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Tarling hatte mit einem Blick alles überschaut. Er wandte sich wieder zu Odette, die sich auch in den Raum drängen wollte. Er faßte sie sanft am Arm und zog sie in den Vorplatz zurück.
»Was ist geschehen?« fragte sie. »Laß mich zu meiner Mutter!«
Sie suchte sich frei zu machen, aber er hielt sie fest.
»Du mußt jetzt sehr tapfer sein«, sagte er eindringlich und streichelte sie begütigend. Er öffnete die zweite Tür, schaltete das Licht ein und zog Odette mit sich in das Zimmer. Sie befanden sich in einem Schlafzimmer. Von diesem Raum führte noch eine andere Tür in entgegengesetzter Richtung, anscheinend ins Innere des Hauses.
»Wohin kommt man hier?« fragte er, aber sie schien ihn nicht zu hören.
»Mutter!« rief sie. »Was ist mit ihr geschehen?«
»Wo führt diese Tür hin?« fragte er noch einmal. Statt jeder anderen Antwort faßte sie in ihr Täschchen und gab ihm einen Schlüssel.
Er öffnete und kam in eine langgestreckte Galerie, von der aus man die vordere Eingangshalle übersehen konnte.
Sie ging hinter ihm her, doch er nahm sie wieder am Arm und führte sie in das kleine Zimmer zurück.
»Du mußt ruhig bleiben, es hängt jetzt alles davon ab, daß du mutig bist. Wo sind die Zimmer der Dienstboten?«
Aber unerwartet riß sie sich von ihm los und eilte zu dem Zimmer ihrer Mutter. Er folgte ihr auf den Fuß.
»Um Gottes willen, Odette, gehe nicht hinein!«
Sie warf sich mit der ganzen Wucht ihres Körpers gegen die Tür und stand nun im Zimmer ihrer Mutter.
Mit einem Blick sah sie das Gräßliche, sank an der Seite der Toten nieder, legte ihre Arme um sie und küßte die kalten Lippen.
Tarling zog sie sanft fort und trug sie halb zu der Galerie zurück. Er sah, wie ein verstörter Mann, nur mit Hemd und Hose bekleidet, zur Galerie emporeilte. Tarling vermutete, daß es der Hausmeister wäre.
»Wecken Sie alle Dienstboten auf«, sagte er leise. »Mrs. Rider ist ermordet worden.«
»Ermordet?« rief der Mann entsetzt. »Das ist doch unmöglich!«
»Helfen Sie mir schnell«, sagte Tarling dringend. »Miss Rider ist ohnmächtig geworden.«
Sie trugen Odette zusammen in das Wohnzimmer und legten sie aufs Sofa. Tarling blieb so lange bei ihr, bis ein Mädchen kam und sie betreute.
Dann ging er mit dem Hausmeister in den Raum zurück, wo die Tote lag. Er drehte alle elektrischen Lampen an und nahm eine genaue Durchsuchung des ganzen Zimmers vor. Das Fenster, das zu dem glasgedeckten Wintergarten führte, war fest verschlossen und verriegelt.
Die schweren Vorhänge, die wahrscheinlich Milburgh zugezogen hatte, als er die Ledertasche holte, waren nicht berührt worden. Aus der Lage der Frau und ihrem ruhigen, friedlichen Gesichtsausdruck schloß er, daß ihr Tod plötzlich und unerwartet eingetreten sein mußte. Wahrscheinlich hatte sich der Mörder hinter sie geschlichen, während sie am Fußende der Couch stand. Sie hatte wohl, um sich die Zeit bis zur Rückkehr ihrer Tochter zu vertreiben, ein Buch aus einem kleinen Schrank nehmen wollen, der direkt neben der Tür stand. Er fand auch wirklich ein Buch auf dem Teppich, das ihr wahrscheinlich entfallen war, als sie den Todesstoß erhielt.
Die beiden Männer hoben die Tote auf und legten sie auf ein Sofa.
»Gehen Sie jetzt zur Stadt und holen Sie die Polizei – oder haben Sie ein Telefon hier?« fragte Tarling.
»Jawohl, Sir.«
»Dann können Sie sich diesen Gang sparen.«
Nachdem Tarling die Ortspolizei benachrichtigt hatte, ließ er sich mit Scotland Yard verbinden, um Whiteside zu alarmieren. Als er aus dem Fenster blickte, sah er, daß sich der Himmel im Osten erhellte, aber das graue, fahle Licht machte die schreckliche Finsternis um ihn her nur noch entsetzlicher.
Er betrachtete die Waffe, mit der der Mord verübt worden war. Sie hatte das Aussehen eines gewöhnlichen Schlächtermessers. Er entdeckte einige eingebrannte Buchstaben auf dem Griff, die aber durch den dauernden Gebrauch schon undeutlich geworden waren. Mit Mühe konnte er ein großes M und zwei andere Buchstaben erkennen, die einem großen C und großen A glichen.
»M. C. A.?«
Er versuchte die Bedeutung der Inschrift zu erraten. In diesem Augenblick kam der Hausmeister zurück.
»Dem jungen Fräulein geht es sehr schlecht, Sir. Ich habe zum Arzt geschickt.«
»Das haben Sie recht gemacht«, sagte Tarling. »Diese Aufregung und der Schrecken waren zuviel für das arme Mädchen.«
Wieder ging er zum Telefon. Diesmal ließ er sich mit einem Krankenhaus in London verbinden. Er bestellte einen Krankenwagen, um Odette ohne Verzug abholen zu lassen. Als er mit Scotland Yard telefonierte, bat er, Ling Chu sofort nach Hertford zu schicken. Er hatte das größte Zutrauen zu dem Chinesen, besonders in diesem Fall, wo alle Spuren noch frisch waren. Ling Chu hatte eine fast übernatürliche Begabung und einen Spürsinn, wie ihn sonst nur Bluthunde besitzen.
»Keiner darf die oberen Räume betreten«, sagte er zu dem Hausmeister. »Wenn der Arzt und die Leute der Mordkommission kommen, müssen sie durch den vorderen Eingang hereingelassen werden, und wenn ich nicht hier sein sollte, dürfen Sie unter keinen Umständen zulassen, daß die hintere Treppe, die zu der Pfeilerhalle führt, benutzt wird.«
Er selbst verließ das Haus durch die Vordertür, um einen Rundgang durch das Grundstück zu machen. Er hatte nur wenig Hoffnung, hierbei neue Anhaltspunkte zu finden. Bei Tageslicht konnte man sicher manches finden, aber es war unwahrscheinlich, daß der Mörder in der Nähe des Tatortes geblieben war.
Der Park war ziemlich ausgedehnt und dicht mit Bäumen bestanden. Viele Wege schlängelten sich durch das Gebüsch bis zu den hohen Mauern, die das Grundstück einschlossen.
In der einen Ecke lag ein ziemlich großer, freier Platz, der weder mit Bäumen noch mit Sträuchern bestanden war. Er durchsuchte diese Stelle oberflächlich und leuchtete die langen Reihen der Gemüsebeete ab. Er war gerade im Begriff, wieder zu gehen, als er im Hintergrund ein schwarzes Gebäude entdeckte, das er für die Gärtnerwohnung hielt. Er richtete seine Taschenlampe darauf.
Spielte ihm seine Phantasie einen Streich, oder hatte er tatsächlich einen kurzen Augenblick ein blasses Gesicht bemerkt, das um die Ecke des Hauses blickte? Wieder leuchtete er mit seiner Lampe dorthin, aber nun war nichts zu sehen. Er schritt auf das Haus zu und machte eine Runde, er konnte jedoch niemand entdecken. Trotzdem hatte er das unbestimmte Gefühl, daß jemand aus dem dunklen Schatten des Hauses zu den dichten Baumgruppen hinschlich, die das Haus auf drei Seiten umgaben. Er drehte seine Taschenlampe wieder an; ihr Schein war nicht stark genug, um auf größere Entfernung hin etwas genauer unterscheiden zu können. Er ging in der Richtung weiter, wo er die Gestalt vermutete. Einmal hätte er schwören mögen, daß er deutlich ein Knacken der Zweige hörte.
Er eilte dem Geräusch nach und war nun ganz sicher, daß sich jemand in dem Gehölz verbarg. Er vernahm schnelle Schritte, dann herrschte wieder tiefes Schweigen. Er lief vorwärts, mußte aber in seinem Eifer zu weit gekommen sein, denn plötzlich hörte er ein verdächtiges Geräusch hinter sich. Sofort drehte er sich um und hob seine Waffe. »Wer ist dort?« rief er laut. »Halt – oder ich schieße!«
Es kam keine Antwort. Während er wartete, schrammte ein Schuh gegen die Mauer. Nun wußte er, daß der Verfolger über die Mauer kletterte. Er wandte sich nach der Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, konnte jedoch wieder nichts erkennen.
Aber plötzlich erscholl von oben her ein scharfes hämisches Lachen. Es hörte sich so unheimlich an, daß Tarling von Grauen gepackt wurde. Die obere Mauer wurde von überhängenden Zweigen verdeckt, so daß seine Lampe wertlos war und ihn nur selbst in Gefahr brachte.
»Kommen Sie sofort herunter«, rief er, »sonst schieße ich!«
Aber es ertönte nur wieder dieses schreckliche dämonische Gelächter, das halb furchtsam, halb höhnisch klang.
»Du Mörder! Verfluchter Mörder! Du hast Thornton Lyne umgebracht! Das ist für dich – da!« schrie der Mann oben plötzlich mit heiserer Stimme herunter.
Tarling hörte, wie durch die Zweige und Äste etwas herunterkam. Ein Tropfen fiel auf seine Hand. Er schlenkerte ihn mit einem Schrei ab, denn er brannte wie Feuer. Der geheimnisvolle Fremde sprang auf der anderen Seite hinunter und lief davon. Der Detektiv bückte sich und hob beim Schein der Lampe den Gegenstand auf, der ihn treffen sollte. Es war eine kleine Flasche, und auf dem Etikett stand ›Vitriol‹.