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III. Die grüne Grotte

Eines Morgens legte Anna mit einem Seufzer den Pinsel aus der Hand: »Lukas, Lux, könnt Ihr mir raten; ich weiß mir nimmer zu helfen!« Sie lehnte sich im Stuhl zurück und schaute betrübt auf ihr begonnenes Werk. Es war der Entwurf für ihre erste größere Komposition nach einem Thema, das Herr Werner ihr gestellt hatte: Numa Pompilius in der Grotte der Nymphe Egeria. Bereits standen die beiden Gestalten auf dem Papier, klar und sauber, in feinen Umrißlinien, Numa recht in der Art und Kleidung der römischen Könige, wie Anna sie von Herrn Morells Münzen her kannte, die Nymphe in langem Haar und leichten Gewändern in der Manier des Guido, einer Wernerschen Diana ähnlich. Aber die Grotte, ach, das wollte nicht herauskommen.

Lux erhob sich von seinem Radiertisch und stellte sich vor das Bildchen. »So jedenfalls sieht eine Grotte nicht aus,« sagte er bedenklich; »die Steine sind aus Pappe.«

»Nicht wahr!« Anna seufzte noch einmal und legte die Hände entmutigt in den Schoß. »Aber was kann ich tun? Ich weiß überhaupt nicht, wie eine Grotte aussieht.«

»Halt eine anschauen, eine gemalte oder eine rechte.«

»Unter des Meisters Blättern hab' ich nichts gefunden.«

»Und wenn ich Euch eine zeigte, eine richtige?« Ein spitzbübisches Lächeln ging durch sein Gesicht.

Anna sah ihn ungläubig an: »Ihr? Eine richtige Grotte? Und wo in aller Welt?«

»Ein wenig weit schon, über den Gurten müßten wir.«

»Und Ihr wolltet mitkommen, von der Arbeit weg?«

»Ich sollt' schon lang eine Ahornetüde machen. Ahorn gibt's dorten auch, da komm ich schon auf meine Rechnung.«

Eine halbe Stunde später machten sie sich auf den Weg.

»Das ist recht, daß Ihr mal an die Luft geht!« hatte Herr Werner ausgerufen, als die beiden mit dem ungewöhnlichen Plan herausrückten. »Ihr, Anna, habt ungefähr zu glänzige Augen, Ihr macht sie Euch noch krank, und der Sommer ist bald vorbei, und habt vor lauter Eifer ihn nicht gesehen.« Er bedauerte, daß er nicht selbst mitkommen könne, da wieder so ein Brief aus Berlin eingetroffen sei, der baldige und reichlich erwogene Antwort erheische.

Mit leichtem Malgerät und einer kleinen Provision Mittagsbrot, das alles Lux sich auf den Rücken schnallte, zogen sie aus.

Jenseits der Aare führte sie ein schmaler Pfad zwischen Stoppelfeldern aufwärts dem Walde zu. Die Luft wogte von Sonne und feinem Summen, und aus den nackten strohgelben Feldern rings stiegen warme Wellen und ein zartes Zirpen auf. Wie ganz anders atmete es sich hier, in der großen freien Weite, als unten zwischen den festen Türmen und engen Mauern der Stadt, die, vom weißen Dunst ihres übeln Atems umschleiert, sich immer tiefer zu den Füßen der tapfer Aufwärtsschreitenden duckte.

Im Walde empfing sie noch morgendlich feuchte Kühle. Anna pflückte ein Taumantelblatt, das bis zum Rande mit silbernen Tropfen gefüllt am Wege stand, und hob es an den Mund. »Glück und Kraft zur Wanderschaft!« Rasch tat es ihr Lukas nach, und während jedes sein Tröpflein nippte, sahen sie sich über den fein gezackten silbernen Saum des Blattes weg lachend in die Augen.

»So taten wir als Kinder jeweilen,« sagte Anna im Weiterschreiten.

»Auch wir wollen heut Kinder sein, dann ist die Welt erst recht schön. Wollt Ihr?«

»Gut, Ihr nicht der spöttische und saure Lux.«

»Und Ihr nicht die stolze, abweisende Anna.«

»Früher wart Ihr doch recht unerträglich, Lux.«

»Und jetzt?«

»Etwas weniger!«

»Wann ich Euch früher so hätte lachen sehen wie jetzt, Anna; aber Ihr wart so klug, so unjung, so – ehrgeizig.«

»Und Ihr?«

»Ich nicht minder; aber eben deshalb!«

Sie kamen in eine Waldlichtung. Mit tiefem Summen lag das Waldweben über tausend blaßroten Blüten der Weidenröschen, und Samenflämmchen flogen silbern durch die Luft. Der Boden war warm, und es roch nach Harz und sonnengekochten Heidelbeeren. Anna blieb stehen. Starke Erinnerungen ergriffen sie bei diesem Duft und Anblick, und sie fing an, Lukas von ihrer Kinderheimat in Rüti zu erzählen, und dabei wurde sie froh und lebendig wie ein wirkliches Kind. Und Lukas ging darauf ein und erzählte seinerseits von seiner Heimat, dem Städtchen am Eingang des Oberlandes mit seinem alten Schloß und herrlichen See, und von den Bergen, die er so sehr liebte, und von Alpenrosenfeldern, die sich breiteten wie diese Waldlichtung hier, nur herrlicher, mit glühendem Not und einem solchen kühlen, würzigen Duft. Anna lauschte voll Staunen. Niemals hatte sie den kargen Lux so reden gehört. Es tönte anders als bei Giulio, gewiß; nicht in vollen und blühenden Worten, die einen umfingen wie Musik und berauschten und entrückten. Die Sätze formten sich knapp in Lukas' festem kleinem Mund und folgten sich fast zögernd; aber immer fand er den träfen Ausdruck, und aus seiner abgewogenen Rede flossen die Bilder nicht minder farbig und reich denn aus Giulios süßen, zündenden Tiraden. Anna betrachtete den Erzähler verstohlen von der Seite. Er ging mit leise vorgebeugtem Kopf, die grünen Augen niederwärts mit einem merkwürdigen heißen und doch klaren Blick, als ob er nach innen schaute, und seine Stimme hatte einen eigenen Ton, spröde, ein wenig klirrend. Anna mußte beim Klang dieser Stimme an Gletscherbäche denken, die spärlich fließen und Eis mit sich führen und feines schieferndes Geröll. Und dann erinnerte er sie wieder an jene knorrigen Bergtannen, die einsam stehen, irgendwo auf einem steilen Felsen, wo die Luft kalt ist und rauh und der Boden karg, und die solch zähen Willen haben und wetterhart sind und stolz. Und hatte er nicht auch etwas von den Gemsen an sich, von denen er eben erzählte, mit den geschickten Füßen, den kleinen festen Köpfen und den großen Augen, die so klar waren und so scharf?

So scharf!

Auch heut noch, da sie doch als gute Freunde nebeneinander gingen, waren ihr diese Augen oft fast unheimlich, und wann ein schmaler Pfad sie zwang, hintereinander zu gehen, war ihr immer, als ob sie die Blicke des Nachfolgenden auf sich fühlte, wie etwas Heißes, schier Lähmendes. Deshalb trat sie, als nun der Weg wiederum in üppigem Unterholz sich verlor, rasch hinter ihn: »Diesmal geht Ihr voran.«

Er gehorchte mit einem eigentümlichen Lächeln. Die Zweige schlugen immer enger über ihnen zusammen, sodaß sie sich förmlich durcharbeiten mußten. Lukas faßte jeweils die vorwitzigsten und gab sie Anna in die Hand, damit sie nicht zurückschnellen konnten. Einmal berührten sich ihre Finger.

»Was habt Ihr kalte Hände, Anna!«

»Und die Euern sind warm wie Öfelein,« gab sie lachend zurück.

»Wohlan, Ofen sind da, um zu wärmen!« Schnell haschte er ihre Rechte und zog dann auch die Linke nach. Anna wehrte sich: »Ich habe nicht kalt!« Aber er preßte die beiden weißen Hände mit solcher Gewalt zwischen seine festen Finger, daß an ein Entrinnen nicht zu denken war.

»Oh, habt Ihr gewaltsame Tatzen und heiß!« Anna lachte, dann aber fühlte sie, wie eine starte, seltsame Wärme über ihre Finger schlug und langsam nach der Handwurzel kroch. Und nun ging es plötzlich wie in einer glühenden Welle über den ganzen Körper und zog ihr das Herz in einem schmerzhaften Krampf zusammen, daß ihr der Atem verging.

In diesem Augenblick ließ Lukas ihre Hände los, jäh, als ob er sich daran gebrannt hätte. Anna sah ihn erschreckt an. Sein Gesicht war verändert, blaß, mit verschatteten Augen.

»Wie kann man auch, kalte Hände bei der Hitze,« sagte er rauh, schier zürnend; »das kommt von Euerm unsinnigen Leben, taugt eben doch nicht für das Frauenzimmer!« Langsam wandte er sich und schritt schwerfällig voran und bohrte den gesenkten Kopf durch das Buschgewirr, ohne die Hände zu gebrauchen, sodaß ihm die Zweige von links und rechts ins Gesicht schlugen, und ohne sich nach Anna umzusehen, die sich tapfer durchs Dickicht arbeitete.

So war es lange ein stummes Wandern, auch dann noch, als das Gestrüpp sie entließ und ein ernstgeschlossener Tannenwald mit feuchtem Moosgeruch und kühlen dunkelgrünen Lichtern sie aufnahm; denn hier konnte man erst recht nicht sprechen, in dieser feierlichen Ruhe, die sich erhaben und süß und mit einer wohltuenden Frische um die heißen Schläfen legte.

Wie köstlich es sich wanderte über den weichen Grund hin mit kühl gebetteten Füßen und mit dem würzigen Tannenduft in der Brust. Ach, und irgendwo sang ein Pirol, weich und klar und mit dem gleichen goldenen Schmelz in der Stimme, den die verlorenen Sonnenlichter über die dunkeln Mooskissen warfen. Wie man es da auf einmal fühlte, mit einem holden, freudigen Schreck, was es heißt, jung sein und das Leben noch vor sich haben mit seinen dunkelgrünen Geheimnissen und güldenen Verheißungen, und was es heißt, selbander jung sein und den Widerschein der eigenen Gefühle im Auge des andern lesen!

Sie gingen wieder nebeneinander. Bald auf gemeinsamem Pfade, nahegerückt, daß ihre Arme sich berührten, bald auf verzweigten Weglein, die zwischen den schlanken schuppigen Stämmen sich grüßten und suchten wie Menschen, die ein Wille demselben Ziele zutreibt.

Als der Tann sich schloß und ein alter Buchenstand mit heller Kuppel frohmütig sich auftat, blieben sie beide unwillkürlich stehen und blickten aufatmend noch einmal die verschatteten Pfade zurück, als ob diese etwas Wundersames umschlössen, irgendein süßes Geheimnis, von dem man nicht reden konnte und das doch die Brust füllte.

Der Buchenwald lehnte an eine nicht sehr hohe Felswand. Eine tiefe Spalte lief senkrecht durch das Gestein und öffnete sich unten zu einer weiten grottenähnlichen Höhle, in die von oben mit silbernen Schleiern ein kleiner Staubbach hereinfiel, der sich am Grund in einem klaren grünumwucherten Wässerlein sammelte.

Anna blieb überrascht stehen: »Da kann ich mir die Nymphe Egeria nicht vorstellen.«

»Ich denke auch nicht,« erwiderte Lukas mit verschmitztem Lächeln, »daß ihre Grotte so ausgesehen habe.«

»Aber warum führt Ihr mich alsdann her?« Anna blickte ihren Gefährten halb entrüstet an, aber er lachte weiter:

»Ist das etwa nicht schön und malenswert, Anna? Muß es denn jedenfalls das langweilige römische Frauenzimmer sein? Und gar der schwächliche König, der nicht auskommen kann ohne Weibesrat, was braucht Ihr den? Lohnt sich's nicht, diesen lieblichen Ort zu malen und um seinetwillen irgendein holdes Wesen zu erfinden, etwan eine jagdmüde Diana, die des kühlen Quells sich freut, oder eine blumenstreuende Flora oder gar Venus mit ihren Liebeskindern? Denkt, wie diese sich an der grünen Herrlichkeit aufs anmutigste delectiren würden!«

Es war wohl nichts dagegen zu sagen. Da war man nun, und die Gelegenheit war schön, das ließ sich nicht bestreiten. Das rötliche, feuchtglänzende Gestein und die seinen Wasserschleier vor der dunkelgrünen Höhle, in denen sich die Sonnenstrahlen siebenfarbig brachen, und gar die zarten, hellgrünen Zweiglein, die vom Felsen niederhingen – und dann die Farne rings und die großen dunkelblauen und weißen Glockenblumen, alles übersprüht von den glitzernden Wasserperlen und von zahllosen Schmetterlingen umspielt – ja, es war schön! Anna vergaß darüber die erste Enttäuschung. Rasch packte sie ihre Geräte aus, Papier und Reißblei und die kleinen Farben, und machte sich auf einem bequemen Steinblock zurecht. Und dann arbeitete sie, und alles um sie versank, was nicht zu dieser Arbeit gehörte. Auch Lux war nicht mehr da für sie. Was kümmerte es sie, daß er seine eigene Zeichnung bald aufgab, daß er unruhig hin- und wiederging, sich zuletzt neben sie aus den Boden warf und sie unverwandt betrachtete? Sie sah nichts mehr als diese herben, feucht übertauten Felsen, diese Blätter und Blumen in ihrer verwirrenden Fülle und Formenpracht und ihr armes weißes Papier, auf dem sie all das festhalten wollte, irgend in einer Weise, daß der Abglanz von jener Schönheit dort bleiben konnte.

Nur ungern ließ sie sich stören, als Lukas das kleine Mittagsbrot hervorbrachte, und erst als die Schatten länger wurden und mählich ein violetter Schimmer in die Bläue des Himmels drang, legte sie mit einem Seufzer die Sachen zusammen. Sie war noch lange nicht fertig; aber Lux lachte sie aus: als ob das möglich wäre in so kurzer Zeit! Er bewunderte ihre Arbeit, gegen die er als ganzen Erfolg der vielen Stunden nur ein kleines Bildchen zu halten hatte, einen Profilriß, in dem Anna unschwer sich selbst erkannte.

»Wir müssen eben wiederkommen, morgen oder übermorgen!« Und er schaute Anna mit fröhlichen Augen an. In einem nahen Bauernhaus, das am Bächlein zwischen mächtigem Huflattich am Waldrand unfern der Höhle lag, gaben sie ihre Geräte ab, um sie fürs nächste Mal nicht hin- und wiederschleppen zu müssen; dann zogen sie auf einem kleinen Umweg, der sie um Tannenwald und Dickicht herumführte, der Waldlichtung zu, von wo der Pfad steil und gerade durch das erste Waldstück stadtwärts lief.

Am Waldausgang blieben sie einen Augenblick stehen und blickten nach der Stadt hinunter, deren spitze Zinnen rot aufleuchteten. Lukas wies auf den Taumantel zu ihren Füßen, der nun leer mit trockenen müden Blättern dastand. »Und nun hat er uns Glück gebracht oder nicht?«

Anna sah ihn froh an: »Es war ein schöner Tag Lux, ich dank' Euch dafür!« Dann reichten sie sich die Hände, die warm und kräftig ineinander griffen und liefen wie zwei frohe Kinder Hand in Hand über die abendlichen Felder hinunter der Stadt zu: »Morgen gehen wir wieder!« Und der rot dampfende Abendhimmel warf einen leuchtenden Schein in ihre jungen Gesichter.

Aber über Nacht verdichtete sich der rote Abenddunst zu einer schwerhängenden Wolkendecke, die auf lange hinaus so reichlichen Regen spendete, daß an ein Aufsuchen der Grotte nicht mehr zu denken war.

Und dann kam Sibylla zurück. Sie brachte ein schönes welsches Bäschen mit sich, das sie wie ein höheres Wesen anbetete; alles andere und auch die Schmerzen der Vergangenheit schienen vor dieser Schwärmerei in den Hintergrund zu treten. Anna kam sich recht abgesetzt vor in ihrer Freundschaft, was sie indes nicht sonderlich betrübte. Im Gegenteil, das frohe und laute Wesen der hübschen Französin, die unter einem herrlichen, schier frechen Goldhaar ein feines mutwilliges Gesichtlein und allerlei fröhliche und ausgelassene Einfälle trug, zog so ganz alle Aufmerksamkeit und alles Leben an sich, daß Anna umso ruhiger sich und ihren innersten Gefühlen leben konnte, und dazu hatte sie gerade in dieser Zeit ein niegekanntes Verlangen.

*

Bereits waren die ersten mattglänzenden Septembertage erschienen, und ein leiser wehmütiger Hauch lag in der Luft, wie von Welken und Abschiednehmen, als Anna und Lukas endlich ihr unterbrochenes Werk bei der grünen Grotte wieder aufnehmen konnten. Diesmal waren sie nicht allein. Christoph und die beiden Mädchen waren auch von der Partie, und im letzten Augenblick hatte sich noch der junge Morell ihnen angeschlossen, der, seiner Studien wegen in Bern verblieben, seit Sibyllas Rückkehr ein steter Gast im Wernerschen Hause war. So kam es, daß der Wald diesmal von fröhlichem Geplauder und manchem übermütigen Lachen widerhallte. Nach und nach blieben Anna und Lukas zurück, und als sie durchs Dickicht gedrungen waren, fanden sie sich durch den ganzen tiefen Tann von den andern getrennt, die in neckischem Spiel über die dunkeln Wege davongejagt waren und nun allbereits den hellen Buchenwald erreicht hatten. Einen Augenblick blieben die beiden stehen; dann griff Lukas verstohlen nach Annas Hand:

»Du Liebes, du, wie schade, daß wir nicht allein sein können!«

Aber Anna lächelte: »Es ist auch so schön, Lux, wir sehen uns ja und kennen eins des andern Gedanken, und die Erinnerungen, die nun reden ... Weißt, hier hat es eigentlich angefangen!«

Lukas preßte ihre Hand: »Für dich vielleicht, für mich viel früher.« Sie sah ihn mit glücklichen Augen an, und während sie stumm weiterschritten und ihre Hände in leisem Druck und Gegendruck redeten, dachte sie immer und immer wieder über das Wunderbare nach und wie es hatte kommen können, daß dieser Jüngling da ihr nun auf einmal so lieb geworden – wie ein Bruder und anders noch, vielleicht noch mehr, und daß diese Liebe etwas so Schönes und Helles war, wie der klare Himmel, von dessen Widerschein die ganze Welt leuchtet und das tiefste Wasser erstrahlt.

Vom Buchenwald her, dem sie sich langsam näherten, tönte der Französin reizendes Lachen. Lukas fuhr zusammen. »Daß die mitmußten mit ihrer lauten Fröhlichkeit und dem exagerierten Tun! Ah, ich möcht' mit dir allein sein!«

Aber Anna schüttelte den Kopf: »Ich bin so vergnügt, daß Sibylle wieder froh ist – und dann – es ist schön neben der lauten Lustbarkeit unsere stille Freude, von der keiner weiß.«

Lukas sah ihr ganz nahe in die Augen: »Möchtest du nicht allein sein mit mir, ganz allein auf einer menschenleeren Alp oder auf einer Insel im weiten Meer?« Sie schaute ihn erstaunt an; es war etwas Heißes in seinem Blick, das ihr langsam das Blut in die Wangen trieb. Rasch löste sie ihre Finger aus seiner Hand: »Unsere Freundschaft ist schön und klar wie der Tag und darf sich dem hellen Tag und allen zeigen.« Und leichtfüßig durchschritt sie die letzten Tannenreihen, die sie vom Buchenwald trennten.

Vor der Grotte erwartete sie ein seltsames Schauspiel. Da der von herbstlichen Nebeln feuchte Waldboden den Mädchen keinen günstigen Sitz bot, hatte die Französin kurzweg angeordnet, daß die Kavaliere ihre Mäntelchen auf den Boden spreiteten als Teppich für die Demoisellen, und hatte ihnen als Entgelt dafür gestattet, sich dermaßen zu lagern, daß sie ihre Häupter im Schoß der Schönen betten konnten, und während der junge Morell sein blasses Gesicht selig und errötend in Sibyllas himmelblaues Kleid drückte, zog die rasche Französin Christophs widerstrebenden Flammenkopf in die Falten ihres blaßfarbenen Gewandes, ihm zugleich für seinen Mangel an Galanterie einen leisen Nasenstüber verabfolgend, so daß er sich lachend fügte.

Der Anblick war Anna peinlich, und als sie nun von allen Seiten aufgefordert wurde, dem Beispiel der andern zu folgen, und Lukas sie fragend und dringlich anblickte, warf sie hochmütig den Kopf zurück: »Ihr habt vergessen, daß wir gekommen sind um zu arbeiten.« Dann holte sie mit Lukas vom Bauernhaus herüber ihr Gerät, das unversehrt war, aber einen starken Geruch von Kuhstall und Käse an sich trug, den Anna nicht ohne Rührung wahrnahm, schlug ihr doch mit diesem Duft ein ganzer Schwall lieber Erinnerungen aus ihren Rüti-Kindertagen entgegen. Sie machte sich ans Werk, und mit Staunen betrachtete sie ihre frühere Skizze. Sie war besser, als sie geglaubt hatte, und ach, wie lieb sie das Blatt ansah! Ob wohl einer fühlte, was alles darin stand für sie?

Lukas sah ihr über die Schulter: »Es ist schön,« sagte er leise, und da wußte sie, daß es auch zu ihm dasselbe sprach. Wie köstlich war das, dieses Verstehen ohne Worte! Es wurde ihr jubelnd leicht ums Herz, während sie nun aufmerksam und voll Eifer ihre Arbeit fortsetzte und ergänzte, und wiederum versank die Welt davor, sodaß sie all das übermütige Treiben um sich nicht mehr gewahrte. Nur dieses Gefühl blieb ihr wie eine leise innige Melodie und führte ihre Hand, daß sie sicher und kühn wie in einer Bezauberung den Stift führte. Einmal trat die Französin vor die Grotte und suchte in einem Becherchen den niederfallenden Wasserstrahl aufzufassen. Zuerst war Anna unwillig aufgefahren, als ihr das Mädchen so plötzlich in den Blick trat; dann aber sah sie überrascht hin: Wie wundervoll das Gold des Haares vor der dunkeln Höhle stand und wie lebhaft die herbstlich geröteten Blätter der niederfallenden Ahornzweige ihm antworteten, und überhaupt die ganze reizende Gestalt im blassen Kleid zwischen den halberloschenen Glockenblumen! Das war schön – schön! Schöner konnte die Nymphe Egeria nicht sein. Anna durchzuckte es: Ja, das war das Bild, das sie malen mußte. Eine Reihe von Schäferstücken schwebte ihr vor, die sie bei Herrn Werner gesehen; so etwas sollte es werden. Sie rief dem Mädchen zu, daß es sich eine Zeit lang ruhig verhielte, und dann zog sie ein neues Blatt hervor und ließ mit flinken Fingern das Blei darüber gleiten.

Noch nie hatte sie so gezeichnet! Jeder Strich saß, und mit fast wunderbarer Schnelligkeit und Kraft wuchs die Skizze unter ihren Händen hervor, die das entzückende Bild dort festhielt.

»Du zauberst, Anna!« Lukas beugte sich über sie, während sie mit dem Farbstift die nötigen Töne aussetzte.

»Das macht wohl das Glück,« antwortete sie leise und ohne aufzublicken. »Alles geht nun so leicht, ich meine, alles muß mir gelingen, das Glück macht hellsehend.«

»Mich nicht,« antwortete Lukas dumpf. »Ich sehe nur eines mehr, und davor vergeht mir die ganze Welt. Schließlich werde ich noch ein rechter Stümper.« Er lachte kurz und zerriß jäh das Skizzenblatt, auf das er ein paar mühsame Formen hingezeichnet hatte, in hundert Fetzen.

Früher als voriges Mal verließen sie den Ort. Die beiden Mädchen, denen das lange Verweilen an derselben Stelle langweilig wurde, drängten zum Aufbruch. Der Abstieg gestaltete sich wiederum zu einem fröhlichen Spiel, in das nun auch Anna und Lux hineingezogen wurden. Auf einer kleinen eichenumbuschten Kanzel über dem Wald rastete die Gesellschaft noch einmal. Der Blick über das Aaretal tat sich vor ihnen auf und zeigte das weite Land von den Alpen bis zum fernhin verklingenden Jura silbernübergossen vom matten Glanz des sinkenden Septembertages. Und ernst, mit tiefen Schatten zwischen blitzenden Zinnen lag die gedrängte, fest umschlossene Stadt in dem stillen Glänzen da, mächtig und kraftvoll wie die Alpen drüben in ihrer gesammelten Größe.

Anna lehnte sich an den Stamm einer Eiche, die etwas erhöht über dem Känzelein stand, und blickte in das herrliche Bild. So vertraut alles und doch neu, als ob sie es heute mit andern Augen sähe. Oder war es, weil sie die Kraft, die diese Landschaft ausströmte, wie keine andere, in den eigenen jungen Gliedern fühlte, daß ihr heute alles so anders vorkam? Sie suchte die geliebten Orte, das Gärtchen an der Junkerngasse, wo Giulio seine Lieder gesungen, und den Obstgarten, wo sie mit Herrn Morell die reichen Stunden verlebt hatte. Soviel Schönes schon vorüber, und doch konnte sie ohne Schmerz daran denken, heute schien ihr ja alles nur wie Vorspiel. Sie sah nach der Jungfrau hinüber, die mit bläulichen Schatten fast schemenhaft dastand, aber hoch, übermächtig hoch. Herrn Werners Wort fiel ihr ein. Ja, wie war es nun, war sie vielleicht kleiner geworden, weil dieses Große über sie gekommen? Sie lächelte. Nein, nein, stärker bloß und freier; es war wie bei einer Pflanze, die man an die Sonne gestellt: auf einmal werden die Blätter dunkelgrün und glänzend und groß, und die Knospen brechen auf. Ja, so war ihr, als ob sie höher wüchse über alles hinaus, und sie grüßte still zu der schimmernden weißen Riesin hinüber, als ob sie sich schwesterlich verstünden.

Die andern jagten in einem improvisierten Fangspiel durch den steilen Hohlweg hinunter, der rasch im Walde versank. Sie sah ihnen nach, als ob sie das nichts anginge, immer noch betrachtete sie das herrliche Bild.

Da tauchte in der Öffnung des Hohlweges Lukas wieder auf: »Den Weg hinunter tollen sie, schon weit. Wir sind allein, Anna.« Er stand dicht vor ihr, sein Gesicht war erregt, die Augen fieberten. »Die andern fangen sich und halten sich mit Armen; Anna, sei lieb, nur ein einziges Mal küsse mich!« Er umfaßte mit heißen Händen ihre kühlen Arme und suchte sie an sich zu ziehen; aber Anna befreite sich mit einer raschen Bewegung und eilte nach der andern Seite der Kanzel, wo sie mit abwehrenden Händen stehen blieb:

»Wann du das noch einmal tust, Lukas, dann ist alles fertig!« Sie zitterte, und ihre Augen standen dunkel in dem weißen Gesicht. Lukas, der ihr zuerst nachgeeilt war, blieb stehen; dann stampfte er zornig den Boden: »Oh, du bist kalt, kalt wie keine andere, du hast kein Herz, du weißt nicht, was Liebe ist!«

»Liebe?« Anna sah ihn innig an. »Liebe, oh, etwas so Schönes, etwas so Großes, viel zu herrlich, als daß das andere daran rührt, das Gemeine, das alles herunterzieht!«

»Gemein?« Lukas sah düster vor sich hin mit dem alten bösen Spottlächeln. »Und doch hat sich eine gewisse Jungfer an einem Neujahrstag von einem gewissen Herrn Morell küssen lassen.«

»Schäm dich, Lux!« Anna richtete sich zornig hoch auf. »Herr Morell ist mir wie ein Vater; aber das hier, wann's geschehen wär' – häßlich, häßlich! Verachten müßt' ich dich!«

»So?« Lukas lachte hart heraus. »Verachten? Willst mir's am Ende machen wie dem Adam?«

»Was weißt du von Mörikofer?« Aus entsetzten Augen blickte sie den andern an. Der schien sich an ihrem Schreck zu weiden mit einer Art grausamer Freude. Dann lehnte er den Kopf an die Eiche und sah weit vor sich hin nach der Ferne und hub zu berichten an, mit einer gleichgültigen Stimme, als ob er ein Märlein erzählte:

»Dies weiß ich: Es war eine schwüle Maiennacht, der Föhn ging, und im Garten roch der Flieder. Da machte die Amsel, die im Holderbaum nistete, grad über der Mauer, auf einmal einen großen Lärm. Solches vernahm das Mägdlein droben in der Turmkammer, und weilen es so ein weich Herz hat, daß es keines Vögleins Angstruf hören kann, ohne ihm alsbald zur Hilf zu eilen, sprang es mitten in der Nacht die Treppen hinunter, bloß lützel angetan, mit kurzem Röcklein und offenen Haaren, daß sie hinter ihm her wehten gleich einem dunkeln Seidentuch. Und mit nackten Füßchen stieg's auf die Mauer – die standen zweien weißen Täubchen vergleichbar auf dem dunkeln Rand – und suchte nach der bösen Katz. Erst beim Nestchen im Holderbaum, und dann überall durch den Garten hin; da es aber nirgends was entdecken könnt' und die Amsel mit der Zeit sich auch heimfand und beruhigte, schlich es endlich wieder zurück ... Derweil aber hatte sich im Gartensaal einer versteckt, den der Föhn nimmer schlafen ließ; der lauerte dem Täubchen auf, und da es nun arglos an ihm vorbeihuschte, überfiel er es und griff nach ihm und wollt' es küssen. Aber sieh, da ward aus dem Täubchen ein wilder Falk, und der Räuber flog mitten in die Stube heraus, grad über sein lahm Bein, daß er kläglich am Boden lag. Und da wurd' das Mägdlein ganz groß: ›Morgen ist Freitag,‹ sagte es mit harter Stimme; ›wann Ihr am Sonntag noch da seid, vernimmt es der Meister!‹ Am Samstag ist dann der Adam verreist, und es hieß, sein Oheim hätt' ihn plötzlich zurückgerufen.«

Anna schlug die Hände vors Gesicht: »Oh, häßlich, häßlich!« Und dann besann sie sich: »Heiliger Himmel, woher weißt du das, Lux?«

Immer noch stand er mit abgewandten Augen da, sodaß sein scharfes Danteprofil mit harten Linien in die Luft stach; dann fuhr er fort im selben Tone: »Der Räuber, so die Amsel erschreckt, war keine Katz, war ein mutwilliger Junge, den es gelüstete, ein gewisses stolzes Fräulein aus dem Schlaf zu wecken; aber« – er zögerte und wandte sich dann plötzlich Anna zu, und etwas leuchtete in seinen Augen, und etwas bebte in der Stimme – »aber als du kamst, kein stolz Fräulein, ein lieb Dirnlein bloß, das die Barmherzigkeit trieb, dem armen Vogel zu helfen – ach, da gingen mir die Augen aus, daß ich dich sah, wie du bist, ein lieb schön Geschöpf wie andere Mägdlein auch, nur viel besser noch, und daß das nichts war mit dem fürnehmen und überheblichen Frauenzimmer. Schau, ganz nah warst mir, ich saß auf der Mauer im Efeu – und du grad neben mir ganz nah – die weißen Füßchen – und das Haar, schier mir ins Gesicht trug's der Wind – und das war der Föhn, ja, und mein Herz war auf einmal aufgesprungen wie der Fliederblust über Nacht – Und der Adam, getötet hätt' ich ihn, wann du dich nicht selbst so tapfer gewehrt!«

Ganz still war Anna dagestanden, mit gesenktem Kopf, und die Arme hingen ihr hernieder.

»Oh, wie ich mich schäme,« sagte sie leise wie unter einem Zittern, »das hättest du nicht sehen dürfen, du nicht!« Aber dann hob sie langsam das Gesicht: »Lux,« und es klang dringend, schier angstvoll, »das vorhin, weißt du nun, warum ich es nicht will, und daß dann alles, alles dahin sein müßte und zerstört? Oh, nichts Gemeines, nichts Häßliches nicht, ganz klar soll es sein, ganz hell!«

Lukas wollte ihr widersprechen; aber da er in ihr weißes Gesicht blickte mit den großen verschatteten Augen und schier schmerzhaft der rote Mund, erschien sie ihm auf einmal seltsam fremd, wie etwas Hohes und Unberührbares, dem man sich nur mit ehrerbietigen Gedanken und andächtigen Gefühlen nahen darf. »Ich will dir gehorsamen,« sagte er leise. Und dann reichten sie sich die Hände, stumm, wie zu einem Gelöbnis, und wortlos stiegen sie selbander den Hohlweg hinunter.

Ganz klar, ganz hell – ja, so war es nun allenthalben. Wie im Morgenduft die ganze Welt mit zarten leuchtenden Fernen. Und im Himmel ein Singen – oder war es in der eigenen Brust? – so leicht und schwingend wie Schwalbengezwitscher. Und wie ein Frühlingstag das Leben, wann die Luft blau ist und voll vom Harzgeruch der springenden Knospen und einem die Augen groß werden und die Hände frei, daß man tun möchte wie die schaffende Erde, die ihren Segen spendet unermeßlich. So schöpferisch, so gebend war auch Anna zumute. Niemals zuvor hatte sie so gearbeitet wie jetzt. War es nicht, als ob die Hände den Pinsel anders führten, sicher und leicht, und flossen ihr nicht die Bilder von selber zu? Und dieser neue Farbenauftrag, den Herr Werner eine staunenswerte Erfindung nannte, hatte sie ihn nicht an jenem Morgen zuerst angewandt, als sie Lukas' erstes Gedicht unter dem Elfenbeinplättchen ihrer Farbenschachtel gefunden? Da war es ihr auf einmal gekommen, daß sie die Farben ganz hell nehmen mußte, mit so feinen Übergängen, weich, weich, und da war auch plötzlich das Schmelzende drin gewesen, das ihre neuesten Bildchen wie mit einem fremden und eigenen Hauch überzog, der sie selbst entzückte. Ah, die Entdeckung, daß Lukas ein Dichter war, wie sie das berauschte und ihre eigene Liebe in ein höheres Licht setzte! Ihr selbst war diese Welt verschlossen. Alles wurde ihr zu Farben und Formen; umso mächtiger ergriffen sie die Töne, die von andern auf sie zuflossen. Und Lukas' Gedichte, das war kein wortreich Geschwätz, wie man solches nun allenthalben vernahm – die klangen wirklich, sie hatten Töne: oft metallisch und kurz, wie vom Hammer der Schmiede, wann die Funken sprühen, oder weich und leise wie ein Abendwind oder kühl wie das Plätschern des Kahnes, der mit langhinrauschenden Rudern durchs Wasser zieht. Oft waren sie herb und bitter wie Meister Erobs kühn geschleuderte Verse, oft süß und still wie die Lieder des Simon Dach. Und irgendwie sah ihr aus jedem ihr eigenes Bild entgegen, nur zart und fern wie unter einem Schleier, oder wie verklärt durch die Liebe des andern. Und da es nun immer von solchen Liedern in ihr klang wie von einer süßen, ewigen Melodie, war es zu verwundern, daß ihr die Arbeit glückte und daß die Farben weich wurden und schmelzend? Schon dem Bilde mit der Nymphe Egeria hatte Herr Werner ungeschmälertes Lob gespendet, und mit heißer Freude hatte sie es Herrn Morell zugeeignet. Aber das andere, das Schäferbildchen, war doch noch etwas anderes geworden. Der ganze Waldzauber und das Glück ihrer jungen Liebe war da hineingegangen, sie wußte selber nicht wie, und sah sie nun mit feuchtschimmernden Augen daraus an. Halb im geheimen und ohne Wissen des Meisters hatte sie neben der respektabeln Egeria das Werklein geschaffen, mit Hilfe ihrer Skizzen und der zierlichen Französin, die ihr gerne den Prunk ihres Haares und die Linien des schlanken, leicht geschürzten Figürchens preisgab. Als Herr Werner das Bild sah, hatte er zuerst eine ganze Weile geschwiegen, und dann war er losgebrochen: » Ventre-saint-gris, was ist das, seid Ihr bei einem leichtfüßigen modischen Franzosen in die Lehr gegangen, daß Ihr so unwernerisch malt!« Aber dann hatte er doch geschmunzelt: »Verdammt nobel ist er, der Helgen, zum Donner, und gefallen wird er,« und hatte nachdenklich beigefügt: »Wunderlich, wunderlich, es ist, als ob gewisse Sachen in der Luft hingen und die Jugend darnach schnappen müßt ... Gut, daß Ihr bei Wernern ein tüchtig Fundament gelegt mit Zeichnen und ernsthaften Wissenschaften, Waserin, ansonst Euch solche Sprung gefährlich werden könnten!« Anna aber liebte dies Bildchen wie ihre Liebe, und neue Eingebungen gingen ihr davon aus und füllten ihre Phantasie mit Blumen und Sommerjubel, derweil draußen sachte der Winter niederging und die kurzgedrängten Tage sie zu doppeltem Fleiß anspornten.

Mit Lux war sie selten mehr allein. Christoph arbeitete ebenfalls unermüdlich und war die kurzen Tage und langen Abende im Atelier und in der lampenerhellten Zeichenkammer ihr steter Gefährte, bis man selbander in die Stube hinunterstieg, wo Anna sich neben Frau Werner und Sibylla ans Spinnrad setzte und man unter allgemeinem Geplauder die Schlafenszeit erwartete. Und Anna begehrte es nicht anders: hatte sie nicht Lukas' Gedichte, und konnten sie sich nicht mit Augen sagen, was für Christophs Ohren nicht bestimmt war? Daß man sich sah und verstand und sich eins dem andern nahe fühlte, was brauchte es mehr? Aber Lux schien anders zu denken. Eine merkwürdige Wildheit war oft an ihm, eine Spannung und Aufregung, die er nicht selten an Christoph ausließ. Was aber Anna am meisten auffiel und sie fast erschreckte – er arbeitete ungleich, zerstörte oft das eben Geschaffene oder gab ein angefangenes Werk mit leichtsinnigen oder düstern Worten wieder aus. Und als sie ihn einmal voller Besorgnis zur Rede gestellt, hatte er ihre beiden Hände genommen und sie gedrückt, so fest, daß sie hätte schreien mögen, und dann hatte er seltsam gelacht mit gequälten Augen: »Zeig einem Verdürstenden den Quell: Sieh, da sprudelt er, ganz nah und so hell und kühl, schad' nur, daß ein Abgrund dich davon trennt! Und dann wundre dich, wann die Qual ihn zu Boden wirft! Verstehst nicht, daß ich's nicht aushalten kann so?«

Aber bald darauf konnt' er wieder froh sein und etwas ganz Liebes sagen, das so schlimme und rätselhafte Worte auslöschte.

Einmal jedoch fiel auch Herrn Werner sein Gebaren auf: »Was ist mit dir, Stark, willst auf deine alten Tage ein Schindluder werden und Vaurien?« Da hatte Lux sich hoch aufgerichtet, und sein schmaler Dantekopf hatte einen fremden und harten Ausdruck angenommen:

»Weil ich keinen Atem mehr hab' und mir die Händ gebunden sind, Meister, kann ich nimmer schaffen; es ist mir zu eng hier!«

Und Herr Werner hatte ihn fast besorgt angeschaut: »'s ist wahr, lang bist nun dagewesen, ein wenig hinaus solltest, dann werden dir nachher die vier Wänd wieder besser behagen!« Und es fiel ihm ein, daß er einen Auftrag hätte an den ehrenwerten Herrn Lukas Hofmann, Goldschmied und Kunstliebenden zu Basel, den sollte ihm Lux ausrichten, daß er ein wenig an die Luft käme und unter Menschen. Mit Lebhaftigkeit ging dieser auf den Vorschlag ein, und so verreiste er denn kurz vor Weihnachten, Basel zu, um dem bekannten Kunsthändler ein paar neue Miniaturen Herrn Werners, Annas Schäferbildchen und seine eigene Radiererkunst anzubieten.

Kurz war der Abschied von Anna. Als sie am Morgen seiner Abreise ihr Stübchen verließ, stand er unten aus der kleinen Treppe: »Leb wohl, du, und denk an mich, ich komm' bald wieder!« Und dann nahm er plötzlich ihre Hand an den Mund und küßte sie ganz heiß, daß es beinahe war wie ein Biß, und dann stürzte er fort, und sie blieb in der dunkeln Ecke zurück, und das Herz war ihr schier stillgestanden vor Schreck, die Hand aber zitterte und brannte wie Feuer.

Da war es wohl, um dieses Feuer zu löschen, daß sie die Hand leise heraufnahm und ihre Lippen darauf drückte, bang und hastig, gerade dorthin, wo es so brannte. Aber das Brennen wollte lange nicht weichen und ging ihr lähmend über die Finger, daß sie oft mitten in der Arbeit den Pinsel weglegen und diese weiße Hand betrachten mußte, ob denn nicht ein Mal darauf stand, feuerrot und heiß.

Es war still geworden im Wernerschen Hause. Auch die Französin war ausgeflogen eines Morgens und hatte das fröhliche Lachen mit sich genommen, und den jungen Morell sah man nie mehr. »Er hat einmal auf Giulios Laute gespielt,« erzählte Sibylla; »da hab' ich gewußt, daß ich ihn nie lieben könnt', und hab' ihn weggeschickt.«

Die beiden Mädchen schlossen sich wieder enger zusammen. Sibylla redete von Giulio mehr denn je, und anders als früher, stiller und weichmütig, und Anna hörte ihr willig zu. Manches verstand sie nun besser, und oft meinte sie, daß jene von Lukas und ihrer Liebe redete, aber niemals sprach sie von sich. Wie eine Entheiligung wäre es ihr vorgekommen; nur wohl tat es ihr, aus Sibyllas Mund Dinge zu hören, die auch ihr Herz erfüllten; denn auch ihr Glück hatte durch die Abwesenheit des Geliebten etwas Wehmütiges bekommen. So gingen die Feiertage vorbei, still und ohne Klang, und dann, Ende Januar kam ein Brief aus Zürich, der Anna plötzlich aus ihren Geleisen sprengte.

Ein Unglück hatte ins Wasersche Haus eingeschlagen: Marias Bräutigam war gestorben, plötzlich und furchtbar. Anna wußte nicht wie, aber sie fühlte, daß etwas Grauenvolles hinter diesem Tod stand. Und nun fürchtete man für Maria, und auch die Mutter war krank: »woraus du wohl begreifen magst,« schrieb der Vater, »daß deine Anwesenheit hier vonnöten, weilen ein frischer Geist und hilfreiche Händ in unserem betrübten Haus, solches der Herr also geschlagen, wohl zu brauchen und andererseits deine Lehrzeit, die du also gut ausgenützet, nun füglich ihr Ende erreicht hat.« Und er nannte Fahrgelegenheit und Stunde der Abreise – sie lag drei Tage über die Ankunft des Briefes hinaus.

Anna war niedergeschmettert. So vieles sollte sie auf einmal fassen, wovon sie nicht eines begreifen konnte. Jacob Cramer tot, ausgelöscht, und nie mehr würde sie diesen merkwürdigen Mann mit den warmen gütigen Augen und dem bitteren Lächeln wiedersehen, der seit ihrer Kindheit der Gast des Hauses gewesen. Im Frühjahr noch hatte er sie hier besucht mit Rudolf zusammen. Wie sie alles wieder vor sich sah: Auf der Plattform standen sie zusammen und schauten nach den Alpen hinüber. Ihr war das Herz sehr von Giulios Tod und von allerlei Zweifeln, die in ihr schafften. Davon sagte sie etwas zu den beiden. Da sah sie ihr Schwager mit einem großen Blick an: »Tod, oh, das ist noch lang nicht das Schlimmste, selbst wenn er tausend Martern in sich trüge; aber leben, leben mit toten Kräften, im Sarg liegen mit steifen Gliedern und über sich das Himmelsblau sehen und das Herzblut fühlen und nicht herauskönnen – das ist Märtyrertum; was zählen daneben ein paar Stunden am Kreuz mit der Aussicht auf himmlischen Lohn?« Und als sie sich entsetzte ob solch unverständlicher und frevelhafter Rede, da lachte er plötzlich, bitter und hart, daß es ihr heute noch in den Ohren klang.

»Das begreift ihr wohl nicht, ihr beiden; du, Rudolf, trägst ja allbereits dein Pfarramt halb in der Tasche, und das Anneli ist heut schon ein verrühmt Maljüngferlein, und wäret doch noch zwei dumme Kindlein, da ich schon, ein fertiger Mann, tatenhungrig und mit der Braut an der Hand dem Leben entgegenzog! Und nun kann ich mich immer noch mit des Herrn Landvogts von Baden Schlingeln herumplagen, ein Präzeptorlein ohn Stand und Geld, und kann zusehen, wie meine Maria einsam vergeht, gleich einer müden Rose, so ihre Blätter niederlegt, eins ums andere, dem roten Abend zu Füßen ... Habt ihr nie vernommen, wie sie seufzen, solche Rosen, ganz leise, und jeder Seufzer heißt: Dahin, dahin, und der meinen Duft hätt' trinken sollen, war fern ... Und all das Elend warum? Weilen ich dem hochlöblichen Herrn Antony Klingler, euerm edeln Vetter und der Stadt ehrwürdigem Antistes einstmalen eine Wahrheit gesagt über seine dunkle und schwächliche Lehr, darinnen der Teufel und schwarzer Aberglauben mehr Macht haben denn Christus und sein helles Reich. Dafür müssen wir nun büßen, Maria und ich, vielleicht unser Leben lang.«

Wie peinlich waren Anna damals diese Worte gewesen. Aber heut ging ihr langsam ein Verständnis aus. Sie sah Maria vor sich, die stille, rätselhafte Maria mit dem müden weißen Gesicht und den roten, roten Lippen und den Augen, die so dunkel waren wie ihr Haar und in denen immer etwas Verhaltenes lag, ein Schmerz, eine Klage – oder eine Anklage? Man wußte es nicht, aber sie taten einem weh, und man wich ihnen aus.

Und dann war das andere, daß sie nun heim sollte, plötzlich, mitten aus der Arbeit heraus, und – Lukas war noch nicht zurück! Wie ein Alb drückte es ihr die Brust, und doch schämte sie sich dieser Regung. Hatte sie nicht einst davon geträumt, ein wenig Sonne und Frohmut heimzutragen in ihr ernstes Vaterhaus, und war das nun nicht die beste Gelegenheit dazu? Ungesäumt schrieb sie ihrem Vater, daß sie kommen werde, wie er es gewünscht, in dreien Tagen, und sie schrieb auch an Maria. Nur wenige Worte, aber aus dem Verstehen ihrer eigenen zarten Liebe heraus, so, daß sie ihr wohltun konnten. Auch die andern nahmen die Nachricht mit Bestürzung auf. Herr Werner murrte dagegen, daß man ihm seine Lehrjüngerin so plötzlich entreißen wollte; aber Frau Susanna begütigte ihn: »Daß es uns leid tut, unser lieb Töchterlein wegzugeben, das, Alter, darf nun nichts heißen. Jetzo gehört Anna heim, und all ihre Kunst müßt' ich verachten, wann sie ihre Kindespflicht darob vergessen wollte,« und sie küßte Anna unter Tränen. Auch Sibylla weinte heiß und unaufhörlich, während sie Anna beim Packen half, die mit wehem Herzen all die Zeugen dieser schönen und reichen Berner Zeit in nüchterne Bündel zusammenlegte, und als Giulios Bild an die Reihe kam, da quoll es auch ihr heiß aus den Augen: War am Ende nicht auch diese Berner Zeit unfertig und abgerissen, mußte vielleicht alles in ihrem Leben so sein, so ohne vollendende Spitze, abgebrochen und schmerzhaft?

Herr Werner aber tröstete sie: »Eure Zeit habt Ihr ausgenutzt wie kein anderes, und viel hätt' ich Euch nimmer zu sagen gehabt. Füglich könnt Ihr nun auf eigenen Füßen stehen, und Ihr habt Euch Eurer Kunst vor keinem zu schämen. Freilich, fertig ist der wahre Künstler nie und bleibet vielmehr immer ein Lehrjünger vor der Natur sowohl als vor der großen Kunst. Und eines bedürfet Ihr noch zuvörderst: Paris oder Italien – das sollt Ihr niemalen vergessen. Denn wenn ich Euch auch manches geben konnte und wohl, ohne überheblich Sprechen, mehr denn irgendeiner, die Welt konntet Ihr in Werners Malstube nicht sehen, und ohne sie kommt kein ganzer Künstler zustande.« Und noch eines hatte er ihr ans Herz zu legen: »Vergesset niemalen, daß die Kunst ein ganzes Herz will; wenn aber das Frauenzimmer einem Mannsbild darin Platz gibt, dann zieht sie alsobald aus, maßen ein Weibesherz zu eng, um beides zu fassen.« Anna erschrak zuerst über diese Worte; aber während er ihr von den Schicksalen so mancher Künstlerin erzählte, die in einer unglücklichen Leidenschaft oder einer glücklichen Ehe ihre Kraft verloren, von der unseligen Anna Rosa, die an der Eifersucht des Gatten kläglich zugrunde gegangen, von Properzia de' Rossi, die in ihrer Blüte am Liebesgram starb, und von Sibylla Merian, die erst nach der Auflösung der Ehe ihre künstlerische Kraft zurückgefunden, dachte sie an Lukas und wie unter ihrer Liebe auch ihre Kunst aufgeblüht war, und da schienen ihr Herrn Werners Worte wenig glaubhaft. Sollte es nicht Ausnahmen geben? Sollte sie nicht beides vereinen können, die große Liebe und die große Kunst? Oh, sie fühlte sich ja so stark, nichts war ihr mißlungen bis heute, warum sollte ihr nicht auch dieses Schwerste möglich sein?

Am Tag vor ihrer Abreise traf Lukas ein. Er kam frisch und aufgeräumt aus Basel zurück und voller Pläne. Herr Hofmann hatte ihn mitsamt seinen Anliegen aufs beste empfangen, hatte nicht allein Herrn Werners Miniaturen mit Jubel aufgenommen, sondern auch Annas Schäferbildchen mit großem Staunen und Bewunderung betrachtet, einen stattlichen Erlös dafür versprochen und mit viel Vergnügen sich den Namen der jungen Malerin gemerkt. Aber auch Lukas war nicht leer ausgegangen; vielmehr versprach sich Herr Hofmann von seinem neuen Ätzverfahren besten Erfolg und hatte sich deshalb des jungen Erfinders gleich versichert. Den sehr günstigen unterschriebenen Vertrag, der Lukas aus längere Zeit hinaus in Herrn Hofmanns Dienst stellte, legte jener dem erstaunten Herrn Werner nicht ohne Stolz vor: »Und das Schönste, mein neuer Dienst hält mich nicht etwan in Basel fest, sondern wird mich der Reihe nach durch alle großen Städte führen.«

Mit schmerzlichem Staunen gewahrte Anna, wie leicht jenem das Scheiden wurde, derweil ihr der Abschied so schwer auflag. Auch die Nachricht von Annas Abreise erschreckte ihn nicht sonderlich: »Da werd' auch ich nimmer lang zögern,« sagte er leise zu Anna; »denn dann ist nichts mehr, was mich hier hält.« Nur, daß sie so schnell ging, am andern Tage schon, das tat ihm leid. »So sehr hatte ich mich gefreut auf diese Tage.«

Die Abschiedsstimmung lag schwül wie mit schweren Flügeln über dem kleinen Kreis, als die paar Menschen, die, mehr als die Jahre des Zusammenseins, vereinte Arbeit, geteilte Freude und gemeinsam ertragenes Leid aneinander geschlossen hatten, am letzten Abend beisammen sahen.

»So, Kinder, da wären wir also am Ende, und sachte tröpfelt nun alls auseinander,« sagte Herr Werner mit schlecht verstelltem Humor und erzählte dann, daß auch er sich entschlossen habe, im Herbst mit seiner Familie nach Berlin überzusiedeln.

»Weiß der Himmel, wie's uns dort geht und ob der güldene Berg, den man mir verspricht, nicht am End als ein güldener Sarg sich erweiset; aber meine Freud hier hab' ich auch verloren, und etwas wagen muß man, wenn man nicht den Schimmel ins Gehirn kriegen will, solcher schließlich nicht allein unter ratsherrlichen Baretten gedeiht.«

»Ja, etwas wagen!« Lukas richtete sich hoch auf und reckte die langen Arme, daß die Muskeln hervorsprangen, und ein schneller, heißer Blick schoß zu Anna hinüber, die schweigend hinter ihrem Spinnrad saß. »Etwas wagen und hinein in den Wirbel und Kampf und Sturm, nur keine Stubenluft nicht und kein still Warten, sonsten muß man ersticken!«

Aber Christoph, der Anna gegenüber am Ofen saß, schüttelte trübsinnig seine Mähne: »Ich weiß nur, daß etwas aufhört; was nachher kommt, seh' ich nicht.«

»A bah,« – Frau Susanna wiegte den Kopf mit gutem Lächeln – »der Herrgott wird uns Sonnenschein geben und Regen, dort wie hier, verlaßt euch darauf; etwas Neues gibt's nicht, und jeder trägt seine alte Haut zu Grabe!«

Anna riß den Faden vom Nocken, daß es leise krachte; dann erhob sie sich und legte die volle Spule Frau Werner in die Hand: »Das ist nun wohl das Letzt, das ich Euch spinnen durfte.«

Frau Susanna betrachtete die regelmäßigen Fäden: »Fein, fein, genau und ohne Fehler, wie alles, das aus deiner Hand kommt, Anna. Die sollst behalten und zu etwas Besonderem aufheben – vielleicht an die erst Windel für dein erst Kindlein!« Sie lachte leise, aber Anna errötete und warf den Kopf zurück: »Oder zum Leinwat für das erst groß Bild, darin ich über die Miniatur hinausgehe.«

»Was zum Teufel,« rief Herr Werner erbost, »über die Miniatur hinaus! Ist das ein Wort für die Lehrjüngerin eines Josephus Werner?«

Aber Anna lachte begütigend: »Nur im Umfang, mein' ich, Meister, nur im Umfang! Ich hab' oft ordentlich ein Gelüste, einstens einen großen Pinsel zu führen mit schneller, weiter Hand, sonderlich, wann mir recht froh ums Herz ist oder – recht weh.« Gepreßt stieß sie das letzte Wort heraus, daß es fast wie ein Schmerzenslaut in einer plötzlichen Stille versank. Alle schwiegen und sahen Anna an, die schlank aufgerichtet mitten im Zimmer stand mit glänzenden, verwachten Augen.

Frau Susanna erfaßte ihre beiden Hände: »Was wird deine Mutter zu dir sagen, Kind! Du bist so anders geworden in den vier Jahren, größer und« – sie lächelte – »auch sonst anders. Eine starke große Tochter hat sie bekommen, die ihr helfen wird und das Leben verschönern.«

Anna drückte Frau Werners Hände: »Ja, ja, anders schon – oh, es war eine schöne Zeit hier, so schön! Ihr habt viel an mir getan, ihr alle; der Liebgott ...« Aber plötzlich stürzten ihr die Tränen in die Augen, daß sie mit einem erschreckten »Gutnacht!« aus dem Zimmer floh.

Und die andern lauschten ihr nach, wie sie mit flüchtigen Füßen die Treppe hinaufeilte. Keines sprach ein Wort. Herr Werner wandte sich ab und trommelte mit erregten Fingern gegen das Fenster, daß die runden Scheiben leise klirrten in ihren Bleirahmen, und aus der dunkeln Ecke des Zimmers drang Sibyllas Schluchzen herüber.

Frau Werner fuhr sich mit der kräftigen Hand über die Augen:

»Ja, ja, so ist's nun, dahin und vorüber! Weiß Gott, mir ist, als ob uns der gut Geist verließe mit dem Mädel. Doch ihre Leut können sie auch brauchen jetzt, nötiger als wir, und das geht nun allem vor.«

Aber Herr Werner drehte sich mit zornigem Gesicht in die Stube zurück: »Daß sie mir sie nur nicht erdrücken mit ihren häuslichen Sorgen, Parbleu, eine Sünd gegen die heilige Kunst wär's, eine blutige Sünd!«


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