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Als Karl heute um halb ein Uhr nach Haus kam, hatte es wieder einen dramatischen ehelich-pädagogischen Auftritt gegeben. Der Vater raste durch die Zimmer, weil das Essen noch nicht fertig war.
Die Frau Direktor hatte sich wieder mal mehr in ihre Götheforschungen als in ihre Kochtöpfe versenkt. Dazu kam noch, daß Herr Kantor Mangsilber, der Dirigent der Liedertafel, den Herrn Direktor inständigst gebeten hatte, er möge doch seiner besseren Ehehälfte einen möglichst deutlichen Wink geben, damit sie ihm mit ihrem rasirmesserscharfen Diskant nicht bei Aufführung der »Schöpfung« alle andern Stimmen durchschneide! Die Frau Direktor war über diese Zurückweisung ihres nach ihrer Meinung herrlichen Diskant außer sich.
»Was?« schrie sie, »ohne mich kann ja die ganze Schöpfung garnicht aufgeführt werden!«
Alles Zureden half nichts, der Direktor geriet in Wut. »Meinst du, ich lasse mich durch dich blamieren? Dein Diskant dringt ja durch die übrigen Stimmen wie Vitriol. Du bleibst! du singst unter keinen Umständen mit.«
»Dieser Mangsilber,« gab sie zurück, »leidet an Kapellmeistergrößenwahn. Man hat meine Stimme immer gelobt.«
»Du leidest an Größenwahn! Man hat dir nicht die Wahrheit gesagt; aus deinem Mund geht ja keine richtige Note.«
»Und aus deinem kein wahres Wort.«
131 »Katharina . . . ich vergesse, daß du mein Weib bist! – Das Essen ist auch wieder nicht zur Zeit fertig; ich soll um 2 Uhr in der Schule sein! Das ist jeden Tag so! Du machst mir das Leben zur Hölle!«
»Machst du mirs etwa zum Paradies?« erwiderte sie mit jener süffisanten Ruhe, die den Gereizten erst recht aufbringt. »Das Essen ist für dich gut genug.«
»Wenn es nur endlich käme!«
»Es wird gleich kommen.«
»Ich will Ordnung in meinem Haushalt! und du singst nicht im Konzert.«
»Ich singe.«
»Das wird man sehen!«
So weit ging die Sache noch leidlich. Man beruhigte sich auf beiden Seiten. Als aber die Suppe endlich aufgetragen ward und der Direktor mit Würde den silbernen Schöpflöffel in die gelbe Masse tauchte, ereignete sich etwas in den Annalen des Haushaltes noch nicht Dagewesenes. Was zog er heraus? Anfangs glaubten alle, es sei ein etwas zu groß geratener Kloß; bei näherer Besichtigung des Klumpens stellte sich heraus, das es eine Vorhangquaste war, die auf rätselhafte Weise in der Fleischbrühe mitgekocht worden war. Das schlug dem Faß den Boden aus. Erst sank der Direktor vernichtet auf seinen Stuhl. Dann sprang er zitternd vor Wut auf sie zu und zerrte sie heftig am Arm.
Eduard, der seine Schmachtlocken zurückstreifend, 132 gerade die gekochte Quaste näher untersuchte, wollte der schreienden Mutter zu Hilfe eilen.
»Laß die Mutter los!« rief er dem über sein Eheunglück aufs tiefste empörten, halb sinnlosen Mann zu. Dieser – ganz seinen pädagogischen Grundsätzen zuwider – versetzte seinem ältesten Sohn eine jener Ohrfeigen erster Ordnung, womit er sonst nur bei den ganz kleinen, verkommenen Kaulquabben der Schule Sitte und Zucht zu stützen für notwendig hielt.
Dem Sohn flogen die blonden Schmachtlocken ums Gesicht. Er – der Gott! – geohrfeigt? Entrüstet schüttelte er seine Künstlerlöwenmähne, fing den eben zum zweiten Schlag ausholenden Arm des Vaters auf und schrie: »Ich bin nicht mehr dein Schüler!«
»Aber leider mein Sohn!«
Der Pädagog geriet durch diesen Widerstand in vollkommene Wut. Er packte den Sohn, der ihm ja auch sonst soviel Ärger bereitete, am Hals. Der Gewürgte schrie: »Er bringt mich um!« und fuchtelte windmühlenartig mit den Armen in der Luft herum, die langen Klavierfinger krallenhaft auseinandergespreitzt. Es entstand ein regelrechtes Geräufe, das auch noch nicht aufhörte, als Karl eintrat und starr vor Entsetzen die Kampfszene betrachtete. Der Direktor, der seinem gepreßten Herzen einmal Luft machen wollte, würgte seinem allmählich den Widerstand aufgebenden Eduard so bedenklich, daß Katharina schreiend ihren Karl anflehte, auf die Polizei zu eilen; der Vater bringe den Sohn um!
133 Karl warf seine Schulbücher in eine Ecke. Statt auf die Polizei zu laufen, suchte er die umklammernde Hand des Vaters von der Kehle Eduards zu reißen, der schon ganz blaurot im Gesicht nach Luft schnappte. Endlich ließ die direktorale Riesenschlange von ihrer Beute. Eduard sank halb ohnmächtig auf einen Stuhl. Die gelbe Mähne hing ihm wie ein Vorhang übers niedergebeugte Gesicht herab, so daß ihm einige Strähnen in die halboffenen, nach Luft schnappenden Lippen gerieten.
»Ist so was bei gebildeten Menschen erhört?« rief Karl. »Sind wir Neger? Räuber?«
Der ganz bleichgewordene Vater sah mit blutunterlaufenen, tränenden Augen keuchend um sich, als wache er aus einem furchtbaren Traum auf.
»Wenn man mich so zur Verzweiflung treibt!« stöhnte er. »Entsetzlich! Was für eine Ehe! O! o! es ist nicht mehr zum aushalten! man geht zu Grund!!«
Dann wankte er auf sein Studierzimmer, wo er ganz erschöpft, in krampfhaftes Weinen ausbrechend, auf das Sopha sank.
In diesem Zustand traf ihn sein Hausarzt, Medizinalrat Dr. Martin Müller, dem er, da dieser in alle Familiengeheimnisse eingeweiht war, mit Tränen in den Augen den ganzen Sachverhalt auseinandersetzte.
»Lieber Doktor,« seufzte er, »mein deutsches Pflichtgefühl hat mir mein Lebensglück zerstört, mich zu Grund gerichtet! Ich hätte das Mädchen allerdings nicht heiraten sollen! Jetzt hat man eine 134 halb geisteskranke Frau . . . mit geistig entarteten Kindern . . .«
»Was hab ich dir damals schon abgeredet, bester Freund!« sagte mitleidig der Studiengenosse. »Weißt du noch? als sie nach dem Fall auf dem Eis auf einmal von einer solchen Schreibwut befallen ward.«
»Ich sehs zu spät ein!« seufzte der Direktor. »Du hast dein ganzes wissenschaftliches Rüstzeug gegen meine dumme Verliebtheit ins Feld geführt.«
»Wer aber Verliebten predigt . . .! Weißt du noch, wie wir uns beinahe entzweit hätten? Ich war damals Student und hab den Fall schon ziemlich richtig beurteilt. Jetzt als erfahrener Arzt würd ich ihn noch mit ganz andern wissenschaftlichen Gründen stützen. Na, da läßt sich jetzt weiter nichts mehr machen.«
Der festgebaute lebhafte kleine Doktor mit dem hübschen, vom vielen Marschieren geröteten Gesicht, hatte sich gesetzt und nachdenklich den Elfenbeinknopf seines Stockes an die Unterlippe gedrückt, bis diese ganz breit über die Oberlippe hervorragte.
»Läßt sich da wirklich nichts machen?« seufzte Körn. »Ich glaube, man geht zu Grund! Man hält das nicht aus!« setzte er pathetisch hinzu.
Der Arzt mußte ein Lächeln unterdrücken über die Art wie sich hier echter Schmerz mischte mit hohler Schulmeisterphrase. Körn, der als früheres Wunderkind stets geistig bedeutend erscheinen wollte, fing nun in wohlgesetzter Rede, in geschraubten Wendungen an, sich selbst zu bedauern.
»Ich will dir was sagen, Bester,« beruhigte ihn 135 der etwas derbe Medizinalrat, dessen Vater Dorfpfarrer gewesen war. »Das kann freilich so nicht weiter gehen, – das sieht Jeder. Deine Frau wird auch nicht anders. Du hast es ja auf meinen Rat schon mit allerlei Erziehungskünsten versucht, ich weiß! Hat alles nichts genützt; sie ist von ihren Wahnideen nicht abzubringen.«
Körn bestätigte das mit stummem Kopfnicken.
»Bleibt also nur Eins, um dich zu retten,« fuhr der Arzt besorgt fort.
»Du meinst . . .?«
»Ja . . . habs schon oft gesagt. Deine Frau muß in eine Anstalt.«
»Für immer?«
»Wenn notwendig – für immer!«
Über Körns Züge zuckte ein kaum merkbarer Zug der Erleichterung; in seinen schwarzen lebhaften Augen blitzte ein freudiger Hoffnungsstrahl auf, er fuhr sich mit der wohlgepflegten Hand von der goldenen Uhrkette nervös nach dem braunen Backenbart.
»Das ist auch das einzige Mittel,« fuhr Dr. Müller fort, »um deine Kinder dem unheilvollen Einfluß der Mutter zu entziehen. Dein hochbegabter Karl leidet bereits unter der Nervosität der Mutter. Auch die Nervenleiden haben eine gewisse ansteckende Macht . . .«
Körn beugte sinnend den Kopf. »Ja, kannst du es denn auf dein Gewissen nehmen?« begann er leise. »Ist sie tatsächlich geistig so abnorm, daß ihr 136 Leiden die Unterbringung in einer Anstalt entschieden rechtfertigt?«
Der Medizinalrat besann sich. »Ja darüber,« sagte er achselzuckend, »kann man freilich verschiedener Meinung sein. Eigentlich geisteskrank ist sie nicht; sie gehört zu der großen Klasse der psychopathisch Minderwertigen.«
»Bedenke auch,« mahnte der Direktor, »was die Welt sagen würde, wenn . . . Du verstehst. Meine Stellung als Beamter . . . Es darf doch um Gotteswillen nicht so aussehen, als ob ich sie los sein wollte.«
»Ich verstehe. Darüber kannst du dich beruhigen. Wir überreden die arme Frau, sie möge nur für vier bis sechs Wochen zur Erholung ihrer angegriffenen Nerven in eine Anstalt gehen. Dann überlassen wir das Übrige dem dortigen Direktor.«
»Das wird das Beste sein,« meinte Körn. »Es wird aber schwere Kämpfe kosten, bis wirs soweit gebracht haben! sie ist sehr mißtrauisch. Die Kinder werden sich auch dagegen sträuben. Den Kampf mit den Kindern fürchte ich sogar am meisten. Die ergreifen stets Partei gegen mich und für die Mutter. Sie halten mich für einen Tyrannen, die Mutter ist ihnen das arme Opferlamm meiner Grausamkeit! Und dann . . . o Gott! Die böte Welt! Die verruchten Mäuler meiner Feinde, denen selbst das Unglück nicht heilig ist.«
»Der Welt gegenüber,« versetzte der Arzt, »kann ich diesen Schritt schon rechtfertigen. Deinen Kindern mußt du die Sache ernsthaft vorstellen, daß es ja 137 nur zum Wohl der Mutter geschieht, daß du selbst krank wirst . . . kurz es wird schon gehen.«
Der Direktor seufzte aus tiefster Seele auf, immer mit einem Anflug von Pose. Das Wunderkind mußte sich doch im Schmerz größer zeigen als die gewöhnlichen Sterblichen.
»Mut, Mut, Alterchen!« tröstete ihn der frühere Studiengenosse.
»Ich bin ein Opfer meines Pflichtgefühls!« stöhnte Körn pathetisch. »Ich tue es nur meiner Kinder wegen! Die arme Frau!« setzte er leise hinzu, »Die arme Frau!«
»Nun – warten wir noch ein paar Tage,« entschied der Medizinalrat. »Vielleicht gewinnen wir noch einen recht drastischen Beweis, der uns den Schritt zur unabweislichen Pflicht macht. – Wir haben ja Beweise genug, aber je mehr desto besser!«
Körn begleitete den Arzt mit der stillen, erhabenen Unglücksmiene des bedeutenden Mannes an die Türe. Als er gegangen war, hellte sich indes diese Miene sogleich wieder auf. Er gestand sich selbst nicht ein, wie glücklich er sich fühlen würde, wenn er von dieser ehelichen Kette befreit werden könnte. Sein gesellschaftlicher Drill, seine Gewissenhaftigkeit als Beamter waren so stark, daß er sich mit bestem Erfolg innerlich vorlügen konnte, es sei ihm unendlich leid, wenn er von der Mutter seiner Kinder, der Geliebten seiner Jugend, für immer scheiden müßte. Über die angenehme Seite dieser Trennung glitten seine Gedanken scheu hinweg.
138 Seinen Schülern zu imponieren, ihnen ein Vorbild der Männlichkeit zu sein, war ihm so zur zweiten Natur geworden, daß er, auch wenn er für sich allein war, die Rolle des bedeutenden Geistes weiter spielte. Zuerst schritt er mit gesenktem Haupt, die Hände auf dem Rücken, durchs Zimmer. Dann räusperte er sich vornehm und blickte die Möbel vernichtend an, als könnten sie unter Umständen sich unterstehen, an seiner Charaktergröße zu zweifeln. Besonders den eisernen Ofen durchbohrte er mit einem grimmigen Blick. Dann rückte er mit verächtlicher Geberde den Sessel zurecht; er ließ sich gewissermaßen herab, den Sitz mit der Berührung seines Körpers zu beehren. Wieder ein gedankentiefes Vorsichhinstarren, genau wie er vor der Klasse ins Weite starrte, wenn ihm im Augenblick der Gedankenfaden gerissen war und er den Verlornen mit einem langgezogenen äh – – äh – wieder aufsuchte. Die Federhalter lagen noch nicht ganz wie sichs gehörte; der eine ragte um einen Millimeter vor dem andern heraus. Dies mußte erst in Ordnung gebracht werden. Auch die Aufsatzhefte waren nicht systematisch übereinandergelegt. Wo war die rote Tinte? hier! Ja, aber der Kork war nicht feinsäuberlich neben das Fläschchen gelegt.
Nun setzte er sich wieder mit vornehmem Räuspern an den Pult, um die Aufsatzhefte durchzukorrigieren. Die Aussicht auf Erlösung von dieser fürchterlichen Ehefessel schmeichelte sich in seine trocknen grammatikalischen Regeln und präzeptoralen 139 Vorstellungen hinein. Die roten Tintenstriche lachten ihn ordentlich an. Jeden Augenblick ertappte er sich auf einer herrlichen Phantasie; wie er eine Erholungsreise nach Paris machte; wie er eine junge Haushälterin zu sich nahm, – doch zu jung durfte sie nicht sein; aber jedenfalls brauchte er um seine Hauswirtschaft in Ordnung zu halten, eine weibliche Person. Er fühlte sich wieder ganz jung und pfiff sogar einmal, während er einen kräftigen blutroten Strich durch eine kindische Phrase eines Aufsatzes machte, lustig vor sich hin. Doch verurteilte er diesen Freudenausbruch selbst, als eine eines großen Charakters unwürdige Handlung.
Er hatte auch Hunger, da er vorhin nichts gegessen. Sollte er sich herablassen, das im Zorn Verschmähte jetzt nachträglich . . .? Er zauderte. Doch nein! es war charaktervoller zu verzichten, die Rolle des Ehemärtyrers festzuhalten. Mit stolzer Entsagung vertiefte er sich wieder in die Aufsatzhefte.
»Hm! nicht übel!« murmelte er gnädig im Lesen, – da hatte er unversehens die Finger mit der roten Tinte befleckt. Bei einer ungeschickten Bewegung, um die Hände zu reinigen, kippte das kleine Tintenfaß um, – ein Purpurfluß ergoß sich über ein Heft, und tropfte am Pult hinab auf den Fußboden. Der Direktor stand auf und klingelte ärgerlich dem Dienstmädchen.
Karl, der gerade an der offenen Tür vorbeischritt, blieb stehen. Ein seltsamer Schauer zuckte durch sein Herz! die rote Lache am Fußboden . . .! Er starrte 140 mit einem sonderbaren grausigen Behagen die purpurnen Tropfen, die an der Platte des Pults hingen, an. Es war ihm, als sei das keine Tinte, – – Blut!
Von Entsetzen gepackt eilte er hinweg zur Mutter, die sich gerade wieder an ihren Schreibtisch gesetzt hatte.
»Könnt ihr euch denn gar nicht besser vertragen, Mama?« sagte er mit tränenerstickter Stimme. »Es ist doch gräßlich! die ganze Nachbarschaft hält sich darüber auf.«
Katharina tauchte mit pompöser Gebärde die Feder in das große Tintenfaß.
»Ja, du tust ja grad, als ob ich daran schuld sei?« sagte sie in dem singenden Tonfall ihres heimischen Dialekts.
»Solltest du nicht auch manchmal ein wenig die Schuld tragen?«
»Mein Gott ist denn das ein so großes Verbrechen, wenn mal das Essen nicht ganz hoftafelmäßig ausfällt? Ich halt das nicht aus, lieber Karl! Dies ewige Streiten ruinirt meine Kräfte. Ich bin wirklich schon mit dem Gedanken umgegangen, ob es nicht für uns Alle besser wäre, wenn wir, dein Vater und ich, – uns trennten.«
»Das wäre vielleicht eine Lösung der Frage,« meinte Karl sinnend.
»Ja,« fuhr sie exaltiert fort. »Ich glaub, ich könnte dies Opfer meinem großen Werk über Göthe bringen, denn die ewigen Zänkereien bringen mich in meiner Arbeit zurück. Ich könnte längst den ersten Band meines Werkes vollendet haben. Er hat auch nicht 141 das geringste Verständnis für die Wichtigkeit meiner Forschungen, sonst würde er so kleine Unbequemlichkeiten gern in Kauf nehmen. Ich bin nahe daran meine Aufgabe zu lösen, die Welt steht vor einer großen Überraschung.«
»Das hast du schon vor zwei Jahren gesagt.«
»Diesmal sag ichs zum letztenmal. Ich weiß nun bestimmt, daß Fausts Gretchen nicht das Gretchen ist, das die Gelehrten für das Gretchen hielten, sondern daß das Gretchen . . .« Sie verwickelte sich dermaßen, daß sie ihren Satz selbst nicht mehr verstand.
»Nun ja,« unterbrach sie der Sohn verlegen. »Es ist schon gut; ich weiß was du sagen willst.«
»Nein, du weißt es nicht!« fuhr sie eigensinnig fort. »Kein Mensch versteht mich! Hör mir nur noch einen Augenblick zu, dann geht dir vielleicht ein Licht auf über die sonderbaren Verhältnisse, denen ich auf die Spur gekommen bin.«
»Ich hab leider keine Zeit, Mama,« entschuldigte er sich, »ich muß in die Schule.«
Er ging. Wiederholt schon waren ihm Zweifel an diesen Götheforschungen seiner Mutter aufgestiegen. Er gestand sich diese Bedenken aber selbst nicht ein; der Vater sollte unrecht, die Mutter recht haben. –
Als Karl um vier Uhr aus der Schule kam, schlief jener silberbleiche, kühl absterbende Sonnenschein über den fernen Waldhügeln der duftblauen Landschaft, der dem Spätherbst einen eignen Reiz süßer Melancholie verleiht. Er brachte es nicht übers Herz gleich nach Haus in die engen Stuben zu den 142 peinlichen Zuständen der Familie zurückzukehren. Sein bedrücktes Gemüt verlangte nach Ausspannung, nach Freiheit. Seine reiche Phantasie bevölkerte ihm nun Wald und Flur. Sogleich suchte er einen kleinen Teich auf, der eine Stunde von der Stadt entfernt mitten in Wiesen lag. Da war sein Lieblingsplatz. In der Ferne blauten Wälder, in der Nähe säuselte träumerisch das Schilfrohr.
Hier an der großen Linde, die sich über den im Wind schauernden Spiegel des Weihers beugte, gab er sich seinen Träumen hin. Aus diesem säuselnden Röhricht stieg vor seiner Phantasie eine Wassernixe empor . . . Emma! Sie schwamm zu ihm heran . . . metallisch glänzte ihr Schuppenleib unterm Wasser, . . . sie stützte naiv lächelnd ihre feuchten Arme auf seine Kniee und blickte ihm mit treuherzig großen Augen ins Gesicht. Er küßte ihre feuchten Haare; sie sollte ihm verraten, welche Fragen ihm im Examen vorgelegt werden.
Aber mitten in das tiefe Behagen, das ihm derartige Phantasieen erregten, stahl sich ihm eine lästige Empfindung, die ihm anfangs nicht recht klar war. Allmählich merkte er, daß er seltsamer Weise den Eindruck nicht mehr los werden konnte, den jener purpurne Tintenstrom am Pult seines Vaters in seinem Geist zurückgelassen. Überall, wo er hinblickte, schien ihm ein roter Flecken zu schweben. Besonders wenn er die Augen schloß, hatte er deutlich das Gefühl, als ob von den Blättern der Büsche rote Tropfen in den Teich sickerten. Dabei brachte er diesen purpurnen Tropfenfall in eine 143 geheimnisvolle, unheimliche Verbindung mit dem Vater, mit dem Groll, ja Haß, den er gegen ihn hegte. Immer wieder sah er die roten Fingerspitzen des Vaters vor sich . . . und ertappte sich dabei auf einer wunderlichen Vorstellung, die er gar nicht weiter verfolgen mochte. Ganz entsetzt über sich selbst, sprang er aus dem Gras, in dem er gelegen, empor. Du bist doch ein so mitleidiger Mensch, rief er sich zu, wie können dir so grausame, blutdürstige Phantasien ins Hirn kommen? Es war zu lästig. Er mußte die Einsamkeit fliehen, Menschen aufsuchen, wieder in die Stadt zurückkehren.
Rasch eilte er, die Schulmappe unterm Arm, durch die in prächtigen Farben schimmernde Herbstlandschaft und diese absterbende Natur, die sich vor ihrem Ende noch einmal in ihre prächtigsten Krönungsgewänder hüllte, diese goldgrünen Wälder, diese roten Hecken, die sanfte Luft, erweckten eine süße Auflösungssehnsucht in ihm. Er meinte, es müßte zu den großartigsten Wollüsten gehören, am Busen der Natur zu verbluten, zugehüllt zu werden von langsam herabweinenden Blättern.
Dann verlor er sich wieder ganz in seinem Innern, das ihm vorkam, wie eine große Taucherglocke, die langsam tiefer und tiefer in grünlichschwarze Meerestiefe sinkt, – zuweilen blinkt ein purpurner Korallenbaum auf, zuweilen zuckt ein goldner Fisch durch die smaragdne Finsternis, geheimnisschwüle Stimmen locken in immer tiefere liefen . . .! Dort unten brüten Scheusale . . . Salamander und Drachen!
Er sah jetzt nichts mehr von all der 144 Blätterpracht. Vom Schießhaus herüber knallten in kurzen Zwischenräumen Schüsse, er hörte sie kaum, so sehr war er damit beschäftigt, seine widerlichen Phantasien los zu werden.
Kaum hatte er die erste Straße der Stadt erreicht, so redete er einen vorübereilenden Dienstmann an, nur um wieder eine menschliche Stimme zu hören, nur um für einen Augenblick sich selbst und den dunkeln Drängen, die ihn zu Abgründen locken wollten, zu entfliehen. Er fragte den Mann nach dem Weg, den er genau kannte. Seine Hoffnung, durch angenehme Eindrücke Zerstreuung zu finden, sollte indes getäuscht werden.
Kaum hatte er die sehr einsame Rh . . . straße erreicht, so lief ihm ein etwa achtjähriger Junge in den Weg, der, die eine Hand mit der andern festumklammernd, leise vor sich hinstöhnend, wie ein Blinder oder halb Bewußtloser dahintaumelte. Karl, der erstaunt den Kleinen genauer ins Auge faßte, bemerkte, daß von der umklammerten Hand Blut herabtropfte. Er hielt den Stöhnenden auf und fragte ihn, was denn das zu bedeuten habe? Der Junge ächzte und wollte ohne zu antworten weiter rennen. Karl packte ihn an der Schulter und gewahrte, als er ihm leise die eine Hand von der andern loslöste, daß sich der Ärmste, wie er denn auch weinend bestätigte, die ganze innere Handfläche mittelst einer Glasflaschenscherbe in die er gefallen war, grausam zerschnitten hatte. Der Junge war vor Schrecken und Schmerz ganz sinnlos und wäre, wenn ihn Karl losgelassen, mit seiner 145 gräßlichen Wunde einfach weitergelaufen. Das ließ nun der junge Mann nicht zu. Er faßte ihn am Arm und brachte ihn zu einem nicht weit entfernt wohnenden Bader. Hier machte Karl die für seinen jugendlichen Idealismus sehr niederschlagende Beobachtung, daß sich der Bader anfangs entschieden weigerte die Wunde zu verbinden. Der menschenfreundliche Gymnasiast konnte sich erst dies Zögern gar nicht erklären; es war doch Menschenpflicht dem Verwundeten so rasch als möglich zu helfen! Bald merkte er, daß der schlaue Geschäftsmann den Fall ausnutzen wollte, daß er, bevor er Geld sah, keinen Finger rühren wollte. Angewidert von dieser Herzlosigkeit, legte Karl eine Mark, sein letztes Geld, für das er sich ein Reklambändchen hatte kaufen wollen, auf den Tisch. Dieser Anblick brachte denn auch das Christentum des approbirten Baders wieder in Fluß. Er ließ aus einem Apparat Wasser über die Wunde des nun kläglich Winselnden, von einem Bein angstvoll aufs andere Hüpfenden fließen. Karl redete dem Leidenden freundlich zu und suchte ihn zu beruhigen. Er befand sich dabei in einer merkwürdigen Gemütsverfassung. Die blutende Wunde flößte ihm Schauder ein, er wollte die Blicke von ihr und dem jämmerlich Ächzenden abwenden. Aber stets zog ihn die zerschnittene Hand und die Leidensmiene des Verwundeten wie mit magnetischer Gewalt wieder an, . . . beinahe mischte sich ihm in sein Mitleid ein prickelndes, quälendes, zu Tränen reizendes Lustgefühl. Dann fragte er sich: wenn du nun diese Wunde verursacht hättest? Es kam 146 ihm vor, als hätte er es wirklich getan! Nun tauchte auch wieder die purpurne Hand seines Vaters in seiner Phantasie auf. Wenn die Tinte auch Blut gewesen wäre? und du . . . auch dies Vaterblut vergossen hättest? Ein Schrei des Jungen riß ihn aus diesen mit traumartiger Gewalt seinen Geist umklammernden Vorstellungen. Den eignen Vater . . . verwunden? Wie ist das möglich! Wie kann dir nur so ein Gedanke ins Hirn kommen! Er eilte rasch aus dem Laden auf die Straße.
Ein Automobil pustete an ihm vorüber; heiteres Leben, Gelächter rings um. Oder war das nur Larve? Heuchelte die Straße nur Heiterkeit? War nicht jeder der Vorübereilenden tief im Herzen totunglücklich und trug nur eine lächelnde Miene zur Schau? Gewiß so wars. Der Gegensatz zwischen arm und reich, glücklich und unglücklich ist nur Schein; im Grunde sind wir alle gleich elend. Aber doch! Was in dir versteckt arbeitet, das fühlen deine Mitmenschen nicht! Du bist also doch elender als alle übrigen. Alle können ihren Vater lieben, – nur du nicht!
Er kam in ganz zerschlagenem Zustand zu Hause an. Jetzt wars ihm zum erstenmal klar geworden, was eigentlich in ihm gährte. Was Andern vielleicht ein Lächeln abgenötigt hätte, – die Schrullen und schulmeisterlichen Angewohnheiten seines Vaters, – die haßte er; sie waren ihm zum Ekel. Sobald eine Geste seines Erzeugers in seiner Phantasie auftauchte, mußte er sie schleunigst mit aller Gewalt aus seiner Vorstellung verbannen, denn 147 wenn ihm dies nicht gelang, überlief ihn das Zittern des Widerwillens. Die Stimme des Vaters, die jetzt durch zwei Türen zu ihm herüberscholl, grub sich mit so widerlicher Schärfe in sein Ohr, daß sie einen ohnmachtartigen Zustand in ihm hervorbrachte. Als er die Schritte des Vaters an seiner Tür vorübergehen hörte, stand er auf; sein Herz klopfte zum Zerspringen. Jetzt ward die Türe ein wenig geöffnet, – der elegant frisierte Kopf seines Vaters mit dem wohlgepflegten Backenbart zeigte sich in der Spalte.
»Hast du heute viel zu arbeiten?« fragte der Direktor, würdevoll an seiner goldenen Uhrkette spielend.
»Nein.«
»Lies mir nicht zu viel im Nietzsche, hörst du? Sonst nehm ich dir die Bücher ab.«
Die Türe schloß sich. Dem Sohn überfiel ein Schwindel, er mußte sich aufs Bett werfen und weinen.
Warum kann ich ihn nicht lieben! stöhnte der Unglückliche. Warum kann ich ihn nicht lieben? O . . . o . . . ich kann meinen Vater nicht lieben! entsetzlich! Wie gern möcht ich ihn lieben! aber in mir ist alles hohl . . . leer . . .! Schon das Gefühl, ihm das Leben zu verdanken, ist mir grauenhaft. Er hat ja gewiß auch gute Eigenschaften! Und er zerbrach sich den Kopf, um gute Eigenschaften an ihm zu entdecken. Es gelang ihm auch: sein Pflichtgefühl, seine Gelehrsamkeit, sein Patriotismus . . . Aber immer wieder verzerrte sich 148 das Bild, immer wieder stand ein phrasendreschender, eingebildeter Egoist vor seiner Seele, ein dünkelhafter Stutzer, der im beschämenden Gefühl, nicht das teilten zu können, was er von sich selbst einst erwartet hatte, nun ein verbitterter, hartherziger Großsprecher geworden war.
Karl blickte mit trüben, leidenden Augen durchs Fenster auf den kleinen Hausgarten, auf die allmählich in den Schatten der Dämmerung versinkende Druckerei. »Pff – Pff – Pff« machte das Dampfrohr. Der weiße Wattballen des Dampfs ward heute nicht so rasch wie sonst vom Wind zerrissen, er verschwebte langsamer im feuchtgrauen Abendduft. Die Setzer hantierten emsig hinter den großen grünlichen Glasscheiben. Wie glücklich sind diese einfachen Leute! dachte Karl, als nun das elektrische Licht aufblitzte und die blauen Blusen deutlicher hinter den Glasscheiben hervortreten ließ. Sie scherzen zwischen ihrer Arbeit, sie machen sich die Arbeit zum Genuß; oder ist das auch nur Larve?
Nun ward an die Tür geklopft. Sein Freund, der fette, pausbackige Konrad trat ein, mit seinem stereotypen Gruß: »Diverse Schnäpse.«
»Um Gotteswillen!« fuhr ihn Karl an, »gewöhn dir doch die dumme Redensart ab. Im vorigen Jahre hattest du stets die Phrase: Das schwächt bedeutend!«
Konrad Stern meinte lachend: »Ich kann nicht anders. Das ist krankhaft bei mir. So ne Redensart hilft über Vieles hinweg; sie ist wie ein saftiger Fluch, doch harmloser.«
149 »Nu denn meinetwegen!« gab Körn zurück. »Übrigens . . . gut, daß du kommst. Du sollst mich auf bessere Gedanken bringen.«
»Wieso?« fragte der aufgeschwemmte Konrad, »was hast du für Gedanken?«
»Gott! in der Abenddämmerung fällt einem allerlei böses Zeug ein!«
»Wie stehts denn mit der Anklage?« fragte der Freund.
»Weiß noch gar nichts! Hab ich dir gesagt, daß Fräulein Dorn den Dr. Simmer besuchen will?«
»Nein.«
»Nun, sie tuts also. Mein Vater tut nichts. Dem ists vielleicht recht, wenn ich hinausfliege.«
Nach einer Pause sagte Konrad: »Sonderbar, daß wir modernen Söhne uns so schlecht mit unsern Vätern vertragen!«
»Ja,« meinte Karl, »fast in jeder Familie gibts Konflikte zwischen Vater und Sohn. Es ist förmlich eine Zeitkrankheit!« Er starrte düster durchs Fenster. Beinahe hätte er dem gutmütigen Kameraden einen tieferen Blick in sein gequältes Inneres gewährt; er hielt es aber doch für besser zu schweigen.
Nach einiger Zeit fragte Konrad: »Hast du jetzt das theosophische Werk gelesen?«
»Ja; sehr schön! Nur schade, daß sich das alles noch nicht wissenschaftlich beweisen läßt. Bis jetzt ists nicht viel mehr, als schöne Phantasie, allerdings hats n bischen mehr Beweiskraft als die Kirchenreligion, aber nicht viel. Nu, vielleicht in 150 hundert Jahren . . . Gib acht, setz dich dahin. Ich will dir meine neuesten Tagebuch-Aufzeichnungen vorlesen.«
»Nur zu!« sagte Konrad, und ließ sich auf einen Stuhl nieder, während Karl, auf dem Bettrand sitzend, ein großes blaues Heft aus der Tischschublade zog. Da es bereits stark dunkelte, zündete er sein kleines Studierlämpchen an und begann zu lesen.
– Ach, ich fürchte, wir wissen eigentlich ganz genau, was wir sind, woher wir kommen, wohin wir gehen; wir habens nur vergessen. In der Kunst dämmert uns zuweilen eine Erinnerung.
»Das ist Theosophie!« unterbrach ihn Konrad erfreut.
»Hab ich selbst nicht mal gemerkt,« sagte Karl. »Aber hast recht! Es geht uns wahrhaftig mit den Weltanschauungen, wie mit den Stylformen in der Architektur; wir erfinden keine neue mehr, wir spielen nur mit den alten. Ich bin übrigens das Suchen nach einer Weltanschauung gründlich müd.«
»Ich auch; bald sing ich: Ich hab mein Sach auf nichts gestellt.«
»Hätt ich deinen Humor!«
»Hab ihn!« sagte Konrad, »und laß die Philosophie! Nichts als Widersprüche! Da kommt man zu keinem Ziel. Halten wir uns an die Kunst! Lies weiter! Diverse Schnäpse.«
»Deine verruchte Redensart!«
»Lies weiter.«
Karl las: 151
– Niemand ist zu fürchten, – nur der, dem das Leben keinen Wert hat.
– Es ist oft schlauer, nicht schlau zu sein!
– Gottes Ich ist im Universum aufgelöst und konzentriert sich wieder im Menschen.
– Ein bereuter Fehler ist mehr wert, als eine protzige Tugend.
– Die ganz reichen Leute und die ganz armen haben Gott am nötigsten.
– Den Übergang vom Tod zum Leben – Geburt – sollten wir mehr fürchten, als den Übergang vom Leben zum Tod. Dieser befreit uns; jener setzt uns, ohne Richterspruch und Verteidigung, gefangen.
– Unser Körper ist vielleicht die von Stümperhand verfertigte Kopie der Seele.
– Nur wer reich ist, kann nobel sein. Aber um reich zu werden, muß man möglichst unnobel sein.
– Der Richter spricht: Ich erlaube dir zu verhungern, aber nicht zu stehlen.
– Der größte Luxus, den man sich auf Erden gestatten kann, ist – der Humor!
– Manche vornehmen Herren machen aus der Religion einen Sport, aus dem Sport eine Religion.
– Wie elend sind wir, daß sogar unsere freudigste Erregung eine Krankheit ist; das Lachen – ein Krampf!
Als Karl etwa eine halbe Stunde hindurch dem Kameraden vorgelesen hatte, fühlte er, wie es ihm innerlich leichter wurde. Der schreckliche Druck war von ihm genommen; ja als Konrad gegangen 152 war, empfand er auf einmal den Drang, ein paar freundliche Worte mit dem Vater zu wechseln, gleichsam, als könne er dadurch seine abscheulichen Gedanken wieder gut machen. Er suchte den Vater auf, der gerade wieder vor seinem Schreibtisch saß und Aufsatzhefte korrigierte.
Der Schuldirektor war ganz erstaunt über die plötzliche Zärtlichkeitsanwandlung seines Sohns, der sich erbot, ihm wenn es nötig sei, einen Ausgang zu besorgen. Er sah von seinen Heften mistrauisch empor auf den vor ihm Stehenden.
»Du scheinst dein früheres Benehmen gegen mich zu bereuen?« sagte er.
Dies Wort goß kaltes Wasser auf die Liebesanwandlung des Sohnes. »Bereuen?« stammelte er, »mußt du gleich wieder von Bereuen reden? Kannst du Vergangenes nicht auch einmal vergangen sein lassen? Warum immer wieder an alte Fehler erinnern? wo ich so gern . . .« Es lag ihm ein herzliches Wort auf den Lippen; er unterdrückte es, da ihn ein Blick daran erinnerte, daß er wieder einmal vor seinem Erzieher, nicht vor seinem Erzeuger stand.
»Man kann nicht oft genug« fuhr dieser fort, »an seine Fehler erinnert werden. Das sind unsere besten Freunde, die das tun. Du hast gute Eigenschaften, aber leider merkt man mehr von deinem übeln. Man denke doch an den Geist des Widerspruchs, der sich stets im Benehmen, in der Unterhaltung offenbarte! Ewig widerspricht man mir!«
»Es tut mir leid, wenn ich zu schroff war,« 153 versetzte der Sohn mit Tränen in den Augen, und erwartete nun endlich ein weiches, entgegenkommendes Wort.
»So tut dir das endlich leid?« fuhr der Schulmann fort, der auch jetzt wieder die innigen Gefühle für sein Kind hinter präzeptoraler Barschheit zu verbergen wußte. »Wenn es nur nicht zu spät ist!«
»Zu spät? wieso?«
»Ich kann nicht mehr so gegen dich sein, wie früher. Ich kann es nicht in Abrede stellen: ich bin ein Anderer geworden. Ich kann dir nicht mehr als Freund entgegenkommen, bis Dr. Simmer versöhnt ist.«
Diese geschraubten Redewendungen ernüchterten den Sohn dermaßen, daß er sich mit seinen Tränen recht lächerlich vorkam. Wie gern hätte er heute dem Vater sein ganzes Herz ausgeschüttet, ihn zum Mitwisser seiner Qualen gemacht . . .! Und nun diese direktorale Würde!
»Fräulein Emma Dorn hat sich erboten für mich bei Dr. Simmer ein gutes Wort einzulegen,« erwiderte er kühl.
»Was?« stotterte der Direktor und blickte betreten unter sich. »Diese Dame will . . . Hm, nun, – das kann sie. Ich lege ihr nichts in den Weg. Im Gegenteil. Wenn Dr. Simmer sie empfängt . . .? Er ist aber nicht gut auf sie zu sprechen . . . Ich selbst kann jedenfalls in der Sache nichts tun.«
»Das sehe ich ein. Ich wollte dich deshalb nur bitten . . .«
»Was?«
154 »Mir jene Kritik zu verzeihen,« stotterte Karl errötend.
Körn sah ihn befremdet an. »Dr. Simmer muß sie dir erst verzeihen,« sagte er schroff. »Die Sache ist mir furchtbar peinlich; du hast mich da in eine böse Lage gebracht. Dr. Simmer – ich kann dir das nicht so auseinandersetzen – Dr. Simmer hat einflußreiche Personen hinter sich; er kann mir schaden. Es kam mir zu Ohren, daß er sich bei wichtigen, ja ausschlaggebenden Persönlichkeiten über meine Erziehungsmethode höchst misbilligend geäußert, – auch über unser ganzes Familienleben. Er kann mich in der ganzen Vorstadt, beim Oberschulrat, ja noch höher hinauf in einen bösen Ruf bringen. Daran bist du schuld!«
Karl sah bleich werdend unter sich. »Ich will alles tun,« sagte er, »um die Sache in Güte beizulegen.«
Der Direktor nickte mit finsterem Gesichtsausdruck. Karl verließ ihn.
Auf seinem Zimmerchen angekommen, sagte er sich: Der Vater denkt nur an sich, an seine Stellung, seinen Ruf. Ich bin ihm sehr gleichgültig, er liebt mich nicht! Allerdings stahl sich in diese Betrachtung das Gefühl: der Vater könne vielleicht seine Liebe nicht auf die richtige Art an den Tag legen, er gehöre vielleicht zu jenen schroffen Naturen, die ihre weichen Empfindungen unter einer rauhen Außenseite verbergen. Aber Karls Seele war so menschenfeindlich-empfindlich beschaffen, daß sie diese bessere Auslegung des väterlichen Benehmens 155 mit Gewalt ablehnte. Der Vater sollte ein Egoist sein; so schrieb es ihm sein leicht verletztes Inneres vor. Er fraß sich jetzt mit einer wahren Wollust in seinen Haß hinein; er fühlte sich erhaben, wenn er sich in den finsteren Trauermantel dieses Unglücks, dieses Verkanntseins hüllen konnte.