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»Darf ich Ihnen Mr. Wells vorstellen?« sagte Super großartig.
Der kleine Mann, der ungemütlich auf der Ecke eines Stuhles in Supers Büro saß, erhob sich ehrfürchtig und streckte seine große Hand aus. Er war ein bescheidener, ruhiger Mann mit rotem Haar, das schon grau wurde. Er hatte einen geraden Scheitel, und eine große Locke hing über seine Stirn. An seiner langen, silbernen Uhrkette trug er zwei Medaillen. Jim kam es vor, als ob der neue Kragen Mr. Wells sehr unbequem sei.
»Wer ist das?« fragte Jim, als er Super einige Minuten allein sprechen konnte.
»Er soll ein Hinweis und ein Symbol sein«, sagte Super. »Er ist eine Karte in meinem Spiel. Sein Auftreten bedeutet Unannehmlichkeiten. Möglicherweise muß ich auch drei Monate lang mit meinen Vorgesetzten darüber Briefe wechseln. Aber ich konnte der Versuchung nicht widerstehen und habe ihn zu mir gebeten.«
»Ist er ein Detektiv?« Aber als er sich an das Aussehen des Mannes erinnerte, erschien ihm das unmöglich.
»Nein, er ist kein Detektiv, er ist mein Freund. Ich habe Cardew schon erzählt, was er ist . . .«
»Nehmen Sie ihn mit zum Essen?« fragte Jim erstaunt.
»Gewiß. Ich werde Ihnen auch sagen, warum. Ich wußte es noch nicht, als ich ihn hierherbat. Aber jetzt habe ich es: Cardew wird uns eine neue Theorie vortragen. Nebenbei bemerkt, Sie werden übermorgen ebenfalls zugegen sein müssen bei der neuen Leichenschau. – Ich habe allerhand Achtung vor Cardews Theorien. Aber ich wollte ihm zur selben Zeit zeigen, wo er Fehler macht. Dieser Mann, so möchte ich mich fast ausdrücken, ist das fehlende Glied.«
Jim mußte mit dieser etwas merkwürdigen Erklärung zufrieden sein. Er war nicht gerade sehr gerne aus der Stadt gekommen. Höchstens der Gedanke, daß er Cardew durch seine Anwesenheit über die unangenehme Lage hinweghelfen konnte, hatte ihn bestimmt, noch eine Nacht unter diesem schrecklichen Dach zuzubringen. Er hatte vorher nicht einmal gewußt, daß Super ebenfalls zum Essen geladen war. Die Aussicht Mr. Wells, diesem etwas gewöhnlichen und vierschrötigen Mann gegenüberzusitzen, war nicht sehr verlockend.
»Es ist Cardews Abschiedsessen. Morgen, wenn er noch am Leben ist . . .«
»Erwarten Sie, daß sich heute abend etwas Besonderes ereignet?«
Super nickte.
»Wenn er morgen noch lebt, will er zur Stadt gehen, und dann will er nach auswärts. Die Operation an Mr. Leigh war ein voller Erfolg.«
Er gab in seiner seltsamen Art der Unterhaltung plötzlich eine ganz andere Wendung. »Er erkannte seine Tochter diesen Nachmittag wieder, und das ist gut. Aber er ist noch zu schwach, um eine zusammenhängende Aussage zu machen. Das ärgert mich sehr. Lattimer wird auch zugegen sein.«
»Bei dem Essen?«
Super nickte feierlich.
»Lattimer wird Ihnen Freude machen – er kann mit beiden Händen essen, und man hat noch nie gehört, daß er eine Fingerschale mit einem Weinglas verwechselte. Er hat die Manieren eines vornehmen Herrn, und außerdem ist er ein tüchtiger Psychologe. Wir werden einen vergnügten Abend haben, und wenn er und Mr. Cardew sich über Lombroso unterhalten werden – Sie wissen schon, diesen bekannten Theoretiker . . .«
Jim kam vor den anderen an, und der Anwalt bat ihn, für den Abend keine besondere Toilette zu machen.
»Ich habe Super gebeten zu kommen, und er bringt seinen Sergeanten Lattimer und einen Freund mit . . . Haben Sie eigentlich diesen Freund schon einmal getroffen?«
Jim lächelte.
»Ich hoffe, daß Sie nicht zu entsetzt über ihn sind; er sieht reichlich sonderbar aus.«
»Er muß schon sehr sonderbar sein, wenn er ein Freund Supers ist«, meinte Cardew trocken. »Ferraby, ich werde diesen Ort verlassen müssen; jetzt aber sehe ich erst, wie schwer es mir fällt und wie sehr ich Barley Stack liebe. Ich bin früher einmal hier sehr glücklich gewesen«, fügte er mit müder, leiser Stimme hinzu.
»Sie werden doch wiederkommen?«
Cardew schüttelte den Kopf.
»Ich werde das Grundstück verkaufen. Ich habe bereits an einen Agenten geschrieben und ihn gebeten, die Sache in die Wege zu leiten. Höchstwahrscheinlich werde ich meinen Wohnsitz in der Schweiz nehmen und, soviel in meinen Kräften steht, zu der Literatur über Kriminologie beitragen. Ich werde mir sicher die Verachtung des Oberinspektors Minter zuziehen« – seine Lippen zuckten verächtlich – »aber das muß ich eben in Kauf nehmen.«
»Sie glauben doch nicht etwa, daß Ihnen Gefahr droht, Mr. Cardew?«
Zu Jims größtem Erstaunen nickte er.
»Jawohl. Ich glaube, daß ich mich in den beiden nächsten Jahren in größter Gefahr befinde. Ich habe mich entschlossen, ins Ausland zu gehen. Auch der Oberinspektor billigt meine Absicht.«
Er schaute aus dem Fenster und sah Lattimer auf seinem Beobachtungsposten.
»Ich kann diesen polizeilichen Schutz nicht ertragen. Dabei würde ich auf die Dauer verrückt werden. Nun erzählen Sie mir noch etwas über den merkwürdigen Freund.«
Jim beschrieb ihn mit großer Genauigkeit und ließ durchblicken, daß er von dem Mann nicht entzückt war.
»Er wird kaum zu einer fröhlichen Stimmung heute abend beitragen«, sagte Cardew. »Aber ich mußte ihn doch schließlich einladen. Super hatte ihn für den Abend zu sich gebeten, und unseren alten Freund wollte ich doch auf alle Fälle bei meinem Abschiedsessen dabei haben. Ich wünschte«, sagte er mit einem Seufzer, »daß ich es unter glücklicheren Umständen abhalten und daß auch Miss Leigh hier sein könnte. Aber das Verbrechen, das gestern abend geplant war, war das Äußerste . . . Ich würde eine solche Aufregung wie diese nicht mehr ertragen.«
*
Es war zehn Minuten nach der festgesetzten Zeit, als Super mit dem rothaarigen Mann erschien, der hinter ihm auf dem Motorrad gesessen hatte. Es gab nichts Drolligeres, als den Anblick des komischen Oberinspektors und seines kleinen, etwas korpulenten Gastes, der ihn um die Taille gefaßt hatte.
»Darf ich Ihnen meinen Freund, Mr. Wells, vorstellen?«
Cardew reichte ihm die Hand.
»Bitte, Lattimer, begrüßen Sie Mr. Wells.«
Der Sergeant trat vor und ging zu den beiden.
»Nun wollen wir aber mit dem Essen beginnen. Die Suppe steht schon auf dem Tisch.«
Sie folgten dem Anwalt ins Speisezimmer. Cardew wies jedem seinen Platz an, und sie setzten sich nieder. Die Suppe war zwar noch nicht serviert, aber das Mädchen schöpfte sie eben auf der Anrichte nebenan in die Teller und teilte sie aus. Der rothaarige Mann schaute vorwurfsvoll auf Super, und dieser hob seinen großen Suppenlöffel.
»Der da«, sagte er mit einem heiseren Flüstern. Dann sprach er mit seiner natürlichen Stimme weiter: »Bevor wir dieses Abschiedsessen beginnen – ich bin erstaunt, daß niemand gefragt hat, wer mein Freund ist.«
»Ich gestehe, daß ich sehr neugierig bin«, sagte Mr. Cardew.
»Erheben Sie sich, Mr. Wells, Reichen Sie dem Anwalt Mr. Cardew die Hand. Mr. Cardew, reichen Sie bitte Mr. Topper Wells Ihre Rechte – dem Henker von England!«
Cardew zuckte zurück, auf seinem Gesicht zeigten sich Abscheu und Entsetzen. Sogar Jim starrte erschrocken auf den mittelgroßen, kräftigen Mann.
»Reichen Sie ihm die Hand, Lattimer, möglicherweise haben Sie ihn schon getroffen und werden noch öfter mit ihm zu tun haben.«
Super schaute den Sergeanten fest an.
»Und rühren Sie die Suppe nicht an, Lattimer – und auch keiner von Ihnen, weil – weil –«
»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Cardew.
»Weil sie vergiftet ist!«
Cardew rückte seinen Stuhl vom Tisch, und Jim sah auf seinem Gesicht wieder den Ausdruck von Überraschung und Mißtrauen, den er schon vorher bemerkt hatte.
»Vergiftet?«
»Ja, vergiftet.« Und dann fuhr er fort. »Also reichen Sie Mr. Wells, dem Henker, die Hand . . .«
Bevor er die Absicht Cardews erraten konnte, war dieser mit wenigen Sätzen aus der Tür, schlug sie hinter sich zu und schloß sie ab.
»Schnell durchs Fenster«, sagte Super. »Schlagen Sie es mit dem Stuhl ein. Ich wette, daß er die Fensterläden geschlossen hat.«
Lattimer schlug mit einem schweren Stuhl gegen das Fenster und den Laden. Das Glas splitterte, und der Rolladen gab nach. In der nächsten Sekunde war der Sergeant draußen.
»Gehen Sie schnell herum auf die Rückseite«, rief ihm Super nach. »Ich hätte noch viel mehr Leute hierhaben müssen!«
Jim lief aufgeregt umher. Er war außer sich Cardew sollte der Mörder sein? Das war einfach unmöglich!
Sie eilten in den Wirtschaftshof. Super riß eine Tür auf, die nicht verschlossen war. Jenseits sah er einen Pfad, der sich zu einer Seitenstraße hinunterzog. Es war der Eingang der Lieferanten für die Küche.
Einen Augenblick sahen sie den Kopf Cardews, der sich mit außerordentlicher Geschwindigkeit fortbewegte. Er ragte über die Grenzhecke vor und kam dann außer Sicht.
»Er fährt auf einem Motorrad«, sagte Super. »Es ist dasselbe, das er bei seiner Flucht benützte, nachdem er Hanna Shaw umgebracht hatte. Nur so war es ihm möglich, zu entkommen, ohne Pawsey zu berühren. Er ist über den Feldweg gefahren und hat sein Motorrad über die beiden Zauntritte gehoben, die im Weg waren. Schnell Ihr Auto, Ferraby!«
Super lief zur Bibliothek zurück, aber er hatte kaum den Hörer abgenommen, als er schon wußte, daß die Drähte durchschnitten waren.
»Der Kerl denkt an alles!« sagte er zu sich. »Er muß doch den Draht schon vor dem Abendessen durchgeschnitten haben. Er glaubte ganz sicher, uns alle in den ewigen Schlaf versenken zu können.«
Als er zur Toreinfahrt zurückkam, stieg Lattimer gerade in den Wagen.
»Halten Sie nicht mehr an«, schrie Super und schwang sich auf das Trittbrett.
An der Wegkreuzung trafen sie eine Polizeipatrouille, aber sie hatte keinen Motorradfahrer gesehen.
»So hat er uns also irregeführt und ist wieder zurückgefahren«, sagte Super und schaute besorgt nach dem Himmel. »In einer halben Stunde wird es stockdunkel sein.«
Der Flüchtling konnte auf drei verschiedenen Wegen entkommen. Der erste führte direkt durch Isleworth, der zweite durch Kingston zum Richmond Park, und der dritte war einer der vielen Feldwege der Nachbarschaft. Super fuhr schnell zur Polizeiwache zurück, um die nötigen Anordnungen zu treffen.
»Cardew hat ein Privatflugzeug für heute abend bestellt, um damit von Croydon nach Paris zu fliegen«, sagte er. »Vermutlich ahnt er, daß wir diesen Plan durchkreuzen werden, also läßt er ihn fallen, Er hat nur noch die eine Hoffnung, nach London zu entkommen, und das wird ihm auch gelingen. Ich sage Ihnen, dieser Mann kann sehr schnell denken und hat einen großen Weitblick.«
Er verließ die Polizeiwache und schaute düster auf den Wagen.
»Sicher wird er nach London kommen, aber er wird nicht in seine Wohnung und auch nicht in sein Büro gehen. Er muß also sonst irgendwo einen Schlupfwinkel haben. Er ist leicht zu erkennen« – er sprach halb zu sich selbst – »und wird deshalb nicht versuchen, mit der Eisenbahn oder im Auto zu fliehen. Und ich bin überzeugt, daß er nicht in einem Flugzeug fortkommen kann.«
Als sie die Stadt erreichten, verdoppelte Super zuerst die Wachtposten am Krankenhaus. Dann ging er zu Cardews Stadtwohnung. Der Anwalt war nicht dort, wie er erfuhr. Auch in seinem Büro hatte man ihn nicht gesehen. Als er wieder zu Jim auf die Straße trat, nahm er dessen Einladung an, schnell etwas mit ihm zu essen.
»Ja. Cardew tötete Hanna Shaw. Sie hatte ihn in der Hand und wollte ihn heiraten. Er haßte sie mehr als Gift, denn sie besaß einen Brief von ihm, den er vor Jahren einmal schrieb, und sie drohte ihm damit, das Papier der Polizei auszuliefern, bis er schließlich einwilligte, sie zu heiraten.
Sie heiratete ihn an dem Tag, als sie ermordet wurde, und zwar auf dem Standesamt in Newbury unter dem Decknamen Lynes. Daß er sie unter falschem Namen heiratete, machte ihr nichts aus, wenn sie ihn nur bekam. Aber sie war fest entschlossen, daß er sie als seine Frau gesetzlich anerkennen sollte. Deshalb telegrafierte sie an Miss Leigh, zu dem Haus zu kommen, damit sie eine Zeugin hatte. Er bekam den Brief von ihr – um diesen Preis hatte er sie geheiratet –, und kaum hatte er das Schreiben in der Hand, da erschoß er sie.
Er hatte alles so abgekartet, daß er sie nach der Trauung in dem Haus traf – daß Cardew Sie einlud, mit ihm ins Theater zu gehen, war nur ein Bluff. Es war ja leicht für ihn, Sie in die Irre zu führen, da ihm bekannt war, daß Sie sich für den Abend verabredet hatten – nur wußte er nicht, was Sie vorhatten.
Er ist schon früher immer Motorrad gefahren, und in einem der Räume des Hauses stand auch eine Maschine. Ich entdeckte Schrammen von den Handgriffen an der Lenkstange, als ich die Räume genau untersuchte. Er hatte mit Hanna verabredet, sie spät abends zu treffen. Sie fuhren beide zusammen nach dem Haus, aber aus irgendeinem Grund überredete er sie, ihn auf dem Rücksitz des Wagens fahren zu lassen. Er duckte sich so tief, daß ihn niemand sehen konnte. Er hat an alles gedacht, sage ich Ihnen. Auch den Hut und den Mantel, den sie trug, hatte er in seinen Plan einbezogen, und als er sie erschossen hatte, zog er ihren Hut und Mantel an; denn sie hatte ihm gesagt, daß Elfa kommen würde, und er fürchtete, sie auf dem Wege zu treffen.«
»Aber warum hat er das getan – warum in aller Welt? Er war doch ein reicher Mann?«
»Reich – durchaus nicht«, sagte Super. »Er hatte Geld . . . ja, aber wie kam er dazu? Ich werde Ihnen einmal die ganze Geschichte erzählen. Und obgleich ich manches nur vermuten kann, wird Mr. Leigh mir wahrscheinlich nicht widersprechen.
Mr. Leigh war Beamter des Schatzamtes. Er kam in den letzten Tagen des Krieges aus Amerika und brachte unter seiner persönlichen Obhut vier große Kisten voll Goldgeld mit, die die Nummern 1, 2, 3 und 4 trugen. Sie erinnern sich doch, daß er immer so viel über drei und vier sprach. Das Schiff wurde während eines Sturmes an der Südküste von England torpediert. Aber ein Zerstörer kam ihm zu Hilfe. Es war nur Zeit, zwei der Kisten an Bord zu bringen, bevor das Schiff sank. Der Funkapparat an Bord des Zerstörers war vernichtet. Er kam durch den irischen Kanal und näherte sich der irischen Küste. Der Sturm dauerte drei Tage lang. Das Schiff konnte weder einen Hafen finden, noch sich mit der Küste in Verbindung setzen, bis es in die Bucht von Pawsey kam. Und das war sein Verderben, denn es wurde von einer Seemine erwischt und zerstört.
Zu jener Zeit«, fuhr Super fort, »war Cardew vollständig erledigt, ja noch mehr als das. Er hatte viel Geld, das ihm seine Klienten anvertraut hatten, in leichtsinnigen Spekulationen verloren. Einer seiner Kunden machte ihm schon Schwierigkeiten. Es war Brixton, ein Stadtrat der City von London. Er schrieb sogar schon nach Scotland Yard, daß er der Polizei eine wichtige Mitteilung zu machen hätte. Ich wurde zu ihm geschickt, um ihn zu vernehmen, hatte aber schon eine Ahnung, worüber er sich beschweren wollte, und wußte auch durch andere Gerüchte, daß Cardew böse in der Klemme saß. Anstatt daß mir Brixton nun die Geschichte erzählte, erhielt ich eine Mitteilung von ihm, daß er mir nichts mehr mitzuteilen habe. Das hatte seinen guten Grund. Er war nämlich inzwischen ausgezahlt worden. Und wieso er ausgezahlt worden war, will ich Ihnen gleich sagen.«
Super trank ein großes Glas Bier aus.
»Cardew war in der Nacht des Schiffbruchs in seinem Haus an der See. Er hatte den Entschluß gefaßt, auf das Meer zu fahren und sich zu ertränken. Aber bevor er die Küste verließ, schrieb er einen langen Brief an den Leichenbeschauer; denn er war ja Anwalt und in mancher Hinsicht immer präzis. In dem Brief legte er ein volles Geständnis ab und nannte auch die Summe, die er seinen Klienten gestohlen hatte. Er hörte die Explosion, sein Ruderboot war an der Küste, und einige Minuten lang hat er wohl ein menschliches Mitgefühl gehabt. Er fuhr aufs Meer hinaus und fand zwei Männer, die sich an einem Holzfloß anklammerten. Sie werden eines Tages von Mr. Leigh noch hören, daß die Kisten 3 und 4 an Holzplanken befestigt waren, als sie auf das Hauptdeck des Zerstörers gebracht wurden. Cardew nahm sie auf und brachte sie zur Küste. Einer von beiden war Leigh, der nahezu tot war, der andere war Elson, ein Viehhändler, der sich als Deckarbeiter eingeschifft hatte, um der Polizei zu entgehen. Elson wußte von dem Geld und erzählte Cardew davon. Sie brachten die Kisten an Land, und Leigh kam allmählich wieder zu sich. Elson wußte, daß das Geld in Leighs Obhut war. Die einzige Hoffnung, sich in den Besitz des Geldes zu setzen, bestand also darin, ihn zu erledigen. Er zog unseren Freund Cardew ins Vertrauen, vielleicht auch nicht, aber, jedenfalls ist es sicher, daß er John Leigh mit einer Axt über den Kopf schlug und ihn ins Meer warf. Wie der mit dem Leben davonkam, kann ich Ihnen jetzt im Moment noch nicht sagen. Zwölf Monate lang fehlte jegliche Spur von ihm, aber es ist sehr wahrscheinlich, daß er an der Küste von Pawsey aufgefischt wurde, wo damals ein Marinehospital war. Offenbar hat er dort ein ganzes Jahr gelegen. Ich habe ein Aktenstück der Admiralität eingesehen, das von einem unbekannten Mann handelt, der wegen einer tiefen Kopfwunde behandelt wurde. In dem Akt wird er als geisteskrank bezeichnet. Er wurde in ein Erholungsheim entlassen. Ich weiß nicht, ob Cardew dabei seine Hand im Spiel hatte . . . Es ist leicht möglich. Die beiden brachten die beiden Kisten in sein Haus, und Hanna erfuhr auch davon. Sie wohnte zu jener Zeit dort und sorgte für Cardew. Sie öffneten die Kisten, nahmen das Geld heraus und verbrannten das Holz. Sie mußten mit Hanna teilen, und wahrscheinlich hat sie damals zum erstenmal von der schrecklichen Lage gehört, in der sich Cardew befand. Ich vermute nun, daß er den Brief kurz vor der Explosion schrieb und unterzeichnete. Sie las ihn, während er hinauseilte, nahm ihn an sich und verbarg ihn. Er hatte ihn offensichtlich lange Zeit vollständig vergessen.«
»Aber das vermuten sie doch alles nur?«
»Ich weiß . . . der Briefumschlag, der an den Leichenbeschauer adressiert war, hat mir sehr viel Aufschluß gegeben. Ich habe schon viel mit Selbstmorden zu tun gehabt. Cardew hatte ein Haus in Barley Stack, das mit Hypotheken überlastet war. Er zahlte alle diese Hypotheken ab, befriedigte die Ansprüche seiner Gläubiger und zog sich dann aus seinem Geschäft zurück, da er ja Geld genug hatte. Es wäre ihm vielleicht auch geglückt, ein ruhiges Leben zu führen, wenn nicht Hanna der Ehrgeiz gepackt hätte, die Stelle der Frau einzunehmen, seiner verstorbenen Frau, von der sie so sehr begünstigt worden war. Sie ließ Cardew keine Minute Ruhe. Einmal markierte sie den Anfangsbuchstaben des untergegangenen Schiffes auf dem Rasen vor seinem Fenster, um ihn daran zu erinnern, welche Macht sie über ihn habe.«
»Haben Sie das alles schon lange gewußt?«
»Sie können wetten, daß ich sehr viel davon wußte. Ich war sehr gespannt darauf, was Elson zustoßen würde, wenn es einmal in seinem dicken Schädel dämmerte, daß Cardew Hanna getötet hatte. Ich hatte ihm schon seit Monaten Lattimer auf den Hals gehetzt. Er borgte Geld von ihm, um ihm klarzumachen, daß er in seiner Gewalt sei. Ich hoffte, daß er ihm eines Abends in der Trunkenheit die ganze Geschichte erzählen würde. Lattimer hatte ein leichtsinniges Huhn zu spielen, und ich muß schon sagen, er hat es erschreckend gut gespielt. Er hat nur nach meinen Instruktionen gehandelt. Nur ein einziges Mal tat er das nicht, als er mir zur Stadt folgte, weil er in seinem Übereifer dachte, daß Cardew mir auflauerte.«
»So hat auch Cardew Miss Leigh erdrosseln wollen?«
»Ja, Lattimer war auf dem Dach, ich hatte ihn dorthin beordert. Wir stellten die Leiter an, sobald die Dunkelheit hereinbrach. Er hörte das Klopfen am Fenster, aber er konnte nicht erkennen, was vor sich ging, bis sich die Falltür mit einem Krachen öffnete. Lattimer wartete, daß jemand herauskommen würde. Und als das nicht geschah, vermutete er, daß der Mann, der an alles dachte, einen Fensterladen aufmachte, und kletterte so schnell wie möglich die Leiter hinunter.«
Jim war verstört durch alle diese Neuigkeiten.
»Was meinten Sie damit, als Sie Cardew an jenem Morgen fragten, ob seine Hände zerkratzt wären?«
»Warum fand man ihn chloroformiert?« fragte Super mit einem unheimlichen Grinsen, das seine Befriedigung ausdrückte. »Er versuchte wieder einen ganz gewöhnlichen Trick. Er las einen Mann am Themseufer auf und sandte ihn mit einem vergifteten Kuchen zu dem Botenbüro. Durch einen glücklichen Zufall spürten Sie den Vagabunden auf, und wir konnten ihn verhaften. Dann ging ich zu Cardew und erzählte ihm eine erfundene Geschichte, daß er den Kerl verhören solle. Dazu brauchte ich Sie als Vorspann. Ich bin sehr traurig darüber, Mr. Ferraby. Cardew fiel sofort auf die Sache herein, bis ich so beiläufig erwähnte, daß der Mann derselbe Strolch sei, den er am Themseufer aufgegriffen hatte. In diesem Augenblick wußte er, daß es Sullivan war, von dem ich sprach. Und Sullivan hätte ihn sicher an der Stimme wiedererkannt. Deshalb habe ich ihn ja auch gebeten, zur Polizeistation zu kommen und Sullivan zu verhören. Es blieb ihm nur der eine Ausweg, eine Geschichte zu erfinden, daß man ihn überfallen und chloroformiert hätte. Er hatte eine Menge Gifte und Medizinen in seinem Haus. Mit Chloroform feuchtete er ein Tuch an, warf die Flasche aus dem Fenster, legte sich aufs Bett und wäre beinahe um die Ecke gegangen. Er hat ein schwaches Herz, und sein Leben hing an einem seidenen Faden. Als ich seine Finger untersuchte, roch ich an ihnen, und daran erkannte ich, daß er die Chloroformflasche selbst entleert hatte. Ich habe eine feine Nase. An dem Tag, als er in dem Gebüsch dort oben nach uns schoß, konnte ich das Chloroform noch riechen. Viele Leute werden Ihnen erzählen, daß der Chloroformgeruch in einer halben Minute verschwindet. Senden Sie die Leute nur zu Patrick Minter, er wird Ihnen etwas ganz anderes erzählen.
Mr. Ferraby, ich werde nie wieder etwas gegen Amateurdetektive sagen. Cardew lernte alle diese Dinge sehr schnell. Ich habe eine große Hochachtung vor Anthropologie, und Psychologie gehört zu den Wissenschaften, die ich an erster Stelle studieren möchte.
Den Raubüberfall auf sein Büro, bei dem alle Papiere Hanna Shaws verbrannt wurden, muß er selbst ausgeführt haben, weil er nicht die Rolladen herunterließ und das Licht nicht andrehte. Er konnte seinen Weg im Dunkeln finden! Ich entdeckte doch eine monatealte Rechnung, die in einem der Rolladen festgeklemmt war.«
Er stellte sein Glas mit einem Seufzer auf den Tisch und schlug sich an die Stirn.
»Nun habe ich doch den Henker allein gelassen und habe ihm nicht einmal gesagt, wo er bleiben kann!«
»Warum in aller Welt haben Sie den noch in die Geschichte hineingebracht?« fragte Jim Ferraby, der immer noch nicht fassen konnte, was Super ihm erzählt hatte.
»Das war mein letzter Trumpf. Wir versuchten, Elson so zu erschrecken, daß er redete. Lattimer klebte eine Warnung an seine Tür. Aber wir ließen uns niemals träumen, was das Ergebnis sein würde. Ich dachte, Elson würde jetzt auspacken, aber er tat es nicht. Als er Leigh hatte singen hören, ging er ans Telefon und erzählte dummerweise Cardew die ganze Geschichte. Ich weiß es, weil ich seine und Cardews Leitung überwachen ließ. Und da fing das ganze Unglück an. Cardew ging noch in der Nacht zu meinem Haus und stellte die Falle auf, um mich zu töten. Ich will Ihnen die Wahrheit sagen, Ferraby: Ich habe Cardew unterschätzt. Ich dachte, ich hätte seine Nerven so heruntergebracht, daß er die ganze Geschichte verraten würde. Aber der Kerl war zu klug!«
Er schüttelte den Kopf.
»Dieser Großfuß . . .«
»Großfuß?«
»Sicher, er ist Großfuß. Ich habe seine großen Schuhe, deren Abdruck wie der eines nackten Fußes aussieht, in meinem Zimmer unter dem Bett stehen; er hat sie von einem Mann gekauft, der mit Theaterrequisiten handelt und in der Catherine Street wohnt. Er vergaß nichts und war auf alles vorbereitet. Er hatte diesen Trick mit den großen Füßen längst ausgedacht, um die Spuren in dem Sand an der Küste zu machen, und hat alle schlauen Polizeibeamten an der Nase herumgeführt. Nur einen Fehler machte er – er vergaß sie nämlich unter dem Sitz im Wagen, und da fand ich sie. Die Geschichte mit dem Warnungsbrief an Hanna Shaw war seine Erfindung. Sie hat nie einen Brief von Großfuß erhalten – Cardew hatte nur seine Vorbereitungen getroffen, um sein Alibi sicherzustellen.«
Jim Ferraby lehnte sich in seinem Stuhl zurück und starrte mit offenem Mund bewundernd auf Super.
»Sie sind ein Genie«, sagte er dann atemlos.
»Das ist nur Schlußfolgerung und Theorie«, erwiderte Super bescheiden. »Und gerade kommt mir ein Gedanke! Es gibt für ihn noch einen anderen Weg aus London!«
*
Um halb zwei Uhr morgens lag die große Wasserstraße Londons ruhig und verlassen da. Fern im Norden spiegelten sich die Bogenlampen der vielen Docks am Himmel wider. Ein großes, seetüchtiges Motorboot kam ruhig mit der fallenden Flut den Fluß herunter. Seine grünen und roten Lichter glänzten auf dem Wasser. Es bewegte sich nur langsam vorwärts.
Als es in die Höhe von Gravesend kam, fuhr es ein wenig schneller und bog nach links aus, um einem dort ankernden Dampfer auszuweichen. Es war fast an dem großen Schiff vorbei, als sich aus dem düsteren Schatten des Dampfers ein kleines, schnelles Fahrzeug löste und auf die Breitseite des Motorbootes zuhielt.
»Hallo, wer ist dort?« rief eine heisere Stimme aus der Finsternis.
»Motorboot Cecily – Eigentümer Graf von Freslac, mit der Bestimmung nach Brügge«, kam die Antwort zurück.
Die Boote kamen näher und näher zusammen, bis das kleine Schiff längsseits mit dem Motorboot lag. Plötzlich erkannte der Eigentümer des Motorbootes die Gefahr, und die Maschine begann zu rasen. Aber das kleine Boot hatte schon an seiner Seite festgemacht, und Super war der erste, der an Bord sprang.
»Ich habe wirklich Glück, Cardew, ich dachte nicht, daß ich Sie auf den ersten Hieb fangen würde!«
»Auch Ihre Theorien und Schlußfolgerungen sind bisweilen richtig«, sagte Cardew höflich, als sich die Handschellen um seine Gelenke schlossen.