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Tarling hätte schlafen sollen. Alle Knochen und Muskeln schmerzten ihn, und er brauchte dringend Ruhe. Aber er saß in seiner Wohnung am Tisch, vor ihm lagen Lynes Tagebücher in zwei Haufen. Er hatte nur noch wenige Bände zu prüfen.
Die Hefte waren ohne Vordruck und Linien. Manchmal reichte ein Buch über zwei oder drei Jahre. Manchmal enthielt es nur die Periode von einigen Monaten. Schließlich war nur noch ein Buch übrig, das sich von den anderen dadurch unterschied, daß es durch zwei Bronzeschlösser verschlossen war, die aber von Fachleuten in Scotland Yard geöffnet worden waren.
Tarling nahm diesen Band und wandte Seite für Seite um. Wie er richtig vermutet hatte, war es das letzte der Bücher, in das Thorton Lyne bis zu seiner Ermordung Eintragungen gemacht hatte. Tarling öffnete es, ohne viel davon zu erwarten. Auch in den früheren Bänden hatte er außer unglaublicher Selbstüberhebung nichts gefunden. Er hatte Lynes Berichte über seinen Aufenthalt in Schanghai gelesen, aber das war nichts Neues für ihn gewesen.
Obwohl er auch von diesem letzten Tagebuch nicht viel erwartete, las er es doch aufmerksam durch. Plötzlich nahm er einen Notizblock und begann Auszüge zu machen. Es war der Bericht über den Antrag, den er Odette Rider gemacht und den sie zurückgewiesen hatte. Er war sehr subjektiv und schönfärberisch, aber sonderbar uninteressant geschildert. Dann kam er zu der Stelle, die einen Tag nach der Entlassung Sam Stays aus dem Gefängnis geschrieben war. Hier sprach sich Thorton Lyne eingehender über seine ›Demütigung‹ aus.
Stay ist aus dem Gefängnis entlassen. Es ist ergreifend, wie mich dieser Mann verehrt. Manchmal wünsche ich, daß ich ihn zu einem solchen Lebenswandel bekehren könnte, daß er nicht wieder ins Gefängnis kommt, aber wenn mir das gelänge und ich ihn zu einem anständigen, soliden Menschen machte, würde ich diese wunderbaren Erlebnisse nicht mehr haben, die ich durch seine Verehrung genieße. Es ist doch so angenehm, sich in der hingebenden Anbetung eines anderen Menschen zu sonnen! Ich habe mit ihm über Odette gesprochen. Es ist allerdings merkwürdig, dergleichen mit einem Verbrecher zu bereden, aber er hat mir so hingebungsvoll zugehört! Ich bin weit über das Ziel hinausgegangen, aber die Versuchung war zu groß. Wie leuchtete der Haß aus seinen Augen, als ich mit meinem Bericht fertig war ... Er hatte einen Plan gefaßt, wie er ihr hübsches Gesicht verunzieren könnte. Er hat nämlich im Gefängnis mit einem Mann zusammengearbeitet, der verurteilt wurde, weil er einem Mädchen übel mitgespielt und Vitriol gebraucht hat ... Sam wollte dasselbe tun ... Zuerst war ich entsetzt darüber, aber nachher gab ich ihm recht. Er sagte auch, daß er mir einen Schlüssel geben könne, mit dem alle Türen zu öffnen sind. Wenn ich nun dorthin ginge ... im Dunkeln? Und ich würde irgend etwas Verdächtiges dort zurücklassen ... was könnte es wohl sein ...? Aber das wäre ein Gedanke! Nehmen wir an, ich würde etwas typisch Chinesisches mitbringen. Tarling steht anscheinend mit dem Mädchen sehr gut ... wenn etwas Chinesisches bei ihr gefunden würde, wäre auch er verdächtig ...
Das Tagebuch schloß mit dem Wort ›verdächtig‹. Tarling las die letzten Sätze so lange, bis er sie auswendig wußte. Dann klappte er das Buch zu und schloß es in seinen Schreibtisch ein.
Eine halbe Stunde lang saß er noch da und stützte das Kinn in die Hand. Er vermochte jetzt den merkwürdigen Fall mehr und mehr zu klären und das Rätsel zu lösen, nachdem ihm diese Zeilen Thornton Lynes die Aufgabe bedeutend erleichtert hatten. Thornton Lyne war zu der Wohnung gegangen, nicht auf das Telegramm hin, sondern mit der Absicht, Odette zu kompromittieren und ihren guten Ruf zu untergraben. Er wollte das kleine rote Stückchen Papier mit der chinesischen Inschrift an einer besonderen Stelle lassen, damit andere Leute durch die Infamie in Verruf kamen.
Milburgh war inzwischen aus einem anderen Grund in die Wohnung gegangen. Die beiden hatten sich getroffen, hatten miteinander gestritten, und Milburgh hatte den tödlichen Schuß auf ihn abgefeuert. So erklärte sich auch, warum Thornton Lyne Filzschuhe trug und warum dieses chinesische Papier in seiner Westentasche gefunden wurde, besonders aber, warum er in Odettes Wohnung gekommen war.
Plötzlich kam ihm der Gedanke, daß Sam Stay die Flasche Vitriol nach ihm geworfen hatte, der Mann, der sich vorgenommen hatte, das Mädchen zu entstellen, das seiner Meinung nach seinen Wohltäter verleumdet und betrogen hatte.
Milburgh mußte unbedingt gefunden werden, er war das letzte fehlende Glied in der Kette.
Tarling hatte Vorkehrungen getroffen, daß der Chef der Cannon-Row-Polizeistation ihn sofort benachrichtigen sollte, wenn neue Meldungen einliefen. Bis jetzt war er noch nicht angerufen worden, so ging er nun persönlich dorthin, um die neuesten Nachrichten aus erster Hand zu bekommen. Er erfuhr allerdings nur wenig. Während er noch mit dem Polizeiinspektor sprach, kam ein aufgeregter Taxichauffeur auf die Station und meldete, daß sein Automobil gestohlen worden sei. Solche Anzeigen kommen in London alle Tage vor. Der Mann hatte einen Herrn und eine Dame zu einem Theater im Westen gebracht und war beauftragt, bis zum Ende der Vorstellung zu warten, um sie dann wieder nach Hause zu fahren. Nachdem er seine Fahrgäste abgesetzt hatte, war er in ein kleines Restaurant gegangen, um etwas zu essen, und als er wieder herauskam, war sein Wagen verschwunden.
»Ich weiß schon, wer es getan hat«, rief er heftig. »Und wenn ich den Kerl erwische, dann werde ich ihn ...«
»Woher wissen Sie denn, wer der Täter war?«
»Er kam in das Restaurant herein, als ich beim Essen saß.«
»Wie sah er denn aus?« fragte der Polizeiinspektor.
»Er war sehr blaß. Ich könnte ihn unter Tausenden wiedererkennen. Und dann habe ich mir noch eins an ihm gemerkt – er hatte ein Paar ganz neue Schuhe an.«
Tarling war während dieser Unterhaltung vom Schreibpult weggetreten, aber jetzt kam er wieder näher.
»Hat er denn mit Ihnen gesprochen?« fragte er.
»Jawohl, Sir«, sagte er. »Ich fragte ihn, ob er nach jemand suche, und er sagte ›nein‹. Dann redete er eine Menge Unsinn von einem Mann, der der beste Freund gewesen sein soll, den ein armer Kerl überhaupt haben könne. Ich saß nahe bei der Tür und so kam ich mit ihm ins Gespräch. Ich glaube, er war nicht ganz richtig im Kopf.«
»Erzählen Sie weiter«, sagte Tarling ungeduldig.
»Er ging wieder hinaus, und ich hörte gleich darauf, wie ein Auto angelassen wurde. Ich dachte, es wäre einer meiner Kollegen; es standen nämlich noch mehrere Wagen draußen. Das Restaurant wird hauptsächlich von Chauffeuren besucht, und ich habe nicht weiter darauf geachtet. Erst als ich wieder hinauskam, entdeckte ich, daß mein Auto verschwunden war. Der Kerl, dem ich den Auftrag gegeben hatte, nach meinem Auto zu sehen, war in eine Stehbierhalle gegangen und vertrank dort das Geld, das ihm der Bursche gegeben hatte.«
»Sieht ganz so aus, als ob er der Mann wäre, den wir suchen«, sagte der Polizeiinspektor zu Tarling.
»Ja, es muß Sam Stay sein, aber ich wußte nicht, daß er fahren kann.«
»Ich kenne Sam Stay sehr gut. Wir haben ihn hier schon dreimal festgenommen. Eine Zeitlang ist er sogar Chauffeur gewesen – wußten Sie das nicht?«
Tarling hatte allerdings am Morgen vorgehabt, Sams Personalakten durchzulesen, aber es war etwas dazwischengekommen, und er hatte es vergessen.
»Er kann nicht weit kommen – geben Sie die Beschreibung des Wagens sofort bekannt. Jetzt können wir ihn sogar noch leichter fangen. Das Auto kann er nicht irgendwie verstecken, und wenn er glaubt, daß er im Wagen fliehen kann, so irrt er sich.«
Tarling wollte am Abend nach Hertford zurück und hatte Ling Chu von seiner Absicht verständigt. Er ging aber von der Cannon-Row-Polizeistation zunächst nach Scotland Yard, um noch mit Whiteside zu sprechen, der ihn dort erwarten wollte. Er hatte unabhängig von ihm Nachforschungen wegen des Verbrechens in Hertford angestellt und allerhand Nachrichten und Einzelheiten hierüber gesammelt.
Whiteside war noch nicht im Büro, als Tarling nach Scotland Yard kam, der wachhabende Sergeant kam eilig herbei.
»Dies wurde vor zwei Stunden für Sie abgegeben«, sagte er. »Wir dachten, Sie wären in Hertford.«
Es war ein Brief, der mit Bleistift geschrieben war. Er stammte von Milburgh, der sich keine Mühe gegeben hatte, seine Handschrift zu verstellen.
Verehrter Mr. Tarling,
ich habe soeben zu meiner tiefsten Trauer und Verzweiflung in der ›Evening Press‹ gelesen, daß meine geliebte Frau, Catherine Rider, auf schreckliche Art ermordet wurde. Wie furchtbar ist der Gedanke für mich, da ich erst vor einigen Stunden noch mit ihrem Mörder sprach. Denn ich glaube bestimmt, daß es Sam Stay war. Ich hatte ihm, ohne etwas Böses zu denken, mitgeteilt, wo Miss Rider sich zur Zeit aufhält. Ich bitte Sie, keine Zeit zu verlieren, sie vor diesem grausamen, gefährlichen Irren zu schützen. Er scheint nur noch die eine Idee zu haben, den Tod des verstorbenen Thornton Lyne zu rächen. Wenn diese Zeilen Sie erreichen, werde ich mich dem Arm der menschlichen Gerechtigkeit entzogen haben, denn ich habe beschlossen, aus dem Leben zu gehen, das mir so viel Kummer und Enttäuschungen gebracht hat. M
Tarling war fest davon überzeugt, daß Mr. Milburgh keinen Selbstmord begehen würde. Die Nachricht, daß Sam Stay Mrs. Rider ermordet hatte, war jetzt für ihn uninteressant, aber das Bewußtsein, daß dieser rachsüchtige Geisteskranke den Aufenthalt Odettes wußte, beunruhigte ihn aufs höchste. »Wo ist Mr. Whiteside?« fragte er.
»Er ist in Cambours Restaurant gegangen, um dort jemand zu treffen«, sagte der Sergeant.
Tarling mußte Whiteside erst persönlich sprechen, bevor er Detektivbeamte nach dem Krankenhaus am Cavendish Place schicken konnte.
In einem Taxi fuhr er zu dem Restaurant und traf den Polizeiinspektor glücklicherweise gerade in dem Augenblick, als er das Lokal verließ.
Tarling gab ihm sofort den Brief, und Whiteside las das Schreiben durch.
»Der hat keinen Selbstmord begangen. Das ist das letzte, was ein Mann von Milburghs Schlag tun würde. Er ist ein kaltblütiger Schuft. Ich kann mir ihn schon vorstellen, wie er sich in aller Seelenruhe hinsetzte und diesen Brief über den Mörder seiner Frau schrieb!«
»Was halten Sie denn von der anderen Sache – der Drohung gegen Odette?«
»Da mag was dahinterstecken. Wir dürfen jedenfalls keine Schutzmaßnahmen unterlassen. Hat man irgend etwas über den Verbleib von Stay gehört?«
Tarling erzählte ihm die Geschichte von dem gestohlenen Mietauto.
»Dann werden wir ihn ja bald haben«, meinte Whiteside zufrieden. »Er hat keine Komplicen, und ohne Spießgesellen ist es in der Autobranche praktisch einfach unmöglich, in einem Wagen aus London zu entkommen.«
Whiteside stieg in Tarlings Wagen ein, und ein paar Minuten später waren sie am Krankenhaus. Die Oberin empfing sie.
»Es tut mir sehr leid, daß ich Sie noch zu dieser späten Stunde stören muß«, sagte Tarling, der deutlich ein Mißfallen in ihrem Gesicht las. »Aber ich habe heute abend eine wichtige Nachricht erhalten, die es nötig macht, Miss Rider unter Schutz zu stellen.«
»Sie wollen sie unter Schutz stellen?« fragte die Dame erstaunt.
»Ich verstehe Sie nicht recht, Mr. Tarling. Ich bin eben heruntergekommen in der Absicht, Ihnen eine Strafpredigt wegen Miss Rider zu halten. Sie wußten doch, daß sie absolut unfähig war, auszugehen. Ich dachte, ich hätte Ihnen das heute morgen ganz deutlich gesagt.«
»Sie soll doch auch gar nicht ausgehen«, sagte Tarling aufs höchste verwundert. »Sie wollen doch damit nicht sagen, daß sie ausgegangen ist?«
»Aber Sie haben doch selber vor einer halben Stunde nach ihr geschickt!«
»Ich hätte nach ihr geschickt?« fragte Tarling. Er erblaßte. »Bitte, sagen Sie mir schnell, was vorgefallen ist.«
»Ungefähr vor einer halben Stunde, es mag vielleicht auch schon etwas länger sein, kam ein Chauffeur und sagte mir, daß er von Scotland Yard geschickt worden sei, um Miss Rider sofort abzuholen. Man müßte sie dringend wegen des Mordes ihrer Mutter vernehmen.«
Tarlings Gesicht zuckte nervös. Er konnte seine Aufregung nicht länger verbergen.
»Haben Sie denn nicht nach ihr geschickt?« fragte die Oberin verstört.
Tarling schüttelte den Kopf.
»Wie sah der Mann aus, der hierherkam?«
»Recht gewöhnlich. Er war etwas weniger als mittelgroß und machte keinen gesunden Eindruck – es war ein Chauffeur.«
»Haben Sie gesehen, in welcher Richtung er davonfuhr?«
»Nein, ich habe nur sehr dagegen protestiert, daß Miss Rider überhaupt ausgehen sollte, aber als ich ihr die Nachricht überbrachte, die doch anscheinend von Ihnen kam, bestand sie darauf, sofort das Haus zu verlassen.«
Tarling war entsetzt. Odette war in der Gewalt eines Geisteskranken, der sie haßte, der ihre Mutter ermordet hatte, der sich fest vorgenommen hatte, sie zu entstellen und ihre Schönheit zu zerstören! Er glaubte ja in seinem Wahnsinn, daß sie seinen geliebten Freund und Wohltäter betrogen und mit schändlichem Undank behandelt hatte.
Ohne ein weiteres Wort verließ er mit Whiteside das Krankenhaus.
»Der Fall ist hoffnungslos«, sagte er, als sie auf der Straße waren. »Mein Gott, wie schrecklich ist dieser Gedanke! Aber wenn wir Milburgh lebend fangen, dann soll er es büßen!«
Er gab dem Chauffeur Anweisung und stieg schnell hinter Whiteside in den Wagen ein.
»Wir werden jetzt erst zu meiner Wohnung fahren, um Ling Chu dort abzuholen. Der kann uns von größtem Nutzen sein.«
Als sie in Tarlings Wohnung in der Bond Street ankamen, eilten sie schnell die Treppe hinauf. Es war alles dunkel – ein außergewöhnlicher Umstand, denn Ling Chu hatte ein für allemal den Auftrag, die Wohnung nicht zu verlassen, während sein Herr ausgegangen war. Das Speisezimmer war leer. Nachdem Tarling das Licht eingeschaltet hatte, fiel sein Blick auf ein beschriebenes Stück Reispapier. Die Schrift war noch nicht trocken. Es standen nur ein paar chinesische Schriftzeichen darauf, sonst nichts.
»Wenn der Herr vor mir zurückkommt, soll er wissen, daß ich ausgegangen bin, die junge Frau zu finden«, las Tarling erstaunt.
»Dann weiß er also schon, daß sie verschwunden ist! Gott sei Dank! Ich möchte nur wissen –«
Plötzlich hielt er inne, weil er glaubte, einen Seufzer gehört zu haben. Er sah Whiteside an, auch dieser hatte den Laut gehört.
»Hat hier nicht eben jemand gestöhnt?« fragte er. »Horchen Sie doch einmal!«
Er beugte den Kopf vor und wartete. Plötzlich kam das Stöhnen wieder.
Tarling eilte zu der Tür von Ling Chus Kammer, aber sie war verschlossen. Er beugte sich zum Schlüsselloch hinunter und lauschte. Wieder hörte er den qualvollen Laut. Mit einem Stoß seiner Schulter hatte er die Tür aufgebrochen.
Ein ungewöhnlicher Anblick bot sich ihm dar. Ein Mann mit entblößtem Oberkörper lag ausgestreckt auf dem Bett. Hände und Beine waren an die Bettpfosten gebunden, und ein Tuch bedeckte sein Gesicht. Aber was Tarling vor allem ins Auge fiel, waren vier dünne rote Linien, die quer über die Brust liefen. Dies war ein Zeichen, daß hier eine Methode angewendet war, die die chinesische Polizei benützte, um hartnäckige Verbrecher zum Geständnis zu bringen.
»Wer ist das?« fragte er und zog das Tuch von dem Gesicht des Mannes.
Es war Milburgh!