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Im Himmel oder auf Erden?
Der erste Weihnachtsmorgen war angebrochen... Die Kirchenglocken läuteten schon zur Frühmetten, während am weiten Himmelsdome noch die ewigen Kerzen der Nacht im flimmernden Glanze strahlten und ihren Schimmer herab auf die große Stadt warfen....
In tiefem Dunkel lagen noch die Wohnungen der Menschen; nur unten, am Ende der Straße leuchteten zwei Fenster im dritten Stockwerke mit weit hinstrahlendem Schimmer in den dunklen Wintermorgen. Es war eine Mansardenstube, aus welcher der Lichtstrom hervorquoll, der seinen Schimmer auf das weiße Dach ausgoß, und die Krystalle der Schneeflocken in bunten Farben erglänzen ließ...
Das Innere des Zimmers hatte das Aussehen einer einfach möblirten Junggesellenwohnung. Eine graue, durch Tabaksdampf verräucherte Tapete mit grünem blumigten Muster bedeckte die Wände, an welchen eine Menge kleiner Bilder hingen. Es waren meistens Kupferstiche und Holzschnitte von Thiergestalten, an denen weiter nichts auffällig war, als die überraschende Aehnlichkeit, welche die meisten dieser Thiergesichter mit menschlichen Physiognomien hatten... Bei nur flüchtigem Hinblick wußte man nicht, ob dies Menschenantlitze mit Tiger- Löwen- Hyänen- Krokodill- Schafs- Fuchs- und Hundeleibern oder Füchse, Hunde, Schafe, Tiger und sonstiges Gethier mit menschlichen Zügen waren. Im Hintergrund des Zimmers, das sich in eine Art Alkoven verlor, stand hinter einer Gardine von grüner Serge ein Bett, in welchem man zwischen Kissen und Decken ein schlummerndes Kind mit blondem Haar und frischen, rothen Wangen erblickte. Auf der andern Seite des Zimmers, dicht neben dem Ofen, befand sich das Sopha; ein altes Möbel mit hie und da zerrissenem Damastüberzug. Ein runder Tisch, vier Stühle mit Rohrgeflechte, ein Spiegel, ein altes Schreibpult mit drei Schubladen, ein braun angestrichener Waschtisch und rothe Kattunvorhänge, die in Schwibbogen über den Fenstern hingen und zu beiden Seiten glatt herabfielen, vervollständigten die Ausstattung der kleinen Wohnung...
Der Lichtglanz aber, von welchem die Mansardenstube in diesem Augenblick erleuchtet war und der seinen Schimmer hinaus auf das schneebedeckte Dach warf, strömte von einem grünen, mit versilberten Aepfeln und Nüssen dicht behangenen Tannenbaum aus, auf dessen Zweigen gelbe Wachskerzen brannten, die mit ihrem traulichen Lichte die kleine ärmliche Wohnung vergoldeten.
Ein Mann mit blondem, struppigem Bart- und Haupthaar, den Leib in einen dunkelfarbigen, an den Schößen und den Aermeln geflickten Schlafrock gehüllt, band eben die letzte Nuß an den Baum...
»Und er sahe an Alles, was er gemacht hatte, und siehe da, es war sehr gut,« brummte der Bärtige, »sehr gut, ich bin mit mir zufrieden... Bei allen Krokodillen des Nils! was wird der Bube für ein Gesicht schneiden, wenn er beim Aufwachen den Baum mit den Lichtern und dem glitzernden Gebummle vor seinem Bette stehen sieht...
Es muß ihm wie Hexerei vorkommen... Wie er die Augen aufreißen und verdutzt drein schauen wird... Freilich, es ist auch pure Hexerei. In einer zerbrochenen Kiste auf offner Straße zu Bette gehen und des Morgens auf einem Lager erwachen, in dessen Pfühle zwar keine Eiderdunen, aber doch Stroh und ehrliche Gänsefedern stecken... O, ihr Bestien, Hyänen- und Meerkatzenseelen.«
Er sah sich nach dem schlafenden Kinde im Hintergrunde des Zimmers um...
»Was das Bürschchen für eine gesunde Natur hat... Gestern Abend war er starr und kalt, wie ein Eisklumpen und jetzt liegt er dort mit Backen so roth wie die Weihnachtsäpfel und schläft wie ein Murmelthier... Der Doctor hatte Recht. Eine Tasse Camillenthee und acht Stunden in ein warmes Bett und das Bürschchen ist so gesund, wie eine Forelle im Waldbach...«
Draußen schlug es von den Kirchthürmen sechs Uhr... »Erst sechs Uhr?.. Dann fehlt noch eine Stunde an den acht, die mein neuer Stubenbursche schlafen soll... Ich denke, ich lösche einstweilen die Lichter aus und braue den Kaffee, denn wenn meine kleine Einquartirung erwacht, so wird sie einen Wolfshunger haben.«
Die Lichter des Christbaumes waren erloschen und der Schimmer einer Lampe mit grünem Papierschirm fiel auf den runden Tisch, vor dem Herodes saß und nachdenkend in die blaue Spiritusflamme blickte, welche die blecherne Kaffeemaschine umzüngelte...
Ein leises Klopfen an der Thür, welchem unmittelbar der Eintritt eines Mannes folgte, unterbrach ihn in seinen Betrachtungen.
»Guten Morgen, Nachbar,« grüßte der Eingetretene mit gedämpfter Stimme und dem Andern die Hand reichend...
»Ah, guten Morgen... Doctor... Nehmen Sie Platz und betrachten Sie unsern Tannenbaum...
»Zuvörderst will ich nach unsern Patienten sehen, lieber Wenzel« – dies war des Bärtigen ehrlicher, bürgerlicher Name, mit dem auch wir ihn von nun an bezeichnen wollen – »hat er die Nacht hindurch ruhig geschlafen... keine Fiebererscheinungen gehabt, phantasirt oder sonst dergleichen?« Und der Arzt näherte sich mit leisen Schritten dem Bette, in welchem das Kind schlummerte...
Wenzel ergriff die Lampe und stellte sich so, daß ein gedämpfter Lichtschein auf das Antlitz des Knaben fiel... Und wie schon am gestrigen Abend, als er ihn zuerst erblickt, so flog auch jetzt ein Zug tiefer Erregtheit über des Arztes Gesicht...
Aber es war nur ein blitzesschneller Moment, schon im nächsten Augenblick war der Doctor wieder der ruhige scharf beobachtende Mann der Wissenschaft.
»Eins, zwei, eins, zwei,« zählte der Arzt, »der Puls geht gleichmäßig, wie ein Uhrenperpendikel... Die Haut etwas feucht, Kopf kühl, Athem regelmäßig. Wir können ganz ruhig sein, lieber Wenzel, der Kleine wird mit einem Hunger erwachen, welcher Ihren Eßvorräthen verhängnißvoll werden wird... In der Voraussicht habe ich etwas Vorrath zu mir gesteckt.« Und er zog unter dem Schlafrocke eine Weihnachtsstolle hervor...
»Aber, Doctor, haben Sie eine Wünschelruthe oder einen Zaubersack. Erst den Christbaum, den Sie mir gestern in mitternächtiger Stunde brachten, und nun auch Weihnachtsstollen?«
»Sie wissen ja,« lächelte der Doctor, »ich habe eine große Familie, der ich bescheeren muß.«
Wenzel drückte dem Doctor die Hand.
»Ich verstehe,« brummte er, »ich kenne Ihre Familie... Die armen, kleinen, nackten Buben und Mädchen, dort unten in der Vorstadt, die Kameraden da von dem Kleinen...«
Der Doctor winkte abwehrend mit der Linken und indem er auf das schlafende Kind deutete sprach er leise:
»Lassen Sie uns auf dem Sopha plaudern... Der Kleine muß ausschlafen...«
Da zischte es auf. Das kochende Wasser lief über und die Spiritusflammen schlugen über der Maschine zusammen...
»Sei ruhig, freundlich Element,« brummte Wenzel, die Flammen erstickend und das dunkle Kaffeepulver in die siedende Fluth schüttend...
Der Doctor hatte sich indessen den Kopf in beide Hände gestützt und die Ellenbogen auf die Knie gestemmt in die Sophaecke gesetzt und blickte sinnend vor sich hin. Er sah recht alt aus, der Doctor, und doch konnte er sich, seinen Jahren nach, noch gut zu den jungen Männern zählen...
Achtunddreißig Jahre weben noch keine Silberfäden unter das Haar eines Mannes, welcher in stoischer Strenge lebte, sie durchziehen die Stirne noch nicht mit tiefen Furchen und pressen den Mund noch nicht jenen bittern, schmerzlichen Zug auf, den wir so oft bei Männern reiferen Alters finden, denen das Alter auch die letzten Illusionen des Lebens raubte...
Selbst die Schmerzen der Krankheit wischen nicht so völlig alle Lebenslust und Frische aus den Zügen. Nur die Leiden der Seele, die Kämpfe, bei denen das Leben das Schlachtfeld, und unsere Hoffnungen, Träume und Wünsche die Leichen sind, welches dieses Schlachtfeld bedecken – nur sie können einem Menschenantlitz dieses düstere Gepräge aufdrücken...
Und doch sah er nicht menschenfeindlich aus, dieser Mann. Vorhin, als er an das Bett des armen Kindes trat, ruhte sein Blick mit innigem Mitleid auf den kleinen, verlassenen Knaben und als er von seinen Christbescheerungen sprach, glänzte ein Strahl wehmüthiger Freude aus seinen Augen...
»Sie waren gestern wieder etwas... angeregt, Nachbar,« wendete er sich zu den Andern, der sich eben eine Tasse Kaffee einschenkte, »Sie wären sonst früher nach Hause gekommen... Auch Ihr sonstiges Wesen verrieth mir es... lieber Wenzel,« und ein leiser Vorwurf klang durch diese Worte, »meiden Sie in Zukunft diese Excesse...«
»Aber bei allen Bestien der Urwälder,« protestirte der Andere mit zerknirschter Geberde, »bin ich daran schuld oder der unselige Schneehuhn, der immer an Magenkrämpfen und Knieschmerzen leidet, oder unser dickköpfiger Factor, dieser Herr Holzapfel!.. Sie kennen die Geschichte meines Lebens, lieber Doctor, Sie kennen meine Grundsätze, Sie wissen, wie ich diese Menschenrace verabscheue, hasse, wie ich sie im Keime vertilgen könnte, wenn ich es vermöchte, wie ich nichts von dieser ganzen Brut hören und sehen will, wie ich ein erklärter Menschenfeind bin – und dennoch nimmt dieser dickköpfige Holzapfel nicht die geringste Rücksicht darauf und stellt mich in den Zeitungssaal, statt mich bei meinen Bestien, bei meiner Naturgeschichte zu lassen...«
Ueber das ernste Gesicht des Arztes zuckte während dieser leidenschaftlichen Rede des Wenzel's mehr als einmal ein leises Lächeln und als der Bärtige geendet, erwiderte er in besänftigendem Tone:
»Ich weiß, ich weiß schon, Wenzel, es ist die alte Geschichte... Die Welt hat Ihnen böse mitgespielt, Sie von Jugend auf getreten und gestoßen und Ihr Vertrauen schnöde gemißbraucht... Sie sind dadurch verbittert und schließlich Menschenfeind geworden. Aber Sie vergessen, daß Sie sich weder wie ein Timon in einem Thurm in der Wildniß einsperren, noch wie Robinson auf eine wüste, menschenöde Insel zurückziehen können. Sie sind Schriftsetzer...«
»Ein alter Schweizerdegen,« setzte der Andere mit Ausdruck hinzu.
»Ihr Beruf nöthigt Sie stündlich, jeden Augenblick sich mit den Interessen dieser Menschenrace, die Sie so hassen, zu beschäftigen...«
»Aber das ist wider die Verabredung,« warf der Andere leidenschaftlich ein, »man suchte in der Officin einen Setzer für fachwissenschaftliche Werke, für Sprachen, Mathematik, Physik und Naturgeschichte... Ich trat in die Stelle unter dem ausdrücklichen Versprechen des Factors, mich nie zum Zeitungs- oder Romansatz zu verwenden... Es ist nun ein Jahr, daß ich in dieser Offizin arbeite und man ist mit mir zufrieden, der Prinzipal sagte noch neulich, daß ich auf immer bei ihm bleiben könne. Wohl, da ist aber Schneehuhn, dieser unglückliche Mensch, der fortwährend an Magenkrämpfen und Rheumatismus leidet... Es ist wahr, vom Burgunder-Trinken und von Gänseleberpasteten-Essen hat er seine Leiden nicht... Er ist eben ein Marterthier, das sechs Junge zu ernähren hat. Und weil ihm diese kleinen, rücksichtslosen Geschöpfe, in denen schon der ganze Raubthieregoismus unserer Race steckt, die Haare vom Kopfe fressen, so überarbeitet er sich bis er liegen bleibt. Was soll ich nun thun? Ich muß sein Stellvertreter werden, sonst schickt ihn der Factor fort und stellt einen Andern ein. Und so ging es mir auch gestern. Der Schneehuhn mußte in dem Augenblicke zu arbeiten aufhören, als er die Local-Nachrichten setzte...
Er wurde bleich vor Schmerz und schließlich nach Hause geführt. Vollenden Sie den Satz! sagte der Factor. Verdammt sei diese Arbeit, aber ich that es... Und dabei stieg mir die Wuth zum Kopfe und als ich spät Abends fertig war, brannte es mir in allen Adern...«
»Und um dieses Feuer des Hasses zu dämpfen, gossen Sie Alkohol, Punsch und Wein darauf.«.. unterbrach ihn der Arzt.
Wenzel schnitt eine sonderbare Grimasse:
»Das ist der Trieb der Bestialität.«
»Und beim Nachhausegehen,« fuhr der Doctor nach einer kleinen Pause fort, »fanden Sie Ihren kleinen Gast?.. Sie haben gestern Abend nur so flüchtige, abgerissene Worte darüber fallen lassen.«
»O, die Geschichte ist sehr einfach. Ich ging aus der Offizin in das Wirthshaus »zum Laubfrosch.« Beim Nachhauseweg fand ich das kleine Geschöpf in einer offenen Tonne vor dem Hintergebäude des Gasthofs »zum Elephanten.« Ich wickelte es in meinen Rock, nahm es mit und das Uebrige wissen Sie.«
»Und was denken Sie mit dem Kleinen anzufangen? Wollen Sie ihn seinen Eltern wieder zurückschicken?«
»Eltern?« knurrte der Bärtige, »Meerkatzen, Hyänen und Rabenbrut wollen Sie sagen!.. Bei den Krokodillen des Nils, eher trage ich ihn wieder in seine Tonne... Eltern!.. O, ihr Bestien, Bestien...«
»Aber was wollen Sie denn beginnen, wenn ihn die Seinigen zurückfordern?«
»Zurückfordern? Teufel, Sie mögen kommen. Sie finden einen Hund oder eine Katze, die von ihrem Herrn fortgejagt worden ist, Sie nehmen sie mit sich – werden Sie dieselben wieder herausgeben? Ich habe den kleinen Diogenes dort gefunden, wie man ein herrenloses Ding findet, das sein Besitzer weggeworfen hat und deshalb ist er mein!«
Ueber das ernste Gesicht des Arztes glitt ein leises Lächeln...
»Aber wie Sie sich ereifern, lieber Wenzel, Sie geberden sich da, als hätten Sie irgend einen Schatz, eine verlorne Geliebte, einen Edelstein gefunden: Und doch ist es nur ein kleiner, zerlumpter Knabe, ein Geschöpf der Race, die Sie so tief hassen und im Keime vertilgen möchten – Sie Menschenfeind... Aber, wie ich Ihnen schon oft gesagt, Sie sind inconsequent. Ihre Grundsätze und Theorien stehen im grellsten Gegensatz zu Ihren Handlungen... Warum haben Sie, Menschenfeind, den kleinen Diogenes nicht in seiner Tonne liegen und erfrieren lassen?«..
Der Schriftsetzer, welcher während der Rede des Doctors den Blick auf seine Tasse gesenkt hatte, hob rasch den Kopf und starrte den Andern mit dem Ausdruck wirklicher Verblüfftheit an...
»Erfrieren... lassen...« stotterte er... »aber das wäre ja...«
»Das wäre consequent gewesen von Ihrem Standpunkt aus,« warf der Doctor gelassen ein...
Wenzel gerieth in sichtliche Verlegenheit. Seine Consequenz, seine Grundsätze waren sein höchster Stolz und mit einem Male sah er wie unter dem prüfenden und forschenden Blicke des Doctors seine menschenfeindlichen Principien zu Seifenblasen zu werden drohten. Plötzlich erhob der Schriftsetzer mit stolzer und siegreicher Miene das Haupt.
»Warum ich ihn mitnahm, fragen Sie, Doctor, warum ich ihn nicht erfrieren ließ?... Ha, ha.. glauben Sie vielleicht, ich that es aus schwächlicher Humanität, aus weichlichem Mitleid mit dieser Race?.. Glauben Sie, daß ich, Ernst Wenzel, so leicht meine Grundsätze opfere, daß ich vergesse, was die Krokodillenbrut mir Alles gethan?..«
Und er blickte, die Arme über die Brust gekreuzt, den Doctor, der ihn aufmerksam betrachtete, mit einem imponirenden Blicke an.
»Ich nahm ihn mit, um ihn – ja hören Sie es, Doctor, um ihn in meinen Grundsätzen zu erziehen, um ihn den Haß gegen dieses Geschlecht einzuimpfen, um ihn zu meinem Schüler, zu einem Menschenfeind heranzubilden...«
»Um dieses schöne Ziel zu erreichen,« fuhr der Doctor nicht ohne ein leises, ironisches Lächeln fort. »um aus diesen kleinen Blondkopf dort, der allmählig munter zu werden scheint und die kleinen Hände aus dem Bette hervorstreckt, einen Timon zu bilden, beginnen Sie seine Erziehung damit, ihm, für den es noch nie ein Weihnachten gab, eine Bescheerung zu veranstalten, in aller Frühe auszugehen, den Drechsler an der Straßenecke aus dem Schlafe zu pochen und eine Schachtel hölzerner Viehheerden, ein Steckenpferd, eine Peitsche und Blechtrompete zu kaufen... Still, still, lieber Wenzel, vertheidigen Sie sich nicht.. Unser Findling wird munter, lassen Sie uns rasch den Baum anzünden und Ihre hölzernen Herrlichkeiten aufstellen..«
»Gut, gut...« brummte der Schriftsetzer, die Lichter anzündend, »Sie wollen mich mit Gewalt als einen inconsequenten Menschen hinstellen... Aber Sie sollen sehen, Doctor, daß der Ernst Wenzel seine Grundsätze hat... Hätten Sie einen Blick an die Wand geworfen,« und er deutete auf die menschlichen Thiergesichter, »so würden Sie keines solchen Gedankens fähig sein...«
»In der That drei neue Acquisitionen!« rief mit leiser Stimme der Arzt, indem er die drei letzten Bilder der untersten Reihe betrachtete...
»Ich bitte Sie, wo treiben Sie nur alle diese wunderlichen Carricaturen auf... Wo haben Sie z. B. dieses lüsterne Fuchsgesichte im Domherrnkleide entdeckt..?«
»Ein Geschenk unseres Redacteurs...«
»Von Hardungen?« frug der Doctor, »läßt er sich denn wieder in der Offizin blicken, der Troglodyte, ich habe ihn in zwei Wochen nicht gesehen...«
»Es war vorgestern, als ich ihn sprach.. Doch sieh da, sieh da, unser kleiner Diogenes ist munter geworden.«
Der kleine Hans saß aufrecht im Bette und schaute mit blinzelnden Augen und den Ausdruck tiefster Verwunderung auf den leuchtenden Tannenbaum und die Christbescheerung.
Die blonden Haare fielen wirr über seine offene Stirn, von seinen Wangen glänzte jenes frische, duftige Roth der Kinderwange, das seinen Glanz von der Rose geliehen zu haben scheint und seine Händchen hatten sich unwillkürlich wie zum Gebet in einander gefaltet... Sein Nachtgewand war etwas wunderlicher Art. Als ihn Wenzel gestern Abend entkleidet und zu Bette gebracht, hatte er dem Kleinen eine seiner weißen, wollenen Unterjacken angezogen, die das Kind von den Schultern bis zu den Fußspitzen einhüllte.
Regungslos, mit zurückgehaltenem Athem betrachteten die beiden Männer das staunende Kind, welches seine Blicke unaufhörlich von einem Gegenstand zum andern schweifen ließ, von dem funkelnden Christbaum zu den bunten, glänzenden Spielsachen und von dem Spielzeug zu den beiden fremden Männern...
Wenn auch unter wüsten, rohen Menschen aufgewachsen, so war der kleine Hans doch ein kluges, verständiges Kind... Als er rings um sich das goldene Lichtmeer, die flimmernden Spielsachen, diese vielen, glänzenden Herrlichkeiten des Christbaums und die beiden fremden Männer erblickte, da dämmerte eine Erinnerung in seiner Kinderseele...
Es war an dem Morgen, da die kleine, bleiche Marie, seine Gespielin, begraben worden war. Als die Männer das todte Kind in den schwarzen Sarg gelegt und fortgetragen hatten, da hatte er die Mutter der kleinen Marie gefragt: »Du, kommt die Marie bald wieder?« Da hatte die Mutter weinend mit dem Kopfe geschüttelt und dem Kinde die Antwort gegeben: »Nein, Hans, die Marie ist hinauf zum lieben Gott gegangen.«
Darauf hatte er die Frau gefragt, wie es da droben aussehe? Und da hatte ihm die Mutter der Marie, die eine arme aber brave Frau war, erzählt, wie schön es oben im Himmel beim lieben Gott wäre, wie da die Engel mit den kleinen Kindern spielten und viele, viele tausend Lichter dort oben flimmerten... Wie der liebe Gott aussehe, hatte er sie dann noch gefragt? Und da hatte sie ihm nach ihrer Weise eine Beschreibung gemacht und dem Kinde den lieben Gott geschildert, wie sie ihn auf dem Altargemälde der Kirche abgebildet gesehen, mit milden Zügen und langem, wallendem Barte...
Als sich der Kleine nun jetzt in der lichtumflossenen Welt sah, den glänzenden Baum, die Spielsachen und den bärtigen Mann erblickte, da kam ihm jene Erinnerung in die Seele und indem sich das Kind in dem Bette aufrichtete, frug es Wenzel mit seinen großen blauen Augen aufmerksam betrachtend:
»Nicht wahr, Du bist der liebe Gott... der die schönen Engel und Spielsachen und Lichter hat?«
Wenzel und der Doctor wechselten einen erstaunten Blick. Die Frage klang so überraschend in des Kindes Munde... Der Arzt näherte sich dem Bette und die Hand des Kleinen ergreifend, der ihn mit forschendem Blicke ansah, sprach er mit jenem milden, wehmüthigen Lächeln, welches seinem sonst so ernsten, düsteren Gesichte einen gewinnenden Ausdruck gab:
»Der liebe Gott sagst du? Nein, mein Kind, der ist dort droben, wo die Sterne flimmern, da oben hoch über dem Himmel... Wir aber sind noch auf der Erde... Aber wie heißt du denn?« setzte er nach kurzer Pause hinzu.
»Hans,« antwortete der Knabe mit lauter Stimme, »aber wer bist du? Heißt du auch Hans oder Fritz, wie der Vetter.... der mich immer so schlägt, wenn ich essen will?«
Wenzel, der mit einem gewissen eifersüchtigen Gefühl die kurze Unterhaltung zwischen dem Doctor und dem Kinde beobachtet, konnte sich nicht länger zurückhalten...
Den Doctor bei Seite drängend und die kleinen Hände des Bübchens ergreifend und sie mit seiner kräftigen Rechten umspannend, rief er aus:
»Eine Bestie ist er, eine Meerkatze, eine Hyäne, aber kein Vetter.. Wie heißt das Thier, Fritz sagst du? Und er schlug dich, wenn du hungrig warst und essen wolltest, bei allen Krokodillen des Nils, wenn er mir einmal unter die Hände läuft, ich werde ihm lehren, was man thun muß, wenn ein armes, kleines Kind Hunger hat.«
Und in seiner Empörung gegen den Vetter preßte er die Hände des Knaben, daß diesem unwillkürlich ein leiser Schmerzensruf über die Lippen glitt.
»Aber Sie thun dem Kleinen weh, lieber Wenzel,« sprach der Doctor, »Sie glauben wohl die Hände des Vetters zu drücken....«
»Habe ich dir wehe gethan, mein Kind,« rief Wenzel bestürzt, »schmerzt es dich... da, da,« und er hielt dem Kinde seinen Kopf hin, »raufe mich, zause mir die Haare, rupfe sie mir einzeln aus... mir Tölpel, der dir die Händchen zerquetschte, mein armer, kleiner Hans.«
Aber das Kind lachte schon wieder.
»Es thut nicht mehr weh... gar nicht.. und ich will dich nicht raufen...«
Ueber Wenzel's verwitterte Züge flog ein Lächeln, ein seltner Gast in diesem Gesicht, wie ein heiterer, glänzender Sonnenstrahl.
»Es ist ein Engel von einem Kind, Doctor,« raunte er dem Arzte zu, der mit tiefer Theilnahme die Scene betrachtete, »o, der gehört nicht zu der Race, zu der Hyänenbrut.. Nicht wahr, Hans, du bleibst bei mir?«
Der Kleine besann sich einen Augenblick und frug dann:
»Aber wenn mich nun die Muhme holt oder der Vetter Fritz?«
»Sie sind fort« – antwortete Wenzel wieder mit auflodernder Entrüstung bei der Erinnerung an den Vetter, »weit fort, sie kommen nicht wieder... du bleibst immer bei mir, ich bin jetzt dein Vetter.«
»Und darf ich dann mit den schönen Sachen dort spielen?«
»O, Doctor, was ich doch für eine Meerkatze bin,« und der Schriftsetzer schlug sich mit komischer, verzweifelnder Geberde vor die Stirn, »stehe ich hier und quäle das arme Bübchen mit allerlei Albernheiten, während hier der Christbaum brennt und die Schafe und Pferde in Reihe und Glied aufmarschirt stehen. Da, mein Junge, nimm, greife zu, es ist Alles dein...« Und er hob den Knaben aus dem Bette und setzte ihn auf das Sopha dicht vor den Weihnachtstisch mit dem Christbaum und den Spielsachen...
Das Kind warf leuchtende Blicke über die Bescheerung. Dann klatschte es freudig mit den Händen und rief:
»Ach, nun hungert mich gar nicht mehr.. nun will ich auch kein Brod.«
Ein schallendes Geräusch, wie das einer derb niederfallenden Ohrfeige, unterbrach das Kind...
Es war Wenzel, der sich selbst ohrfeigte und dabei wüthend ausrief:
»O ich Bestie, ich Vieh, ich Meerkatzengesicht!«
Das Kind warf einen ängstlichen, scheuen Blick auf den neuen, bärtigen Vetter und rückte nach der Seite hin, wo der Doctor stand, der gleichfalls überrascht von diesem Ausbruch sich selbstprügelnder Wuth seinen Nachbar mit bedenklich-forschenden Blicken betrachtete...
»Aber was ist Ihnen denn, Wenzel?... Was sollen diese merkwürdigen Selbstgeißelungen bedeuten?... Sie erschrecken das Kind.. es wird nicht lange dauern und der Kleine wird anfangen sich vor Ihnen zu fürchten, wie vor dem Vetter Fritz.«
Bei diesen Worten wurde der Schriftsetzer mit einem Male steif und unbeweglich wie eine Bildsäule und indem er seine Stimme zum leisesten Flüstertone herabstimmte, lispelte er:
»Vor mir fürchten, Doctor... nicht wahr, das ist wohl nur Ihr Scherz... Nicht wahr, Hans, du fürchtest dich nicht vor mir... Aber, Doctor, bin ich nicht auch eine Bestie gegen das Kind? Haben Sie gehört, was der arme Wurm sagte? er wolle nun auch kein Stückchen Brod haben und es hungere ihn gar nicht mehr. Ich, Bestie, ich habe mir schon den Magen mit Kaffee und Semmeln vollgestopft und das arme Geschöpf da, das in vierundzwanzig Stunden keinen Bissen gegessen, lasse ich hungern... Aber, da, da, mein Kleiner, iß und trink, iß tapfer darauf los bis auf das letzte Krümchen.« Und er schob dem Kinde einen Teller voll Kuchen und eine große Tasse warme Milch hin...
Ueber des Doctors ernste Mienen zuckte wieder jener Strahl wehmüthiger Freude und eine tiefe Rührung blitzte aus seinen Augen...
»Lassen Sie uns Freunde bleiben, Wenzel,« sprach er, dem Schriftsetzer die Hand drückend, »Freunde für's Leben und drüber hinaus... Wußte ich auch längst, was für ein Herz unter der rauhen Hülle schlägt, dieser Weihnachtsmorgen hat mir es in seinem ganzen Werth gezeigt... Wehren Sie nicht ab, Wenzel... Männer, wie wir, sagen sich nicht leere, nichtige Schmeicheleien, wie süß duftende Laffen sie coquetten Frauen in's Gesicht werfen... Sie sind ein braves Herz, Wenzel...«
»Aber ich begreife Sie nicht, Doctor... Deshalb, weil ich das Bürschchen nicht verhungern lassen will... Sie glauben wohl gar, es geschehe aus... aus... nun aus irgend etwas, mögen Sie es nun Mitleid, Menschlichkeit oder wie das dumme Zeug sonst heißt, nennen... Großer Irrthum, bei den Krokodillen des Nils! Purer Egoismus, Doctor, bei allen Bestien der Urwälder. Soll ich meinen Zögling, meinen Schüler, dem ich meinen Haß gegen diese menschliche Race einimpfen will, Hungers sterben lassen?.. Es wäre das eine blödsinnige Inconsequenz.. Aber nun lange zu, mein Junge, iß und trink nach Herzenslust.«
Der Kleine biß tapfer in den Kuchen...
»Ihr Zögling,« wiederholte der Doctor... »Es ist wahr, Sie haben das erste Recht auf das Kind, das Sie einem sicheren Tode entrissen... Aber nicht wahr, mein Freund, Sie gestehen mir wohl auch ein kleines Anrecht auf den Kleinen da zu. Nun darüber wollen wir heute oder Morgen das Nähere bereden. Der Tag ist angebrochen und mein Beruf beginnt... Auf Wiedersehen, mein Freund, lebewohl, mein Kleiner...« Schon an der Thür kehrte er noch einmal um.
»Noch ein Wort, lieber Wenzel. Wohnt Hardungen noch in seiner alten Wohnung?«
»Ich glaube, Doctor...«
»Ah, da hätte ich doch bald noch Eins vergessen.. Der Kleine da braucht einen Feiertagsanzug. Wenn ich ausgehe, will ich in dem Kleiderladen unten an der Ecke etwas für unsern jungen Menschenfeind zusammensuchen. Lassen Sie dann das Bündelchen holen... Und nun noch einmal adieu, adieu!«
Wenzel drückte dem Doctor energisch die Hand. »Bei allen Krokodillen des Nils, Doctor,« schwur er, die Linke pathetisch empor streckend, »unter allen den Meerkatzen, die auf unserm Erdball mit Menschengesichtern herumkriechen, sind Sie das einzige Individuum, welches ein Herz in der Brust hat... Ich bin eine Bestie, eine wilde Bestie, Doctor.. aber verlangt von mir, was Ihr wollt – ich gehöre Euch im Leben und Sterben. –«