Wilhelm Walloth
Im Schatten des Todes
Wilhelm Walloth

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15.

Karl hatte bei Dr. Simmer Abbitte geleistet und sich dadurch zwar einigermaßen bei ihm in Gunst gesetzt, aber alles gleich wieder dadurch verdorben, daß er ein medizinisches Werk von Professor Forel in der Klasse umherlieh. Dem Theologen war dies Werk in die Hände gefallen, als es in der Pause der junge Stern an den Sohn des Direktors zurückgeben wollte. »Solche Schriften lesen Sie?« fragte Dr. Simmer entrüstet. Von da ab hielt ihn der Theologe für einen Verlornen. Dr. Simmer benutzte die Gelegenheit, einen langen Vortrag zu halten über diese modernen Freigeister, die ihren Gott verloren haben.

Der Direktor konnte nicht umhin, dem Theologen sein Bedauern darüber auszusprechen, daß Emma Dorns Roman wieder von der Staatsanwaltschaft freigegeben worden war. Aber aus diesem Bedauern las der gewitzte Mann Gottes eine deutliche Genugtuung heraus.

»Es scheint mir fast, Herr Direktor,« bemerkte er spitzig, »Sie freuen sich darüber, daß dieser verwerfliche moderne Freigeist, den Journalisten und Gottesleugner der Wissenschaft großziehen, diesmal der Staatsgewalt das Richterschwert zerbrochen hat?«

»Nu, nu, bester Herr Doktor,« besänftigte Körn den Zorn seines Kollegen, »gestehen Sie nur ein, daß man immerhin der Kunst einige Freiheiten einräumen muß. Wo kämen wir hin, wenn man Ihre Grundsätze auf die Litteratur anwenden 275 wollte! Da könnte man den halben Göthe und den ganzen Shakespeare einstampfen.«

Dr. Köhler gab dem Direktor recht; überhaupt waren auf einmal sämtliche Anschauungen der Herren zu Gunsten Fräulein Dorns umgekrempelt, ein Beweis dafür, wie wenig selbständig sogar die Gebildeten urteilen. Wäre das Buch von den Richtern verurteilt worden, so hätten dieselben Herren es gerade so eifrig verdammt, als sie es jetzt in Schutz nahmen.

Karl notierte in sein Tagebuch: »Die öffentliche Meinung ist weiter nichts, als die frech zum Gesetz erhobene allgemeine Dummheit, die nun straflos öffentliches Ärgernis erregen darf.«

Als der Direktor am folgenden Abend nach Hause kam, hörte er, noch ehe er die Wohnungstüre geöffnet, ein seltsames Rauschen – die ganze Treppe war feucht. Sobald er die Tür aufgestoßen, stürzte ihm, zu seinem Schrecken, ein breiter Wasserstrom entgegen, der ihm die Stiefel völlig durchnäßte.

»Um aller Götter willen,« jammerte der würdige Schulmann, »was ist da passirt? Gewiß die Wasserleitung geplatzt!«

Die Treppe glich einem Wasserfall. Als er glücklich den Hausflur durchschwommen, fand er seine Gemahlin in aller Seelenruhe am Pult, über ihren Götheforschungen brütend.

»Was ist das, was ist das?« brüllte er, »merkst du denn nicht, daß du ertrinkst? Wo hast du deine Sinne?«

276 Jetzt erst fuhr ihr niedergebeugter Kopf aus den Papieren, sie kam zu sich, bemerkte die allgemeine Nässe und schrie: »Ach Gott, mein Bad!« Mit fliegenden Röcken stürzte sie durch die alle Zimmer überschwemmenden Fluten ins kleine halbdunkle Badezimmer, aus dessen Türe schon von weitem ein sintflutartiges Plätschern und Rauschen das Ohr entsetzte. Die Tür flog auf – da zeigte sich das Unheil. Der Badeofen war längst erkaltet, der offene Wasserkrahn aber spendete unaufhörlich sein Naß, so daß die Badewanne von allen Seiten überströmte und unendliche Bäche rauschend in alle Räume ergoß. Seit einer Stunde. Die gelehrte Frau hatte sich ein Bad herrichten wollen und hatte im Übereifer ihrer Forschungen vergessen, daß sie den Wasserkrahnen des Ofens geöffnet.

Jetzt erst drehte sie, einer Ohnmacht nahe, den Krahnen zu und sank auf einen Stuhl. »Was hab ich getan!« jammerte sie, den Schaden überblickend. »Alle Teppiche sind hin, alle Fußböden.«

Der Direktor geriet in eine solche Wut, daß er wie ein Wahnsinniger umherstürzte und nahe daran war seiner Katharina ein paar Tertianer-Ohrfeigen zu verabreichen.

»Das geht so nicht länger!« tobte der geschlagene Mann, »das muß ein Ende nehmen! Die Katastrophe naht. Das bricht dem Faß den Boden aus!«

Als endlich das Dienstmädchen von seinen Ausgängen nach Hause kam, schickte er sie zum Dr. Müller.

277 Inzwischen lud er seine ebenfalls heimgekehrten beiden Söhne auf sein Studierzimmer und stellte ihnen mit bewegter Stimme und tiefer Ergriffenheit vor, daß ihre gute Mutter offenbar schon seit Jahren von einer geistigen Erkrankung befallen sei. Der Hausarzt habe ihn schon lange darauf aufmerksam gemacht. Hier müsse eingegriffen werden, sonst sei die Krankheit nicht mehr einzudämmen.

Eduard schwieg von schmerzlichen Empfindungen erschüttert. Karl, der allerdings fühlte, daß der Vater nicht ganz Unrecht habe, widersprach, schon aus Abneigung gegen den Vater. Jedenfalls, meinte er, sei die Krankheit der Mutter, wenn überhaupt eine solche vorliege, was er bestreite, so gelinder, harmloser Art, daß es nicht gerechtfertigt sei, die Bedauernswerte deshalb in eine Anstalt zu verbringen. Der Vater stellte ihm vor, das sei leider notwendig; der Arzt wünsche es auch. Karl ward heftiger. Die Mutter sei zerstreut und exzentrisch, behauptete er, wie alle geistig Hervorragenden, aber nicht krank; er werde es nie zugeben, daß man die arme Frau in eine Anstalt sperre. Sofort erhob er sich.

»Wo willst du hin?« fragte der Direktor, dessen Kopf hochrot geworden war.

»Selbstverständlich,« sagte Karl mit künstlich angenommener Ruhe, »wird die Mama sofort erfahren wo sie hin soll.«

»Du wirst schweigen!« eiferte der bestürzte Direktor. »Sie darf es nicht erfahren.«

»Wie? Sie muß es doch erfahren.«

278 »Ja, ja, aber . . . nicht auf diese Art.«

»Ja wie etwa denn?«

»Durch den Arzt.«

»Ah so! ihr wollt sie gewiß in eine Falle locken?«

Der Direktor geriet in die größte Bestürzung, da unten vorm Haus eine Droschke vorfuhr. Dieser Droschke entstieg Dr. Müller. Körn stürzte schreckensbleich die Treppe herab auf ihn zu.

»Der ganze Plan ist vereitelt!« rief er außer sich dem Hausfreund zu. Beide hatten ausgemacht, daß Katharina zu einer Spazierfahrt eingeladen werden sollte, – die Fahrt sollte nach Neu-Wald-Ruh gehen, einer Privat-Nervenheilanstalt in der Nähe der Hauptstadt.

Als beide in sehr gedrückter Stimmung die Treppe herauf kamen, hörten sie schon vor der Glastür die kreischende Stimme Katharinens, der Karl mitgeteilt, was ihr drohe.

»Das ist entsetzlich,« flüsterte Dr. Müller, »daß wir hier nicht einschreiten können! Es gibt halt gewisse geistige Abnormitäten, die wir noch nicht geradezu Krankheit nennen dürfen, die aber doch eine ärztliche Behandlung verdienten. Deine Frau befindet sich in solch einen Zwischenstadium.«

Kaum waren sie eingetreten, so kam ihnen die Frau Direktor mit eisiger Ruhe entgegen, denn sie hütete sich ihre Wut merken zu lassen, die der Arzt ja leicht sofort als Krankheitssymptom hätte deuten können.

»Ich gehe nicht!« sagte sie mit höhnischem 279 Lachen. »Ich verlange, daß noch zwei Psychiater zugezogen werden.«

Nun trat Karl auf den Doktor zu und zwar mit einer solch verhaltenen Wut im Auge, daß der Arzt es für geraten fand sich hinter den Direktor zurückzuziehen. »Sie wissen recht gut,« keuchte der Tieferschütterte, »daß Seltsamkeit, Schrullenhaftigkeit, Zerstreutheit, noch lange keine Geisteskrankheit ist. Meine Mama hat recht, daß sie sich weigert. Ihr Zweck ist: sie ein für allemal aus dem Kreis ihrer Familie zu reißen. Papa will sie los sein.«

»Aber Karl!« legte sich der Direktor mit entrüsteter Miene ins Mittel. »Wie kommst du auf einen so abscheulichen Gedanken? Deine Mutter soll nur für einige Zeit . . .«

»Die sich zur Ewigkeit ausdehnt!« fiel ihm der Sohn wütend ins Wort. »Daraus wird aber nichts. Ich werd mich in die Öffentlichkeit flüchten; es soll ein Artikel darüber in die Zeitung . . .« Karl geriet in einen solchen Zustand der Aufregung, daß es der Direktor für angezeigt hielt, einzulenken.

»So beruhige dich doch,« sagte er zu dem jetzt in einen Weinkrampf Ausbrechenden. »Sie soll dann in Gottes Namen hier bleiben . . . obgleich es ihren Zustand verschlimmert!«

Der Arzt zuckte die Achseln. »Tun Sie, was Sie für gut halten!« stieß er ärgerlich heraus. »Der Arzt hat in solchen Fällen einen schweren Stand. 280 Bis einmal eine Katastrophe ausbricht! Dann glaubt man ihm erst . . .«

Karl richtete sich auf dem Stuhl empor. »Die ganze Medizin,« rief er empört, »krankt daran, daß sie überall da, wo nur Eigenheiten oder feine Charakterunterschiede vorliegen, gleich Krankheiten sieht. Wo kämen wir denn hin, wenn alle Menschen geistig völlig gleich uniformiert wären?«

»Nein, Herr Karl,« eiferte der Arzt, »Sie irren. Der Mensch ist bereits schon krank, wenn er in Zorn gerät. Ein ganz gesunder Mensch bleibt stets sanft.«

»Dann verschonen Sie mich mit dieser Art von Menschheit!« rief der Jüngling. »Eine solche Menschheit wird nie etwas Großes leisten in Künsten und Wissenschaften; sie ist höchstens gut genug, um etwa auf einer Insel im stillen Ozean traumverloren hinzuvegetieren und sich von andern Völkern alles gefallen zu lassen. Ich frage also zum letztenmal: soll meine Mutter von hier weg in eine Anstalt?«

Die feste Entschlossenheit seines Sohnes imponirte dem Direktor. Er erwiderte nichts, gab aber dem Arzt einen Wink, worauf sich beide zurückzogen.

Frau Körn fiel ihrem Karl weinend um den Hals und dankte ihm. »Du hast mich gerettet, mein Kind!« schluchzte sie. »Ich werde dir dein energisches Benehmen nie vergessen.«

»Jetzt gib dir aber auch Mühe, zu leben wie andere Menschen,« ermahnte sie Karl; »sonst werde ich dich nicht zum zweitenmal retten. Du 281 mußt gestehen, deine Handlungen sehen manchmal höchst bedenklich aus.«

»Ach das weiß ich ja, das weiß ich ja!« klagte sie. »Ich bin halt ein Ausnahmegeschöpf! . . .«

Den reizbaren Jüngling hatte dieser Vorfall dermaßen angegriffen, daß er sich einige Tage krank fühlte. Er war so matt, daß er kaum gehen konnte, suchte aber seinen Zustand ängstlich vor dem Vater zu verbergen. Natürlich hatte nach diesem Auftritt sein Haß gegen seinen Erzeuger noch bedeutend an Tiefe zugenommen.

Wenn auch alle seine übrigen Gründe vielleicht auf Einbildung beruhten, jetzt hatte er einen wirklichen greifbaren Grund, der noch obendrein kein egoistischer war, der sich mit dem Mantel des Edelmuts drapieren konnte. Der Sohn verteidigte ja seine Mutter! . . .


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