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Der Prophet.
Seit einigen Wochen ging das öffentliche Leben des Landes in einem lebendigeren, beschleunigteren Pulsschlag...
In kurzer Zeit sollte die Eröffnung der Kammern stattfinden und die allgemeine Neuwahl der Volksvertreter war es, welche diese politische Hochflut erzeugte...
Hartnäckig und erbittert war der Kampf... In der Presse, in den Wahlversammlungen, in den Vereinen, selbst in den Theezimmern und Salons klangen die Stichwörter der Parteien wieder...
Die Reibung war um so stärker, als es keine zahlreiche Mittelpartei im Lande gab und sich die Anhänger der Verfassung und die Feudalen, welche immer noch zu den alten Zuständen der absoluten Monarchie zurückstrebten, schroff gegenüberstanden...
Dazu kam, daß dieses Mal die Rückschrittspartei eine Rührigkeit und Energie entfaltete, wie sie seit Jahren auf dieser Seite nicht wahrgenommen worden war...
Eine besondere Thätigkeit entwickelte aber das Wahlcomité für die Hauptstadt.
Vor Allem war es ein neu gegründetes Blatt, welches unter dem Tittel: »der Prophet« kurz nach Neujahr erschienen war, welches diese Partei unterstützte. Redacteur dieser Zeitung, die in einer Unmasse von Exemplaren gratis durch's ganze Land verbreitet worden, war derselbe Hauptmann Klingen, über welchen Hardungen die ernste Unterredung mit der Schauspielerin Selma Schütz gehabt.
Wahrscheinlich um vollkommen unabhängig zu sein, hatte der Hauptmann Klingen den Dienst quittirt, um sich ganz dem journalistischen Unternehmen widmen zu können, welches die neu aufgerichtete Standarte sein sollte, um welche sich die Freunde des Thrones und des Alters sammeln sollten...
Es sprach ein seltsamer Geist, eine merkwürdige Sprache aus dem »Propheten.«
Die wilde, leidenschaftliche Energie, welche die Artikel des Blattes athmeten, stand in Übereinstimmung mit der grotesken Schreibweise, der düstern, mittelalterlichen, oft alt-testamentlichen Färbung des Ausdrucks...
Die Bewohner der Hauptstadt lasen mit seltsamen Gefühl in der ersten Nummer des »Propheten« folgenden Aufsatz, welcher gewissermaaßen das Programm desselben enthielt:
»Der Prophet tritt unter Euch und spricht zu Euch. Hört seine Rede, auf daß Ihr nicht verderbet und verworfen werdet von der Hand Jehova's...
»Wohl sind der Gottlosen so Viele, wie Sand am Meere, aber des Herrn Zorn schwebt über ihnen... Darum, wie des Feuers Flamme Stroh verzehrt und die Lohe Stoppeln hinnimmt, also werden ihre Wurzeln verfaulen und ihre Sprossen auffahren wie Staub... Denn sie verachten das Gesetz des ewigen Gottes und lästern die Rede seiner Heiligen...
»Sie heben die Hände auf gegen die Throne der Könige und die Altäre des Herrn und schleudern die Pfeile ihres Spottes gegen seine Priester...
»Es riecht nach Blut in der Welt... Und die Tage der Trübsale, die da kommen werden, werfen ihre dunkeln Schatten über die Völker der Erde...
»Wer zaudert noch?... Die Wahl ist kurz: Gott oder Belial... Die Säulen göttlicher und menschlicher Ordnung wanken! Heran zu uns, auf daß ihre Trümmer Euch nicht zerschmettern...
»Oeffnet die Augen Eurer Seele und schaut hinaus auf die kommenden Tage... Und öffnet die Thore Eurer Herzen und merket die Worte, die ich jetzt zu Euch rede...
»Wenn der Sieg jener gekommen sein wird, so sich Verbesserer der Welt nennen, da wird die Welt eine große, wüste Schädelstätte sein...
»Und auf den Leibern der Erschlagenen, um welche Geier und Raben, die Vögel des Todes, flattern, auf einem Berg von Gerippen, umgeben von offnen Gräbern voll Leichenduft und Moderfraß, da wird der letzte Mensch jener Tage sitzen...
»Mit wilder, trostloser Geberde, mit Augen, in denen das Feuer des Wahnsinns brennt, mit entfleischten, schlotternden Gliedern, aus denen die Wuth und die Verzweiflung das Mark gesogen...
»Und dann, dann werden die grauen Schatten des Entsetzens über ihn kommen und nach seiner Seele haschen. Und er wird beten wollen. Beten – aber der Glaube fehlt ihm. Und dann wird dieser elende, glaubenslose Mensch, dem Alles geraubt, der Glaube wie die Hoffnung, niederfallen auf seine Kniee und wird ausrufen:
»»Ich bin Gott – es ist keiner außer mir,«« und wird sich selbst anbeten...
»Und dann bricht der Tag des jüngsten Gerichts an...«
Als der erste Eindruck der Neuheit und der Ueberraschung vorüber, schüttelten zwar Viele die Köpfe über eine solche fanatische Bildersprache, noch Andere lächelten sehr spöttisch, aber in den Seelen Mancher blieb doch etwas hängen und in den strenggläubigen Kreisen erhob man das Haupt siegesgewisser und selbstbewußter als je zuvor...
Am selbigen Tage, da der Artikel erschienen, kam Hardungen zu Schilden, welcher eben vom Patientenbesuch zurückgekehrt, in seinem Zimmer saß...
Schildens Wohnung, dicht neben der des Schriftsetzers Wenzel gelegen, zeigte eine fast ascetische Einfachheit...
Ein Arbeitstisch mit Papieren und wissenschaftlichen Werken bedeckt, ein Bücherschrank, drei oder vier Rohrstühle und ein altes, hartes Sopha, die einzige Bequemlichkeit des Zimmers, bildeten die Ausstattung des Gemachs; ein eisernes Feldbett in dem an der Stube befindlichen Alkoven war die Lagerstätte des Armendoctors... Diese spartanische Ausstattung war nicht durch die äußeren Verhältnisse bedingt. Schilden hatte bei seiner Niederlassung in der Hauptstadt sich um diese Stelle beworben, nicht der Existenz halber, sondern weil er gewissen Kreisen der Welt auf immer entrinnen wollte, weil ihm in den Hütten der Armuth, an der Lagerstätte des Elends und der Noth die Wunde seines Herzens weniger schmerzte, als in den glänzenden Salons der Reichen und Vornehmen, wo ihn so Vieles jeden Augenblick an eine dahingegangene Zeit seines Lebens erinnerte, die er vergessen wollte, die für ihn auf immer begraben sein sollte... Schilden war reich, er hätte in einem Palast wohnen, im raschen Gespann seine Kranken besuchen können... Aber er verwendete seinen Reichthum nicht für sich. Alle seine Kranken und er hatte Viele, Viele, hatten mehr davon, als er. Und dann haßte Schilden diese vergoldeten, parfümirten, stutzerhaft aufgeputzten Jünger Aesculap's, jene geschniegelten und gebiegelten Aerzte, welche auf die Knotenbildung ihrer Cravatte mehr Studium verwenden, als auf die Krankheitsgebilde bei ihren Patienten und deren geckenhafte Erscheinung am Krankenbette in so grellem Contrast zu den Bildern des Schmerzes und des Elends steht, welche sie so oft umringen... Er haßte jene Jünger seiner Wissenschaft, welche nur Aerzte für die Reichen waren und die ihren Ruf mehr ihrem angenehmen Plaudertalent und höfischen Manieren, als ihrem Geschick, ihren Kenntnissen verdankten...
Seit jener Nacht im Weinkeller war eine auffallende Veränderung in Schildens Wesen vorgegangen... Aus seinem Gesicht war die frühere Schwermuth, jene düstere Melancholie, die ihren dunklen Schatten über seine edlen, offnen Züge breitete, gewichen... Aus seinem Auge blitzte ein lebhafter Strahl, sein Antlitz war erregt, belebt wie von innerer Spannung, sein ganzes Wesen war energischer und trug eine gewisse zornige Aufregung, die aus der Tiefe seiner Seele kam...
So fand ihn Hardungen, vor ihm auf dem Fußboden jenes Blatt des »Propheten« mit der fanatischen Apostrophe...
Der Arzt sprang auf und dem Freunde entgegen...
»Gut, daß du kommst... Hast du gelesen?« Und er deutete auf den »Propheten«.
Hardungen nickte und zuckte spöttisch die Achseln...
»Kennst du die Feder, die diese Blasphemie gegen die ewigen Gesetze der Vernunft schrieb?...«
»Man nennt den tollen Hauptmann, den Klingen – unsern Bankhalter von jenem Abend als den Verfasser...«
Der Arzt streckte mit hastig verneinender Geberde die Hand nach dem Blatte aus...
»Eine falsche Fährte... Die Sprache kenne ich und auch den Mann, der sie redet... Es ist nicht der Hauptmann. In dem düstern Hirne dieses Menschen, in welchem finsterer Fanatismus und wilde, bestialische Leidenschaften nebeneinander gähren, aus der Feder dieses rohen Landsknechts, der sich überall geschlagen, wo sein dumpfer Haß gegen die Freiheit und seine Begierden einen Spielraum fanden, sind diese Worte nicht geflossen... Er ist die Puppe, die man vorschiebt. O, ich kenne diese Art Menschen, diesen Hauptmann Klingen nur zu gut. Sie sind blos die Werkzeuge, nicht die Seele. Zur Zeit des Tilly und der Dragonaden des vierzehnten Ludwigs da wucherte die Raçe üppig. Im achtzehnten Jahrhundert fingen diese Priestersoldaten an, die, eben aus der Messe kommend, ihren rohen Leidenschaften mit wilder Lust die ketzerischen Jungfrauen opferten, auszusterben; unser Jahrhundert hat sie im Lager des Bourbons von Spanien, des Don Carlos, neu erstehen sehen... Aber diese hohlen Köpfe, leer wie eine Trommel, die mit einem Gebet auf den Lippen ihre Mitmenschen hinwürgen, sie sind unfähig zu solcher Arbeit... Das ist des Marecampus Kralle, die da sichtbar wird... Ich kenne diese Sprache, diese schlau berechnete mystisch-prophetenartig klingende, die für die große Schaar der Schwachen und Unselbständigen einen gewissen Reiz hat, der sie allmählig umstrickt, Faden auf Faden um sie legt, bis sie endlich bis an den Hals in der Nebelkappe der finstersten religiösen Schwärmerei stecken und unfähig zu jedem Selbsturtheil, willenlose Werkzeuge in der Hand ihrer schlauen Führer sind... Das ist die Taktik, wie sie zu Rom und anderweits von der frommen Congregation gelehrt wird und mit welcher sie die Weiber – wie die Völker bethören.« Er lachte grimmig auf und stieß das Zeitungsblatt mit der Spitze seines Fußes, wie ein unreines Thier von sich...
»Du kannst Recht haben, Schilden,« meinte Hardungen nachdenklich, »er scheint ein feiner Kopf zu sein, dieser Herr Doctor Marecampus... Soeben erfahre ich, daß er im ersten Wahlbezirk der Hauptstadt als Candidat für die zweite Kammer aufgestellt ist... Und droben auf dem Schlosse soll er es in den paar Monaten so weit gebracht haben, daß die Pudels und die Kammerherren um die Wette vor ihm schweifwedeln...«
»Auch bei Olbers ist er in letzter Zeit ein oft gesehener Gast... Der Geheimerath ist nach dem Salamander erster Klasse und einen Gesandtschaftsposten zweiten Rangs lüstern... und Fräulein Linda von Olbers ist eine Erscheinung, welche für einen Mann wie Marecampus nach verschiedenen Seiten hin wichtig und interessant sein muß...« Er sprach das Letzte mit einem sarkastischen Anflug, der nicht frei von Bitterkeit war...
Der Name Olbers hatte auf des Arztes Antlitz wieder jenen düsteren Schatten hervorgerufen, der wie ein dunkler Trauerflor über seine Züge sich ausbreitete...
Seine Blicke senkten sich zur Erde nieder und seine Zähne nagten gierig an seiner Unterlippe...
Eine Frage drängte sich endlich gepreßt und tonlos hervor...
»Und sie?«
Hardungen drückte lebhaft des Freundes schlaff herabhängende Hand.
»Ich habe sie seit jener Nacht nur einmal gesehen, zwei Tage später... Es war ein leidiger, conventioneller Besuch, den ich machte... Linda und der Geheimerath waren nicht zu Hause... Sie empfing mich allein in ihrem Boudoir... Wir sprachen erst von alltäglichen Dingen, Dinge, bei denen die Seele nicht weiß, was der Mund plaudert, als ein neuer Besuch angemeldet wurde – der Doctor Marecampus.«
Hier entfärbte sich Schilden, auf seiner Stirn ballte es sich wie dunkle, blitztragende Gewitterwolken und seine Hand umspannte krampfhaft die des Freundes...
»Auch Frau Von Olbers wurde blaß,« fuhr Hardungen, des Freundes Druck erwidernd, fort, »und ich sah, wie in ihrer Seele Abscheu und Entsetzen kämpften, aber die Furcht, welche ihr dieser Mann einflößt, siegte und sie empfing ihn...«
»Ha, ha, ich möchte doch die Melodie kennen, die dieser Vogelfänger pfeift, daß ihm selbst die wieder zulaufen, die er schon einmal in seiner Schlinge gefangen... Gleichviel wie die Lockung heißt, Furcht, mystische Schwärmerei, Sinnenrausch oder Sentiments – wenn nur das Vöglein anbeißt. Haha! Und du sprachst an jenem Abend, wo ich dir unten im Keller dieses Levitenstücklein erzählte, von einer Büßenden, die du in ihr gefunden, von einer reuigen Magdalena...«
Und er schlug die Hände vor den Kopf und lachte fort...
Es war ein grausiges, markerschütterndes Lachen; jenes gellende Lachen der Verzweiflung, das mit seinen schrillen, betäubenden Tönen den letzten Schmerzensaufschrei einer zu Tode gehetzten Menschenseele ersticken will...
Hardungen schwieg. Er ließ diesen wilden Ausbruch einer Jahre lang unterdrückten Leidenschaft erst austoben, bis er fortfuhr:
»Vielleicht urtheilst du doch zu streng. Hättest du wie ich das krampfartige Erzittern bemerkt, das ihre Gestalt überflog, als er über die Schwelle schritt, du würdest das tiefste Mitleid mit ihr empfunden haben...«
Mit leidenschaftlicher Geberde unterbrach ihn der Arzt...
»Verkenne mich nicht, Hardungen – bei unserer Freundschaft beschwöre ich dich darum. Fünf Jahre sind seit jener Stunde, in welcher ich so schnöde um das Glück meines Lebens betrogen wurde, dahingerauscht. Kein Laut der Klage, des Vorwurf, kein Wort des Fluchs, das ihr galt, schlüpfte damals über meine Lippen. Nur ihn, den Marecampus, brandmarkte ich vor ihren Augen mit dem Zeichen ärgster Schmach, die ein Mann in Gegenwart eines Weibes dem Andern anthun kann. Ich spie ihm in die gleisnerische Larve und schleuderte ihm meinen Handschuh vor die Füße... Und der Elende nahm es hin, ruhig, wie ein Hund, den man züchtigt. Sein Mund blieb stumm, nur seine Blicke vergifteten sich. Und dann schüttelte ich den Staub jener fluchbeladenen Stätte von meinen Füßen, verließ ich das Land meiner Jugend, die Gräber meiner Eltern und zog hinaus in die weite, wüste Welt...«
»In die weite Welt!« wiederholte er mit dumpfer, eintöniger Stimme.
»Sie lag vor mir wie ein graues, uferloses Nebelmeer ohne einen Strahl lichten Sonnenglanzes, ohne Duft und ohne Farbe. Vier lange Jahre trieb es mich durch diese Weltwüste, und jeder Tag, der sich in diesen entsetzlichen langen vier Jahren loswand aus dem Schooß der Zeit, wurde für mich zu einer qualvollen Ewigkeit. Da fühlte ich, wie die Furien des Wahnsinns ihre Krallen nach meiner Seele ausstreckten, ich durch die Welt hinglitt wie ein wesenloser Schatten durch eine graue, wüste Oede, die sich dehnt und dehnt und nimmer endet, und aus der kein anderer Weg zum Frieden, zur Ruhe führt, als der Weg zum Grabe...«
Eine fahle Blässe deckte des Arztes Gesicht, seine Stimme war zum dumpfen Flüstern herabgesunken... Hardungen hörte, das Haupt über den Tisch gebeugt und in den Arm gestützt, in düstrem Schweigen zu...
»Aber ich starb nicht. Und eines Tages kam ich in diese Stadt. Eine kurze Rast wollte ich dem erschöpften Leibe gönnen... dann wieder den Stab weiter setzen und wandern durch die Welt ruhelos wie Ahasver, der ewige Jude – bis sich endlich mir die enge Pforte zu dem dunklen Wege öffnen würde, der zur Schlummerstätte führt, die Gott der Herr jeder erschaffenen Creatur bereitet. Aber als ich am andern Morgen weiter wollte, konnte ich nicht. Die Krankheit wühlte in meinen Adern! Und zum ersten Male wieder, seit langer, trüber, vierjähriger Nacht, fiel ein lichter Strahl in mein Dasein. Ich sah den Hafen der Ruhe: das Grab that sich vor meinen Blicken auf. Die Fittige des Todes berührten meine Schläfe... Aber meine Stunde war noch nicht gekommen. Nur die Ahnung des Todes drang zu meinem Herzen, nicht er selbst. Ich gesundete. Die Fieberglut, die in meinen Adern gebrannt, hatte mein Blut von jenen dumpfen Säften geläutert – ich wand mich allmählig aus der kalten Erstarrung los und kehrte meine Seele wieder den menschlichen Geschicken zu. Ich beschloß, meine Kräfte, den Rest meines Daseins, meine Wissenschaft jenen armen Unglücklichen zu widmen, an deren Hütte immer das Elend und die Krankheit mit knöchernem Finger pochen. Und so geschah es. Unter dem ewigen Unglück, das sich meinen Blicken offenbarte, vergaß ich das meinige, lernte es leichter tragen. Die Erinnerung an Mathilde und ihr Vergehen verblich immer mehr und mehr und endlich sargte ich sie ein im innersten Schrein meines Herzens und breitete das Leichentuch der Vergessenheit darüber. Ihn aber, den Verführer, hatte ich längst zu den Todten geworfen... Da plötzlich,« und des Arztes Stimme schwoll bei jedem Worte immer mächtiger in innerem Grimm, »taucht des Verfluchten Gestalt in einsamer Nacht auf offener Straße vor mir auf, ich sehe sie wieder vor mir, diese gleisnerischen Bonzenzüge, das falsche Levitenantlitz und mit einem Male bricht die alte Wunde auf und ihr Eiter vergiftet von Neuem mein Blut...«
»Und nun bringst du mir Kunde von ihr – daß sie hier, verheirathet einem Manne, den sie nicht liebt, vielleicht kaum achtet und daß er wieder seine Bande und Netze um sie legt – und wach wird wieder der alte Haß, die alte Wuth...
Und warum soll ich nicht zweifeln an ihrer Buße? O, du kennst die Frauen nicht, die Tiefen ihrer Seele – die Abgründe, die sie mit schönen Blumen verbergen...«
»Du irrst, Heinrich – du irrst,« warf Hardungen ein, »für Mathildens Buße, für ihre Reue bürge ich dir... Ich sah, wie das Entsetzen bei seinem Anblick an jenem Ballabende ihr das Blut in die innerste Kammer ihres Herzens trieb, ich sah den stillen Kampf, den das unglückliche Weib mit sich kämpfte in jenem einsamen Zimmer... Auch glaube ich nicht, daß seine Annäherung an die Olbers, ihr, Mathilde, gilt... Er jagt ein anderes Wild, er mag sich aber vorsehen, daß er nicht selbst in die gelegten Netze fällt... Doch genug davon, wie steht es mit dem Knaben, hast du eine Spur darüber aufgefunden?«
Bei dieser Erinnerung an den kleinen Hans zeigte sich wieder jener frühere Zug stiller Wehmuth auf des Arztes Zügen.
»Meine Nachforschungen sind bis jetzt resultatlos geblieben und offen gesagt, mein lieber Hardungen, ich gräme mich nicht darüber. Der brave Wenzel ist so glücklich durch das Kind, daß ich ihm um keinen Preis diese einzige Freude rauben möchte... Und wer weiß, wie sie das Geschenk aufnehmen würde... Ich habe den Glauben an das Weib verloren. Jetzt, da sie das Kind todt glaubt, gefällt sie sich in selbstquälerischen Schmerzen, sie weint und seufzt und stöhnt, während sie sich früher nicht um das arme Geschöpf kümmerte und die Sorge für ihn jenem Menschen überließ, der ihr Verderber wurde...«
Er lachte bitter auf.
»Wahrlich, es ist sehr zweifelhaft, ob dir's die gnädige Frau wirklich dankt, wenn du ihr das verlorene Kind in die Arme legst... Ah, das ist verdammt compromittirend. Und selbst der Herr Gemahl, so ein feiner Hofgeselle dieser Herr von Olbers auch sein soll, es wird ihn doch wurmen, so plötzlich zum Adoptivvater sich avancirt zu sehen.«
Schilden legte die Hand auf des Freundes Schulter...
»Ich sah dich noch nie so, Heinrich... Das ist ein Tropfen fremden Blutes in deinen Adern, wirf ihn hinaus... Nur noch ein Wort... Willst du Mathilde noch einmal sehen, sprechen, glaubst du, daß ein Zusammentreffen für Euch Beide heilsam sein würde?.. So sage es mir. Ich glaube eine Möglichkeit zu finden, daß Ihr Euch ohne Zeugen sprechen könnt.«
Der Arzt erhob sich heftig und streckte abwehrend die Rechte aus.
»Nie... nie. Laßt die Todten ruhen... Warum die Schmerzen alle wieder wachrufen. Ich kenne nur einen Menschen aus jener Zeit, dem ich Auge im Auge gegenüber stehen werde: Marecampus, dem Rattenfänger, der jetzt durch sein Pfeifen die Seelen des Volks fangen will, wie damals, da er die eines Weibes einfing. Und wenn dieser Augenblick gekommen ist, dann wird auch das Gericht über ihn kommen und den Stab brechen.« Und er knickte einen dünnen Stab, der auf den Fenstern zwischen zwei Blumentöpfen lag, entzwei und schleuderte ihn rückwärts über sein Haupt.
»Und nun laß uns gehen, Hardungen, meine armen Kranken rufen wieder, zu lange schon habe ich sie wegen dieser – alten, begrabenen Geschichte vergessen...«
Im Hause des Geheimeraths Olbers wehte nach jener Fête eine eigenthümliche schwüle Luft...
Die junge Frau war nervöser, schwermüthiger und zurückhaltender gegen ihren Gemahl als je. Aber auch gegen Linda zeigte sie ein gewisses Stillschweigen, welches das junge Mädchen, das seine Cousine aufrichtig liebte, verletzte und betrübte...
Mathilde fühlte das wohl; sie fühlte, wie sie ihrer Freundin eine Aufklärung schuldig war, zumal nach jenem Vorgang bei Marecampus Vorstellung auf dem Ballfeste, aber Scham vor ihr und Furcht vor ihm, hielt sie davon ab, sobald sich ein Wort auf ihre Lippen drängte... Marecampus übte eine Art magischen Einfluß auf die junge Frau aus, einen Einfluß, dem sie sich vergebens und mit Aufbietung aller ihrer Seelenkräfte nicht zu entziehen vermochte...
Dazu kam noch ein neues Motiv, welches für sie etwas Entsetzliches hatte...
Die Besuche des Museendirectors in dem Olbers'schen Hause waren nach jenem Ballabend sehr häufig geworden und jetzt kam er täglich...
Nicht ihretwegen, o das wußte Mathilde, das hatte sie schon bei jenem so peinlichen Gespräch mit ihm in dem grünen Zimmer geahnt – nein, er kam Linda's wegen...
Mit Schaudern sah sie, wie er seine dunklen, flammenden Augen mit dem seltsamen Ausdruck, den sie nur zu gut kannte, auf das junge Mädchen heftete, wie er sich eifrig und mit jenem ernsten Interesse, das die Frauen noch mehr besticht, als die alltägliche Galanterie, mit ihr beschäftigte... Und Linda, dieses Mädchen mit dem hellen, klugen Auge, das bis in die geheimsten Falten der Seele zu dringen schien, dieses stolze kühne Herz, das dabei doch so lieb und gut war – sie wendete sich nicht von dem Manne ab, wenn er mit seinen Zauberreden ihr Ohr füllte, wenn er bald geheimnißvoll flüsternd, bald in klangvoll mächtig dahin rauschender Rede sie so fesselte, daß sie mit Auge und Ohr an seinem Munde hing und gierig die Worte einsog, welche seinen Lippen entströmten...
Einen Augenblick dachte die junge Frau an ihren Mann. Aber bei der ersten leisesten Andeutung, die sie fallen ließ, wurde ihr aus der Entgegnung ihres Gatten klar, daß dieser das sich zwischen den Beiden anspinnende Verhältniß nicht ungern sah, es sogar begünstigte und den Museendirector in dringlichster, freundschaftlichster Weise zum häufigen, wiederholten Besuch seines Hauses aufforderte.
Aber Linda – Linda, was zog sie hin zu jenem Manne, dessen Wesen sie anfänglich so abzustoßen schien, den sie sogar bei dem ersten Worte, welches er mit ihr wechselte, mit Kälte und leisem Spott behandelt?
Ein gar seltsam wunderliches Ding ist das Frauenherz, und seine Regungen unerklärlich oft den Frauen selbst.
War es um mit den profansten Beweggründen zu beginnen, Neugier, wollte sie das Geheimniß ergründen, das zwischen ihm und ihrer Schwägerin Mathilde bestand? Oder war es der Reiz der Gefahr, welcher sie anlockte? Wollte sie Mathilde zeigen, sieh, mit diesem Manne, den du so fürchtest, in dessen Nähe dich ein fast convulsivisches Zittern, eine grenzenlose Angst befällt, wie die Gazelle oder Antilope, wenn sie den Tiger erblickt, mit diesem Menschen spiele ich, wie mit einem gezähmten Raubthiere, dem die Zähne ausgebrochen sind?
Oder war es wirklich ein Interesse an des Museendirectors Persönlichkeit, das sie zu ihm hinzog, war es die Mystik seiner Rede, das Geheimnißvolle, in welches er seine Worte und Handlungen kleidete, jene halben, dunklen, hingeworfenen Aeußerungen von einer hohen, mächtigen Lebensaufgabe, von einem Ziel, das zu erreichen man bereit sein müsse das Höchste einzusetzen?
Linda hatte ein stolzes, romantisches Herz... Alles Außerordentliche, Wunderbare, von dem Gewöhnlichen Abweichende reizte und fesselte sie. War das vielleicht der Zauber, welchen Marecampus auf sie ausübte? ahnte sie es, daß dieser Mann seine Existenz wagte, um irgend ein gewaltiges Werk zu vollbringen, eine große Mission, und bewegte dieser kühne Entschluß ihre Seele?..
Oder war es – denn ein wunderlich und seltsam Ding ist das Frauenherz – die Absicht ihre Freundin an diesem Manne, den jene so sehr fürchtete und verabscheuete und der ihr viel, unnennbar viel Böses zugefügt haben mußte, zu rächen?
Oder war es ein Gemisch von allen diesen Motiven, deren stärkstes vielleicht Linda selbst nicht klar war?
Mathilde wußte es nicht; sie verlor sich in diesem Labyrinth von Muthmaßungen, Zweifeln und Befürchtungen, von denen die eine peinlicher als die andere war.
Und Linda selbst?
Es war in den Mittagsstunden eines der letzten Märztage. Linda saß unter der Veranda des kleinen Pavillons, welcher in Mitten des an das Wohnhaus grenzenden Gartens stand. Warme Winde und die goldenen Strahlenpfeile, welche die Märzsonne von dem blauen, unbewölkten Himmel niedersendete, hatten den Winter mit seinem Eis und Schneegestöber hinauf in die Polargegenden zurückgescheucht.
Der geheimnißvolle, belebende und verjüngende Odem des Frühlings ging durch die Natur. In dem Garten keimte und sproßte es, in den Hecken, Bäumen und Büschen ein Summen und Schwirren, helle Frühlingsfalter gaukelten in dem weichen Luftmeer und flatterten von Beet zu Beet, lüstern die einzelnen Blüthen, die der März schon zur Entfaltung gebracht, umspielend.
Ringsum tiefe Stille; nur unterbrochen von dem Schwirren und Zirpen kleiner bunter Käfer und dem Gezwitscher einiger kleiner Waldvögel, die der rauhe Winter herein in die Stadtgärten getrieben und die noch nicht wieder ihr Winterquartier verlassen und in ihre grüne, duftige Waldeinsamkeit zurückgekehrt waren...
...Linda hatte das Haupt in die kleine, zarte Hand gestützt und blickte träumend vor sich hin. Ein aufgeschlagenes Buch, in welchem sie gelesen, lag vor ihr auf dem kleinen Tisch von lackirtem Weidengeflechte... Das Buch führte den Titel »Pilgerfahrten«; es war ein lyrisches Gedicht, dessen Gegenstand eine Verherrlichung des Mittelalters und seiner kirchlichen wie politischen Institutionen war. Ein erotischer Faden schlängelte sich natürlich, das Ganze nicht zu tendenziös erscheinen zu lassen, durch die Dichtung. Der Museendirector hatte Linda auf diese literarische Erscheinung aufmerksam gemacht...
»Seiner Majestät Tante, Prinzessin Auguste, sprach neulich beim Thee des Königs mit einem fast an Begeisterung streifenden Interesse von dieser Dichtung, deren anonymen Verfasser man bis jetzt vergebens zu enthüllen gesucht hat.«
Auf das junge Mädchen hatte das Buch einen eigenthümlichen Eindruck gemacht und einander widerstreitende Gefühle in ihr wach gerufen. Zog sie die Farbenpracht der Bilder, der Schwung der Sprache, die kühne Ritterlichkeit des Helden an, so fühlte sie eine lebhafte Abneigung gegen diese religiöse Mystik, welche in der Dichtung lag; ihr klares, scharfes Auge war gewöhnt in das helle Sonnenlicht zu blicken und hier umgab sie jene Halbdämmerung alter, gothischer Dome, um deren Säulen die Weihrauchwolken schweben, welche von den Räucherbecken beim Meßamte aufgestiegen sind...
Da knirschte der feine gelbe Kiessand des Gartenwegs unter einem lebhaften Männertritt...
Linda blickte auf und eine helle Röthe flog über ihre Züge...
Der Museendirector stand vor ihr und sein Auge sog mit einem gewissen gierigen Behagen das Bild des jungen Mädchens ein. Er hatte die Arme übereinander gekreuzt, in seinem langen, lockigen, glänzend schwarzen Haar spielte ein leichter, warmer Frühlingswind.
So rasch als Linda ihre Blicke zu dem räthselhaften Manne aufgeschlagen, so schnell senkten sie sich wieder zur Erde nieder, als sie den seltsamen Ausdruck bemerkte, mit welchem er sie betrachtete.
Marecampus bemerkte dies und über sein ernstes Gesicht flog ein stolzes, frohes Lächeln...
Das Alles geschah viel schneller als es sich beschreiben läßt – denn diese ganze stumme Situation hatte kaum die Dauer einer Secunde...
Der Museendirector ließ plötzlich die Arme schlaff zur Seite niedersinken und verbeugte sich.
»Verzeihung, gnädiges Fräulein. Ungestüm und seltsam erscheint Ihnen vielleicht mein Einbruch in diese stille, grüne Einsamkeit. Aber es giebt Augenblicke im Leben, wo die Seele so ganz erfüllt von einem hohen Gefühl ist, daß uns die gangbare Scheidemünze der Höflichkeit ausgeht.«
Ein noch dunkleres Roth erglühte auf Linda's Wangen und voll tiefer Verlegenheit langte sie nach dem Buche.
»Ich las in dem Werkchen, das Sie mir neulich empfohlen,« flüsterte sie, »und widerstreitende Gefühle wurden wach in meinem Herzen. Der Sprachblumen wunderbarer Duft, der Bilder Farbenpracht, Siegberts, des Helden kühnes, ritterliches Streben, das Höchste einsetzend, um das Höchste zu gewinnen: es zog mich an mit gewaltiger Macht, berauschte meine Sinne. Mir wurde wie damals, als ich zum ersten Male zu Köln am Rheine in dem alten Dome einem Hochamt beiwohnte. Der Posaunenschall, der vom Chor herunterklang, des Priesters und der Knaben Gesang, die Weihrauchwolken, die empor zur hohen Wölbung wallten, erfüllten mich mit geheimnißvollen Schauern, mit dunkeln Ahnungen, die schmerzlich süß durch meine Seele zuckten. Alte Traumgestalten meiner Kindheit, Erinnerungen meines ersten Jugendunterrichts wurden in mir wach. Meine Blicke schweiften durch den Dom, dessen Säulen wie aus dem Mittelpunct der Erde, kühn, wie mächtige steinerne Urwaldsbäume emporzuwachsen schienen. Und der stolze, gewaltige Bau der römischen Kirche versinnbildlichte sich mir in der mächtigen Steinbildung.
Eine Ahnung von jener Macht des Glaubens, die Millionen Seelen an Petri Stuhl fesselt, kam über mich, ich fühlte in diesem Moment den Zauberbann der Papst-Kirche.
Erst als ich wieder mit meinen Reisegefährten auf der Schiffsbrücke stand und das Treiben des lebendigen Stromverkehrs, rheinaufwärts und rheinabwärts an mir vorüberzog, verlor sich dieser wunderbare Eindruck... Drei Tage später wohnte ich mit meiner Cousine Mathilde und Vetter Albert dem sonntäglichen Gottesdienst in einer kleinen protestantischen Kirche des Schwarzwaldes bei. Welcher Contrast zwischen diesem einfachen Gotteshaus, wo weder die mächtige Wölbung des Baues, noch Posaunen-Töne und Chorgesang, weder Weihrauchwolken, noch brennende Kerzen die Sinne berauschten – mit dem Dome zu Köln und seinem Hochamt.
Und dann dieser einfache, schlichte Greis mit dem einfachen schwarzen protestantischen Priestergewand und den spärlichen weißen Haaren, die um seine Stirn fielen, mit den milden, klaren Zügen voll Herzenseinfalt.... Und als dieser Greis die Hand ausstreckte gegen die Gemeinde, arme Holzbauern und Bäuerinnen, die Jahr aus, Jahr ein ein hartes, schweres Leben voller Arbeit und Mühseligkeiten führen, und zu ihnen die Worte des Evangeliums sprach:
»...Ihr habt gehört, daß gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen....
»Ich aber sage euch, liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen, thut wohl denen, die euch hassen und verfolgen,« da ergriff eine tiefe, heilige Rührung meine Seele und der lichte Sonnenstrahl, der bei diesen Worten des Predigers durch die niedrigen Bogenfenster des Kirchleins in das Schiff fiel, drang mir so warm in's Herz, daß es mir däuchte es sei der Welt-Heiland selber, aus dessen Munde ich die Worte gehört, nicht ein armer schlichter Pfarrer eines schwarzwäldischen Dorfes...«
Mit leuchtenden Blicken, mit dem rosigen Hauch, den die Begeisterung auf die Wangen zaubert, stand die Jungfrau vor dem Manne, der sie, ohne durch eine Miene oder Wort ihre Rede zu unterbrechen, angehört und dabei ein Blatt Papier aus seinem Taschenbuche gezogen, auf welches er mit flüchtigen Zügen eine Skizze hinwarf, die er, als Linda geendet, rasch in seiner Hand verbarg...
Anfänglich leise und schüchtern flüsternd, war ihre Rede immer freier, schwungvoller, gehobener geworden und am Ende sprach sie mit einer tief innerlichen Energie, die einen sichtlichen Eindruck auf den Museendirector hervorbrachte...
Aber das Schweigen brachte Linda zu sich selbst zurück...
Diesem sonst so stolzen und selbstbewußten Mädchen flog plötzlich ein Gedanke der Scham an; sie glaubte sich in ihrer Aufregung eine Blöße gegeben zu haben, die sie in den Augen dieses Mannes lächerlich erscheinen ließ und mit einem Male kam wieder jene Befangenheit und Verlegenheit, welche sie beim Beginn der Unterhaltung befallen, über sie...
Vielleicht hatte Marecampus nur auf diesen Moment geharrt, denn als er sie so mit zur Erde geschlagenen Blicken, mit gerötheten Wangen vor sich hinblicken sah, begann er mit dem weichen klangvollen Tone, der seiner Sprache einen eigenthümlichen Reiz verlieh:
»O, daß so schöne, hohe, jungfräuliche Kraft ihr Pfund vergraben muß; nicht wuchern darf damit zum Heil der Welt.« Er hielt inne, fast wie erschrocken über seine Worte und sprach dann im ruhigeren Tone weiter: »Sie verzeihen mir schon, mein gnädiges Fräulein, wenn das Gefühl für das Schöne und Erhabene zuweilen die enge Schranke der herkömmlichen Form durchbricht. In dem Momente, wo Sie so vor mir standen und mit so beredten Worten den Eindruck jener Dichtung schilderten, kam mir sofort ein Gemälde vor die Augen, welches ich im Auftrage Seiner Majestät des Königs kürzlich für die Gallerie angekauft. Es stellt Johanna, das Mädchen von Orleans dar, im Momente da sie vor den König hintritt und ihm in prophetischer Rede ihre Sendung kündete...
Daß mir Gott nicht die Hand eines Raphael's oder Corregio's verliehen...
So bin ich nur ein Stümper in der edlen Kunst – da sehen Sie.« Und er reichte ihr das Blatt mit der flüchtig hingeworfenen Skizze...
Linda stieß einen leisen Ruf der Ueberraschung aus...
So flüchtig und leicht die Skizze auch gezeichnet, sie erkannte sich doch sogleich...
»Ah, das ist reizend...«
»Das Original... nicht die Copie...« fiel rasch und mit einem galanten Lächeln der Museendirector ein.
Linda haßte nichts mehr als fade Galanterie, glatte Schmeichelei, wie sie die Stutzer und Gecken allerwegs den Frauen in's Ohr zischeln...
...Aber Marecampus schmeichelte selten und galante Redensarten fielen nur spärlich von seinen Lippen...
Fräulein von Olbers erröthete bis unter die Stirne bei des Museendirectors Worten und vielleicht zum ersten Male setzte sie eine Schmeichelei in Verwirrung...
Jener schien oder wollte es nicht bemerken.
Mit taktvoller Gewandtheit führte er das Gespräch wieder zu dem Ausgangspunkte zurück. Linda gewann dadurch Zeit ihre Befangenheit, die ihr endlich selbst lächerlich und kindisch vorkam, zu überwinden und bald lauschte sie aufmerksam den Worten des geistvollen Mannes.
Er sprach von der Macht des Glaubens, von dem gewaltigen Einfluß, welchen die katholische Kirche auf die gläubigen Seelen ihrer Bekenner ausübt. Er beklagte schmerzlich und lebhaft die Kahlheit des kirchlichen Cultus bei den Protestanten und die trockene Verstandesrichtung, den nackten, ausgewässerten Rationalismus, wie er ihn nannte, welcher innerhalb der Kirche sich so weit ausbreite. Er führte sie wieder in den Kölner Dom und in die Kirche im Schwarzwald. Ob sie nicht bekennen müsse, daß große, kühne Entschlüsse, muthige Thaten im heiligen Schatten eines alten Doms besser reiften, als zwischen den vier kahlen, weißgestrichenen Wänden unserer protestantischen Gotteshäuser. Im Kölner Dome habe sie ein Schauer der Unendlichkeit angeweht, in der schwarzwälder Dorfkirche sei es die bürgerliche Moral, die ihr mit dem Sonnenstrahl in's Herz gedrungen, deshalb sei eine Reformation der protestantischen Kirche, ein gewisses Zurückgehen zu den alten liturgischen Formen der großen Mutterkirche, aus deren Schooß die protestantische entsprungen, nöthig. Er kam dann auf die Ungläubigkeit unserer Zeit zu sprechen, auf die frechen Hände, welche an den Grundsäulen der göttlichen und menschlichen Ordnung rüttelten. Er schalt in lebhaften, Verachtung athmenden Worten auf die matten, trägen Herzen, welche aus Furcht, Blasirtheit und Sorge um das materielle Wohlbefinden unthätig diesem vandalischen Zerstörungswerke zuschauten... Dann redete er in flammender Sprache von der Nothwendigkeit, daß alle die, welche sich berufen fühlten, der Menschheit die heiligen Güter und Segnungen des Glaubens zu erhalten, sich zusammenschaaren müßten, daß sie mit kühnem Muthe, mit dem Muthe der Märtyrer, als die neuen Propheten des alten heiligen Glaubens vor die verwilderte Welt treten und den Spöttern und Läugnern, die unter dem Namen der Freiheit nur selbstische Zwecke persönlichen Eigennutzes verfolgten, zurufen müßten: Die ihr Zion mit Blut bauet und Jerusalem mit Unrecht, eure Häupter richten um Geschenke, eure Priester lehren um Lohn und eure Propheten wahrsagen um Geld... Aber es wird ein Tag kommen, der brennen soll wie ein Glutofen. Da werden alle Verächter und Gottlosen Stroh sein und der künftige Tag wird sie anzünden und wird ihnen weder Wurzel noch Zweig lassen!..«
Marecampus Stimme hatte bei dieser biblischen Apostrophe, mit welcher er endete, jenen prophetischen Ton angenommen, welcher durch den düsteren, weissagenden Ernst seines Charakters die Herzen der Menschen in ihren Tiefen faßt.
Er hatte sich erhoben und stand, die Rechte warnend empor gehoben, hoch aufgerichtet vor Linda, mit seinem Auge weit hinaus in die Ferne schauend bis hinüber zu den blauen Bergen, welche die Landschaft schlossen... Er stand da wie ein alter Seher, der mit dem innern Auge seines Geistes weit hinaus in die Zukunft seines Geschlechts blickt und der in den Gebilden der Wolken die geheimnißvollen Schriftzeichen sieht, welche ihm die zukünftigen Geschicke der Welt künden...
Linda war mächtig ergriffen. Sie fühlte sich wie von einem Geisterhauch angeweht, ihr Fuß war wie mit magischer Gewalt an die Stelle gefesselt, auf der sie stand, es däuchte ihr, als hätte der Mann, der vor ihr stand wie ein alter Prophet, einen Zauberkreis um sie gezogen, den sie nicht überschreiten konnte...
Da lachte es hell auf hinter den Gebüschen...
Marecampus und Linda schreckten wie Träumende, die man urplötzlich weckt, jäh zusammen.
Herr von Olbers trat, die Zweige zurückbeugend, aus dem Gebüsch...
»Daß diese Fülle der Gesichte der trockne Schleicher stören muß«... lächelte er, sich seinem unverwüstlichen Zuge der Selbstironie überlassend, »aber verzeihen Sie, meine gnädigste Cousine und Sie, mein Verehrtester Freund – mir ging es genau so, wie dem braven Wagner... Ich hörte Sie declamiren und dachte auch etwas zu profitiren... Und wahrlich die Kunst kann ich brauchen,« setzte er ernstlich hinzu, »in sechs Wochen ist die Eröffnung der Kammern, vor welchen ich das neue Finanzgesetz vertheidigen soll... Ich habe heute definitiv die Ernennung zum Regierungscommissar erhalten...« –
Marecampus, der eine wunderbare Elasticität besaß, aus einer Stimmung in die andere überzugehen, nahm mit den Fingerspitzen aus der dargebotenen Tabatière des Geheimeraths eine diplomatische Prise und lächelte mit einer gewissen Gönnermiene:
»Sein Sie überzeugt, lieber Geheimerath, Sie werden Freunde in der Kammer finden und auf meine Unterstützung können Sie unbedingt bauen...«
Herr von Olbers zog eine süß-saure Grimasse.
»Alle Dämonen sind los. Soeben habe ich erfahren, daß gestern zwischen den beiden Fractionen der Linken ein Compromiß zu Stande gekommen ist und daß man als Ihren Gegenkandidaten im ersten Wahlbezirk den Redacteur der Tribune, Rechtsanwalt Hardungen aufgestellt hat.«
Dieser Name übte eine fast aufregende Wirkung. Linda, die unmuthig und verstimmt durch das plötzliche Erscheinen ihres Vetters, sich von dem Gespräch wie theilnahmlos abgewendet und in den »Pilgerfahrten« geblättert hatte, blickte auf und in demselben Momente begegnete ihr Auge dem des Museendirectors.
Sie bebte zurück...
Was war das?...
War das desselben Mannes Auge, der eben vor ihr mit prophetischer Geberde gestanden und die Schaale sittlichen Zornes über seiner Gegner Häupter ausgegossen?
Nein, nein, es mußte eine Täuschung sein... Das war ein Blick, wild funkelnd voll giftiger Wuth; blutroth unterlaufen war das Weiß des Augapfels, ein stechender Dolch der Strahl der aus diesem Auge hervorbrach...
Eine seltsame, unerklärliche Beklemmung befiel Linda, sie bedeckte sich das Gesicht mit den Händen, um ihre Aufregung zu verbergen...
Hatte Marecampus die Wirkung seines Blickes bemerkt? Eine jähe Röthe färbte seine Stirn und sich zu dem Geheimerath wendend sprach er:
»Wenn es dem gnädigen Fräulein und Ihnen recht, so gehen wir in das Haus zurück. Ich fühle zuweilen, vielleicht von der Anstrengung nächtiger Arbeit, einen leichten Krampfanfall und die Luft wird kühl,« und er deutete auf seine Brust. Die Männer gingen.
Gedankenvoll folgte ihnen Linda.
Ende des ersten Bandes.