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14

Dick Hallowell machte nicht häufig bei der Gattin seines Obersten Besuch, und Lady Cynthia war offensichtlich überrascht, als er gemeldet wurde. Sie saß auf der Kante eines niedrigen Sitzes vor dem Teetisch. Sie hatte eine gerade, schlanke Gestalt und feingebildete Züge. Ihre Lippen waren ein wenig zu schmal, um schön zu sein. Bobby hatte sein Urteil über Lady Cynthia in dem Satz zusammengefaßt: »Wenn man sie sieht, denkt man, sie ist dreißig, wenn man sie hört, denkt man, sie ist hundert.« Aller Charme und alle Frische eines Mädchens, alle herbe Weisheit einer Frau waren in ihr vereinigt.

»Es ist mir ein überaus großes Vergnügen, Dick«, sagte sie gedehnt. »Sie sind der erste. Soll ich den Tee bestellen?«

»Bitte nicht, ich hoffte Sie zu sehen, bevor die anderen kommen«, sagte er.

Es war Lady Cynthias ›Nachmittag‹: eine schwere Zeit für junge Leutnants, denn sie hatte ihre besonderen Informationsquellen, und mancher Jüngling hatte schreckensbleich vor ihr gestanden, während sie ihm eins seiner Abenteuer erzählte.

»Nehmen Sie Platz. Sie wünschen keinen Tee, aber Sie wünschen zu sprechen – natürlich über Miss Joyner«, begann Lady Cynthia richtig.

Trotz seiner Selbstbeherrschung fühlte Dick Hallowell, wie ihm das Blut in die Wangen stieg.

»Ja, über Miss Joyner. Ich habe sie auf morgen abend zu mir eingeladen und möchte mir die Frage erlauben, ob ich Sie bitten dürfte, die Hausfrau zu spielen?«

Ihre glänzenden blauen Augen sahen ihn unbewegt an. Sie machte eine Pause.

»Natürlich, ich werde mich freuen. Es ist Miss Hope Joyner, das junge Mädchen, das in Devonshire House wohnt – alle Welt spricht von ihr, man sagt, daß sie sehr hübsch sei.«

»Sie ist wunderschön«, sagte Dick begeistert.

Sie zuckte fast unmerklich die Schultern, und Dick, der es bemerkte, bereitete sich auf das Kommende vor.

»Sie ist eine von den Yorkshire Joyners, nicht wahr? Oder von denen aus Warwickshire – ich kenne eine sehr gute Familie dort seit vielen Jahren.«

»Ich weiß nichts über ihre Familie«, sagte Dick.

»Sie wissen nichts? Sie meinen doch nicht –?« Sie überließ ihm die Antwort.

»Ich meine, daß ich nicht weiß, wer ihre Verwandten sind, und daß sie selbst es auch nicht weiß. Sie ist eine Dame, und sie ist entzückend. Ich hoffe, daß Sie sie freundlich in unserem Regiment begrüßen, Lady Cynthia.«

Sie blickte jetzt auf den Teetisch nieder und seufzte.

»Es ist sehr schwierig, nicht wahr? Sie verstehen natürlich, Dick, wie außerordentlich sorgfältig man sein muß – in der Wahl der Frauen, die unsere Leute heiraten. Ich hoffe, Sie werden glücklich werden. Ob Sie bleiben –«

»Bitte quälen Sie mich nicht damit, ob ich bleibe oder nicht, wenn Sie das Regiment meinen, Lady Cynthia«, sagte er mit aller Geduld, die er aufbringen konnte. »Wollen Sie sie zuerst sehen?«

»Natürlich«, antwortete sie plötzlich. »Vielleicht haben Sie sie nicht nach ihrer Familie gefragt?«

»O doch, ich habe sie gefragt«, sagte Dick ruhig, als er sich erhob, um zu gehen. »Ich darf Sie also um acht erwarten?«

Sie hielt ihm die juwelengeschmückte Hand hin und lächelte.

»Ich hoffe, daß alles gutgehen wird, Dick«, sagte sie fast zärtlich. »Es würde uns allen leid tun, wenn Sie gehen müßten.«

Er rannte buchstäblich in Bobby hinein, als er die Wohnung verließ.

»Ich komme, um ihr mein allwöchentliches Opfer zu bringen«, sagte Bobby mißgestimmt. »Wie befindet sich die alte Dame?«

»Sie ist allein«, sagte Dick wild, »und ich wünsche dir viel Vergnügen!«

»Ach du lieber Gott!« sagte Bobby sanft und meldete sich selbst an.

»Der Mann, den ich sehen wollte!«

Er hatte diese Frau noch nie so fröhlich und begeistert gesehen. Schuldbewußt ging er alle Heldentaten durch, die er in dieser Woche begangen hatte, aber er konnte nichts finden.

»Ich sprach gerade mit Dick Hallowell – Sie sind doch ein guter Freund von ihm?«

»Ein ziemlich guter«, entgegnete Bobby vorsichtig.

Er wollte erst wissen, zu welchem Zweck er danach gefragt wurde, bevor er nähere Geständnisse machte.

»Wer ist diese unglückselige Joyner?«

»Eine sehr hübsche Dame«, sagte Bobby gleichgültig.

»Ist er verlobt?«

Bobby schüttelte den Kopf.

»Aber er möchte?«

Bobby nickte.

»Können Sie ihn nicht davon überzeugen, daß er sich damit unmöglich macht?«

»Sehen Sie, Lady Cynthia –« Bobby reizte es, ihr eine Antwort zu geben. Sie blickte ihn mit offenem Mund an, als er mit so entschiedener Stimme sprach. »Ich dachte, Sie wünschten nur keine Frau mit einer Vergangenheit in unserem Regiment?«

»Wir brauchen gerade Vergangenheit«, sagte sie gut gelaunt. »Aber eine Vergangenheit, die man hundert oder mehr Jahre zurückverfolgen kann.«

»Nicht zwanzig oder dreißig Jahre?« fragte Bobby. Sie wandte ihm sofort den Blick zu. »Ich meine, würden Sie eine Frau –«, sein Mund war trocken, und nur durch ungeheure Willensanstrengung konnte er seine Zunge bewegen, aber er war so begeistert von der schönen Hope, »würde eine Frau passend sein für unser Regiment, wenn sie eine unglückliche Affäre vor vielleicht fünfundzwanzig Jahren gehabt hätte – oder vielleicht auch vor sechsundzwanzig?« fragte er krampfhaft.

Man war sich im Regiment nicht einig, ob die Farben Lady Cynthias natürlich seien oder ob sie mit Puder und Schminke nachhelfe. Er hätte jetzt alle Zweifel beschwichtigen können, denn ihr Gesicht wurde plötzlich ganz weiß.

»Ich kann Ihnen nicht ganz folgen, Mr. Longfellow – von wem sprechen Sie? Welche Frau hatte eine unangenehme Episode in ihrem Leben – vor fünfundzwanzig Jahren?«

»Ich sprach nicht von einer bestimmten Frau.«

»Sie sprechen doch von einer Frau«, bestand sie.

»Ich sprach von niemand«, sagte Bobby heuchlerisch. »Ich fragte nur, ob das rückwirkend ist.«

Sie holte tief Atem und bekam langsam wieder Farbe.

»Rätsel machen mir Kopfschmerzen.« Und als im Augenblick darauf der Adjutant und ein anderer Offizier hereinkamen, machte sie keinen Versuch, ihre Erleichterung zu verbergen.

»Guten Tag, gnädige Frau!«

Bobby pfiff, als er über den Platz schritt, und war so in Gedanken, daß er fast vergaß, die Grüße zu erwidern, als er mit langen Schritten an dem Wachthaus unter dem achthundertjährigen Fallgatter des Blutturmes vorbeiging.

Der Sergeant der Torwache stand am Ende der Brücke über den Festungsgraben und beobachtete das Eindrillen nachlässiger Soldaten. Er stand stramm, als sich der Offizier näherte. Bobby erinnerte sich, hielt an und fragte etwas.

»Ja, Herr Leutnant«, sagte der Sergeant. »Sir Richard ist eben weggegangen.«

Bobby lief schnell und holte seinen Freund noch ein, als dieser gerade in ein Auto steigen wollte.

»Ich gehe auch nach dem Westend«, sagte Bobby, als er sich neben ihm niederließ.

Er betrachtete Dick Hallowells umdüsterte Stirn und lächelte.

»Cynthia war aber in Form diesen Nachmittag, sie kam mir auch ganz rätselhaft vor. Nach deinem wilden und grimmigen Gesicht, mit dem du mich anranntest, habe ich angenommen, daß du mit ihr über Hope Joyner gesprochen hast.« Dick nickte.

»Sie scheint beschlossen zu haben, daß ich das Regiment verlassen muß«, sagte er bitter. »Und wirklich – ich weiß nicht, was man gegen sie tun könnte. Der Oberst hat sich in der Sache mit Graham sehr vornehm benommen, deshalb muß ich in dieser Frage nachgeben. Es kümmert mich wenig, daß ich meinen Abschied nehmen muß, obwohl das eine Familientradition bricht. Was mich kränkt, ist die stillschweigende Nichtachtung, die man Hope entgegenbringt.«

Bobby erinnerte sich plötzlich an etwas.

»Da du von Graham sprachst – er war diesen Nachmittag im Tower.«

Dick blickte erstaunt auf. »Zum Teufel, woher weißt du das?«

»Mein Bursche sah ihn – er besuchte die Schatzkammer.«

Dicks Gesicht verfinsterte sich.

»Graham gehört nicht zu den Leuten, die Vergnügen an großen Menschenmengen finden, und an einem Sonnabend hätte ich ihn am letzten hier erwartet.«

»Es ist vielleicht nicht so sonderbar, wie du annimmst«, sagte Bobby. »Das ist doch der einzige Tag, an dem er überhaupt zum Tower kommen kann. Denn es sind dann so viele Leute da, daß er unbemerkt in der Menge verschwindet.«

Dick schüttelte den Kopf.

»Warum sollte er unbemerkt sein wollen?« fragte er. »Schatzkammer? Ich habe niemals gewußt, daß Graham ein patriotisches Interesse an Kroninsignien hat.«

Der Gedanke an seinen Bruder beschäftigte sein Gemüt. Bobby sagte plötzlich zu ihm: »Bitte, versprich mir eins nimm deinen Abschied nicht – und verrate diese Absicht weder dem Oberst noch sonst jemand, bevor du dich mit mir ausgesprochen hast.«

»Es gibt nur einen Menschen in der Welt, mit dem ich mich darüber aussprechen kann, Bobby«, sagte er, »und den werde ich in fünf Minuten sehen.«

Er scheute vor diesem Gespräch zurück, als er in das schöne Vestibül von Devonshire House eintrat. Daß er Hope verletzen mußte durch die Erwähnung ihrer dunklen und unbekannten Herkunft, war ihm fürchterlich. Sie mußte den Kummer in seinen Zügen gelesen haben, als sie quer durch die getäfelte Halle auf ihn zuschritt, um ihn zu begrüßen.

Aber plötzlich lächelte sie.

Und dann nahm er sie ohne ein Wort bei den Schultern, beugte sich nieder und küßte sie. Er hatte sie vorher nie geküßt und fühlte, wie sie unter seinen Händen zitterte. Sie schwiegen. Es gab keine Liebesworte, keine geflüsterten Fragen und keine scheuen Antworten. Er legte den Arm um sie, und sie gingen in das Besuchszimmer.

Einen Augenblick sahen sie einander ernst und forschend an.

»Ich habe niemals davon geträumt, daß ich das tun würde«, sagte er einfach. »Aber – es geschah eben.«

Dann fuhr er fort, ohne auf eine Antwort zu warten: »Ich war bei Lady Cynthia Ruislip – der Gattin meines Obersten – diesen Nachmittag –«

»Und sie erkennt mich nicht an«, sagte sie schnell. »Sie hat mich niemals anerkannt – weil ich ein Niemand bin. Nicht wahr, Dick?«

Er nickte. Dieser Augenblick war nicht zu höflichen Erklärungen geeignet. »Wer hat dir dies gesagt?«

»Das weiß ich seit langer Zeit – ich habe es eben gefühlt. Bedeutet das, daß du deinen Abschied nehmen mußt?«

»Ich werde das Regiment verlassen – sowieso«, begann er.

»Du sagst mir nicht die Wahrheit – sie verlangen es von dir, aber ich werde es nicht zugeben.«

Ihre Stimme war stark und ruhig, er hatte sie niemals ernster gesehen. Ihre ganze Haltung zeugte von dem Protest, den ihre Lippen aussprachen.

»Jetzt noch nicht, auf keinen Fall. Du mußt erst wissen, wer ich bin, Dick, in gutem oder in schlechtem Sinn. Ich glaube, Lady Cynthia hat recht – mehr recht, als wenn sie Einwände gegen die Aufnahme der Tochter eines Schornsteinfegers in das Regiment erhebt.«

»Ich werde die Armee verlassen«, sagte er hartnäckig. Aber sie schüttelte lächelnd den Kopf.

»Du glaubst nicht, wieviel Anstrengung es kostet, nein zu sagen, Dick«, sagte sie und blickte ihn mit ihren wundervollen Augen an. »Alles in mir sagt so laut ja, daß ich mich wundere, daß du es nicht hörst.«

»Aber Hope, ich brauche dich.« Er drückte ihre Hände. »Ich kann nicht ohne dich leben – nichts auf der ganzen Welt kann mich bestimmen, dich aufzugeben! Ich liebe dich! Mein ganzes Leben dreht sich nur noch um dich.«

Sie sagte langsam und verhalten: »Du brauchst mich nicht aufzugeben, Dick –« Im nächsten Augenblick lag sie in seinen Armen. Seine Wange ruhte an ihrem heißen Kopf, und er fühlte das Zittern und Beben des Körpers, der sich eng an ihn schmiegte.

*

Wenn Mr. Trayne eine Fahrt vorhatte, fuhr er rasch und schlug Wege ein, die selbst der schlaueste Detektiv nicht vorher ahnen konnte. Sein Auto war erstklassig, es konnte jeden Verfolger weit hinter sich lassen, und für die Polizei war es nutzlos, abseits liegende Stationen zu alarmieren, daß man ihn bis zu seinem Ziel verfolgen sollte. Auf so einem sonderbaren Weg fuhr er heute in der Dämmerung über Reading nach Cobham. Diana war schon angekommen und nippte an einer Tasse Kaffee, die ihr der neue Koch gebracht hatte, als er in das hübsche kleine Wohnzimmer trat. Er vergewisserte sich mit einem Blick ringsum, daß die Fenster geschlossen und die Vorhänge zugezogen waren. Dann warf er seinen Hut auf das Sofa und setzte sich nieder.

»Sind Sie mit dem Schneider zufrieden?« fragte er.

»Ja«, sagte Graham. »Er hat heute anprobiert.«

»Gut!« Er lächelte über Dianas ernstes Gesicht. »Sie haben einen Schrecken bekommen«, sagte er, »und ich weiß, warum. Graham hat Ihnen von dem Plan erzählt.«

»Ja, er sagte mir alles, was er weiß.«

»Gut!« Er lachte leise wie über einen guten Witz. »Es handelt sich um das wenige, was er Ihnen gesagt hat – und um das wenige, das er nicht weiß. Deshalb sind Ihre Nerven am Ende, nicht wahr?«

»Trayne, diese Sache ist absolut unmöglich!« warf Graham ungeduldig ein. »Ich war gestern im Tower, um mir die Schatzkammer anzusehen und – es ist unmöglich! Es ist der wahnsinnigste Plan, der jemals ausgedacht wurde! Sie würden Stunden brauchen, um durch die Stahltüren zu kommen. Ich nehme an, Sie wissen, daß die Türen vor dem Eingang zu dem Raum armiert sind und daß jeder Riegel und Laden elektrische Kontakte hat. In dem Augenblick, in dem Sie versuchen, etwas zu berühren oder aufzuschneiden, würden in dem ganzen höllischen Tower die Glocken läuten!« Er schwieg außer Atem.

Trayne reagierte gar nicht darauf. Er war nur sichtlich belustigt.

»Ich weiß, daß Sie im Tower waren. Ich kann Ihnen die Nummer Ihrer Eintrittskarte sagen, den Namen des Aufsehers an der Kirche, und ich kann Ihnen auch Ihr Gespräch mit ihm erzählen. Das ist auch unmöglich, wie?« Seine scharfen Augen lagen forschend auf dem Gesicht Grahams. »Denken Sie denn«, sagte er langsam und nachdrücklich, »daß ich ein so vollkommener Idiot bin, daß ich dieses Wagnis unternehme – wenn es unmöglich auszuführen ist? Glauben Sie, ich weiß nicht ebenso wie Sie, daß armierte Türen vor jedem Eingang sind, daß es Alarmsignale an jedem Riegel und an jeder Platte gibt oder glauben Sie, Sie müssen mir erst diese Informationen geben?«

Der Sarkasmus in seinem Ton verwirrte Graham.

»Natürlich erwarte ich, daß Sie den Platz ausgekundschaftet haben – aber selbst dann –«

»Selbst dann denken Sie noch, sei es unmöglich? Wie lange vermuten Sie denn, daß ich an diesem Plan arbeite?«

Es war Diana, die die Antwort gab.

»Kishlastan ist sechs Monate im Land –«

»Kishlastan«, sagte er verächtlich. »Er ist weiter nichts als der Käufer, auf den ich seit zehn Jahren warte. Zehn? Vor zwölf Jahren tauchte zuerst der Plan in mir auf, den Gouverneur des Tower von seiner Verantwortlichkeit zu befreien. Seit zwölf Jahren sind die Kroninsignien meine Liebhaberei. Ich kenne sie so gut, daß ich aus dem Gedächtnis das Elfenbeinzepter, den Salbungslöffel, jede Krone, jedes Diadem zeichnen könnte. Ich könnte den Schnitt der großen Diamanten wiedergeben, könnte auf den Millimeter das Maß des Rubins des Schwarzen Prinzen angeben –«

Er hielt inne, lachte kurz auf, biß das Ende einer Zigarre ab und entzündete sie.

»Ach, ich könnte Ihnen noch viel mehr sagen. Ich bin einer der wenigen, außer den Offizieren, der mit den eisernen Läden umgehen kann. Ich kenne jede Alarmverbindung – die beiden Stahltüren am Eingang sind meine alten Freunde –, hören Sie?« Er senkte seine Stimme, legte seine Ellbogen auf den Tisch und beugte sich zu Hallowell.

»Wenn der Hüter der Kroninsignien eine Krone oder ein Zepter herausnehmen will, muß er dann erst Eisentüren durchschneiden – muß er den Tower alarmieren? Braucht er etwa Gasgebläse?«

»Natürlich nicht«, sagte Graham ungeduldig. »Er nimmt seine Schlüssel.«

»Also – er nimmt seine Schlüssel, er dreht seine Hebel, und in fünf Minuten nimmt er alles heraus, was er braucht. Und genauso werde ich es auch machen.«

Er rauchte nachdenklich seine Zigarre, seine Augen waren zur Decke gerichtet. Sie unterbrachen seine Betrachtungen nicht, und nach einer Weile fuhr er fort: »Haben Sie Ihr Besitztum schon durchforscht?«

Einen Augenblick dachte Graham, er spräche bildlich.

»Ich meine hier den Grund und Boden.«

»Ja. Ich bin herumgegangen. Warum?«

»Haben Sie den Steinturm gesehen?«

»Das Kornhaus? Ja.«

Trayne lachte.

»Kornhaus! Das ist sehr gut. Wir haben Sie nachts nicht gestört?«

»Mich gestört? Waren Sie denn hier?«

Trayne nickte.

»Jede zweite Nacht – ein halbes Dutzend von uns. Möchten Sie das Kornhaus besichtigen?«

Er erhob sich bei dieser Frage.

»Einen Augenblick, Mr. Trayne. Ich möchte Sie noch etwas fragen«, sagte Diana. »Niemand kennt die Konsequenzen besser als Sie, wenn wir entdeckt werden. Und doch scheint jedermann in Ihr Vertrauen gezogen zu sein – Graham, ich, die Leute, die Sie beschäftigen –« Er unterbrach sie lachend.

»Es ist nur ein bißchen schwierig zu beweisen, ja?« fragte er kühl. »Und wenn alles vorüber ist, was macht es dann aus? Es ist eine so großartige Sache – sie sieht mehr nach einem Krieg als nach einem Diebstahl aus. Es tut nichts, wer den Krieg beginnt – irgend einmal ist er im Gang. Und es tut nichts, wer diese Juwelen nimmt – irgend einmal sind sie eben weg. Es würde nichts ausmachen, wenn der Dieb die Regent Street entlangginge mit einem Plakat auf dem Rücken, das diese Tatsache verkündete. Die Frage nach der Bestrafung ist gering im Vergleich zu der Entdeckung des gestohlenen Eigentums. Außerdem ist Kishlastan beteiligt, wie Sie wissen, und Sie können ihn nicht von der Sache fernhalten, auch wenn Sie es versuchten.« Dann sagte er energisch: »Kommen Sie mit!«

Sie folgten ihm in den Garten auf einen ungepflegten Weg, der auf die Felder führte. Einmal wandte er sich um und warnte sie, Licht anzumachen.

»Wenn Sie mich nicht sehen können, Miss Martyn, fassen Sie mich besser an der Schulter, und Hallowell soll sich an Ihnen festhalten. Sie können hier nicht fehltreten.«

Schließlich stand der Turm undeutlich in der Finsternis vor ihnen, und ohne Zögern ging Trayne zu der kleinen Tür. Diana hörte das leise Schnappen eines Schlosses. Es war vollständig dunkel, als sich die Tür geräuschlos öffnete. Er riet ihnen, sich zu bücken, und führte sie in ein kleines, gewölbtes Zimmer. Man hörte ein Knacken, dann ergoß sich eine Flut von Licht über den Raum, das nach der Dunkelheit blendete.

Sie waren in einem kleinen Vorsaal, von dem eine Wendeltreppe nach oben führte. Der Eingang kam Graham bekannt vor. Zuerst bemerkte er, daß der Turm innen kreisförmig war, obwohl er von außen viereckige Gestalt hatte. Er war halbwegs die breiten Stufen hinaufgestiegen, als er mit einem Seufzer die Bedeutung und den Zweck des »Kornhauses« erkannte. Jeder Zweifel, den er noch hatte, wurde beseitigt, als sie zu dem Podest kamen, dem ein paar stahlarmierte Türen gegenüberlagen.

Tiger Trayne nahm einen Schlüssel aus seiner Westentasche, schloß sie auf, und sie schwangen schwer nach innen. Wieder eine Flut von Licht. Diana schaute mit offenem Mund auf die Szene, die sich ihren Blicken bot. In der Mitte eines kreisförmigen Zimmers befand sich ein großer Glas- und Stahlkasten, in dem symmetrisch eine Reihe hölzerner Blöcke und Stäbe lagen. Das Innere war hell erleuchtet. Graham erkannte den Inhalt.

Diese viereckige Büchse war die Krone Eduards, dieser lange Stab das Diamantzepter – der Kasten enthielt hölzerne Kronjuwelen, jedes an seinem besonderen Platz.

»Jetzt will ich Ihnen etwas zeigen«, sagte Trayne. Und als er sprach, hörten sie einen zischenden Ton. Schwere Stahlläden schlossen sich von innen über das Glas, so daß das Innere den Blicken entzogen war. »Passen Sie auf!«

Sie konnten nicht sehen, was er machte. Aber die Läden öffneten sich wieder. Er ging zu einem der Fächer des Gelasses, und Graham beobachtete ihn fasziniert. Er sah, wie er hineinlangte und den Holzblock herausnahm ...

»Aber die Alarmglocken!« sagte er heiser.

»Sie werden nicht läuten, weil sie nicht können«, war die kühle Antwort. »Ich gestehe, daß das eine der größten Schwierigkeiten war. Ich mußte zwei Jahre lang schwer nachdenken, um dann endlich mit Hilfe eines geschickten schwedischen Elektrikers zu entdecken, wie man sie außer Tätigkeit setzen kann. Diese Schwierigkeit ist überwunden, Sie brauchen sich keine Sorge zu machen. Führen Sie nur alles das aus, was Ihre Rolle Ihnen vorschreibt – das übrige ist dann leicht. Ich muß Sie morgen abend sehen und dann jeden Abend bis zum Fünfundzwanzigsten. Sie werden dazu besonders eingekleidet werden.«

»Wenn nun aber ein Hindernis –?«

»Es wird kein Hindernis geben«, sagte Trayne kurz, als er das große Tor zuschloß.

Graham ging voraus durch die Felder. Die Gedanken wirbelten in seinem Kopf. Aber Diana bewahrte ihre kühle Ruhe. Sie übersah jetzt den ganzen Plan Tiger Traynes und wußte auch, daß er Erfolg haben würde, nur –

»Wie lange wird Graham fortbleiben?«

»Höchstens drei Monate«, sagte Trayne. Er senkte seine Stimme, als sie am Ende der Felder waren und den Rasenplatz vorm Haus überschritten.

»Glauben Sie, daß man ihn verdächtigen wird?«

»Kommt es denn überhaupt darauf an, wen man verdächtigt?«


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