätte, und Lukas' Schicksal und Worte beschäftigten sie und stärkten ihren Glauben an das Leben und die Kraft der Dauer. Wann selbst er nach so schwerer Irrfahrt die alten Wege wiederfand – und sie fühlte, er stand allbereits mit festen Füßen darauf, sodaß er jene Höhen, nach denen er einst getrachtet, wohl noch erreichen konnte – wie sollte sie verzweifeln, die ja nicht vorsätzlich, sondern durch Schicksal und Irrtum von vorgezeigten Bahnen abgelenkt worden war? Und sie stand ja noch in der Kraft; seit langem war sie sich nicht so jung und stark vorgekommen wie an diesem frischkalten Morgen, ihre Augen waren noch klar und in ihrem Herzen etwas, das aufspringen konnte, wann sie irgendwo in der Natur Schönes sah oder im Leben Rührendes oder Starkes oder wann sich, wie eben jetzt, die beglückendste Erkenntnis bot, daß ein scheinbar abtrünniger Mensch wieder zu sich selbst zurückfand.

Und ein anderes noch gab ihr zu denken an dieser Begegnung: Wann es doch möglich war, daß man einem Menschen, der einem einst soviel bedeutet und so schweres Leid zugefügt hatte, eines Tages mit heiterm Sinn und unbefangenem Herzen entgegentreten konnte und einem warmen, ungezwungenen Wohlwollen, mußte man da nicht an eine Kraft der Seele glauben, die einen alles überwinden ließ und auch die qualvollste Erinnerung schließlich aufzuklären vermochte zu einem bedeutsamen, aber schmerzlosen Symbolum? Ja, kam es nicht schließlich darauf an und war Grund und Wesen des letzten Glückes, daß man lernte, dermaßen jedes Erlebnis zu läutern, daß alles Persönliche und Zufällige davon abfiel und nur sein eigentlicher Kern übrigblieb, sein Sinn und ewige Bedeutung, das wie alles Allgemeine und Ewige schmerzlos blieb und ohne Stachel?

Und deshalb wohl verlangte die reinste Religion die unbedingte Kraft der Verzeihung als eine wichtigste Tugend, weil sie Ursprung des tiefsten, des unabhängigen Glückes war.

Aus derlei Anschauungen führte Anna ihrem erstarkenden Lebensglauben neue Kräfte zu, und es bot sich auch bald die Gelegenheit, solche auf ihre Tüchtigkeit zu erproben. Als sie in diesen Tagen einmal gegen Abend in das Zimmer ihres Vaters trat, um ein paar sauber vollendete Schriftstücke abzuliefern, traf sie zu ihrer Verwunderung beide Eltern in der erleuchteten Stube, die Mutter mit einem Brief in der Hand; diese entfernte sich jedoch alsobald mit einer verlegenen und etwas ungeschickten Art.

Kaum hatte sie die Türe hinter sich zugeschlossen, als der Vater, der im tiefen Lehnstuhl saß, Anna mit einer fast feierlichen Gebärde zum Sitzen einlud und ihr erst eine Nachricht, so er sie mit ruhigem Herzen zu vernehmen bat, ankündigte, um dann mit etwas stockenden Worten zu erzählen – von einem Briefe, der eben eingetroffen aus Campen und daraus hervorgehe, daß die Mutter und er Urgroßeltern geworden eines Mädchens, solchem die jungen Eltern den Namen Anna beigelegt hätten.

Einen Augenblick war es ganz still im Zimmer. Vor Annas Augen, atembeklemmend wie eine Vision, erschienen jene grüngoldnen Frühlingsmorgen droben auf dem Lindenhof, da sie den jungen Müttern nachgeblickt und den zartflaumigen Köpfchen und ihr neue, seltsame Gedanken über Unsterblichkeit aufgegangen und ein süßer und geheimnisvoller Drang ihr schier das Herz versprengen wollte. Aber sie wehrte sich standhaft gegen die holden und schmerzbringenden Bilder – Vorbei, vorbei ... Und es tönte schier ruhig, als sie endlich leise ihren Glückwunsch darbrachte und die Frage nach des Estherleins Befinden daran knüpfte.

»Wohl geht es ihr gut,« antwortete der Amtmann; dann aber kam ein kaum hörbares Zittern in seine Stimme, als er beifügte: »Sie vermeinet jedoch, so du dich freiwillig und aus verzeihendem Herzen zu dem Kinde als eine Patin bekennen wolltest, fehlte nichts mehr an ihrem Glücke.«

Wieder entstand eine kleine Pause; dann erhob sich Anna mit stiller Festigkeit: »Das will ich, Vater,« sagte sie bestimmt, »und zwar möcht' ich es ihr, damit sie es recht spüren mag, alsobald in einem Brief selbst zusagen.«

Langsam richtete sich der Greis in seinem Stuhle auf und sah Anna aus weitgeöffneten Augen an. Dann griff er plötzlich nach ihren Händen und zog sie zu sich nieder und küßte sie, daß ihr ob dem seltsamen und völlig ungewohnten Tun das Herz zerfloß und sie leise weinend den Kopf in seinen Schoß legte. Und als einmal des Vaters Hände zögernd und so unsäglich wohltuend über ihr Haar strichen – ach, die armen Hände mit dem harten hastigen Schlag unter der spröden Haut – vermeinte sie, diesen Mann, der kühl und streng über ihrem Leben gewaltet hatte, zum ersten Mal zu verstehen, und als sie nun aufblickte und in seinem Gesicht forschte, entdeckte sie darin einen Zug von Milde, den sie früher niemalen an ihm gesehen; zugleich aber fiel es ihr schwer aufs Herz, wie krank dieses Gesicht war, wie müd die gelben Augen unter den bläulichen Lidern, wie hohl die fahlen Wangen, und der himmelblaue Strang an der rechten Seite des Halses hatte keinen sichern Puls mehr, sondern zitterte und bebte wie Flügel eines gefangenen, zu Tode geängsteten Vögelchens.

»Ja,« sagte der Amtmann, als ob er ihre Gedanken vernommen, »so ist es nun, daß ich über ein Kleines nicht mehr da sein werde, und es ist recht so, maßen mich nach einem vollen und werkerfüllten Leben nach nichts so sehr verlangt wie nach Ruhe.« Und bei dieser Rede hatte er wieder den alten bestimmten Zug um den Mund, der keinen Widerspruch erlaubte, so daß Anna still und mit gesenkter Stirn seinen weitern Worten folgte; sie faßte aber ein jegliches aus wie ein Kleinod, daß es ihr für alle Zeiten zum unverlierbaren Schatze bleiben möchte.

»Solcher Gestalt war mein Leben,« fuhr er ruhig fort, »daß ich heute unserm Gott nur danken kann, sintemal er mich zuletzt allenthalben über Irrungen und Schmerzen hinweg Ziel und Sinn erkennen läßt und endlich noch am heutigen Tage eine Schuld von mir nimmt, so lange auf mich drückte; denn an deinem tapfern und guten Wort erkenne ich, daß auch du nun zumal den rechten Weg gefunden hast. Es gab aber eine Zeit, da ich nimmer daran glaubte und da ich mir die Schuld daran beimessen gemußt, dieweil ich dich wohl auf einen außergewöhnlichen Weg zu stellen, nicht aber deinen fernern Wandel daraus zu beschützen vermochte, sondern vielmehr, deine Fähigkeiten in Verkennung deiner innern Triebe zu häuslichen und eigenen Zwecken ausnützend, dir jenen Weg sozusagen abgrub.«

Er schwieg einen Augenblick wie erschöpft von seinen Worten. Anna erhob sich langsam mit stillen Augen:

»Nein, Vater, so sollet Ihr nicht reden!« Ihre Stimme klang schier feierlich, aber mit einer großen Innigkeit. »Nicht abgegraben, geöffnet habt Ihr mir die Wege. Ihr seid es gewesen, der mein Lebensgärtlein also einrichtete, daß es wohlbestellt war mit vielen unterschiedenen Pflänzlein, und starb nun eins, so war immer noch ein anderes da, es zu ersetzen. Es gibt aber solche, sie gleichen denen Zierbeetlein, darein der kurzsichtige Gärtner ein einzige Pflanze gesetzt, um sie zur Üppigkeit zu ziehn; fehlt nun aber diese, so ist alles dahin und bleibt nichts dann verödet Erdreich.« Ihre Stimme schwankte. Sie dachte an ihre Jugendfreundin Sibylla, wie sie an verkümmertem Herzen hinwelkte, daß sie alt war und vergrämt mitten im Leben, und der Gedanke griff ihr ans Herz.

Der Amtmann nickte still vor sich hin: »Menschenschuld oder Menschenverdienst ... Heute glaub ich, daß all's so hat kommen müssen, wie's kam, und daß deine Kämpf und Schmerzen wohl nötig dazu waren, damit dein heißes Herz zur Ruhe kommen und reif werden konnte für jene Einsamkeit, deren der außerordentliche Geist bedarf und darin jedes starke und ungewöhnliche Werk wurzelt. Nun du aber so weit, soll dir der recht Weg nicht länger verrammt werden, und sobald deine Seele stark geworden zu neuen Wünschen, sollst du ihnen auch folgen dürfen. Denn siehe, Maria hat den Frieden gefunden und Elisabeth mehr als das, eine Aufgabe, die ihrem Leben Inhalt gibt und Ziel; du aber bist noch nicht an dem Ruhepunkt angelangt. Für dich kommt das Leben noch, und es liegt dort, wo deinen Fähigkeiten, die ich auch jetzt erst an deinen neuesten Malereien recht zu ahnen anfange, die nötige Entfaltung gegeben wird. Noch weiß ich nicht, wie und wo das Schicksal dir die Tür öffnet; aber es wird geschehn, und ich hab dafür gesorgt, daß wann wieder eine solche Gelegenheit sich bietet, wie ich sie dir einmal versagt, und nach langem Dürsten dir sich die Quellen der Kunst wieder öffnen sollten, die Mittel, solche zu nutzen, nicht fehlen. Freilich,« fügte er nach einem kleinen Lächeln bei, »ein wenig warten mußt noch, bis etwas Zeit vergangen über mein Weggehn und die Mutter sich gewöhnt hat an das Neue, da ich dich genugsam kenne, um zu wissen, daß du nicht eher einen frohen und ersprießlichen Weg in die Welt betreten kannst, als du daheim alles in Ordnung weißt und getröstet.«

Er richtete sich noch einmal auf und reichte Anna die Hand, die sie wortlos und erschüttert küßte; dann verabschiedete er sie mit einem kleinen Wink, und während sie hinausschritt, gewahrte sie, wie er mit geschlossenen Augen und erschreckenden dunkeln Schatten im bleichen Gesicht erschöpft in den Stuhl zurückfiel.

An einem schier ebenso frühlingshaften Februartag, wie jener gewesen, da man den armen Johannes Cramer in sein verfrühtes Grab gelegt, wurde auch der Altamtmann, Cammerer und Eherichter Johann Rudolf Waser in der rötlichfeuchten Erde des neuen Friedhofs vor dem Lindentor zur letzten Ruhe gebettet, mit großem Geleite und viel Auszeichnung, und es wurden viel Reden laut über des Mannes tüchtiges und ehrenwertes Erdenwallen und seine großen Verdienste um die Vaterstadt. Aber spärliche Tränen flossen; denn der Kühle, Rechtliche hatte im Leben wohl Achtung, aber wenig Liebe gepflanzt, und da man den Tod des langsam Dahinwelkenden vorausgesehen und er sich als ein Vollendeter ruhig und gleichsam befriedigt hingelegt hatte, ward auch das Ende dieses geordneten Lebens als etwas Natürliches und Ordnungsgemäßes empfunden, ganz anders als bei dem Fähndrich, der stürmisch und unberechenbar, wie er gelebt, auch davongegangen, oder wie beim Dübendorfer Pfarrherrn, der zwar müde und abgelebt, aber doch völlig überraschend sich eines Tages endgültig aus den harten Händen der Frau Regula fortstahl, wohl nicht ahnend, daß diese ihm in kurzer Frist auch dort hinüber nachfolgen würde.

Selbst im Waserschen Hause verlief dieser Tag, ohne daß die schwarzverhängten Zimmer Ausbrüche heißen Schmerzes vernommen hätten. Als ob auch jetzt noch das zurückhaltende Wesen des Hausherrn geherrscht hätte, blieben Schmerz und Trauer in maßvollen Grenzen. Frau Esther, die sonst unter jeglicher Furcht vor kommendem Unglück oder dem Leid der Angehörigen so leicht zusammenbrach, trug diesen, vom Schicksal ihr zunächst zugedachten Schlag mit einer überraschenden, fast würdevollen Fassung, und als am Abend die Verwaisten zusammensaßen, fand sie sogar die Ruhe der Seele, ihren versammelten Kindern allerlei schöne und seltsame Züge aus dem Leben des Verstorbenen zu erzählen, wobei sie mit Vorliebe und hier und da gar mit einem fernen, verträumten Lächeln bei der allerersten Zeit ihrer Ehe verweilte, wo sie zuerst, allein mit der kleinen Maria, in diesem Hause gewohnt und sie noch so jung war, daß sie oft im verstohlenen mit des eignen Kindes Puppe spielte.

Nur als später Heinrich den Abendsegen las und zum ersten Mal die junge, helle, vor Erregung zitternde Stimme die altvertrauten Worte sprach, die sonst aus des Vaters Mund zwar karg und herb geklungen, aber fest, wie ein verläßlicher Stab, daran man sich halten kann, überwältigte es sie, daß sie aufschluchzend und ohne Gruß das Zimmer verließ, gefolgt von Elisabeth, die von nun an der Mutter Kammer teilte.

Nachdem auch Maria sich in ihrer stillen Weise zurückgezogen hatte, blieben Heinrich und Anna allein. Er zog einen niedrigen Schemel neben Annas Stuhl und setzte sich darauf wie in Kindertagen, und dann nahm er eine ihrer Hände und spielte mit den schlanken weißen Fingern, zerstreut und fast ein wenig verlegen, wie er es als Knabe getan, wann er der ältern Schwester etwas beichten wollte oder etwas erbetteln von ihr. »Nun hat er es doch nimmer vernommen,« sagte er ausatmend. »Oh, wann du wüßtest, wie sehr ich mich oft gequält habe und sonderlich in denen letzten Zeiten, da allenthalben von Pietisten und Tremulanten die Red ist, daß es doch noch zu ihm käme! Vor wenig Wochen noch hat er mit mir davon geredet mit vielstrengen Worten von des Obmann Bodmer Verirrungen, weil sein klarer Verstand für all das verschwommene, wühlende Wesen nur Verachtung hatte, und hat Herrn Holzhalb beklagt, daß er an seinem Beat einen solchen Kummer erleben müsse. Da war's mir, daß ich's hätt' herausschreien mögen, wie auch ich nicht besser und in was für einem Fahrwasser ich nun wohl zöge, wenn du mich nicht herausgerissen hättest mit deiner Opferliebe. Aber heut an seinem Grab, da hab ich Trauer und Schmerz schier vergessen über einem heißen Dankgebet, daß es mir erspart geblieben, ihm den großen Schmerz anzutun.«

Anna neigte sich zu ihm nieder: »Ja, Heini,« sagte sie leise, »es war ein guter Engel, der dir selbigsmal die Augen öffnete, und wann's auch grausam war und weh tat, es hat dich doch geheilt, noch bevor du den zweiten Schritt getan.«

Aber Heinrich schüttelte den Kopf: »Nein, nein, das war's nicht allein, und alle Enttäuschung und Ekel hätten mich nicht zu heilen vermocht, und nachher in meiner Verlassenheit und Angst wär ich doch wieder hineingeraten, so gut wie der Beat auch, wenn du mir nicht die neuen Wege gezeigt und die Augen geöffnet hättest und mich gehalten, nicht allein damalen, auch später, als das andere kam, das mit dem Estherlein, und ich an deiner starken und großen Seel mich aufrichtete und hielt ... Ach, was du mir auch da getan, Anna, so danken möcht ich dir, so danken.«

Aber sie wehrte ihm: »Was weißt du, ob es nicht gerade die Angst um dich war und die Verantwortung, die ich für dich fühlte, was mir eben jene Kraft gab? Wie sollte da eins dem andern danken! Aber festhalten wollen wir an dem, so wir unter Schmerzen gewonnen, daß es uns nimmer verloren geht. Und da nun der Vater von uns gegangen und unser Tag gekommen ist, wollen wir werken, daß wir dereinst so ruhig und vollendet sind und so bereit zum Aufbruch wie er.«

Heinrich preßte ihre Hand. »Von allen Worten, die heute geredet wurden über ihn, war keins besser als dieses und keines mehr in seinem Geiste.«

Hand in Hand erstiegen sie die Treppe und begaben sich ohne weitere Worte jedes nach seinem Zimmer. Anna aber saß noch lange an ihrem Fenster und blickte nach dem dunkeln Himmelsstreifen, wo hier und da ein fernes, blasses Sternlein auftauchte und wieder verschwand, wie zage Hoffnungen einer fernen Zukunft, die eine mächtigere Gegenwart immer wieder verschlingt. Aber als es gen Morgen ging, wurde der Himmel mählich klar, und die Sterne standen fest darin mit einem nahen und vertrauten Schein.

*

Der milde Septembermorgen lag schon geraume Zeit breit und sicher über der Stadt und hatte seinen Schein allbereits in die engsten Gassen hinabgesandt, als Anna plötzlich aus einem seltsamen Traum auffuhr mit einem heißen, aber köstlichen Gefühl in der Brust. Rasch schlug sie die Bettvorhänge zurück und betrachtete erstaunt ihre Stube, die schon taghell vor ihr lag. Der Anblick des großen ernsthaften Raumes, an dessen Wänden ihre hellfarbigen Bildchen mit ehrwürdigen Stichen sich mischten, war ihr immer noch überraschend, obgleich sie nun schon mehr denn ein Jahr hier hauste, seitdem man sich nach des Vaters Tod mit Räumung des obersten Stockwerkes enger zusammengeschlossen. Aber es war ein guter Geist, der hier in des Amtmanns Stube wohnte, ein starker und stiller, der das Herz fest machte und den Kopf klar. Und alles war gewichtiger, was man hier tat, und sozusagen verantwortungsvoller und auch einsamer. Als ob etwas von des Mannes Geist hier geblieben wäre, der das Äußere verdrängte und zur Selbstbesinnung mahnte, so war es. Und als ob sein Wort von der Kraft der Einsamkeit mit unsichtbaren Lettern über der schmalen Tür stünde, daß man sich hier, trotzdem einen keine Treppen von der Wohnung der andern trennte und trotzdem die Fenster nahe über der lebhaften Gasse lagen, wie abgeschlossen vorkam und losgelöst.

Ja, wie losgelöst, nicht bloß von äußern und fremden Dingen, auch von der eignen Vergangenheit. Anna sah still vor sich hin mit glänzenden Augen und gefalteten Händen, und der Gedanke an den starken und gegenwärtigen Geist, der ihrem Leben neue Kraft gab, ging ihr wie ein Dankgebet durch den Sinn.

Als sie in der Eßstube erschien, saßen Mutter und Schwestern bereits beim Frühstück und neckten die sonst so Pünktliche ihres späten Erscheinens wegen. Elisabeth aber nickte ihr lächelnd zu: »Wann der lange Schlaf schuld daran, daß du mit so hellen Augen und frohem Gesicht aufgestanden bist, möchtest du dich füglich alle Tage verschlafen.«

»Nicht der Schlaf allein,« entgegnete Anna, nachdem sie ihre Verspätung entschuldigt, »vielleicht aber ein außerordentlicher Traum. Mir war, als ob mir auf eins Flügel gewachsen wären, große und silberweiße, darmit ich fliegen konnte, nicht allein durch den blauen Raum, aber ganz hoch hinauf bis zu den goldigen Sternen. Das aber war so außer allem Sagen schön, daß mir eine warme Freude davon zurückgeblieben ist.«

Maria wandte sich mit einer raschen Bewegung der Schwester zu. Ihr Gesicht war in den letzten Jahren merkwürdig friedlich geworden, seitdem die geheimnisvolle weiße Flamme auf der Stirn sich allsgemach über das ganze Haar ausgebreitet hatte, sodaß nun die ernsten Züge von einem freundlichen weißen Schein umgeben waren, und nur selten mehr trat ein Strahl des alten beängstigenden Feuers in die stille gewordenen schwarzen Augen. Jetzt gerade aber geschah es, daß es seltsam durch ihren Blick flackerte, derweil sie die Schwester anschaute und mit eigentümlich dunkler Stimme sprach: »Das ist kein guter Traum, das.«

Anna aber lächelte: »Ich weiß, daß mir schon einmal ähnliches geträumt, damalen, als ich zuerst in meinem Berner Stübchen schlief, und ist mir wahrlich nichts Schlimmes davon gekommen.«

Nach dem Tischgebet reichte ihr die Mutter einen Brief hinüber. »Der ist für dich,« sagte sie nicht ohne Bekümmernis; denn die Schrift war ihr fremd, und ihre ängstliche Seele zuckte vor allem Unbekannten zusammen. Auch Anna erblaßte, als sie die lebhaften Schriftzüge gewahrte; während ihre raschen Blicke aber das Schreiben durchliefen, stieg ihr ein ungestümes Rot in die Wangen.

»Von der Marquise!« Sie hatte zu Ende gelesen, ihre Stimme zitterte, und in den Wimpern zuckte es; aber dann versuchte sie zu erzählen: »Der unbekannt Besteller, für den Herr Hofmann mein Maienbild erworben, sie war's, und einem großen Meister hat sie's gezeigt, so in Paris lebt, und sie sagt von ihm, daß er ein wahrer Zauberer sei, der nicht allein Leben und Natur, sondern auch die Geheimnisse der Luft mit dem süßesten Scheine der Wirklichkeit wiederzugeben vermöge. Und ob er gleich ein Fremder, noch jung und gebrechlichen Leibes sei und obschon er keine staatsmäßigen Schildereien male, sondern aus dem Alltäglichen und Natürlichen schöpfe, werde er doch um seiner unerhörten Art willen allenthalben bewundert und erhoben. Ja, und da er mein Bildchen gesehen: ›Da ist eine Seele zu erlösen!‹ hab er ausgerufen. ›Die Hand schreit ja förmlich nach den Wundern der Farbe, wie der Hirsch nach frischem Wasser, und fehlt ihr nichts denn die Perlmutterluft von Paris und meine Palett, und die will ich ihr geben!‹ Und hab ein lustig Wortspiel gemacht auf seinen großen und meinen kleinen Namen und sich dessen gefreut, daß sie beide gleich anfangen – denn er heißt Antoine Watteau – ja, und unter die Leitung dieses Meisters ruft mich die edle Frau!«

Bis dahin hatte Anna sich gezwungen, ruhig und verständlich zu berichten; aber plötzlich übermannte sie der Sinn ihrer eignen Worte, daß sie die Hände vors Gesicht schlug und in ein kurzes, heißes Schluchzen ausbrach; doch da die andern sie überrascht ansahen, lachte sie schon wieder aus den Tränen heraus: »Wie dumm ich bin! Aber ich kann's ja nicht glauben! Wär das möglich, daß es nun doch noch käme, und die Welt sich mir auftäte und ich noch zu dem Ziel gelangte?«

Aber Elisabeth umarmte sie herzlich, und ihre großen Augen waren naß vor Freude: »Anna, Schwesterlein, warum soll's nicht kommen? Lang genug hast warten müssen, und verdient hast's auch, weiß Gott, um uns alle.«

Auch Maria nickte beifällig, nur die Amtmännin sah besorgt drein: »Soweit fort wolltest du? Und die große Reis', wie man das bloß machen müßt?«

Aber Anna beruhigte sie: »Für alles hat sie gesorgt, die vielgute Frau, und daß ich mich am End des Monats einer Bekanntin von ihr anschließen kann, die den nämlichen Weg hat; da schaut selbst!« und sie gab der Mutter den Brief.

Aber auch jetzt noch blieb diese gedrückt: »Ja, wann es nur nicht grad an dem Unglückstag gekommen war!«

Anna sah sie betroffen an, dann lächelte sie wehmütig: »Weil es heut der Zwanzigste ist, meint Ihr? Sollte der Tag, der mir einstmalen ein trügerisches Glück gebracht und es hernach wieder genommen, mir nicht nun auch das rechte bringen können? Und hat mir nicht heut schon ein schöner Traum wahrgesagt? Denn schaut, so ich nun diesem Rufe folgen darf und meinem alten großen Wunsch, nicht anders wird es sein, als ob mir Flügel wüchsen, große, silberweiße, darmit ich fliegen kann, nicht allein durch den blauen Raum, sondern bis an die goldigen Sterne.«

Sie sah fernhin, mit einem sonderbarlichen Leuchten der großgeöffneten Augen, daß die andern sie betrachten mußten, Lisabeth mit einer stillen Freudigkeit, aber Maria forschend und mit durchdringendem Ernst. Doch die Amtmännin seufzte: »Nun wohl, so es Gottes Wille ist; aber mit dem Bruder solltest noch reden, ehe du zusagst, mit dem Rudolf.«

»Das will ich, Mutter.« Anna erhob sich, und es war wie ein Jubel in der Stimme. »Heut noch will ich zu ihm hinaus; es darf nicht Nacht werden, ehe er mein Glück erfährt.«

Dann verließ sie rasch das Zimmer.

Drüben in ihrer Stube setzte sie sich in des Vaters Stuhl und las den Brief wieder und wieder, und aus den geliebten, langentbehrten Zügen kamen sie Erinnerungen an, mächtig, überwältigend, daß sie sich wieder in Braunfels vermeinte, in den hohen Räumen mit den tiefgründigen Bildern auf ernsten Wänden und den Ausblicken weithin über das sanftgewellte Land und das rauschende Gipfelmeer des unabsehbaren Waldes, daß sie wiederum die schmelzende Musik vernahm und der Marquise kluge anfeuernde Worte und daß sie allen Drang, alle Hoffnung und unbändige Zukunftsfreudigkeit des jungen Herzens wieder zu verspüren meinte, und die Freude kam über sie wie ein Taumel: Das alles nicht verloren, nicht dahin, nun kam es erst! Und alles erschien ihr wie eine wunderbare Fügung, und daß gerade jenes Maienbild, das, anders als alles, was sie früher geschaffen, nach langem Ringen wie eine kostbare Blüte aus der schwersten Zeit ihres Lebens herausgewachsen war, ihr nun das Glück brachte! Sie sprang auf und durchmaß mit freudigen Schritten ihr Zimmer und breitete die Arme aus, als ob sie etwas hätte umfangen wollen und ans Herz pressen, das nicht da war und das sie doch fühlte in jedem bebenden Nerv.

Da fiel ihr Blick auf Giulios Bildnis, das abseits, etwas im Schatten des großen Ofens hing. Einen Augenblick stutzte sie; dann trat sie herzu, nahm es rasch entschlossen vom Nagel und stellte es aus die Staffelei. Und im nächsten Augenblick stand sie auch schon mit Palette und Pinsel davor und zog mit fiebernden Händen all jene Linien, die sie in Gedanken schon tausendmal gezogen, und fügte jene Farben hinzu, die sie im Geist schon tausendmal aufgelegt hatte. Und langsam löste sich unter ihren schnellen Händen der verhüllende Schleier, die verweinten Augen erhielten Glanz, der verwaschne Mund Farbe, und als die kleine Glocke vom großen Münster her die Mittagsstunde verkündete, stand vor ihr ein klar vollendetes Mädchenbild, das jung und lebendig in die Welt blickte wie das Leben selbst.

Wie erschöpft sank Anna in ihren Stuhl zurück. Ihre Hände bebten, und das Herz klopfte stürmisch, als ob sie etwas Absonderliches, Verbotenes getan hätte. Aber als sie nun das fertige Werk betrachtete, war ihr, als ob sie nicht allein dieses Bild, sondern auch sich selbst von einem bösen Bann befreit hätte, von jenem Verhängnis, das bis dahin über all ihrem Tun und Wollen gestanden hatte, daß ihr nirgends ein Vollenden beschieden war, nirgends eine verläßliche Richtung oder ein fortgesetzter und zielvoller Weg.

Nun aber war es vorbei, und das Leben sah sie aus klaren und sichern Augen an, wie dieses erlöste Jugendbild.

Im Frühnachmittag verließ Anna das Haus, nicht ohne einen zärtlichen, fast ein wenig übermütigen Abschied von den andern.

»Wann's mir recht wohl gefällt bei dem Bruder,« rief sie noch von der Treppe zurück, »oder die Rosse auf dem Feld sind, daß er mich nicht heimführen kann, bleib ich vielleicht bis morgen: ihr könnt es als eine Vorübung nehmen für die große Trennung!« Und lachend sprang sie die Stufen hinunter mit leichten Füßen, daß die Amtmännin erstaunt aufhorchte. Solch lustiges Treppenrennen hatte sie lang nicht mehr vernommen, seit – ja, seit das Estherlein nicht mehr da war. Sie seufzte, und wiederum fiel es ihr schwer aufs Herz, wie es gewesen, heute vor vier Jahren.

Als Anna unten anlangte, hemmte sie den raschen Schritt und lauschte einen Augenblick dem lieblichen Gesang, der mit vielen unterschiedenen Stimmen hell und grad aus Elisabeths Schulstube drang. Es war Paul Gerhards herrliches Lied, dasselbe, das die Schwester in jenen Herzzerreißenden Tagen dem armen Johannes gesungen. Auch jetzt begleitete ihre schöne Stimme den jungen Chor; aber wie ganz anders das klang, als dazumal, so hell, so zuversichtlich, wie Lerchenjubel in der sonnigen Welt: »Befiehl du deine Wege ...« Anna nickte, ja, das war das große Geheimnis, dieser Glaube und die feste Zuversicht, was die Schwester zu ihrem stillen und unverbrüchlichen Glücke geführt hatte.

Langsam und schier andächtig erklomm sie die steile Napfgasse, begleitet von den Klängen dieses schönsten Liedes. Bevor sie aber nach der oberen Zäune umbog, blickte sie noch einmal zurück und nickte lächelnd zu dem Vaterhause hinab, das ihr aus ein paar Fenstern durch die enge Gasse nachsah: »Ja, grauer Mann, diesmal kannst mich nimmer halten, sieh, nun geh ich doch!« Dann wandte sie sich, und während sie der Stadtmauer zuging, fuhr es ihr beglückend durch den Sinn, wie friedlich und durchaus ruhevoll es nun geworden war in dem alten Haus und daß man ihrer nimmermehr bedurfte dort unten, dieweil jedes seinen Weg gefunden und inneres Begnügen. Auch an Heinrich mußte sie denken und an die Worte, die sie das letzte Mal von ihm gehört. Das war bei des Antony Klingler, des Antistes, Leichgang, da die Theologen alle besammelt wurden; aber des Bruders Gesicht hatte schlecht gepaßt zu dem Trauergerust, und seine Rede war wie Frohlocken: »Wir haben nicht nur einen Mann, wir haben eine Zeit ins Grab gelegt; nun kann es anders werden bei uns, ein frisch Leben regt sich allenthalben, und eins muß ich sagen: Trotz ihrem unklaren und oft auch unwahren Wesen, die Pietisten haben uns doch auch in etwas geholfen; sind wie die Maulwurf, so das Erdreich lockern, daß die junge Saat besser wurzeln kann! Aber lieber ist's mir schon, wenn ich nicht mithelfen muß bei dem lichtscheuen Werk und daß ich sein darf wie der Gärtner, der unter freiem Himmel schafft und an der Sonnen.« Und dabei hatte er selbst gestrahlt, also leuchteten Zuversicht und ein männlich fester Wille von seiner jungen Stirn.

Ja, auch er bedurfte ihrer nicht mehr, und ihre Zeit war gekommen.

Unter dem Lindentor blieb sie einen Augenblick stehn. Die Erinnerung übermannte sie, daß sie wieder spürte, wie sie vor vier Jahren hier gestanden, ebenfalls, wie sie dannzumal vermeinte, vor einer großen Reise und wie ihr Herz gleichermaßen geklopft vor Erwartung und Hoffnung, ach, und wie es dann so anders geworden ... Aber sie schüttelte die Gespenster von sich ab. Die Welt sah heute anders aus als damalen, mit keinerlei gleißenden Dünsten und blendendem Sonnenlicht. Eine zarte Wolkendecke spannte sich weit oben über den Himmel, sodaß die Sonne nur als heller, farbig gerandeter Fleck hoch einherzog. Davon hatte die Erde ein mildes und beruhigtes Licht und eine schöne Klarheit bis in die Fernen hinein.

Mild und beruhigt und klar bis in die Fernen ...

Anna schritt rüstig fürbaß, vorbei am Friedhof, zu dem sie nur leise hinübergrüßte. Es war etwas in ihr, das sie vorwärts drängte und ihren Fuß beflügelte. Und während sie dahinwanderte, tranken ihre Blicke die klare Welt, und es kam ihr zu Sinn, wie anders ihr dieses Land erschienen zu den verschiedenen Zeiten ihres Lebens: Unermeßlich, als sie klein war, der helle See eine Welt, aber die Berge dahinter das Weltende. Und später, da alles wie verhangen war von grüngoldigen Schleiern, dahinter man ein unsägliches Glück vermutete, allenthalben ... Und wiederum, da waren diese selben Berge wie Mauern und wie ein toter Weg der See, daß sie sich eingesperrt vorkam und abgeschlossen von all dem, darnach sie verlangte. Aber dann waren sie plötzlich Freunde, gute, verläßliche Genossen des Glückes – und des Unglücks und Tröster, ach, so tapfere Tröster!

Heute jedoch war alles anders, und die Welt erschien ihr wie neu, befreit von Träumen und Seligkeiten und Schmerzen, unberührt, wie am ersten Tag, und sie vermeinte, sie zum ersten Mal klar mit klaren Augen zu sehn, wie sie war – tüchtig und wahr und notwendig, der Teil eines Ganzen, in sich selbst ein Ganzes... Heut, da sie vermeinte an ihrem Leben, dem vergangenen und zukünftigen, die einheitliche Richtung zu erkennen, sah sie auch in der vertrauten Welt zum ersten Mal die sinnvolle Schöpfung.

Als sie in das Birkenwäldchen einbog, blickte sie mit ruhigen Augen in die gelben Gipfel. Kein frech lockendes Gold lag heute in der Luft, nur ein schöner, gedämpfter Schein. Und sie fühlte wohlig, wie rasch und leicht sie schritt und wie leicht der Atem ging. War denn die, so einst mit müden Füßen und ach, so schwerem, schier brechendem Herzen unter den tiefen Ästen geschritten, wirklich sie gewesen? So frei war ihr nun, so leicht! Und sie spürte, was ihr die Brust mit diesem süßen Drange weitete, das war nicht bloß das Freiheitsgefühl des Ungebundenen, wohl aber dessen, der sich von Banden befreit. Ja, es hatte alles einen Sinn, und kein Weg führte zur Höhe, der nicht durch Qualen gegangen.

Auch am Holunderbusch schritt sie sicher und ungehemmten Fußes vorbei, und dann erschien auf einmal über den Obstbaumkronen das lustig umflatterte Taubenhaus, und als sie ganz nahe war, entdeckte sie am kleinen Fenster des aufgebauten Dachkämmerleins ihren Bruder, wie er, die Hausmütze auf dem perückenlosen Kopf, an einem seiner Vogelkäfige hantierte. Und wie sie ihn so sah, da kam die ganze Freude der Botschaft über sie, die sie zu bringen hatte, daß sie den Bruder anrief und lustig nach dem Fensterchen hinaufwinkte.

Rudolf blickte erstaunt hinaus und grüßte sie freudig wieder: »Ich komme gleich hinunter!«

Da sie aber schnell wie ein Kind nach dem Scheuertor lies: »Ich komme zu dir!« hörte sie, wie er ihr etwas nachrief, dringlich, wie eine Warnung, das sie jedoch nicht verstand: Kann's mir nachher sagen, dachte sie und huschte durch die dunkle Scheuer und über den steilen Treppensteg empor; da riß Rudolf oben das Knattertürlein auf und rief es noch einmal, und nun verstand sie es auch: »Gib acht, das Geländer, zu oberst!« Aber im selben Augenblick ging ihr die dünne Treppenlehne aus der Hand, und haltlos stürzte sie in die Tiefe.

*

Rot, so rot – aber das waren ja die Feuerblumen, ach, ein ganzes Meer, weithin bis zum Wald hinüber.

Anna legte sich auf den Rücken, und die roten Blumen hingen über ihr: »So sollt man sie beschauen, wann der Blauhimmel durch die rote Seide der Blätter scheint. Oh, sie ist mir doch die liebste unter allen Blumen.«

Aber Sibylla schüttelte den Kopf: »Nein, sie ist heiß und herb, und sie riecht wie ein Totes!« Und dann nahm sie einen dicken Kranz und legte ihn um die Stirn.

»Das kannst du nicht,« sagte Anna, »denn dein Haar ist weiß.« Aber Sibylla lächelte und nickte nach dem Wald hinüber, und dort stand Giulio und wollte auch lächeln und nicken; doch es ging nicht, eine breite Schramme lief ihm mitten durchs Gesicht, und viel Blut rann heraus, und wenn man recht sah, ja, da war es wohl das Blut, das die Blumen alle so rot machte.

Christoph legte den Kopf in die Hand und sang:

»Wie ein Schaum aus wilder Flut,
Die die Wind erheben,
Wie der Rauch von einer Glut ...«

Und dann hatte Anna plötzlich Sibyllas Kranz auf der Stirn, und da spürte sie, daß es nicht Blumen waren, wohl aber Feuer und Glut, und sie wollte ihn herunterreißen; aber sie konnte es nicht, denn sie hatte ja keine Hände mehr, und auch die Füße waren weg, und alles, nur noch der Kopf, und der war in lauter Feuer. Und auf einmal stand Lux da und lachte, so von der Seite her und mit der scharfen Nase in der Luft, und wies nach dem stumpfen Münsterturm hinüber: »Nun bekommt's doch noch einen Kopf, du, wann du hinüber fliegen kannst.«

Und dann war alles weg – nur mehr die rote Glut weithin, weithin ...

Anna öffnete die Augen, und immer noch sah sie in ein rotes Meer; aber das waren keine Blumen, nur die runden Scheibchen, die der Abendhimmel mit Rubinglanz füllte. Und da stand ja Frau Enneli mit dicken roten Augen und daneben Rudolf, ganz weiß, und suchte zu lächeln.

Wie war das nur?

Richtig, sie war ja gestürzt, ah, so grausam, als sie zu ihm wollte, um es ihm zu erzählen, das Große – und nun hatte man sie wohl da heraufgetragen in die Gästekammer.

Rudolf beugte sich über sie: »Wie geht's?«

Sie lächelte: »Ich glaub ganz gut, nur der Kopf brennt ein wenig, und am Rücken, grad unterm Hals, da ist eine Stelle, nicht größer denn die Spitze eines Fingers, von dort her kommt mir etwan ein Stich, aber nicht heftig, nur so wie ein heiß ziehend Brennen, und dann die Füß und die Händ, grad als ob sie mir abgefallen wären.«

Rudolf streichelte ihre Wangen: »Die sind dir wohl ein weniges entschlafen ob dem Sturz; mußt dich nur nicht bewegen, ganz still liegen, gelt?«

Aber die Pfarrerin brach in Tränen aus: »Hab ich's nicht immer gesagt! Mit denen Liebhabereien, den unnützen, und daß es noch einmal ein Unglück geb mit der gefährlichen Treppe! Grad so gut hätt's eins unsrer Kinder treffen können!« Und sie schluchzte hörbar.

Anna wandte sich an den Bruder: »Weißt, warum ich gekommen bin? Etwas zu berichten, etwas ganz Merkwürdigs!« Sie lächelte geheimnisvoll. »Weißt, nun wird es doch noch kommen, die Weite, und am End werd ich doch noch eine rechte Künstlerin und mein Leben ganz. Die Marquise – Ende Monats geh ich nach Paris!« Sie sah Rudolf erwartungsvoll an mit leuchtenden Augen. Der aber kehrte sich dem Fenster zu. »Freust dich denn nicht?« fragte sie enttäuscht.

»Wohl, wohl,« gab er matt zurück. »Aber nicht reden sollst jetzt, ganz still sein, hörst, bis der Wundarzt kommt. Ich hab Kuoni nach ihm geschickt mit dem Wagen.«

Anna gehorsamte. Sie schloß die Augen und ging mit einem feinen Lächeln den Bildern nach, die die Gedanken an den glückhaften Brief herausgeführt hatten; die Schmerzen waren fast gering geworden, und sie fühlte sich ganz leicht. Dann versuchte sie wieder zu sprechen: »Weißt, und Giulios Bild ist nun auch vollendet, hab mich lang nicht getraut, dieweil er es untersagt; aber zuletzt hab' ich begriffen: Selber muß man sich freimachen und am Schicksal schmieden. Und so wird nun alles vollendet werden, ganz und rund.«

Aber da sie sah, wie der Bruder ohne Antwort blieb, schwieg sie wieder.

Später kam der Wundarzt. Sie kannte den stattlichen alten Herrn von lange her. Schon den armen Johannes hatte er gepflegt und Lisabeth und den Vater. Als er eintrat, fuhr er sie gutmütig an: »Was macht Ihr da für Geschichten, Waserin! Für derlei Sprung seid Ihr doch zu klug, sollt man meinen, und zu alt!« und er setzte sich freundlich lächelnd an ihr Bett.

Er betastete die Stirne: »Der Verband sitzt gut, den lassen wir einstweilen, da hab ich nimmer nichts zu ändern,« sagte er befriedigt. Aber da er weiter untersuchte und zu jener Stelle kam unterhalb des Halses, war es plötzlich, als ob man ihm mit einer kalten Hand übers Gesicht gefahren wäre, daß er grau wurde und entstellt.

»Gebt mir eine Nadel,« wandte er sich an die Pfarrerin, und Anna sah mit Staunen, wie er das scharfe Ding auf ihren Arm richtete und hineinstach, erst behutsam, dann rascher, roher, tief, tief hinein und es zurückzog – Herrgott, sie sah es und spürte doch nichts, rein nichts, und auf einmal gingen ihre Augen auf, ganz weit und schreckhaft, und ihr war, als ob man ihr mit der großen Feldschlange vom Bollwerk droben mitten übers Herz führe, mitten übers Herz, daß es ihr einen langen wimmernden Schrei auspreßte.

Einen Augenblick war es ganz still; dann fragte sie mit leiser Stimme, schier flüsternd: »Ist es das Rückgrat?«

Der Arzt streichelte ihr die toten Hände: »Ihr seid immer ein tapferes Frauenzimmer gewesen, liebe Waserin, solches die Wahrheit ertrug, so will ich Euch auch jetzo nicht anlügen – ja, das ist wohl um etwas verletzt von dem Fall.«

Wiederum wurde es still, nur der Pfarrerin schlecht unterdrücktes Schluchzen ging kläglich durch den Raum.

Anna schloß die Augen. Ein grausiges Bild kam heraus, wie sie einst eine Katze gesehn, unten am Blarerturm, die war ganz starr, nur der Kopf lebte noch, und die grünen Augen blinzelten qualvoll; aber einer trat herzu: »Die hat das Grat gebrochen!« und nahm sie und warf sie in den Fluß.

Sie grub die Zähne in die Lippen; denn wiederum kam das Stöhnen. Und dann war es plötzlich eine wahnsinnige Angst, daß sie aufspringen wollte und mit übermenschlicher Kraft die Bande sprengen, die sie grauenvoll fesselten; aber bloß der Kopf bewegte sich, und davon zuckte ein heißer Schmerz über sie, alles andere blieb leblos und starr.

Da wußte sie es: Sie war schon eine halbe Tote, der ganze Leib vorausgestorben.

Sie preßte die Lider zusammen und wurde ganz still. Und dann drangen die Tränen heraus in großen Tropfen und liefen rechts und links übers Gesicht, in die Haare hinein und ins Kissen, und sie konnte ihnen nicht wehren – Nun war es gekommen, und so schön hätt es werden können – so schön ...

Als der Chirurgus aufbrach, sah sie ihn angstvoll an: »Meinen Leuten sollt Ihr nichts sagen vor der Nacht – morgen ist's früh genug.«

Später blieb sie mit dem Bruder allein. Der Abend war erloschen, und graue Schatten schweiften durch die Kammer. Rudolf beugte sich über die Kranke: »Soll ich dir etwas aus der Heiligen Schrift lesen?«

Sie öffnete die Augen groß: »Wo steht das Wort von dem weisen gütigen Gott, der keines seiner Geschöpfe abruft, ehe seine Zeit erfüllet?« Der Bruder schüttelte traurig den Kopf, aber Anna fuhr fort: »Heut vor vier Jahren, wenn es mir dannzumal geschehen war, Gott hätt' ich gedankt dafür; denn dann war es wohl ein Ende gewesen. Nun aber, da es wieder angefangen und mit so neuen und starken Wegen? So ist jetzt alles zerstört und sinnlos und ohne Ende – wie Giulios Bild – vorher.«

Der Pfarrer seufzte: »Was wissen wir, wann unsere Zeit erfüllt ist und ob es eine Erfüllung gibt, diesseits, ob das nicht alles nur Anfang und Beginn für eine andere Vollendung?«

Anna betrachtete ihn lange ernsthaft. Dann bat sie leise: »Aus des Apostels Brief an die Korinther, das Kapitel von der Liebe möcht ich hören ...«

Als der Bruder zu Ende gelesen, sah er, daß sie mit einem stillen Lächeln dalag, das wie eine Verklärung über das arme Gesicht ging. »Soll ich noch beten?« fragte er weich.

Aber sie wehrte ab: »Nein, nein, das ist genug, dieweil es alles ist ... Oh, wann wir nur wüßten, wie so ganz alles es ist; aber wir sehen jetzt durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort.«

Und wieder das seltsame Lächeln.

Dann wurde es totenstill in der Kammer. Anna schloß die Augen und suchte nachzudenken über das, was gewesen. Und da geschah es, daß sie ihr Leben sah, anders als bis anhin; denn zwischen all dem scheinbar Zerstückelten und Sinnlosen entdeckte sie einzelne Punkte, hell und leuchtend wie kleine Sterne. Sie wuchsen und erhoben sich und verbanden sich zu einem leuchtenden, vollgerundeten Kranz, daneben alles andere in Dunkel und Nichts zerfiel. Aber die leuchtenden Punkte waren kleine, stille Erlebnisse, die sie einst für ein Nichts gewertet, derweil nun in nichts zerfiel, was sie einst groß und bedeutsam gemeint.

Jene aber bildeten den Kranz des Lebens ...

Ein stiller Sommerabend in der Kinderheimat, als sie allein geblieben draußen im Feld. Irgendwo sang eine verspätete Grille, und die letzten Schwälbchen suchten ihr Nest. Der Himmel war ganz durchsichtig; aber zufernst im Westen stand ein kleiner Stern, und er wurde heller und zitterte, daß es war wie ein Winken – sie aber warf sich in den weißen duftenden Klee und drückte ihr Gesicht in die feuchten Blätter, dieweil das Herz ihr zerspringen wollte – und wußte nicht warum.

Und ein ander Mal in Bern, da war sie heimlich aufgestanden, ganz früh vor Tag, und in den Garten hinuntergeschlichen. Die Welt war still und reglos, nur Amseln sangen leise und inbrünstig, und die schwarzen Segler gingen durch den zarten Himmel, ganz oben, und kreisten und verschwanden, und über die Gartenwege glitten die kleinen roten und schwarzen Schnecken zwischen weinenden Gräsern durch. Aber die Brust war still wie die Luft und das Herz weit wie die Welt und ohne Wünsche und ohne Schmerz.

Und wieder – ein Novembertag und nebelschwere Gassen. Menschenschatten huschten vorbei und gingen unter – fröstelnd und allein; aber auf einmal kam eine Helligkeit durch den Nebel und spann Goldfäden über die Straße, daß die Mauern hell wurden, und ferne Türme glänzten und wollten sich auflösen in lauter Licht und Duft ... Oh, die Gewalt des Lichtes, und wie die Seele sich aufschwang ... Und wiederum ... und wiederum ... Die Bilder reihten sich süß und ergreifend und hehr, all jene Augenblicke, da sie irgendwie den Zusammenhang gefühlt mit dem, was nicht menschlich war, und da sie selber mit ihrer kleinen Welt untergegangen in Ansehung der großen und allgemeinen – und es waren die einsamen Augenblicke, wo kein Mensch darin war, und die stillen, da Hand und Geist ruhten.

Wo war nun ein Anfang und wo ein Ende? Aber das Ziel allgegenwärtig ...

Als Anna die Augen wieder öffnete, war ein großes Leuchten darin und ein fremder Glanz, der den Bruder erschreckte: »Rudolf,« sagte sie leise, und ihre Stimme bebte, »es ist alles anders, alles ganz anders – so groß und so klein ... Oh, wann ich's dir sagen könnt!«

Sie suchte nach Worten; aber da war es, als ob eine Riesenhand ihr nach der Brust griffe und sie zusammendrückte, daß der Atem stehen blieb und dann bang und kurz durch die Lippen flatterte, und ihre Augen wurden qualvoll und weit.

Aber als es nachließ, kam wiederum der seltsame Glanz: »Weißt du,« flüsterte sie geheimnisvoll, »damalen, als die große Sonnenfinsternis war und der Schrecken kam über die Leut, daß sie Lichter anzündeten mitts am Tag und auf die Knie fielen und die Weiber, die das Spinnen nimmer sahen auf den Straßen, liefen davon und heulten – lauter Angst und Wirre – Aber auf einmal fingen die Amseln zu singen an, auf dem Lindenhof, alle zusammen zu ungewohnter Stunde und da man aufsah, war der Himmel weit und scheinend wie ein Amethyst ... So ist es, Bruder, wir sehen durch einen Spiegel in einem dunkeln Wort ... Wornach wir jagen und was wir fürchten, ist nichts, aber das Große liegt in der Stille ... Soviel Bangnis und Eifer, und ist doch alles gleich, wo wir aufhören und wann. Alles Ende ist Beginn, die Einkehr ins Ganze aber Sinn und Seligkeit... Denn Not und Glück des einzelnen gilt nicht, sondern allein das Ganze. Hörst, Bruder, das All-Ganze, das All-Gemeine nur ... Hörst du mich? Hörst du mich?«

»Ja,« antwortete er gepreßt; aber er hatte nicht gehört und nicht verstanden, er sah bloß, wie ihre Augen wieder bang wurden und der Atem kurz, und er dachte: Nun geht's an die Lunge, und darüber wollte ihm das Herz brechen.

Und dann kam es wiederum, stärker als das erste Mal, daß sie unter tausend Qualen rang und der Atem keuchte, und in all dem furchtbaren Kampf hatte nur das eine Wort mehr Raum: »Eng! Eng! So eng ...«

Und dann wollte auch das Herz nicht mehr.

*

Als die brechende Dämmerung den ersten fahlen Schein über die Erde warf, wanderte Pfarrer Rudolf Waser auf den nachtfeuchten Wegen Zürich zu. Die frühsten Bauern, die ihn vorübergehen sahen, versunken und ohne Gruß, schauten ihm kopfsschüttelnd nach: »Der studiert an einem schweren Text,« und dann wandten sie sich wieder an ihre Arbeit.

Still und farblos lagen die kahlen Äcker und der See grau und trüb. Der Pfarrer sah in die verschattete Welt hinein. So arm, dachte er, so arm, wann das Licht fehlt, und mit neuem Schmerz kam es über ihn, was sie verloren diese Nacht, sie alle, und daß es auch für ihn grau geworden war und trüb. And wiederum wie in dieser furchtbaren Nacht, da er mit blutleeren Fingern die weißen Lider über die geliebten Augen gelegt, empfand er es martervoll, wie alles Beste und Köstlichste in seinem Leben und alles Große und nach oben Gerichtete in seinem Sinn irgendwie mit diesem großen Herzen zusammengehangen hatte, das nun für immer stillstand.

Und da war die quälende Ahnung, daß sie an ihr gefehlt, nicht bloß Schlatter und das Estherlein, nein, sie alle – und wußte doch nicht recht wie und warum.

Aber dann stand die Stadt vor ihm, grau und hoch vor dem grauen Himmel, und die dunkeln Tore gähnten schwarz wie Rachen beutegieriger Tiere. Und dieses Bild rief einer frühen Erinnerung: Damalen, als sie von Rüti zurückkehrten, da hatte auch die Stadt so fahl und streng vor ihnen gestanden, und da hatte das Anneli plötzlich die Ärmchen um seinen Hals geworfen: »Rudi, da hinein, das kann ich nicht, so grau alles, so eng!« und die Tränen waren ihm aus den bangen Augen gestürzt.

»So eng!« Es war dasselbe Wort, das er diese Nacht zuletzt von ihr gehört. Und nun war es ihm, als ob er ihr ganzes Leben zwischen diese beiden Worte eingesperrt sähe wie in einem Ring, und es stieg ihm auf, wie sie immer nach der Weite verlangt hatte, früh schon, und dann, als sie wirklich hinausfuhren, selbander in die große Welt, wie alles neu an ihr wurde und größer, daß sie sich entfaltete, wie der Baum auf dem freien Felde, ja – und gestern, als er sie herankommen sah, war sie nicht leicht einhergegangen, wie beschwingt, und ihr Gesicht, wie es glänzte, da sie davon redete, daß es nun doch noch kommen würde, die Befreiung, ach, und lag doch schon arm und gebrochen da.

Der Friedhof schimmerte herüber, fahl mit den weißen Mauern im fahlen Licht ... Er zuckte zusammen. Dahin würde sie nun kommen, morgen schon, in den allerengsten Raum. Und plötzlich war es ihm, als ob er die Schwester dort oben durch das Lindentor schreiten sähe, leicht beschwingt und die Augen voller Glanz, und sie lachte nach den strengen Türmen zurück, wie damalen, als sie selbander auszogen: » Valete, nun laß ich euch!« Aber die andern drohten: »Wart nur, wir lassen dich nicht!« Und da war der Totenhof und war eine fahle Riesenhand und streckte sich nach ihr aus und packte sie, und war eine Totenhand: »Dich lassen wir nicht ...«

Er fuhr sich über die trüben Augen. Die Stirn war schweißbedeckt, ihn fröstelte, und wie er langsam über den Graben schritt, strauchelte sein Fuß, daß er sich am Brückengeländer halten mußte.

Da hub im großen Münster drüben die Morgenglocke an, erst dünn und klagend und dann schier eilig. Der Pfarrer atmete tief auf. Dann faltete er die Hände und schritt durchs Lindentor ins graue Halblicht der engen Gäßlein, gesenkten Hauptes – und sah es nicht, wie im Osten das junge Licht herausbrach, still und ohne Gepränge. Mit weißem Schimmer durchdrang es Himmel und Erde, verschmolz das Getrennte, und was hart war und eng, löste sich in der milden Glorie seiner allumfassenden Versöhnung.


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