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»... Als ich vor kurzer Zeit wieder aus dem Gefängnis entlassen wurde, holte mich Thornton Lyne in einem schönen Auto ab. Er behandelte mich, als ob nichts vorgefallen sei, nahm mich mit sich in sein schönes Haus und gab mir das beste Essen und herrlichen Wein.
Er sagte mir, daß er von einem jungen Mädchen, dem er viel geholfen hatte, schmählich verraten worden sei. Sie war bei ihm angestellt, er hatte sie in sein Geschäft genommen, als sie halb am Verhungern war. Er sagte mir, daß sie ihn verleumdet habe. Es mußte ein sehr böses Mädchen sein. Sie hieß Odette Rider. Ich hatte sie vorher niemals gesehen, aber nach allem, was er mir sagte, haßte ich sie. Und je mehr er mir von ihr erzählte, desto mehr war ich entschlossen, ihn an ihr zu rächen
Er sagte mir, sie sei sehr schön, und ich erinnerte mich daran, wie einer meiner Mitgefangenen mir erzählt hatte, daß er einem Mädchen, das ihn betrogen hatte, Vitriol ins Gesicht gegossen hatte.
Ich wohnte in Lambeth im Haus eines alten früheren Sträflings, der nur Verbrecher als Untermieter hatte.
Ich sagte meinem Wirt, daß ich am Vierzehnten etwas ausfressen wollte und gab ihm ein Pfund. Ich besuchte Mr. Lyne am Vierzehnten abends in seinem Haus und sagte ihm, was ich vorhatte. Ich zeigte ihm auch eine Flasche mit Vitriol, die ich in der Waterloo Road gekauft hatte. Er sagte mir, ich sollte es nicht tun. Ich dachte aber, das sagte er nur, weil er nicht in die Sache verwickelt sein wollte. Er bat mich auch, ihm das Mädchen zu überlassen, er wolle schon selbst mit ihr abrechnen.
Ich verließ sein Haus um neun Uhr abends und sagte ihm, daß ich zu meiner Wohnung zurückginge. Aber in Wirklichkeit ging ich zur Wohnung von Miss Rider. Ich kannte sie schon, weil ich früher einmal dort gewesen war, um auf Lynes Veranlassung einige Juwelen, die aus seinem Geschäft stammten, unterzubringen. Er wollte das Mädchen nämlich später wegen Diebstahls anzeigen. Ich hatte mir damals das Haus genau angesehen und wußte, daß man von der Hinterseite aus bequem in die Wohnung eindringen konnte.
Ich überlegte mir, daß es besser wäre, möglichst früh in die Wohnung zu gehen, bevor sie nach Hause käme. Ich wollte mich dann bis zu ihrer Rückkehr verbergen.
Am Fuß des Bettes war eine Nische, die von einem Vorhang bedeckt war. Dort hingen verschiedene Kleider und Mäntel, und ich versteckte mich zwischen ihnen. Es war unmöglich, mich von draußen zu sehen. Außerhalb der Nische waren noch mehrere Kleiderhaken.
Währenddessen hörte ich, wie draußen aufgeschlossen wurde, und drehte sofort das Licht aus. Ich hatte noch eben Zeit, in der Nische zu verschwinden, als die Tür geöffnet wurde und Mr. Milburgh eintrat. Er drehte das Licht an und schloß die Tür hinter sich. Dann schaute er sich um, als ob er noch über etwas nachdächte, legte seinen Mantel ab und hängte ihn an einen der Kleiderhaken vor der Nische. Ich hielt den Atem an vor Furcht, daß er mich entdecken könnte, aber er ging wieder fort.
Er schaute noch einmal in dem Raum umher, als ob er etwas suchte, und ich war in steter Angst, gefunden zu werden. Aber dann ging er ins andere Zimmer. Während er draußen war, sah ich hinter dem Vorhang hervor und bemerkte, daß aus einer seiner Manteltaschen ein Revolvergriff hervorschaute. Ich wußte nicht recht, warum Milburgh den Revolver bei sich führte, aber kurz entschlossen nahm ich ihn und steckte ihn in meine Tasche.
Nach einer Weile kam er mit einem Koffer zurück. Er legte ihn auf das Bett und begann zu packen. Plötzlich sah er nach der Uhr, murmelte etwas vor sich hin, drehte das Licht aus und eilte davon. Ich wartete und wartete, daß er zurückkommen sollte, aber er kam nicht. Endlich wagte ich mich aus meinem Versteck hervor und untersuchte die Pistole. Es war eine geladene automatische Pistole. Für gewöhnlich nahm ich bei meinen Einbrüchen keinen Revolver mit, aber ich dachte, daß es diesmal besser wäre, eine Waffe zu haben.
Ich drehte die Lichter wieder aus und setzte mich ans Fenster, um auf Miss Rider zu warten. In der Zwischenzeit rauchte ich eine Zigarette und öffnete das Fenster, damit der Qualm abziehen und mich nicht verraten sollte. Ich nahm die Vitriolflasche, entkorkte sie und stellte sie auf einen Stuhl neben mich. Ich weiß nicht, wie lange ich dort im Dunkeln wartete, aber ungefähr um elf Uhr hörte ich, wie die äußere Tür leise aufgemacht wurde und jemand ins Vorzimmer kam. Ich weiß nicht, warum ich auf die Person zuging, die hereingekommen war.
Plötzlich wurde ich festgehalten, bevor ich wußte, was geschah. Jemand hatte mich von hinten um den Hals gepackt, und ich konnte nicht mehr atmen. Ich versuchte mich frei zu machen, aber er versetzte mir einen heftigen Schlag unters Kinn.
Ich fürchtete mich, denn ich dachte, der Lärm würde die Leute aufwecken und die Polizei alarmieren. Aus Angst habe ich wohl meinen klaren Verstand verloren, denn bevor ich wußte, was ich tat, zog ich die Pistole und feuerte aufs Geratewohl. Ich hörte, wie der andere schwer zu Boden fiel. Als ich wieder zu mir kam, bemerkte ich, daß ich die Pistole noch in der Hand hatte. Mein erster Gedanke war, die Waffe loszuwerden. Im Dunkeln fühlte ich einen kleinen Korb. Als ich ihn öffnete, waren Stoffe, Baumwolle und Bänder darin. Ich stieß die Pistole unten hinein, tastete mich durch den Raum und drehte das Licht an.
In diesem Augenblick hörte ich, wie sich draußen ein Schlüssel drehte und aufgesperrt wurde. Ich schaute auf die Gestalt, die auf dem Gesicht lag, und versteckte mich wieder in der Nische. Der Mann, der jetzt eintrat, war Milburgh. Er drehte mir den Rücken zu. Als er den andern aufhob, konnte ich dessen Gesicht nicht erkennen. Milburgh riß hastig etwas aus der Schublade und band es um die Brust des Mannes. Ich sah noch, wie er ihm Rock und Weste auszog, aber dann verließ er plötzlich fluchtartig die Wohnung. Ich kam wieder aus meinem Versteck hervor, trat zu der Gestalt und erkannte nun plötzlich, daß ich den mir so teuren Mr. Lyne getötet hatte.
Ich wurde halb wahnsinnig vor Schmerz und Trauer und wußte nicht mehr, was ich tat. Ich dachte nur noch daran, daß es irgendeine Möglichkeit geben müßte, Thornton Lyne zu retten. Er konnte und durfte nicht tot sein! Ich wollte ihn sofort in ein Krankenhaus bringen.
Wir hatten schon früher einmal den Plan besprochen, daß wir zusammen in die Wohnung des Mädchens gehen wollten, und dabei hatte er mir gesagt, daß er für diesen Fall seinen Wagen in die Hinterstraße stellen würde. Ich eilte durch den hinteren Ausgang hinaus und sah das Auto draußen.
Ich ging in das Schlafzimmer zurück, hob Thornton Lyne auf, trug ihn in seinen Wagen und setzte ihn auf die Polster.
Ich fuhr zum Krankenhaus St. Georg und hielt an der Parkseite, da ich nicht wollte, daß mich die Leute sehen sollten. An einer dunklen, verlassenen Stelle brachte ich den Wagen zum Stehen und sah mich nun nach Thornton Lyne um. Als ich ihn aber betastete, fühlte ich, daß er bereits tot war.
Dann saß ich ungefähr zwei Stunden lang neben ihm im Wagen und weinte, wie ich noch nie in meinem Leben geweint habe. Endlich nahm ich mich zusammen und trug ihn auf einen Seitenweg hinaus. Ich hatte noch so viel Überlegung zu wissen, daß es mir schlecht gehen würde, wenn man mich in seiner Nähe fand. Aber ich konnte ihn noch nicht verlassen, und nachdem ich seine Hände auf der Brust gefaltet hatte, saß ich noch ein oder zwei Stunden neben ihm. Er lag so kalt und allein dort auf dem Rasen, und mein Herz blutete. Als der Morgen heraufdämmerte, sah ich, daß auf dem Beet in einiger Entfernung gelbe Narzissen standen. Ich pflückte ein paar ab und legte sie auf seine Brust, weil ich ihn so sehr liebte.«
Tarling blickte auf und sah Whiteside an.
»Das ist das Ende des Geheimnisses der gelben Narzissen«, sagte er langsam. »Allerdings eine sehr einfache Erklärung. Und zufällig wird unser Freund Milburgh dadurch entlastet.«
Eine Woche später gingen zwei Menschen langsam über die Dünen am Strand des Meeres. Sie waren eine lange Strecke schweigend nebeneinander hergewandert.
»Ich habe heute morgen in der Zeitung gelesen, daß du das große Warenhaus Lyne verkauft hast«, sagte Odette plötzlich.
»Ja, das stimmt«, entgegnete Tarling. »Aus vielen Gründen möchte ich das Geschäft nicht weiterführen. Ich will auch nicht länger in London bleiben.«
Sie sah ihn nicht an.
»Wirst du wieder nach Übersee gehen?« fragte sie.
»Ja, wir gehen zusammen.«
»Wir?« Sie schaute ihn erstaunt an.
»Ja, ich spreche von mir und einem Mädchen, dem ich in Hertford meine Liebe erklärte.«
»Ich dachte, du wärst nur traurig und besorgt um mich gewesen und hättest mir deshalb eine Liebeserklärung gemacht. Ich glaubte, du wärst nur lieb zu mir, weil du mich in einem so hoffnungslosen Zustand sahst.«
»Ich habe dir alles nur gesagt, weil ich dich über alles liebe.«
»Wo wirst du – wo werden wir denn hingehen?«
»Nach Südamerika – wenigstens für ein paar Monate. Dann während der kalten Jahreszeit nach meinem geliebten China.«
»Warum wollen wir denn nach Südamerika?«
»Ich habe einen Artikel über Gartenkultur gelesen – darin stand, daß in Argentinien keine gelben Narzissen wachsen.«