Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Ein graugelber Oktobertag schlich in den Abend hinein. Unablässig fiel der feine frostige Regen, der den trüben Himmel auf die verweinte Stadt herunterzog, wusch den letzten Sommerstaub aus den Dachrinnen und legte gelbe Pfützen über das unebene Pflaster der Münstergasse. Anna stand am Fenster ihrer alten Malstube und sah dem Rinnsal dünner schmutziger Bächlein zu, die vom Brunnenturm her durch die steile Napfgasse herabschossen.
Trostlos, trostlos.
Sie schaute nach dem nahen Blarerturm hinüber, der sie anmaßend und unbequem anzublicken schien, wie so ein alter Seelsorger seinen einstigen Kommunikanten aufs Korn nimmt: Bist du auch noch der alte, hat dich die Welt da draußen nicht verderbet, kannst du fürder bestehen vor den scharfen Augen deines Lehrers? Anna lächelte trüb: Kannst du etwa bestehen, alter Griesgram? Hockst festgemauert zwischen hohen Häusern, über die dein Blick nicht hinausgeht, und dünkst dich etwas in deiner wohlgeborgenen Breitspurigkeit. Oh, ich habe andere gesehen, stolze tapfere Türm mit lustigen Mauerkronen, ragen in die freie Lust und schauen in die weite Welt hinaus und schützen und wehren und tun nicht wichtig wie du.
Seufzend wandte sie sich nach dem Zimmer zurück. Trostlos auch hier, kahl und unbewohnt der dunkle Raum, und in den tiefen Ecken saß schon die Nacht. Sie fröstelte. Die schweren Kleider hingen feucht an ihr herunter. Das kam von der schlimmen Reis' her; auch in den Wagen hinein war der emsige Regen gedrungen. Trockene Kleider taten not.
Sie schritt über den schmalen Gang nach der Kammer hinüber, die aus zwei niedrigen Fenstern über das enge Nebengäßchen auf das Dächergewirr der Nachbarhäuser sah. Zwei schlichte Betten standen hintereinander an der Längswand. Da würde sie von nun an schlafen, mit Elisabeth zusammen, damit sie nicht allein war in ihrer Not – die Arme.
Anna seufzte abermals und kniete dann zu dem schweren Koffer nieder, der am Fenster aus der weißen Diele stand. Sie schloß auf und schlug den Deckel zurück. Ein feiner Duft strömte ihr entgegen, der sich seltsam mit dem Dunst ihrer nassen Kleider mischte. Sie schloß die Augen und sog den süßen Wohlgeruch tiefatmend ein. Ah, wie alles wieder vor ihr stand: das hohe Gemach mit den ernsthaften Tiefen und den Bildern aus Purpur und Gold, und draußen der rote Abendhimmel weithin, weithin ... Und nun die Musik, müd, traurig und doch voll sehnender Sucht; wie die zarten Töne sich hintasteten, schmerzlich süß, und sich verloren, einer nach dem andern, wie kleine goldhaarige Prinzessinnen, die mit gedämpften Schritten über tiefe gelbe Teppiche wandeln und die kühlen Händ aufs Herz pressen, daß es nicht also klopfe, und die so traurige Augen haben und weiße Wangen und die Lippen so rot. Oh, man mußte weinen, wann man sie hörte, diese Töne – und dann auf einmal der durchsichtige Wohlgeruch, und auf der Stirn ein leiser Kuß und die warme herrliche Stimme: »Liebes Herz, so vieles ahnst du, wann du erst sehen wirst – und du sollst sehen ...«
Anna öffnete die Augen. Die kahle Kammer und ihre Kleider naß und mit einem dicken Geruch! Sie fror ... Vorbei, vorbei ...
Die Tür öffnete sich. Ein gemütlich rosiges Gesicht erschien. Anna sprang aus: »Esther!« Und dann mußte sie lachen, wie sie die runde Gestalt umfing und die prallen Wangen küßte; sie war noch behaglicher geworden, seit sie sie zum letzten Mal gesehen, die Schwester.
Auch die andere lachte: »Gut, daß du wieder da bist, altes Malheur. Oder muß ich nun wohl sagen: Hofmalheur?« Sie schob Anna von sich und betrachtete sie angelegentlich: »Potz Plunder, siehst du allamodisch aus mit deiner neuen Coiffüre!« Und sie zog die Schwester an den beiden Locken, die ihr aus den schweren Flechten hervor über die Schultern fielen: »Und wie das riecht herinnen, heilige Nägel, allweg wie in Salomonis Lied: Deiner Kleider Geruch ist wie der Geruch Libanon.«
»Das kommt von der Marquise, der französischen Dam, weißt, die auf Braunfels ist; als ich packte, hat sie mir ein klein Fläschchen von ihrem Parfüm dazugelegt – als ein Gedenken, wie sie sagte, bis ich sie wiederseh, dieweil nichts so sehr die Erinnerung reize wie der Geruch. Nun ist wohl ein Tröpflein ausgelaufen.« Sie wandte sich wieder dem Koffer zu und nahm sorgfältig die Kleider heraus.
Esther war ihr behilflich und betrachtete mit viel Vergnügen die mancherlei hübschen und neuen Dinge, die zutage kamen. Ein helles Seidenkleid, ein Paar bestickter Pantöffelchen, einen goldbetreßten Jagdhut und den winzigen Flacon legte sie apart. »Den Gerust da kannst allerdings beiseit' legen,« sagte sie lachend, »das verträgt sich nicht mit dem obrigkeitlichen Mandat, und auch das Wohlriechende fördersam aus den Kleidern lüften, ansonst ein hohe Nase Ärgernis darob nehmen könnte.«
Anna nickte seufzend: »Ja, ja, das fängt nun wieder an mit den Mandaten und der Strenge und all dem Eingetanen.« Sie nahm ein schlichtes Hauskleid zur Hand und begann sich umzuziehen. Esther betrachtete sie mitleidig: »Wärst wohl lieber dort geblieben, gelt? So plötzlich und mitten aus allem heraus und aus dem fürnehmen und schönen Leben in das Jammertal hier – kann's begreifen, du Armes.«
Aber Anna wehrte ab: »Nicht deshalb, das fürnehme Leben allein tut's nicht, und lauter Lustbarkeit war's auch nicht. Als das jung Gräflein starb vor einem Jahr, glaub's mir, es waren trübe und herzbrechende Zeiten; aber der starke und hochstrebende Geist, die vielen Liebhaber der Wissenschaft und Künst, so sich allda zusammenfinden, der Graf und Herr Morell und vor allem die Marquise – eine Kraft gab das, ein Fürsichkommen! Wann ich hätte bleiben dürfen, ein Weniges noch, mit meiner Malerei – leicht hätt' es gut werden können.«
Esther klopfte ihr begütigend die Wange: »Ist gut genug, ist lange gut genug, du verrühmtes Schwesterlein du; aber – was die Malerei angeht – in diesen Stücken wirst nun schon ein wenig bremsen müssen. Ist gar viel, was hier auf dich wartet, allenthalben bist nötig: im Haushalt – denn die Mutter, weißt ja schon, wie's ist, wann den andern was fehlt, fällt sie erst recht zusammen, und die Maria, die kann der Onkel nimmer missen, ist auch nicht jünger geworden, der Alte, und die Lisabeth, die hat doch nur für eins mehr Kopf. Und dann grad für die Lisabeth müssen wir dich haben, daß ihr helfen kannst, jetzt, und sie trösten, später, und dann etwan auch pflegen. Die wird doch krank nachher; derenweg hält sie's nimmer aus mit dem Ängsten und Beten und nicht Schlafen.«
Anna schrak leise zusammen: »Ich hab' nicht gewußt, daß es so schlimm steht um den Johannes. Als er von Herborn wegging, für eine Erholung sei's, meinten wir, und nun so.«
»O herrje,« erwiderte Esther mit einem betrübten Zug im wohligen Gesicht, »der macht nimmer lang. Nun hat er so rote Flecken bekommen aus den Wangen, und da tun sie sich wunder was darauf zugut und reden von Gesundwerden, und sind doch allweg nichts anders als Kirchhofsrosen, und kein Vierteljahr mehr werden die blühen. Aber den Glauben muß man ihnen lassen, Cramern und der Lisabeth, daß sie nicht gänzlich verzweifeln.«
Mit hilfreichen Händen heftete sie Anna, der unter den ruhigen Worten der Schwester ein Schauer um den andern über die kalte Haut ging, das Kleid zusammen; da entdeckte sie auf dem bloßen Hals eine Goldkette. »Eja,« rief sie entzückt, »ein gülden Kettemlein und gar mit einem Stein, einem katzgrünen! Wo hast dann das her?«
»Es ist ein Smaragd,« sagte Anna ernsthaft. »Ich trag' ihn immer aus mir; an meinem glücklichsten Tag hab' ich den erhalten, und er soll mir auch fürderhin Glück bringen, so es Gottes Wille.«
»So, so,« machte Esther vieldeutig und lachte Anna aus runden Augen erwartungsvoll an, »der glücklichste Tag? Kann man dir etwan gar felicitieren?«
Anna blickte einen Augenblick erstaunt, dann schüttelte sie lächelnd den Kopf: »Nicht so, wie du meinst, Esther, nicht so! Das Kettemlein hat mir der Graf umgehängt vor dem ganzen Hof und allen Gästen an dem Abend, allda ich mein erst groß Bild, solches die gräfliche Jagdgesellschaft auf einem Ausflug im Wald, an einem schönen und lustigen Wasser darstellt, vorzeigte. Und der Graf hat mir schöne und nachdrucksame Worte gesagt, und die Marquise ...« Sie brach leicht errötend ab, indes Esther enttäuscht seufzte:
»Ach so, das ist es – schade, ich hätt' mich so gefreut, wenn's das ander gewesen wäre. Für die Mutter vorab. Die hat in alle Wege bishero kein Glück gehabt mit ihren Töchtern. Als ich Dietschin nahm, hat es ihr fast das Herz abgedrückt, daß er ein simpler Hutmachermeister und nicht aus eurer patricischen Gesellschaft, und hat's als ein Unglück eracht', daß ich fürderhin eine Volante weniger an meinem Gerust haben sollt' als ihr. Dann kam das schandbarlich Unglück mit der Maria, und nun stirbt der Johannes auch weg, auf den sie doch ihr ganzen Stolz und Hoffnung gesetzt. Ich hätt' es ihr gönnen mögen, wenn sie nun noch eine lustige und standesmäßige Braut neben denen armen ledigen Wittiben hätte haben können. Und dir hätt' ich's auch wohl gönnen mögen. Schau, das mit deiner Kunst, das ist ja schon recht und mit dem Ruhm und Geldverdienen; aber das richtig, das wahr Glück für das Frauenzimmer liegt doch anderswo.« Und während sie selbander zur Wohnstube hinunterstiegen, erzählte sie voller Munterkeit von ihren Kindern, von dem Estherlein, das nun schon ein schön groß Dirnlein geworden, von den zwei Jüngsten, die Anna noch nicht gesehen, daß sie nun mit dem Margineli das erste halb Dutzend abgeschlossen hätten und sich allbereits freuten, ein neues anzufangen. Und Anna hörte zu mit aufeinander gepreßten Lippen und staunte, daß man das Leben so einfach nehmen konnte und so geruhsam, ohne das Grauen seiner Abgründe zu spüren oder nach dem Glanz seiner Höhen zu lechzen, und ihr war, als ob sie mit der dunkeln Treppe Schritt für Schritt in eine seiner trüben Tiefen hinabstiege und als ob mit dem feinen Duft, den sie oben zurückgelassen, das Lichte und Frohe gänzlich abgetan wäre.
Vor der Stubentüre trafen sie mit Elisabeth zusammen, die mit einem Weinkrug und dem Öllämpchen, darauf ein freies Flämmchen unruhig hin- und herflatterte, mühsam aus dem Keller herausgestiegen war. »Ach was, das ist doch viel zu schwer für dich, Mondscheinchen!« rief Esther mit gutmütigem Lachen, indem sie Lisabeth den Krug abnahm und ihn rasch auf das Büfett hineinstellte. Dann verabschiedete sie sich eilig und trollte die Treppe hinunter mit einer Behendigkeit, die man ihrer rundlichen Gestalt kaum zugetraut hätte.
Drinnen stellte Lisabeth ihr Lämpchen aus den Tisch, ihre schmale Hand zitterte von der Anstrengung des Tragens: »Fällt dir das so schwer?« fragte Anna erstaunt. »Wohl, schon ein wenig!« Sie lächelte verlegen. Aber dann schaute sie die Schwester vertrauensvoll an: »Nun bist du ja da, Anna, nun kann schon alles wieder gut werden.«
Sie ging hinaus, um die andern zum Abendbrot zu rufen. Anna blieb allein. In der großen Stube lag schon die Nacht, und nur das zuckende Lichtchen auf dem Tisch leckte in das schwere Dunkel hinein mit unruhigen, zackigen Strahlen, sodaß ein unheimliches Schattenspiel über die Wände ging und dem vertrauten Gemach einen fremden Schein gab. Die Zinngeräte aus dem Schenktisch schienen sich zu regen, und die alten Bilder an den Wänden hatten uneigentliche, verzerrte Züge. Hier und da aber, wann das Flämmchen ganz in sich zusammensank, wuchsen gewaltige Schatten aus dem Boden heraus und schlugen erstickend zusammen. Anna fuhr sich mit kalten Fingern über die Augen; ihr war, als ob dunkle Riesenhände nach ihr griffen, von allen Seiten: Nun fassen wir dich, nun halten wir dich, nun lassen wir dich nimmer ...
Da erschienen die andern unter der Türe, voran Sarah mit der großen Lampe, deren freundliches Licht alles wieder in die alte vertraute Anschauung rückte: die Zinnkrüge erhielten ihren steten Glanz, die Ahnenbilder zeigten wieder verläßliche Gesichter, und die Schatten sanken in die tiefen Ecken zurück und legten sich beschwichtigt unter den großen Tisch.
Man trat zum Abendgebet zusammen, und während des Vaters ruhige Worte in trockenem vertrautem Takt durch die Stube gingen, fühlte Anna, wie sie sich langsam wieder diesem stillen Kreis einfügte, untrennbar und unentrinnbar, als etwas Dazugehöriges, und ein tapferer Wille füllte ihr die Brust, als sie mit leisen Lippen den letzten Satz mitsprach: »Tröst uns in der Not, gib uns Stärke dazu und Kraft zu jeglichem guten Werk.«
Mit ruhigem, schier heiterem Sinn konnte sie am Mahl teilnehmen, das ihrer Rückkehr wegen um etwas festlicher gestaltet war als sonst, und nur, wann sie von Braunfels erzählen sollte, von Rudolf und dem Leben auf der Burg, da stieg wohl mit der lebendigen Erinnerung etwas Würgendes in ihr auf, und ihr Herz kämpfte wie im Gedanken an zu früh verlorenes Glück und zerstörte Hoffnung.
Indessen zeigte es sich, daß die Braunfelser Jahre mit ihrem freien und gesunden Leben in Anna nicht nur Wünsche geweckt und die Sehnsucht nach einem bedeutenderen, wirksameren Dasein, als die enge Heimat es ihr zu geben vermochte, sondern daß es auch einen gesunden Sinn in sie gelegt und sie gekräftigt hatte an Leib und Seele, sodaß sie, dem eigenen tapferen Willen gewachsen, mit tüchtiger Kraft die kommenden Zeiten auf sich nehmen konnte, die hunderterlei Arbeiten und Sorgen, die von allen Seiten auf sie fielen. Wo Elisabeths geschwächte Kräfte und der Mutter lahmer Wille nimmer ausreichten, da griff sie ein, trat der alten Sarah, die ihrer Arbeit nicht mehr gewachsen war und nun doch mit den jungen Mägden nicht auskam, hilfreich zur Seite, übernahm jene Schreibereien, die Elisabeth sonst für den Vater besorgt hatte, und wann die Schwester an ihrer Aussteuer schaffte, mit fiebriger Hast, als ob sie durch diese zielsichere Arbeit dem Schicksal hätte den Weg weisen können, dann war es wieder Anna, die mit geschickten Händen das Werk fördern half. Zuerst hatte sie noch gehofft, trotz all den Pflichten ihre Malerei nicht ganz aufgeben zu müssen; aber als sie einsah, daß die karge, schmerzlich unterbrochene Arbeit nicht gedeihen konnte, hatte sie eines Tages ihre Malstube abgeschlossen. »Das Heizen dort oben können wir uns ersparen,« hatte sie zu Sarah gesagt, leichthin, als ob es sich um ein kleines gehandelt hätte, und keiner ahnte, aus welch schmerzhaftem Kampf dieser Entschluß gestiegen war. Sie sahen nur ihren tapferen Arbeitsmut, der wie ein frischer Zug durch die trübe Luft ging und auch ihnen wieder Stärke gab und Vertrauen. Elisabeth blühte ein wenig auf und ward zuversichtlicher. Denn auch in Cramers Krankenstube, der bei seinem Vetter, dem Tischlermeister Kambli, drüben über der Limmat wohnte, hatte Anna etwas von ihrer jungen Kraft hineingetragen, sodaß der Kranke an ihrem klaren verläßlichen Wesen sich aufrichtete und wieder gläubige Händ nach dem Leben ausstreckte wie ein junger eingesunkener Weinstock, den des Gärtners Hand am festen Stab gehoben hat und der nun wieder mit verlangenden Ranken Luft und Sonne einsaugt.
Das waren seltsame Stunden, wann an den kurzen Winternachmittagen die beiden Schwestern selbander bei dem Kranken weilten, der, in feste Decken gehüllt, mit glänzenden Augen, fiebrigen Wangen und weißen abgezehrten Händen in seinem Lehnstuhl saß und mit leiser, etwas bebender Stimme von der Zukunft redete, von seiner persönlichen kleinen irdischen Zukunft und von der allgemeinen großen, ewigen. Drunten ging die Limmat vorbei mit ruhigem stetem Gemurmel und warf den Widerschein ihrer emsigen Wellen in silbernem Gekräusel an die helle Decke. Die beiden Mädchen stichelten mit flinken Fingern an Lisabeths Aussteuer: »Ich muß mich eilen, daß mir nicht zuvorkommst mit dem Gesundwerden,« sagte Lisabeth mit frohem Lächeln; »denn diesmal laß ich dich nimmer allein gehen. Wann ich dich hätt' pflegen können, gar nicht gekommen wär' er, der böse Husten.«
Und Johannes nickte: »Nun ist's schon gar nicht mehr so schlimm, und wann mich die Füße erst wieder tragen, dann sollst sehen, wie schnell es geht,« und er erzählte von Herborn und wie sie sich einrichten wollten, er und Elisabeth. Ach, und wie schön es werden sollte – wann es nur erst wieder ging mit seinen dummen schwachen Füßen.
Die Schwestern halfen bauen an des Kranken hoffnungsreichen Plänen und nickten ihm Beifall, mit gläubigen Augen Lisabeth und Anna mit einem ruhigen Lächeln, dem niemand die schmerzliche Bewegung des Innern anmerkte.
Oh, wie sie dieses weiße Linnen in ihrer Hand haßte, wie sie litt an dieser herausfordernden, ungeheuerlichen Arbeit! Oft war ihr, als ob sie eine fürchterliche Melodie in das Zeug hineinnähen müßte, die sich drohend am eintönigen Gang der Nadel abwickelte, immerzu, immerzu: Du nähst ein Totenhemd, du nähst ein Totenhemd ...
Und dazu Johannes' zukunftsfrohe, von kurzen trockenen Hustenstößen unterbrochene Erzählungen und Lisabeths zuversichtliches Geplauder – es war entsetzlich, entsetzlich! Einmal warf sie die Arbeit in plötzlichem Grauen von sich: »Ich bin eine schlechte Näherin, Lisabeth, ich hab' mich in den Finger gestochen!« Sie zwang sich zu einem Lachen und packte das Linnen zusammen, und dann erzählte sie mit hellen Worten hundert Dinge – lustige kleine Erinnerungen aus ihrer Berner Zeit, aus Braunfels, aus Rüti, was ihr gerade durch den Kopf fuhr, nur um einmal jene Reden abzubrechen, die ihr in die Seele schnitten, und die andern lauschten erstaunt und lachten und freuten sich und waren betrübt, als hinter dem Ütliberg hervor der rote Abend zum Aufbruch mahnte.
Cramer betrachtete Anna verwundert: »Ich hab' dich niemals so gesehen, so funkelnd; nun erst versteh' ich ein Wort des gräflichen Herrn, der dein Wesen einstmalen einem Bergwasser verglich, das zwar stille und klare Seelein bilde, darin man jedwedes Steinchen erkennt auf dem tiefen Grund, das aber hinwiederum wild und rätselhaft erscheinen könne, wann es als Wasserfall mit tausend Diamanten durch die Sonne springe.«
Anna lächelte wehmütig, wie immer, wann plötzlich Braunfelssche Erinnerungen erweckt wurden, und eine feine Röte fiel auf ihre Wangen, während sie abwehrte: »Davon weiß ich nichts, von denen Diamanten.«
Am andern Tag ließ sie ihre Näharbeit daheim und brachte dafür ihr Elfenbeinkästchen mit: »Ich will dich malen, Johannes; man muß dich nehmen, solang du still hältst; später, wann du erst wieder an der Arbeit bist, fängt dich doch keiner mehr ein.« Und während sie daran ging, mit scharf beobachtenden Augen und sicherer Hand die Züge des Kranken festzuhalten, kam eine schöne Ruhe und Befriedigung über sie, als ob sie durch diese Arbeit, anstatt das Schicksal herauszufordern, ihm mit leiser List etwas abzwingen könnte. Und ihr Werk, an dem sie in der folgenden Zeit ruhig und ohne Hast arbeitete, gedieh aufs beste, und derweil sie die Wangen des Kranken um ein kleines voller malte, als sie es in Wahrheit waren, und ihr fiebriges Rot milderte zu der schönen Farbe der Gesundheit, täuschte sie ihm selbst ein Bild der Genesung vor, daraus sein tapferes Herz neuen Lebensglauben schöpfte. Und einmal, als die Schwestern an einem sonnenfreudigen tüchtigen Jännertag sein Zimmer betraten, kam er ihnen auf unsicheren Füßen zur Tür entgegen. Anna erschrak und führte den Schwankenden zum Lehnstuhl zurück; aber während er in die Kissen sank und der klare Schweiß ihm aus der Stirne brach und über die zitternden Hände lief, lachte er mit einem kleinen spitzbübischen Lachen: »Das war der erste Schritt, nun geht's nimmer lang!« Und er streichelte wieder Lisabeths Wangen und küßte ihre schönen Augen, welche die Freude der Überraschung mit Tränen füllte.
An diesem Tage vollendete Anna mit plötzlich verschärfter Eile das Bildnis.
Als sie andern Tags wiederkehrten, trat ihnen die alte Magd, die dem verwitweten Vetter die Wirtschaft führte, mit verweinten Augen entgegen, und während Lisabeth rasch voranschritt, flüsterte sie Anna zu: »Jetzt ist's schlimm, schlimm, er hat einen Blutsturz gehabt, der arm Herr.«
In der Stube schlug ihnen eine unangenehme, drückende Luft entgegen; der Boden, der noch naß war vom Scheuern, strömte einen bangen, süßlichen Geruch aus. Johannes saß schneeweiß mit geschlossenen Augen im Lehnstuhl am Fenster. Neben ihm stand mit betrübtem, verdutztem Gesicht der alte Vetter, der beim Erscheinen der Mädchen alsbald im Nebenzimmer verschwand. Elisabeth kniete leise weinend neben dem Stuhl nieder und streichelte die durchsichtigen Hände des Kranken, der mit schmerzlichem Lächeln zu ihr niederblickte.
»Nicht weinen, Elisabeth,« sagte er mit schier unhörbarer Stimme; »schau, das ist ja gut, daß es heraus ist, das schlimme Blut, das hat mir eben den Husten gemacht. Nun wird's schon besser werden, nur etwas Geduld müssen wir haben, bis ich wieder stärker bin.« Aber Lisabeth weinte weiter, und auch aus dem Gesicht des Kranken wich nicht der wehe Zug.
Anna schob ihm ein festes Kissen in den Rücken und bettete ihn besser, sodaß der Kopf nicht also auf die eingesunkene Brust herunterfiel. Dann öffnete sie einen Augenblick das Fenster, daß mit der Sonne eine herbe kräftige Luft hereindrang und die schlechten Dünste vertrieb, und trocknete, so gut es ging, den Boden nach.
Und Johannes nickte zufrieden: »Nun ist mir schon wieder besser,« und sein Atem ging ruhiger und sicherer als zuvor. Auch Lisabeth beruhigte sich nach und nach; aber ihr Nähzeug nahm sie heute nicht hervor und auch die späteren Tage nicht, ob Johannes schon sich scheinbar wieder erholte.
Es war auf einmal alles anders geworden. Oft saßen sie nun alle stumm beieinander, Anna mit irgendeiner kleinen Beschäftigung, Lisabeth und Johannes untätig, mit verschlungenen Händen, lauschten dem gleichmäßigen Gang der Limmat und dem Rufen der Fischer, das von unten herausklang, und sahen den zitternden Lichtkringeln nach, die über die weiße Decke liefen, unablässig, unablässig. Oft auch sprach Johannes, nicht mehr von Plänen und Hoffnungen und Zukunft, wohl aber – mit stiller ferner Stimme – von den ewigen Dingen und letzten Fragen. Und die Mädchen hörten ihm zu, andächtig und atemlos, und Anna staunte über die reife Abgeklärtheit dieses jungen Geistes. Wie ganz anders brodelte und gärte es noch in Rudolfs heißem Kopf und – in ihrem eigenen Herzen. Und sie erschauerte im Gedanken, daß es kein Junger, Zukunftsberechtigter sei, der da also zu ihnen spreche, sondern ein Vollendeter.
Oft auch sang ihnen Elisabeth, und wann die alten lieben Lieder mit ihrer reinen morgenklaren Stimme durch den Raum gingen, konnte bisweilen ein köstliches, zeitloses Glück über die drei Menschen kommen, daß sie Schmerz und Bangen dieser Stunden darüber vergaßen.
Einmal wandte sich Johannes, der nach einer schlimmen Nacht erschöpft und kraftlos dalag und mit erschreckenden bläulichen Schatten im Gesicht, unvermittelt an Anna: »Das Lied vom Totensee möcht' ich hören, du weißt, das der unbekannte Sänger gesungen – damalen.«
Anna erschrak. Sie fürchtete sich vor diesem Lied, und dann – sie sang nicht gern, sie fürchtete sich vor ihrer eigenen Stimme, aus der oft ein unberechenbarer erbebender Klang wie aufwühlend herausbrach. »Euer Gesang,« hatte Giulio gesagt, »ist ein Rätsel; alles an Euch ist klar wie der hell Tag; aber wann Ihr singt, dann muß ich an einen schweren Sommerabend denken über dem Tal des Arno, wann rote und violette Dünste den Fluß herausziehen und die zuckenden Flämmchen der Feuerfliegen durch verschattete Büsche schweifen.« Sie schüttelte den Kopf: »Laß das, Johannes, es ist ein trauriges Lied, und ich habe eine unfrohe Stimme.«
Doch der andere beharrte darauf: »Weißt noch, wie wir's zuerst hörten? Wohl war es traurig, aber so schön!« Und er erzählte Lisabeth von einem Herbstabend in Braunfels, da sie selbander – Anna, Rudolf und er – mit den gräflichen Herrschaften unten an der Lahn durch einen Wald geritten, als sie plötzlich auf einen kleinen See trafen, der mit schwarzen, vom aufsteigenden Mond leise versilberten Wassern, worüber Tausende von kleinen Nachtfaltern schwebten, gar ernsthaft und andächtig ausgesehen habe, sodaß manch lustiger Mund verstummt sei. Und dann aus einmal sei vom andern Ufer ein Lied herübergekommen, so weh und mit solch trostlosem Schmerz vorgetragen, daß darob selbst des jungen Schaffhauser Pagen leichtsinnige Augen tränenfeucht geworden. Man hätte aber nachher vernommen, daß, der das Lied gesungen, ein armer fahrender Sänger gewesen, dem einstmalen an eben jenem See ein schlimmes Unglück zugestoßen sei, wovon ihm ein unstet Leben und verstörter Geist geblieben ... Und der Kranke bat neuerdings schier eigensinnig um das Lied.
Da holte Anna schweren Herzens des Schwagers Laute herbei, damit ihre Stimme sich nicht also allein und unbedeckt hervorwagen müßte, und sie sang:
Der Mond streicht über die Wälder,
Sein Licht ist weiß wie Schnee,
Es schimmern die weiten Felder,
Es zittert der tiefe See.
Die dunkeln Wellen trinken
Ein weißes Totengesicht.
Zwei Äuglein sah ich einst winken,
Nun ist erloschen ihr Licht.
Ein weiße Ros' ist zerflossen
Auf seiner schwarzen Flut –
Und wer nie Liebe genossen,
Weiß nicht, wie Leiden tut.
Auf seinen schwarzdunkeln Wetten
Viel weiße Falter ziehn –
An mir, einsamem Gesellen,
Armseelen vorüber fliehn ...
Mit heftiger Bewegung warf Anna die Laute auf den Tisch, wandte sich jäh zum Fenster und schaute mitten hinein in die sinkende Sonne, der der nahende Frühling schon ein scharfgelbes Licht verlieh. Es tat ihr wohl, sich die grellen Strahlen ins Aug brennen zu lassen, daß es schmerzte und daß sie, ins Zimmer zurückgewandt, wie eine Blinde nur das tolle Kreisen gelber und violetter Sonnen gewahrte. Als die Augen wieder klar waren, sah sie, wie die beiden sich in den Armen lagen mit einer großen und wehen Innigkeit, wie sie es noch nie an ihnen gesehen.
Später sagte Johannes: »Aus dem Lied hast dein Bild genommen, gelt?« und als Anna nickte, fuhr er fort: »Als ich's zuerst sah, kaum verstanden Hab' ich's, so fremd kam es mir vor: der schwarzrot See und dann die weißen Gestalten, wie sie heranschwebten zwischen den dunkeln Stämmen herfür und sich niederneigten zu der Flut, tief, tief, als ob sie etwas daraus herfürholen gewollt.«
»Eine Geschichte des Homer ist mir vorgekommen,« sagte Anna dawider. »Als ich die weißen Sommervögel sah, still und traurig, wie so kleine Seelen, und das dunkel Wasser darunter, worein das herbstlich Laub einen roten Schein warf, an die armen Seelen hab' ich denken müssen, die der Odysseus fand dort unten, und an das Blut, wie sie herbeischwärmten, so elend, so bleich, und es tranken voll Gier, daß ihnen das Erinnern wiederkomme an die Welt und das warme Leben – und so hab' ich's gemalt.«
»So was hat mir die Marquise gesagt, da sie mir's zeigete,« fuhr Johannes fort, »und dann beigefügt, daß es ein Meisterstück sei.«
Anna lächelte: »Wohl mein Bestes – und doch erst ein Anfang.« Sie seufzte und senkte den Kopf tief, daß die hängenden Locken ihr Gesicht und Blick verhüllten.
Es wurde ganz still in dem Gemach, daß jedes sein eigenes Herz klopfen hörte. Und dann, als es schon Zeit zum Gehen war: »Sing auch du mir noch ein Lied, Liebste,« bat Johannes. Und Elisabeth faltete die Hände und hub alsobald an des Paulus Gerhard herrliches Lied: »Befiehl du deine Wege ...«, und ihre Stimme war zart und duftig wie eine Kirschblüte und klar und durchsichtig wie ein Wintermorgen. Johannes schloß die Augen mit seligem Lächeln, und als sie zu Ende war: »Ei, hab' ich doch geglaubt, allbereits die lieben Engel zu hören im Paradeis,« flüsterte er. Er sah Elisabeth groß an und griff nach ihrer Hand: »Das sollst öfter tun, Liebste, recht viel singen und fürnehmlich dieses trostliche Lied – auch nachher, und sollst denken, daß ich's hör', auch dort, und daß wir allezeit beisammen.« Er lächelte: »Meine christliche Seele braucht kein Blut zu trinken, Elisabeth, um dich zu sehen. Allezeit werd' ich dich haben und wirst du spüren, daß unsere Liebe wohl in ein ander Gewand geschlüpft, aber daß sie nicht geringer geworden, nur reiner, nur größer noch durch Himmelsglanz und die göttliche Gnad.« Und Lisabeth nickte und lächelte unter Tränen.
Von nun an redeten sie immer davon, von dem Nachher. Johannes schier mit einer kleinen Ungeduld und Lisabeth still und ergeben. Anna sah mit Staunen, wie diese beiden Menschen mit einer fast seligen Ruhe alles Irdische von sich abtaten, gleich einem alten Kleid, und Leben und Menschlichkeit von ihrer grenzenlosen Liebe wie von einer großen läuternden Flamme gleichsam aufgezehrt wurden. Nichts hatte mehr Bestand als diese Liebe, die in der göttlichen sich aufzulösen schien und in der Zeitliches und Ewiges zusammenflossen. Wie klein kam sie sich auf einmal vor neben diesen beiden Menschen, denen sie vor kurzem noch mit ihrem gesunden Wesen Stärke und Halt gegeben hatte. Nun bedurften sie ihrer nimmer. Und so fern war sie ihnen aus einmal! Wann ihre Blicke durchs Fenster, das man bisweilen schon der stärkeren Sonne öffnen konnte, den grünen emsigen Wellen folgten und den federleichten Föhnwölkchen, die vom See heraus über das tiefe Blau strichen, wie sie da fühlte, daß sie mit hundert Fasern in dieser Welt wurzelte, mit hundert Hoffnungen und Forderungen, und sie vermeinte, ihr ungelebtes Leben zu fühlen wie etwas Starkes, Greifbares, und sein Ziel lag weit, und lang war der Weg.
Daß man so schlicht, mit solch frommer Ergebenheit sich zum Aufbruch rüsten und sein Liebstes dahingeben konnte, es war wie ein banges Wunder. Oft mitten in der Nacht, wann sie vom tiefen Schlaf, den die Mühen des Tages ihr auslegten, erwachte, hörte sie Lisabeths leises Beten; aber nicht wie früher, da sie um Genesung und Kraft des Geliebten gefleht hatte, ihr stilles Gebet ging um sein selig End. Und Anna fröstelte.
Aber einmal, als sie erwachte, sah sie die Schwester völlig angekleidet vor sich stehen mit weiten schreckhaften Augen: »Der Johannes, er hat mich gerufen, ich muß gehen.«
Anna sprang auf: »Kind, Kind, wohin denkst du!« Aber da wurde schon unten an der Haustür ein lautes Pochen vernehmlich.
Das Haus ward lebendig. Der Amtmann öffnete. Vor der Tür stand der Tischlermeister Kambli, und der rote Schein seiner Laterne fiel trübsinnig in den schwarzen Hausgang. »Die Jungfer Elisabeth soll ich holen, mit Verlaub,« sagte er mürrisch; »Cramer schickt mich, es geht zum Letzten mit ihm.« Und stumm, ohne Klagen folgten Vater und Tochter dem roten Schein, der mit ängstlichem Flackern die steile Schoffelgasse hinunterhuschte.
Anna blieb zurück bei der Mutter, die ihrem Schmerz verzweifelten Ausdruck gab: »Nichts bleibt mir erspart, alles kommt über mich und meine armen Kinder! Die Lisabeth, die arme Lisabeth! So gefreut hab' ich mich über den Johannes, und nun so!« Und sie weinte hilflos und aufgelöst wie ein tiefgekränktes Kind. Anna suchte sie zu beschwichtigen mit lieben ruhigen Worten, als ob sie zu einem Kleinen spräche, und sorgte sich um sie wie um ein Krankes, und derweil ihr selbst das Herz hämmerte vor Jammer und Grauen, legte sie neues Feuer an im Ofen und braute ein Teelein aus Lindenblust, daß es der Mutter wohler wurde, und dann holte sie die Heilige Schrift und las daraus, und die ewigen, trostreichen Worte, solche sie oft aus Johannes' Mund vernommen mit gläubigem und frohem Klang, legten sich beschwichtigend auf ihr eigenes Herz und brachten auch der Mutter Beruhigung, daß sie schließlich überwältigt von Erschöpfung und Schmerz einschlief.
Da erschien Heinrich. Er hatte gerötete Wangen, aber frostblaue Hände und zitterte vor Kälte. »Wo kommst du her, Bub?« rief Anna erschreckt, und während sie seine eisigen Hände rieb und ihn in die warme Ofenecke zog, flüsterte er, und es war ein glückliches Leuchten in seinen Augen:
»Ich hab' ihn gesehen, den Johannes; jetzt grad ist er zum Himmel gefahren.«
Anna ließ erschreckt seine Hände sinken: »Was sagst du, bist nicht bei Trost!« Aber er fuhr fort in demselben geheimnisvollen Ton:
»Vom Dach aus hab' ich hinuntergeschaut, immer nach des Kambli Haus, immer nach seinem Haus, und aus einmal hab' ich den Schein gesehen, einen weißen Schein; von dem Haus kam er und stieg hinaus geradwegs in den Himmel, und sah ich wohl, daß es kein gewöhnlich Licht war, wohl aber des guten Johannes ewige Seel.« Er schwieg einen Augenblick, dann lachte er vor sich hin: »Freuen wird sie sich, die Lisabeth; nun weiß sie ganz gewiß, daß er die Seligkeit gefunden.«
Anna sah den Bruder besorgt an. Einen rechten Kummer machte er einem, der Bub, aufgeschossen und zart, wie er war, und dann immer diese Grübelei und Phantasterei – und sie bemühte sich wieder um seine kalten Hände und Füß.
Am Morgen kamen die beiden zurück, fast so stumm, wie sie gegangen. »Es war ein selig End,« sagte der Amtmann, und um seinen knappen Mund ging ein eigentümliches Zucken; »niemalen habe ich so etwas gesehn oder bei einem armen Sterblichen auch nur für möglich gehalten.« In Lisabeths tiefen Augen lag ein neuer, verklärter Zug, und sie lächelte schier glücklich zu des Vaters Worten. Von Anna ließ sie sich zu Bett bringen wie ein Kind und versank auch alsobald in einen tiefen Schlaf.
An einem föhnigen, lenzhaften Februartag ward Johannes Jacobus Cramer bestattet, draußen auf dem neuen Friedhof vor dem Lindentor, und ward seiner Leich viel und absonderliche Ehr angetan, dieweil man ihn sowohl seiner Jugend und freundlichen Art als auch seiner großen Gelehrte wegen allenthalben betrauerte. Nicht allein in der Vaterstadt, auch zu Herborn, wo der wackere Professor Schrammius in der Akademie daselbst öffentlich einen schönen Leichsermon hielt, der später, in Druck gegeben, auch zu den Zürchern gelangte. Wie stark aber der Ruhm des jungen Gelehrten selbst nach äußeren Orten gedrungen, zeigte jenes Schreiben, das der Zürcher Rat in eben jenen Tagen erhielt, als der arme Johannes im Todbett lag, und darin Burgermeister und Rat der löblichen Stadt Leyden den jungen Zürcher als Professor theologiae an die dortige Hochschule beriefen.
Von all dem Ruhm und vielen Gerede, das über den Toten ging, vernahm Elisabeth nichts. Der tiefe Schlaf, darein sie die Erschöpfung der Todesnacht geworfen hatte, war in schlimmes Fieber übergegangen, das ihre zarten Kräfte zwischen Glut und Frost, zwischen Wachen und Wahn, zwischen Tod und Leben hin- und herpeitschte.
»Hab' ich's nicht gesagt, daß es so kommen müsse,« sagte Esther mit schier befriedigtem Ton in ihrer Betrübnis. Und Maria strich der Fiebernden über das feuchte Haar: »Gut ist es, Liebe, das führt zu Erlösung und Genesung, so oder so.« Anna aber saß am Bett der Schwester und half ihr und pflegte sie und kämpfte um sie Tag und Nacht.
Ah, die grauenvollen Nächte, wann draußen der Föhn mit heißem, aufwühlendem Atem und heißem, aufwühlendem Gesang durch die Gassen stürmte und Elisabeth mit irren Augen und brennenden Lippen seltsame, süße und furchtbare Dinge redete zu einem, der nicht da war, und wann sie zu singen versuchte – mit solch herzzerreißender Stimme ... Und später die langen bangen Tage, als das Fieber gesunken war und die Kranke dalag, weiß und teilnahmlos wie ohne Leben, und man nie wußte, wie lang das erschöpfte Herz noch schlagen würde und ob es noch schlug.
Aber Anna harrte aus, Tag und Nacht, kühlte den brennenden Leib der Fiebernden und führte dem erschöpften Körper durch sorglich bereitete und gereichte Nahrung neue Kräfte zu und achtete es nicht, wenn ihre eigene Kraft von all den rastlosen Mühen und Herzensangst langsam ausgesogen wurde.
Als sie zum ersten Mal mit Lisabeth ausgehen konnte, um Cramers Grab auszusuchen, sah sie fast so durchsichtig aus wie die Genesende, und die mitleidigen Blicke der Vorübergehenden galten ihr kaum weniger als der andern.
Anna hatte sich gefürchtet vor diesem ersten Gang aufs Grab; aber Elisabeth begrüßte mit eigentümlicher, beinahe heiterer Ruhe den frischen Hügel. Mit zärtlichen Händen strich sie über die kleinen Frühlingsblumen, die zwischen magerem Immergrün einen gelben und blauen Flor ausbreiteten. »Gar ein lieber kleiner Garten ist es,« sagte sie leise; »seine Freud wird er daran haben, mein Johannes ... Nicht der da unten,« wandte sie sich dann wie erklärend an Anna, »der andere, der wahre Johannes!« Und sie lächelte träumerisch vor sich hin: »Wann du wüßtest, wie oft er bei mir ist und wie herrlich er geworden ist und wie wir uns verstehen ...«
Anna streichelte fast verlegen der Schwester dünne Hände, und dann mahnte sie zum Aufbruch und führte die Schwache schweigend durch die steilen winkligen Gäßchen nach der Wohnung zurück. Lisabeths Worte waren ihr unsäglich peinvoll und machten ihr viel Sorgen, und erst nach und nach, als sie sah, wie die Schwester sich mit den wachsenden Kräften langsam wieder ins altvertraute Geleise zurückfand und sie sich überzeugte, daß ihr Geist klar war und unverwirrt wie früher, fiel die Angst von ihr ab. Aber Lisabeths entrücktes überirdisches Wesen trat doch wie etwas Fremdes trennend zwischen die beiden Schwestern, während Heinrich mit einer Art neugieriger Verehrung sich an die Genesende anschloß.
Und alles kam wieder ins Geleise, nach und nach und auch der Tag erschien, da Anna wieder ihre Malstube beziehen konnte, an den Nachmittagen wenigstens. Wie hatte sie sich nach dieser Stunde gesehnt in den langen schweren Zeiten, da zwischen ungeliebter Arbeit und heißer Not das Verlangen nach ihrer Kunst ihr schier das Herz versprengte. Nun aber sah sie zwischen dem lieben Gerät müde und ohne Schaffenslust, eingeschüchtert von ihren eigenen hohen, ach, so geliebten Plänen, und ohne die Kraft zum frischen mutigen Anschluß. Aber die Aufträge, die man der im Ausland zu Ruhm gelangten jungen Mitbürgerin nicht länger vorenthielt, trafen ein und zwangen sie auf nüchternen Wegen langsam wieder in die alte Beschäftigung.
Eines Tages wurde Anna auf des Vaters Schreibkammer gerufen, und da der Amtmann solches nur in sonderbarlichen Fällen tat, betrat sie ein wenig bang und nicht ohne Neugier die dunkle Stube, die sie gleich mit einer Reihe unerquicklicher Kindheitserinnerungen überfiel. Der Vater bedeutete ihr, zu warten, und während er ein umfängliches Schreiben mit feinbewegter Hand zu Ende führte, trat Anna vor einen alten Holzschnitt, der in schwarzem Rahmen neben dem Fenster hing, und betrachtete angelegentlich das kleine Bild das sie schon als Kind gemüht hatte und das in drolliger Weise die beiden Reformatoren Luther und Zwingli, ausgestattet mit den Insignien ihrer Glaubenslehr, einander gegenüberstellte. Und wieder, wie als Kind, freute sie sich an Zwinglis herber, sehniger Gestalt, die dem rundlichen, mit Fascikeln schwer bepackten und zu gläubigem Dulden auffordernden Luther resolut Anker und Wage und den Weckruf: »Gott lebt ja noch!« entgegenhielt. Unter den Holzschnitt hatte der alte Künstler als Summa der Darstellung das beherzigenswerte Wort gesetzt:
»Glaube, leide, forsche, hoffe ist allhier das Symbolum:
Wer 's zu prakticieren weiß, der versteht sein Christentum.
Eitler Streit der Disputanten ist nicht eine Bohne wert,
Weil durch alle Federkriege gar kein Mensche wird bekehrt.«
Wie eine Melodie summten diese lustig hüpfenden Verse der ungeduldig Wartenden durch den Kopf, bis der Vater endlich den Brief abschloß und sich ihr zuwandte. Er gebot ihr, sich zu setzen, und dann erzählte er mit leisen und ein wenig hastigen Worten, derweil eine ungewöhnliche Erregung auf seiner weißen Stirn sich vernehmlich malte: ein Brief aus Braunfels sei eingetroffen; Rudolf vermelde, es sei ihm eine Stell angeboten worden als Feldprediger in holländischen Diensten, und daß er große Lust hätte, selbige anzunehmen, weilen ihm der fürstlich Dienst, vorab die Schulmeisterei, nimmer behage, die Fremde aber und sonderlich das kriegerische Leben ihn gar mächtig anzögen. Und auch der Amtmann meinte, daß er solches als ein großes Glück für seinen Sohn erachten würde, da nichts wie strenger Kriegsdienst und die Ansehung fremder Länder geeignet sei, einen unruhigen Geist zu Ordnung und Einsicht zu bringen, wessen sein Sohn gar sehr bedürfe. Da nun aber ein junger Mann in solcher Charge ohne bedeutenden Zuschuß von daheim nicht standesmäßig existieren könne, erwachse ihm daraus eine Last, so er im Angesicht der durch Teurung beschwerten geldöden Zeiten nicht wohl übernehmen könne, ohne sein Vermögen zu schädigen, was er hinwiederum in Besorgung der andern Kinder und fürnehmlich der beiden unverheirateten Schwestern nicht tun dürfe. An ihr liege es nun, dem Bruder dieses Glück zu vermitteln, wenn sie den aus ihrer Malerei gezogenen schönen Erlös ihm zuwendete. Mit freudiger Zustimmung wollte Anna ihm ins Wort fallen; aber der Amtmann brachte sie mit raschem Wink zum Schweigen, während er wie verlegen an den dünnen Lippen nagte: »Das Opfer,« fuhr er leise fort, »ist größer als du meinest, maßen es von dir einen Verzicht erheischt, den du nur mit widerstrebendem, wenn nicht gar schwerem Herzen wirst leisten können. Ich traue aber, daß du dich auch hierin, wie allezeit, als meine tapfere Tochter erzeigen mögest.« Und während Anna ihn mit erstaunten Augen und wachsender Erregung betrachtete, berichtete er weiter von einer zweiten Botschaft desselben Briefes, dahin gehend, daß die Marquise, deren durch den harten Winter geschwächte Kräfte nach der Sonne verlangten, wünsche, Anna aus eine italienische Reis' und zu längerem Aufenthalt in südlichen und kunstreichen Städten mit sich zu nehmen.
Der Amtmann schwieg. Anna schloß die Augen. Italien! Giulios Stimme klang wieder, all die halbvertrauten, süßen, herrlichen, unsäglich heißbegehrten Bilder umkreisten sie, und die Marquise erschien ihr, die Frau, die sie liebte und verehrte wie kaum einen andern Menschen, die ihr vorkam wie die Türöffnerin zu allem Großen und Vollendeten, wie die Erlöserin von jeglicher Halbheit des Könnens. Ihr Kopf brauste ... Aber da vernahm sie wieder des Vaters Stimme. Diesmal redete er von ihr selbst. Wie nötig sie sie hätten auch sonst, sie alle, und daß er sich sein Haus nimmer ohne sie denken könnt'. Anna horchte auf: Was war das für ein seltsamer Ton an ihrem Vater? So ungewohnt liebevoll, fast weich. Sie schlug die Augen aus und erhob sich langsam: »Ja, Vater, ich bleibe,« sagte sie bestimmt, dann verließ sie das Zimmer. Unter der Tür wandte sie sich noch einmal: »Wenn Ihr dem Rudolf schreibt, einen Brief möchte ich Euch mitgeben, um ihr zu danken, der hohen Frau, für ihre Güte.«
Langsam erstieg sie die Treppe mit sorgfältigen kleinen Schritten, als ob sie eine heikle Last hätte aufwärtstragen müssen, und dabei summte ihr fortwährend lästig und lächerlich jener Spruch auf dem alten Holzschnitt um den Kopf: »Glaube, leide, forsche, hoffe ist allhier das Symbolum, wer's zu prakticieren weiß, der versteht sein Christentum – Glaube, leide...«
Droben in ihrer Malstube sank sie müde auf einen Stuhl. Ja, es war dunkel, dieses Gemach, besonders jetzt, da der Abend heraufkam – Herrgott, der Abend vor der langen Nacht! – Und es war auch einsam, trostlos einsam. Fiel ihr das heute zum ersten Mal auf? Wohl; denn – richtig – nun waren ja die Brücken abgebrochen nach drüben, wo die Helle war und die Weite und das Leben. Rudolf ging nun auch so weit fort. War sie nicht wie auf einer Insel, abgetrennt und auf sich selbst gestellt mit ihrer armen halbfertigen Kunst und ihrer Sehnsucht nach Vollendung? So einsam...
Und doch tat ihr die Einsamkeit wohl, gerade in diesen Tagen, und sie war froh, daß die andern sich nicht um sie kümmerten, dieweil ein jedes mit sich selbst genugsam zu tun hatte, und daß sie es nicht achteten, wenn die Schatten unter ihren übernächtigen Augen sich tiefer malten. Liebevolle Teilnahme, das hätte sie jetzt am allermindesten ertragen können. Unter jeder zarten Berührung hätt' es hervorbrechen müssen, was sie so mühsam verbarg und unter solchen Schmerzen verwand. Ja, sie war dem Vater dankbar, daß er gleichgültig tat und unberührt. So war es recht.
Dann kam Rudolfs glücklicher Dankbrief, ein wenig gerührt, ein wenig übermütig auch in Erwartung des neuen Lebens. Die Marquise aber schrieb nicht. Ja, die Brücken, die waren nun wohl abgebrochen, und es hieß sich einrichten, da, wo man war, für bleibend.
Die Aufträge kamen und häuften sich. Anna saß nun wieder den ganzen Tag in ihrer Malstube und arbeitete, unaufhörlich, und keine Aufgabe war ihr zu mühselig und keine zu gering. Warum hätte sie neben der Malerei nicht auch die Schönschreibekunst betreiben sollen? Das alles trug Geld ein, und verdienen wollte sie nun vor allem, damit doch wenigstens der geliebte Bruder das haben konnte, ganz haben konnte, was sie dahingeben gemußt. Warum also sollte sie nicht auch Diplome verfertigen? Herr Werner sah es ja nicht und Herr Morell nicht und Giulio nicht und – nicht die Marquise, ja, und der kleine Stich in der Brust, jedesmal, wann sie an derlei Werk sich machte, daran gewöhnte man sich wohl mit der Zeit. Warum sollte sie nicht Epitaphien schreiben mit fürchterlichen, verlogenen, ellenlangen Versen und Kränzlein drum herum malen, die ihr im Angesicht der papiernen Dichterei unter dem Pinsel zu Papierblumen erstarrten?
An einem solchen Totenspruch zeichnete sie auch eines Samstagnachmittags. Zum offenen Fenster herein kam eine warme duftige Herbstluft mit viel Wehmut und viel Traurigkeit; aber in der Gasse rumorte das Schwätzen der putzenden Frauen und der lustige Lärm spielender Kinder, und während Annas Silberstift unter der halbwachen Kontrolle ihrer ermüdeten Augen sorgfältig Linie um Linie zog, durchhorchte sie erwartungsvoll das muntere Samstagstreiben, bis endlich ein kleiner lustiger Pfiff ihr ins Ohr klang. Erfreut blickte sie aus. Das Gäßchen herab mit etwas beschwerlichen, aber festen Schritten kam der Onkel Fähndrich gegangen. Von weitem schon grüßte er Anna mit fröhlichem Hutschwenken, warf dann einer spinnenden Alten, die in einem verlorenen Sonnenstrahl mitten auf seinem Weg saß, ein neckisches, etwas derbes Wörtlein zu, daß sie mit zittriger Stimme ein kicherndes Gelächter anschlug, und verschwand sodann unter vernehmlichem Zuschlagen der Tür im Hause. Gleich daraus hörte Anna seine schweren Schritte, die ununterbrochen über alle drei Treppen zu ihr herauf stapften. Unter der Türe begrüßte sie ihn: »Ihr seid gradwegs zu mir gekommen?« fragte Anna erstaunt.
»Ja, Jungfer Meiti,« erwiderte der andere lachend. »Die Mutter und die Lisabeth, schau, 's ist mir zu fein das Frauenzimmer und zu himmlisch. Porzellanfigürchen, das war alleweil mein Fall nicht; hab' Angst, daß sie mir zerbrechen zwischen den groben Fingern. Da bist dann schon ein ander Gewächs, du.«
Er strich Anna leise über das Haar und berührte sie dabei so zart und behutsam, daß sie lächeln mußte: »Da sprecht Ihr von groben Fingern und könnt einen streicheln wie ein Sommervogel. Ja, ja, so seid Ihr, Onkel, meint, ich sei Euch noch nicht dahintergekommen, hinter Eure zärtliche Seele.«
Sie setzte sich wieder an ihre Arbeit, während er brummend seinen Hut auf den Tisch warf: »Von der Seel und gar von der meinen ist's mir schon lieber, wenn man nicht reden tut.«
Schwerfällig ließ er sich auf der großen Truhe an der Fensterwand nieder und sah mit behaglich gefalteten Händen und weit auseinander gestellten Füßen nach Annas emsigen Fingern hinüber. Plötzlich nahm er eine pathetische Stimme hervor und hub, indem er die beiden Daumen gemach umeinander drehte, mit komischem Ernst zu deklamieren an:
»Und wie das Waservolk des Marsen Fäder tragt,
Wann es dem Vaterland und Gottes Ehr behagt,
So kann es gleicherweis die Pallasfäder führen,
Das weiße Nilusfäld mit einem Heer zu zieren,
Das meiste Sprachen redt und aller Künste Pracht
Sich gleichsam zum Verbunst darstellt und sichtbar macht.«
Anna schaute belustigt auf: »Was habt Ihr wieder zu spotten?« Aber der andere wehrte sich: »Das ist kein Spott nicht, wenn mir also ehrwürdige Wort zu Sinn kommen in Ansehung meiner so kunst- als wissensreichen Jungfer Nichte.«
Doch Anna schüttelte den Kopf: »Spott und Hohn, nichts als Spott, allemal, wenn Ihr ein Stück aus dem Waserschen Heldenlied fürbringet, das weiß ich lang, und hält es doch mein Vater ehrfürchtig hinter Glas und Rahmen.«
Der Oheim seufzte: »Ja, der Herr Amtmann und der Fähndrich, das sind zwei unterschiedene Waserstämm,« und als Anna ihn fragend anblickte: »Schau dir mal unser Wappen an, gar deutlich findest sie da auffigürt, die beiden Stämm mit Ruder und Stachel... Ja, so ein Ruder, wie es bedachtsam und im schönen Gleichtakt über die glatt Fläche streichet, immer emsig, immer gleich, alleweil eins mit seinem Gespanen an der schönen glänzigen Oberfläche; jeder rühmt's, und jeder freut sich daran, da es also sichtbarlich das Schifflein für sich bringt aus der alten, guten, leichten Bahn. Aber der Stachel, der tanzt nicht auf Flächen. In den Grund dringen will der, dorthin, wo der Schlamm liegt und das Faulfleisch also wohl verstecket unter den silbrigen Schwätzerwellen, und auswühlen und gegen den Strom treiben will er. Der hat kein leichte Arbeit und kein lustige nicht, und eines Tags ist er abgenutzt oder gar abgebrochen, und dann wirft man ihn weg, selber hinab in die unrühmliche Tiefe, wo er ungesehen geschafft hat all die Zeit, und keiner weiß etwas von ihm ... Ja, ja, und also hat es auch zwei Waserstämm gegeben allezeit. Die einten, das sind die Verstandsamen, die Fürsichtigen und Fleißigen; denen geht die Ordnung über alles und der Gehorsam und all die siebenundzwanzig Bürgertugenden. Eja, die haben's weit gebracht mit ihrer sichtbaren sauberen Arbeit, sind oben gesessen am Staatsschiff und haben sich aus die fürnehmste Kanzel gesetzt und die sublimste Kathedra und haben sich Bürgermeister genannt und Amtmänner und Antistes und Professores. Aber wer weiß von den andern was, als etwan, daß sie unruhige Köpf gewesen, solche ihre fürnehmen und reputierlichen Verwandten nur mühselig im Takt gehalten! Und hätt' man auch etliches von ihnen gewußt und ihrem stillen Werk, zu einem Ruhmestitul würd' man's ihnen kaum anrechnen. Müssen froh sein, wann sie sich schließlich ungekränkt ins Todbett legen dürfen und mitsamt ihrem eigenen Kopf.«
Er sah düster vor sich hin; aber da gewahrte er, wie Anna mit tiefgebeugtem Nacken hastig an ihrer Arbeit strichelte. Sie war merkwürdig weiß, nur das feine Ohr, das die vorgefallene Locke freigab, glühte. Sofort änderte er den Ton: »Nu, Meiti, wollt' sie dir nicht heruntermachen, deine Oncles und Großväter,« sagte er begütigend; »schließlich will doch jeder das Beste auf seine Weis', bloß daß die einen dabei aufblühn und die andern dran zugrund gehn, und dann kommt sie das Schimpfen an, wer weiß, aus lauter gelbgrünem Neid. Übrigens,« fügte er fröhlich bei, »scheinst du mir sowohl das emsig väterlich Ruder als das mütterlich Mühlrad fürzustellen, dieweil du also ununterbrochen arbeitest und deinem armen Oncle, der sich die drei Treppen zu dir herausgetappt, expreß und aus die Gefahr hin, seinen Schnauf zu verlieren, kein Blicklein gönnst. Was schaffst eigentlich?«
»Ein Epitaphium für die selige Frau Regula Winklerin.«
»Was,« rief der Fähndrich und lachte laut aus, »gar ein herzigs Engelein soll sie ja geworden sein, die alte Hex!« Er trat zu Anna: »So, so, der also! Das Leichenhuhn hat kaum das Lachen verbeißen können, als es ihren Tod ausrief, und nun darf das Meiti ihr ein Totenopfer malen wie einer halben Heiligen! Potz Sadrach, Mesach und Abednego, das kann's mir nicht!«
»Was kann ich tun, wenn man's verlangt?« entgegnete Anna müde und sah dabei den Onkel dermaßen an, daß ihm seine Worte gleich leid taten.
»Hast recht, Meiti,« sagte er beschwichtigend, »was geht's dich an, wem's gilt, hast sie doch nicht selber erdacht, die Lügenvers; wann deine Arbeit bloß recht tust, und das hast, beim Saker!« rief er vergnügt, während er sich auf das große Blatt bückte. »So fein die Schrift, wie gestochen jeder Buchstab, und erst das Kränzlein rund herum mit den Tulipanen und Ehrenpreis und Denkelein, und gar da unten der Totenkopf, aus dem die Blumen herfürsprießen, was ein sinnvoll Erfindung und Zeichen für das ewig Leben, so den Tod überwindet!«
Aber Anna schüttelte heftig den Kopf und warf den Silberstift unmutig von sich: »Nein, Onkel, das macht mir keine Freud, die Totenköpf; weil ich zuerst einen gezeichnet aus der Frau Escherin ihr Epitaph, wollen sie nun allenthalben so einen haben. Wann du wüßtest, wie ich ihn haß, den Schädel, und jedesmal, wann die Leichenbitterin durch die Gassen läuft und einen reputierlichen Namen ruft, denk' ich schon an den Totenkopf, den ich werd' zeichnen müssen, und es schüttelt mich.«
Sie sprang aus, die Tränen waren ihr in die Augen gestürzt; der Fähndrich aber legte ruhig den Arm um ihre zitternden Schultern, zog sie neben sich auf die breite Truhe und streichelte sie sanft: »Armes Meiti, kann mir's schon vorstellen, daß es keine Freud ist für so ein junges Blut, den Tod zu malen.«
Aber Anna wehrte sich: »Nicht das, Onkel; grad den Tod malen möcht' ich, nur nicht so und nicht in dieser leichten, einförmigen Arbeit.« Und leise lehnte sie den Kopf an des Fähndrichs breite Brust: »Ach, Onkel, Plän hätt' ich, Entwürfe ...« »So, so,« brummte der andere. »Plän, Entwürfe, auch du? Am End gehörst doch auch zu denen Stachel-Wasern, Meiti, Meiti! Und gar den Tod malen willst? Leicht ein zweiter Holbein werden oder Manuel!«
Anna wehrte errötend ab: »Nicht spotten, Onkel!« Dann aber fuhr sie leise fort: »Wohl den Tod; aber nicht den bösen, gewaltsamen, häßlichen, sondern den guten Tod möcht' ich malen; denn es gibt deren zwei. Der eine, das ist der Tod, den die Menschen selber herbeirufen; im Krieg kommt der oder wann Leute morden, die andern oder sich selbst, oder wann sie durch schlecht und maßloses Leben ihre eignen Kraft zerstören, und der ist wohl häßlich und grimmig und kommt als ein Zerstörer zur schlimmen Stunde. Der andere aber, der gute Tod, der ist mild und schön, und der Herrgott schickt ihn uns, und immer kommt er zur rechten Stund', nicht anders als der Herbst an die reife Frucht.«
»So, so meinst du das.« Der Onkel blickte starr vor sich hin: »Und wann eins gehen muß, ein Junges, mitten aus dem schön aufblühenden Leben heraus, das Kind aus der Wiegen, die Braut am Hochzeitsmorgen und der Mann von der Arbeit weg, grad wäre sie fertig geworden? Ist das kein gewaltsamer, ist das auch ein guter Tod?«
»Wohl,« erwiderte Anna ernst, »wenn wir's auch nicht recht begreifen können. Das Kindlein, weiß man, wie das Leben es zugericht' hätt' und ob seine Seele nicht zu fein gewesen dafür? Und die Braut? Der Hochzeitsmorgen, da war sie wohl just angelangt oben aus dem Gipfel, und nachher wär' ein Abstieg gekommen, vielleicht ein Abgrund gar. Der Mann aber, wenn er sein Werk hätt' fertig bringen können, wer weiß, da hätt' er gesehen, daß er aus Irrwegen gegangen, all die Zeiten, und da kam der gute Tod und ließ ihm die liebe Arbeit und sparte ihm das schlimme End.« Der Onkel schwieg und wiegte nachdenklich den Kopf, während Anna immer lebhafter, mit immer heißeren Augen weitererzählte. So wollte sie ihn malen, den Tod, als einen schönen und edeln Jüngling mit einem Kranz von Feuerblumen um die weiße Stirn, wie er lieblich als ein Vollender an jedes herantritt, sodaß die Jungfrau ihren Geliebten, die Mutter ihren Sohn, der Greis den glücklichen Enkel und das Kindlein einen schönen großen Gespielen in ihm erkennen würde und freudig mit ihm ziehen, wie dem langersehnten Ziele zu. Und plötzlich sprang sie auf, und nachdem sie die Türe geschlossen, damit keins unverhofft eintreten könne, holte sie aus der hintersten Ecke des tiefen Schrankes eine wohlverwahrte Mappe heraus und entnahm ihr mit bebenden Fingern eine Reihe lebendig hingeworfener Rötelzeichnungen, die sie vor dem Onkel ausbreitete.
Überrascht betrachtete er die stattlichen Blätter. »Und das hast du gemacht, Anna? Kenn' ich doch mein zartes Maljüngferchen nimmer wieder in dieser kräftigen und kühnen Hand!« Und er versuchte mit dem Finger die geschwungenen leichten Linien nachzumachen.
Anna lächelte. »Ja, wißt, die Miniatur, das war wohl nicht von Anfang an meine Ambition. Der Vater hat mich hineingebracht, und Herr Werner und Herr Morell haben ihn unterstützt, und da ich sie nun kann, freu' ich mich auch dieser feinen und ziervollen Kunst. Aber auf das ander mag ich nimmer verzichten. Nicht daß ich große Gemälde schaffen wollt', nein; aber nur nicht immer mit dem nadelfeinen Pinsel und den zarten, zarten Färblein. Ah, den Rötel führen, wie das wohltut, mit der freien lustigen Hand übers Papier fahren anstatt unter der Lupen zu tüpfeln und stricheln wie mit einer Nadel. Einen breiten Pinsel möcht' ich einmal führen mit freien Augen und freien Händen und mit freien Gedanken.«
Annas vordem so blasse Wangen färbten sich, und die Augen glänzten, während sie nun daran ging, dem Onkel Blatt um Blatt zu erklären. Und voll Staunen sah dieser hinein in des Mädchens tiefe Gedanken und farbenreiche Vorstellungen.
»Nun fang' ich an zu glauben, daß weder Stachel bist noch Ruder,« rief er bewundernd aus, »wohl aber eines der schönen güldinen Wasersternlein! Warum nur, zum Saker Hagel, führst sie nicht aus, deine meisterlosen fürtrefflichen Plan?«
Da wurde Anna plötzlich wieder traurig und packte kleinlaut die Blätter zusammen. »Zur Ausführung, da fehlt mir wohl manches noch,« sagte sie leise, und langsam schwand die Farbe wieder aus den zarten Wangen. »Ja, wenn ich nach Italien hätt' gehen können mit der Marquise, an die vielen kunstreichen Orte; aber so: keinen Lehrmeister hab' ich nimmer und keine Zeit nicht. Ach, das Geldverdienen und die Arbeit, die viele, viele betrübte und wertlose Arbeit, die man hierzuland als Kunst ansieht!«
Der Fähndrich setzte sich wieder auf seinen Sitz zurück und sah nachdenksam vor sich hin. »Ja, das drückt, das tut weh, wenn man mit Planen herumgeht und kann sie nicht ausführen, schier die Seel abdrücken könnt's einem; davon weiß auch dein alter Oncle etwas zu sagen, Meiti – Aber jetzo nichts davon ... Also, nach Italien möchtest, an kunstreiche äußere Orte, einen Lehrmeister möchtest annoch haben? Das wird sich nicht heut machen lassen und nicht morgen. Aber wenigstens das andere: aufs Geldverdienen hin sollst nimmer arbeiten müssen; für was hat der Rudolf einen alten unbeweibten Oncle, als damit er ihm beispringe in solchen Läuften? Nimmer überschaffen sollst dich fürderhin, siehst ja bald zarter aus denn die Lisabeth und fast rot die lieben Augen! Und Totensprüch sollst auch nimmer malen für so discutable Engel; wollen sehen, ob dann nicht deine Entwurf doch ausführen kannst, wann wieder Zeit hast und Schnauf und klare gesunde Augen, auch ohne den Lehrmeister und die äußeren Ort.«
Er erhob sich, schier leicht; als aber Anna voller Dankbarkeit ihm um den Hals fiel, wehrte er ihr fast verlegen: »Nicht, nicht, Meiti, etwan früher reden hätt'st können; so ein alter Oncle, schließlich ist man auch für etwas zu brauchen.« Er legte seine Hand um ihre Schulter, und während er mit ihr im Zimmer auf- und abging, mit kleinen, etwas aufgeregten Schritten, beredeten sie den Plan, freudvoll und voller Hoffnung, wie zwei glückliche Kinder, wie es kommen sollte und wie es einzufädeln sei beim Vater. Klug mußte man sein und vorsichtig, und so durfte man beileibe nicht jetzt gerade mit dem Gestrengen reden, da er von allerhand mühseligen Amtsgängen und erschwerten Herbstgeschäften jeweilen einen unlustigen, nicht eben zugänglichen und fast eigensinnigen Kopf heimtrug. Aber bis in zwei Wochen, da war das Schlimmste für, da konnte man's schon wagen. Und zwei Wochen, das war schließlich keine Ewigkeit mehr.
Als Anna wieder allein war und sie daran ging, mit Bürste und Schaufel die Spuren von Onkels erdbeschwerten Schuhen vom blanken Boden zu tilgen, betrachtete sie nicht ohne Rührung die breiten Tritte, die in lustiger Unordnung über die Diele verstreut lagen und sich vor der Truhe in zwei stattlichen, weit auseinander liegenden Häuflein verdichteten, und fast tat es ihr leid um diese lebendigen Zeugen einer schönen und wichtigen Stunde. Der liebe Mensch! Nun konnte doch alles wieder anders werden und besser. Sie rechnete aus: In zwei Wochen, da war's kaum Mitte November, und der lange, lange Winter lag noch vor ihr!
Aber am vierzehnten November lag der Onkel Fähndrich im Todbett. Ganz plötzlich war es gekommen. Am Abend hatte er sich gesund niedergelegt und ein lustiges Liedlein gepfiffen dazu; als er aber am Morgen nicht aufstehen gewollt und Maria nach ihm sehen ging, lag er schon weiß und starr auf seinem harten Lager, und man erkannte, daß er vor etlichen Stunden allbereits den Geist aufgegeben hatte. Und weil er sich also still und ohne Abschied davongemacht, kam es wohl, daß keiner an seinen Tod glauben konnte und daß man immer wieder vermeinte, des Fähndrichs tiefes Lachen und festen Schritt irgendwo zu vernehmen, auch dann noch, als man ihn bereits in die Erde gelegt mit schönen Ehren, wobei der Onkel Pfarrer gar einen beweglichen Sermon gehalten, und als sich schon ein breiter und ruhiger Hügel über seiner letzten Wohnstatt wölbte. Auch da noch erschien es Anna wie ein Traum, wie ein schlimmer, schlimmer Traum, daraus sie hätte erwachen müssen. Und wann der Sonnabend kam und die Stunde, wo sonst sein lustiger Pfiff von der Napfgasse zu ihr herauf getönt, da setzte sie sich wohl auf die alte Truhe, als ob er neben sie hätt' kommen müssen, und überließ sich ihrem warmen aufquellenden Herzweh. Ach, sie hatte nicht bloß den Onkel verloren wie die andern, den guten rauhen Menschen mit der seinen Seele und den klugen vorschauenden Augen; wo war nun der Mensch, der sie so liebte, wie ein Kind zugleich und wie eine Freundin – und der sie verstand? Ja, den Freund hatte sie verloren und mit ihm ein Glück, eine Hoffnung und vielleicht einen Glauben – oder wie war es, stimmte es nun auch wirklich mit dem guten Tod? Der Onkel hatte ihr so oft etwas angedeutet von Plänen, von einem großen Werke, darein er sein Bestes gelegt, sein halbes Leben. Was war nun damit geschehen? Lag es vielleicht irgendwo unfertig, abgebrochen und sinnlos? Ja, und was war es dann mit dem guten, zeitrichtigen Tod?
Eines Tages rief sie der Amtmann in seine Stube. Als sie eintrat, schlug ihr ein brenzlicher Geruch entgegen, der Vater aber stand neben dem Ofen mit blassen, angegriffenen Zügen und wie gebeugt die hagere Gestalt. »Hol den Aschenkessel!« befahl er barsch. »Der Ofen muß geräumt werden, ich hab' etwas verbrannt!«
Als sie das Eisentürchen öffnete, sah sie, wie das Innere angefüllt war von einem Haufen schwarzverkohlten Papiers, und da sie es mit der Kruke herausholte, behutsam, damit die bröckelnde Asche nicht neben den Kessel auf den Boden fiel, gewahrte sie, daß es beschriebenes Papier war. Die glänzende Tinte hatte sich noch deutlich erhalten auf dem verkohlten Grund, und da war auch ein unverbrannter Fetzen und ein Satz zu lesen: »... so aber stehet es um diese untapfere Zeit, daß, wessen das Herz voll ist und der Kopf heiß von gerechtem Zorn und Klag, die Feder greifen muß an Schwertes Statt und Tinten fließen lassen, wo er doch reden möcht' mit feuriger Zungen ...«
Entsetzt ließ Anna die Kruke fallen, und dann stand sie mit bebenden Gliedern neben dem Amtmann, der abgewandt zum Fenster hinaussah.
»Vater,« rief sie, flammend vor Entrüstung und Schmerz, »was habt Ihr getan! Des Onkels Werk habt Ihr zerstört, sein Lebenswerk!«
Der andere zuckte leise zusammen, dann straffte er langsam den eingesunkenen Körper und wandte sich ihr zu: »Ja, ich hab' es getan,« sagte er herb, während er sie aus blassen Augen grad anblickte, »und ist es mir nicht leicht gefallen, maßen ich vermeinte, meinen Bruder zum andern Mal zu begraben, und hab' doch nimmer anders handeln können, vor Gott nicht und weiser Einsicht nicht.« Und er berichtete Anna mit kurzen, fast mühsamen Worten von des Onkels Schriften, daß sie zwar große, vielbedeutende und begründete Gedanken über staatliche wie kirchliche Einrichtungen und über die menschlichen Dinge enthalten, aber von solch unerhörter Neuigkeit und in solch unerschrockener, Schäden ausdeckender Sprach, wie sie einer auch wohl in hundert Jahren nicht ungestraft würde fürbringen können. Und da er sich vorgestellt, wie unheilvoll derlei Gedanken den heißen und unreifen Köpfen seiner Söhne hätten werden können und daß diese Schriften, vor obrigkeitlicher Instantia als Schmachlibell erachtet, sie alle hätten ins Verderben bringen müssen, sei ihm nichts anderes übriggeblieben, denn zu Verhütung so großen und unabsehbaren Schadens diese verfrühten Kundgebungen einer Zeit zu entziehen, die dafür noch nicht reif genug.
Anna versuchte unter den verstandsamen Worten ihre Erregung zu meistern. Ihre verschleierten Blicke begegneten den scharfen, überlegenen des Vaters. »So leben wir dann in der schlimmsten Zeit,« sagte sie bitter, »solche nur das Halbe und Schwächliche bestehen läßt, was aber neu ist und tapfer und ganz, das wird erdrückt.«
»Keine wird anders sein,« entgegnete der Amtmann ruhig; »das Neue, auch wann es gut ist und ersprießlich, solange es außer dem Gewöhnen liegt, wird keine Zeit es ertragen.«
»Aber« – Annas Augen wurden groß und heiß – »die großen Helfer und Neuerer, Vater, die Reformatoren!«
»Einmal kommt der Tag, wo das Neue an das Gewöhnliche rückt.« Des Amtmanns Stimme blieb unbeirrt wie sein Blick. »Wer dann die letzte dünne Wand brechen hilft, den nennt man einen Reformatoren, ein hundert Jahr früher aber hätt' man ihn als Ketzer verbrannt. Die größten Neuerer haben keine Wahrheiten gebracht, die nicht allbereits in der Luft hingen, und bloß, was einer schon selber halb gedacht, davon läßt er sich überzeugen.«
»Und des Onkels Wahrheiten?«
Der Amtmann machte eine kühle, weithin weisende Gebärde, und etwas Seltsames sprang durch die bernsteinfarbenen Augen:
»Er hat die Obrigkeit angegriffen und den gemeinen Mann verteidigt. Auch in hundert Jahren wird kein Regent solche Sprache ertragen, und doch werden die Gnädigen Herren weit ehnder der Schmeichelei entraten als der gemeine Mann der Peitsche, ist doch kein Spruch wahrer denn dieser: Rustica gens optima flens pessima ridens.« Mit dem Bauer fährt man am besten, wann er flennt, am schlimmsten, wann er lacht.
Anna zuckte zusammen: »Eure Sprüch ersticken einen, Vater, aber des Onkels Worte gaben das Leben!«
»So schau hin, wie solches Leben endet!« Eine leise Röte stieg dem Amtmann in die Stirn, während er nach dem Ofen hinüber wies; dann wandte er sich rauh von seiner Tochter weg.
Anna war, als ob ihr die Brust zusammengedrückt würde, zwei-, dreimal, wie unter der eisernen Umarmung der Folterfrau, wovon ihr etwas Gebrochenes zurückblieb und eine Mattigkeit, die sich ihr schwer an die Glieder hängte wie Ketten. Stumm und wie gelähmt ging sie zum Ofen zurück, und während sie den Kessel willenlos mit der letzten zerfallenen Asche füllte, dachte sie an des Onkels Wort von dem Stachel, der – abgebrochen – ruhmlos in der Tiefe versinkt. Hatte er wohl solches geahnt oder hatte der Tod ihn mit dem Bewußtsein vollendeter Tat und aus einer frohen Hoffnung von hinnen genommen? Ja, dann war es vielleicht doch der gute Tod, und sie durfte nicht klagen, daß er für sie unzeitig gekommen, so übel unzeitig, daß sie daran fast zerbrach ...
Schon manchen trüben Winter hatte Anna erlebt – damals, als Lux von ihr gegangen und alles schmerzlich war und düster und voller Verzweiflung, und dann wieder, als der arme Johannes im Sterben lag und sie um Lisabeths Leben kämpfte – aber so einsam war keiner gewesen wie dieser. Lichtlos reihten sich die langen arbeiterfüllten Tage in der einsamen Stube; die kleinlichen Aufträge mehrten sich, und die erfreulichen nahmen nicht zu. Zu jeglichem eigenen Werk aber fehlten Kraft und Aufschwung der Seele in dieser pflichtbeherrschten, erstickten Zeit. Was sie auch tat, alles ging ihr bloß von Händen – Kopf und Herz hatten keinen Anteil daran – und ging ihr zu leicht von Händen. Nur die Augen röteten sich ob der subtilen Arbeit, und der Rücken schmerzte. Rudolf aber, dem all das freudlose Mühen galt, ließ wenig von sich hören. Nur seltene Grüße hier und da und flüchtiges Gerede, daraus man nicht vernahm, wie das Soldatenleben ihm anschlug, ob es ihn hob oder niederdrückte. Und so war es auch sonst. All das Lauschen nach draußen blieb fruchtlos. Langsam schienen die Wege, die in die Welt führten, einzugehen. Von Werners wußte sie fast nichts mehr; nur selten kamen Sibyllas grämliche Briefe mit viel Klagen und wenig Nachrichten, inhaltsarm und undurchsichtig; von Braunfels fehlte jegliche Kunde, und auch die Marquise war verstummt, ganz verstummt seit jener Absage. Und als im Frühling die Nachricht vom Tode des Herrn Andreas Morell eintraf, war es Anna, als ob der letzte glänzende Faden zerrissen wäre, der ihr kleines Leben mit dem großen weiten verband, sodaß sie nun ganz zurücksinken mußte in Dunkel und Enge.
Aber da brachte gerade der Frühling eine kleine Wendung. Elisabeth, deren häusliche Arbeit seit Marias Rückkehr schier überflüssig geworden war, ließ sich von Anna in die Geheimnisse der Kalligraphie einführen, und sie zeigte eine so glückliche Hand für diese zierliche Kunst, daß sie ihrer Lehrmeisterin bald nichts nachgab. So kam es, daß Anna auf einmal nicht mehr allein war in ihrer Malstube und daß sie nach und nach jene Aufträge, die sie nur mit widerstrebendem Herzen angenommen, der Schwester übertragen konnte und wieder freie Hände bekam für die geliebtere Arbeit.
Und nun schien man endlich auch in der Vaterstadt zu entdecken, daß die Waserin nicht allein Kopien und dekorative Stücke anzufertigen berufen war; es kamen Porträtaufträge. Freilich waren es fast durchwegs die billigeren Silberstiftzeichnungen, die man bestellte – die Malereien, die sie zu schaffen noch Zeit und Anlaß fand, wanderten nach wie vor durch Herrn Lukas Hofmanns Hände in die Fremde, zumal nach England; aber die heimischen Arbeiten führten Anna aus ihrer Malstube hinaus und in die Häuser der Bürger. So wurde ihr Leben auf einmal lebendiger und jünger. Mancherorts in den alten strengen Patrizierhäusern und aus den schlichten Landsitzen am See fand sie eine feine, von allerlei Lustbarkeit durchdrungene Geselligkeit, solche sie hinter den nüchternen Mauern und ernsthaften Gebärden nicht vermutend gewesen und wie man sie in ihrem pflichtstrengen Vaterhaus nicht kannte.
Sie selbst wurde hineingezogen in das heitere Wesen, und ihre gesellschaftlichen Gaben, die seit Braunfels lange brachgelegen, gelangten zur Geltung und erweckten Bewunderung. Immer mehr fühlte sie, die früher so Einsame, sich als Mittelpunkt eines kleinen Kreises von jungen Mädchen, die ihr schwärmerisch anhingen und eifersüchtig um ihre Freundschaft warben, und von Jünglingen, die es nicht viel anders taten. Mit Staunen erst und einer Art Neubegier, aber dann mehr und mehr mit einem schier kindlichen, ein wenig prickelnden Vergnügen genoß Anna das alles, das amüsantere Leben und Ehrungen und liebende Verherrlichung. Angenehme Worte und bewundernde Blicke – erfreulich war es schon, man konnte ein wenig aufblühen darunter wie Pflänzlein unter der Sonne, und manches Gewicht löste sich in den schmeichelnden Wellen dieses leichteren Lebens, und manche Tiefe deckte sich zu, daß man unbekümmerter wurde und der Schranken beinahe vergaß und der engen Mauern. Wenn sie am Sonntag nach der Predigt mit den Ihren auf der Niedern Brücke wandelte, hin und her unter all dem Volk, und ihr von jeglicher Seite ehrerbietige Grüße zuflogen und die Leute sie beguckten und flüsterten, wo sie vorüberging – ein bißchen höher schlug das Herz da schon, und die leichten Schritte wurden noch leichter. Und war es nicht ein eigenes Gefühl und schier wie Vorschmack des Unvergänglichen, wenn sie nun immer wieder aus dringenden Wunsch und Bestellung hin ihr Selbstbildnis zeichnen mußte? Daß es dabei etwas Anmutsreiches zu schaffen gab, konnte sie sich nicht verhehlen, und wann die Bildchen ihrer Hand entflogen, jedes in einem tiefsinnigen Spruch oder nachdenksamen Wort auch eine Spur ihres Geistes mit sich nehmend, waren das nicht so viele Grüße und Botschaft ihres Daseins an spätere Zeiten!
Und so schnell gingen auf einmal die Monde, es war alles wie ein Traum fast und kleiner Taumel.
Aber dann kam das Erwachen.
Ein kleines Ereignis ohne äußere Folgen führte es herbei, ein Brief, der Anna seines seltsamen und völlig unerwarteten Inhalts wegen als etwas außer den Maßen Rührendes anlag und sie zum Nachdenken brachte und zur nüchternen Beurteilung ihres Lebens.
Christoph Werner schrieb aus Berlin, er habe sich nun trotz den mittelmäßigen Gaben, die Anna wohl an ihm kenne und die ihn als gar unwürdigen Sohn seines großen Vaters erscheinen ließen, doch durch unentwegten Fleiß und gütige Protektion so weit gebracht, daß er an Gründung eines eigenen Hausstandes füglich denken dürfe. In Erwägung solcher Situation aber habe sich der große Wunsch seines Lebens neu in ihm geregt, und ob er gleich seiner schier unerhörten Vermessenheit sich wohlbewußt sei, wage er es dennoch, in Ansehung der herzlichen Freundschaft, die Anna mit seiner Familie und insonderheitlich mit Vater und Schwester verbinde, als auch ihrer großen und herablassenden Güte, ihr seine herzinnige Liebe einzugestehen, die an Alter ihrer Bekanntschaft gleichkomme, deren Tiefe und unvergleichliche Kraft aber an Annas Fürtrefflichkeit zu messen sei. Wenn nun aber Anna, was freilich zu hoffen er kaum wage, ganz uneingedenk ihrer Überlegenheit seinen Wünschen ein geneigt Ohr zu leihen dennoch nicht verschmähte, würde es ihm nicht anders ergehen denn einem Menschen, dem nach langer betrübter Nacht plötzlich die Sonne erscheine. Indessen wisse er wohl, daß allein solches zu denken schon eine Verwegenheit sei, und bitte sie deshalb inständiglich, ihm eine fördersame Antwort zu geben, in beiden Fällen, maßen er den schweren Schlag lieber bald erdulden möchte denn nach langem und herzaufreibendem Warten.
Nicht daß sich ihr eine unerwiderte Liebe nahte, war das Besondere – solches war ihr in den letzten Zeiten mehr als einmal widerfahren, und ihr unbeteiligtes Herz hatte davon weiter kein Aufhebens gemacht – aber daß es eine so alte und treue Liebe war und daß sie all die Jahre unbeachtet neben ihr hingegangen, das rührte sie und dann, daß es von Christoph kam. Der Name rief so vielen guten und herzlichen Erinnerungen, und die Vorstellungen, die sich damit verbanden, hatten alle irgendwie etwas Tüchtiges, Klares, Vertrauenheischendes, eine Echtheit und Verläßlichkeit, neben der ihr aus einmal ihr gegenwärtiges Leben flackerhaft vorkam und voller Schein, und da sie es nun unter ihr scharfes Urteil legte, gewahrte sie die Belanglosigkeit der letzten Zeiten, wie sie ihre Kräfte verzettelt in leichter gefälliger Arbeit und wie sie sich ohne Kampf und vorwärtsstrebendes Ringen am billigen Erfolg begnügt hatte, und sie schämte sich dieses Erfolges und ihrer Freude daran. Aber in der Erkenntnis, deren bittere Neige sie sich nicht ersparte, lag auch der Entschluß zur Umkehr. Als sie Christoph antwortete, in einem klaren und schonsamen Brief, daß sie jenem Weg, so der Frau vorbestimmt erscheine, gänzlich zu entsagen sich längst entschlossen habe und ihr Leben in den alleinigen Dienst der edeln Malerei zu stellen gewillt sei, so war das kein ausweichendes Wort bloß für den andern, sondern ein ernstgemeintes Gelübde vor sich selbst.
Mehr und mehr zog sie sich zurück aus der Gesellschaft – nicht leicht, denn es zeigte sich, daß das feine Netz der Gefälligkeit und Zerstreuung keine minder zähe Fessel bedeutet als die strengen Bande der Pflicht. Und nach und nach tastete sie sich zurück auf die alten herberen Wege und fand den Ernst der Arbeit wieder und die gesammelten Kräfte und suchte nach der alten Freudigkeit und dem vertrauenden Eifer.
Christoph hatte ihre Absage mit großem Schmerz zwar, aber mit tapferer Ergebenheit aufgenommen, und es gefiel ihr, daß er nicht bettelte um die Liebe und nicht marktete. Und dann später einmal teilte er ihr mit, daß er sich nun einer Jungfrau angelobt, die nicht allein den Namen und Beruf, sondern auch einige liebliche Eigenschaften des Herzens mit Anna gemein habe, nämlich der löblichen Jungfer Anna Hayde, die in der Kunst der Miniatur nicht zu Verachtendes leiste, und daß er sich dermaßen, unwert jenes höchsten Glückes, ein bescheideneres erbaut, darin sich sein Leben freundlich und warm gestalten möge.
Mehr noch als von dem unerwarteten Geständnis des ersten fühlte sich Anna von der unerschrockenen Offenheit dieses zweiten Briefes gerührt. Eine Art Ehrfurcht erfüllte sie vor diesem seltenen Menschen mit der wahren, durchsichtigen Seele und der tapferen, unbeirrbaren Ehrlichkeit gegen sich und andere. Einen solchen Menschen glücklich zu machen... ja, diese Anna Hayde, ein schlimmes Los war ihr nicht gefallen. Und es fuhr ihr durch den Kopf: damalen, in Bern, wann der andere nicht gewesen wäre... und kam ihr zu Sinn, wie seltsam die Liebe, wie blind, und wie sie oft an dem Wertvollen vorbei einem Wertlosen oder gar Entwerteten zustrebte und wie wenig sie zu schaffen hatte mit der Erkenntnis ... War denn Liebe überhaupt etwas Wirkliches, war es nicht bloß eine Einbildung, die uns die eigene Seele fälschlich im andern erkennen läßt, und konnte es nicht bloß Zufall sein, daß solche Einbildung in zweien zugleich entstand und sie zusammenführte?
Es waren viel absonderlicher Gedanken, die ihr nun oft durch den Kopf gingen, und mit der Liebe hatten sie immer irgendwie zu tun; Anna aber wußte nicht, kamen sie aus einer eigentümlichen Unrast ihres Herzens oder war es allein ein besonderes Ereignis, das ihr solches nahe legte: Rudolf war zurückgekehrt, nicht reich und heiß von Erlebnissen, wie sie erwartet hatte, sondern still, ruhig und fast ein wenig müde, und als sie ihn klopfenden Herzens nach der großen Welt gefragt und dem Leben dort draußen: »Ja,« hatte er mit unklarem Lächeln geantwortet, »ein wenig anders ist es schon, als man glaubt. Die großen Antworten hab' ich wohl nicht gefunden, vielleicht gar hab' ich auch die Fragen verloren. Man wird müd von der vielen Wißbegier und Hoffnung, und schließlich begehrt man nichts Besseres denn ein klein still Winkelchen, irgendwo, möglichst nah an der engen, geschmähten und – so geliebten Heimat.«
Und als ihm dann unversehens die Pfarre des nahen Zollikon zukam mit dem schönen Stadthaus in Zürich oben an der Römergasse, da freute er sich wie ein Kind. »Mein warm Nestchen hätt' ich nun, fehlt bloß noch so ein Weiblein hinein.« Und auch dieses fand er, merkwürdig schnell, und seither war er wieder der alte Rudi, jung und feurig und voller großer Gedanken, die er alle aus dem kindischen, untiefen und herzlich unbedeutenden Wesen des blonden Pfarrstöchterleins von Dielsdorf zu lesen glaubte, und trieb mit solcher Ungeduld an der Hochzeit, als ob sie ihm letzte Lösung und Erfüllung bringen müßte.