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Obwohl Jim Ferraby halbtot vor Müdigkeit war, mußte er doch dem Mann an seiner Seite zuhören, während er den Wagen nach Pawsey lenkte. Super war vollkommen auf der Höhe und sprach so viel, wie ihn Jim niemals hatte reden hören. Er war so frisch und munter, als ob er eine lange Nachtruhe hinter sich hätte.
»Es dauert Jahre, bis man ein guter Detektiv wird. Nehmen Sie zum Beispiel Lattimer. Man sollte denken, daß er seinen Beruf durchaus verstände, aber das ist nicht der Fall. Diese jungen Beamten beschäftigen sich zuviel mit Schlußfolgerungen, Psychologie und Deduktion und können nicht mehr scharf hingucken. Müde?«
»Furchtbar müde«, erwiderte Jim.
»Denken Sie einfach, es ginge Ihnen sehr gut«, sagte Super. »Stellen Sie sich einmal vor, Sie tanzten mit dem Mädchen Ihres Herzens –«
»Wen meinen Sie?« fragte Jim erstaunt. »Meinen Sie etwa Miss Leigh? Was wollen Sie mit ›Mädchen Ihres Herzens‹ sagen, Super?«
»Na, ich bin in so feiner Unterhaltung nicht ganz zu Hause«, meinte Super höflich. »Wenn ich einen Faukspaß gemacht habe, bitte ich um Entschuldigung.«
»Faukspaß? Sie meinen doch nicht etwa Fauxpas? Ihr Französisch ist aber schrecklich, Super.«
»Es ist nichts im Vergleich zu meinem Englisch.« Super seufzte schwer. »Das hat sie mir immer ins Gesicht gesagt, daß ich keine Bildung hätte. Nun ist sie tot, und ich lebe, und daraus geht hervor, daß all diese höhere Bildung weiter nichts als eine Illusion ist. Nennt man das Psychologie?«
»So ähnlich!« sagte Jim.
»Es kann aber auch Anthropologie sein«, meinte Super.
*
»Dieser Ort wird aber auch mehr und mehr zu einem Vergnügungspark. Wenn ich denke, daß es einst ein ehrbares kleines Fischerdorf war, wo man den Unterschied zwischen einer Schenke, und einem Kaffeehaus nicht kannte.«
Pawsey lag im hellen Sonnenlicht mit seinen vergoldeten Kuppeln und seinen prächtigen Stuckfassaden vor ihnen. Auf der weiten Promenade gingen viele Leute spazieren, die sich einen Feiertag machten. Die gelbe Küste war von Müßiggängern bevölkert.
Der Wagen hielt vor dem Grand Hotel. Ein Portier in glänzender Livree stürzte herbei und half ihnen beim Aussteigen.
Mr. Cardew hatte das Glück, daß er eine leere Zimmerflucht nach der See bekommen hatte. Als sie zu ihm hinaufgingen, lag er noch im Bett; aber er war vollständig wach.
»Haben Sie irgendwelche neuen Nachrichten?« fragte er, als sie noch nicht die Tür hinter sich geschlossen hatten. »Ist die arme Hanna tot?«
Super erzählte ihm von dem Trauring, der gefunden worden war, und Cardew setzte sich überrascht in seinem Bett auf.
»Verheiratet? Hanna war verheiratet? Das ist unmöglich«, sagte er heftig. »Ich kümmere mich nicht darum, welche Informationen Sie haben oder was Sie entdeckten, aber das steht fest: Hanna Shaw war nicht verheiratet!«
»Woher wissen Sie das so genau, Mr. Cardew?«
Das blasse Gesicht Gordon Cardews war in Falten gezogen, und es dauerte eine Weile, bevor er antwortete. Er hatte sich wieder beruhigt.
»Ich war lange Jahre Hannas Anwalt«, sagte er. »Sie hatte kein Geheimnis vor mir! Sie mag vielleicht eine Zuneigung zu einer bestimmten Person gefühlt haben, und ich habe manchmal die Möglichkeit einer Verheiratung erwogen; aber sie konnte sich nicht verheiraten ohne meine Einwilligung.«
Selbst Super war starr vor Staunen.
»Und warum?« fragte er.
Cardew gab eine einfache Erklärung. Als seine Frau starb, hatte sie Hanna eine jährliche Rente ausgesetzt, die eine ziemlich beträchtliche Summe ausmachte – unter der Bedingung, daß sie sich ohne die Zustimmung ihres Mannes nicht verheiraten sollte.
»Meine arme Frau konnte den Gedanken nicht ertragen, daß ich allein bleiben sollte, ohne einen Menschen, der für mich sorgte, und sie hat ihr deshalb das Legat unter der Bedingung vermacht, daß sie in meinen Diensten bliebe und sich nicht verheiratete, wie ich Ihnen schon vorher sagte.«
»Wie hoch belief sich die jährliche Rente?«
»Ungefähr zweihundert Pfund – das war für Hanna sehr viel Geld. Mit einer Ausnahme«, fuhr er nach einem kleinen Zögern fort, »hat mir Hanna alle ihre Geheimnisse erzählt. Und diese Ausnahme ereignete sich vor drei Jahren, als sie mir einen großen, versiegelten Briefumschlag übergab und mich bat, ihn für sie aufzuheben. Ich fragte sie natürlich, welche Dokumente sie mir zur Aufbewahrung einhändigte. Aber in diesem Punkt verweigerte sie energisch jede Auskunft. Natürlich bin ich nicht weiter in sie gedrungen, weil ihre Jugend sehr traurig war. Wir haben sie aus einem Waisenhaus geholt, und über ihrer Herkunft liegt ein Schleier. Ich habe niemals genauer nachgeforscht, aber sie hat sich dauernd bemüht, Licht in das Dunkel zu bringen. Ich habe die Vermutung, daß der Briefumschlag die Resultate ihrer Nachforschungen enthielt.«
Super nickte.
»Das ist sehr merkwürdig«, sagte er, »und ich muß natürlich diesen Briefumschlag haben. Wo bewahren Sie ihn auf?«
»In meinen Büroräumen in King's Bench Walk«, sagte Cardew. »Wenn Sie sich die Mühe machen, heute dorthin zu schicken, so werden Sie ihn in einem kleinen japanischen Lackkasten finden, der auf dem Deckel die Buchstaben H. S. trägt. Es ist einer von den wenigen Aktenkästen, die in meinem Büro zurückgeblieben sind. Es liegen noch mehrere andere Papiere darin, die, wenn ich mich recht besinne, eine beglaubigte Abschrift des auf Hanna bezogenen Absatzes des Testaments meiner Frau enthalten, dann noch Briefe, die wir von dem Direktor des Waisenhauses erhielten, ihre Geburtsurkunde und ähnliche Schriftstücke, die aber mehr oder weniger unbedeutend sind.«
Er griff nach seinen Kleidern, die auf einem Stuhl vor seinem Bett lagen, und überreichte dem Oberinspektor einen Schlüsselbund.
»Hier sind die Büroschlüssel. Haben Sie nichts Neues entdeckt?«
»Nichts«, sagte Super. »Wie sie zurückkehrte und in das Haus ging, während Lattimer dort faktisch auf den Türstufen saß, grenzt fast an Zauberei. So etwas Ähnliches ist in keinem der bisherigen Mordfälle bekanntgeworden.«
»War Lattimer die ganze Zeit dort?« fragte Cardew schnell.
»Ja«, sagte Super nachdrücklich.
Mr. Cardew strich mit der Hand über sein unrasiertes Kinn.
»Ich habe meine eigenen Gedanken, aber ich möchte sie nicht aussprechen, bevor ich sie nicht vollständig ausgearbeitet habe.«
Er sah, wie sich Supers Lippen kräuselten, und lächelte, während jener mißmutig dreinschaute.
»Sie glauben nicht recht an Theorien, und doch schwöre ich, daß meine Theorie, wie der Mörder aus der Küche entkam, genau stimmt.«
»Dann erzählen Sie doch«, sagte Super etwas kühl.
»Die beiden, nämlich Hanna und ihr Mörder, gingen zusammen in die Küche. Einer der beiden, entweder er oder sie, schloß von innen ab. Dann wurde sie ermordet und fiel gegen die Tür. Der Mann hatte nicht die Nervenkraft, ihren Körper aufzuheben, und entschloß sich, durch das kleine Fenster in der Wand zu fliehen. Der Schlüssel, der auf der Innenseite steckte, hat ihn wahrscheinlich dazu veranlaßt. Als er erst im Speisezimmer war, war es eine einfache Sache, den Rolladen herunterzuziehen, da es ein Schnappschloß ist . . .«
Super schlug sich aufs Knie.
»Das ist richtig, so war es«, stimmte er ohne Zurückhaltung zu. »Da haben Sie eine prachtvolle Theorie ausgearbeitet, und ich wäre nicht im mindesten überrascht, wenn sie richtig wäre. Aber wie ist er hinein- und herausgekommen, ohne daß Lattimer ihn gesehen hat?«
»Es gibt doch noch eine Hintertür . . .«, begann Cardew.
»Die war verriegelt und von innen zugeschlossen«, erwiderte Super prompt. »Alle Fenster sind mit Rolläden versehen und außerdem noch durch Eisenstangen gesichert. Niemand ist diesen Weg heraus- oder hineingekommen. Wenn der Mörder durch die Hintertüre ging, wie ist es ihm dann gelungen, die Tür wieder von innen zu schließen? Nein, Mr. Cardew, so war es nicht.«
Cardew nickte bedächtig.
»Da stimme ich mit Ihnen überein«, sagte er. »Und ich will auch zugeben, daß es nicht meine eigene Überzeugung ist. Vielleicht werde ich Ihnen eines Tages eine Hypothese mitteilen, die selbst Sie überzeugt, mein lieber Oberinspektor.«
Als sie die Treppe hinuntergingen, sagte Super: »Hypothese? Das ist etwas ganz Neues für mich. Wenn diese Kerle anfangen, lateinisch zu reden, dann bin ich verloren. Aber er hat ganz bestimmt recht mit seiner Erklärung, wie der Mörder aus der Küche entkommen ist. Und daß er das herausgebracht hat, ist ganz gegen meine Erwartung. Ich dachte, er würde eine Theorie aufstellen von unterirdischen Gängen oder von Geheimtäfelungen und Geheimtüren in der Wand, die wie ein Bücherschrank von außen aussehen, der sich dreht, wenn man eine Feder oder auch zwei drückt. Dann wird eine lange Reihe von Stufen sichtbar, und aus dem Gang dringt Erdgeruch herauf.«
»Super, ich glaube, Sie lesen Kriminalromane«, lachte Jim.
»Ich lese immer alles in der Zeitung, mit Ausnahme der Börsenberichte. Und die würde ich auch lesen, wenn nicht so viele Zahlen darin ständen.«
Merkwürdigerweise fühlte sich Jim nicht mehr müde. Er nahm seinen Platz am Steuer wieder ein und lenkte den Weg durch die belebten Straßen von Pawsey auf die offene Landstraße hinaus. Und selbst wenn er müde gewesen wäre, hätte ihn Super wachgehalten. Denn der alte Mann war außergewöhnlich gesprächig, und die ersten fünfundzwanzig Kilometer des Weges nach London hielt er ihm einen langen Vortrag über die Vorzüge und Nachteile der Schulbildung.
»Als ich in die Polizeitruppe eintrat, mußte man nur lesen, rechnen und schreiben können. Wenn man mehr Einbrecher und Diebe dingfest machte als andere Detektive, wurde man befördert. Auch wenn man überhaupt nichts von Differenzenrechnung wußte . . . Wie heißt doch bloß das Wort richtig – es hat irgend etwas mit Kalkulation zu tun . . .«
»Sie meinen Differentialrechnung.«
»Ja, das meine ich. Man brauchte auch nichts über Botanik oder Zoologie oder sonst etwas zu wissen. Das einzige, was man zu tun hatte, war, die Augen aufzuhalten und womöglich den Verbrecher bei der Tat zu fassen. Wenn man einen Kerl erwischte, der größer und stärker als man selbst war und der anfing, sich zur Wehr zu setzen, dann mußte man noch ein bißchen Anatomie verstehen, um ihn an der richtigen Stelle mit dem Stock zu treffen. Aber das war praktisch alle Wissenschaft, die man in früheren Tagen lernte. Ich habe niemals ein Mikroskop gebraucht, es sei denn, um mein kleines Gehalt damit zu betrachten. Auch keine chemischen Probiergläser. Die modernen Luxusdetektive brauchen solche Dinge, um herauszubekommen, ob der Fleck auf der Manschette Bier oder Blut war. All das hat man früher nicht auf einer Polizeistation gesehen. Persönlich will ich nichts gegen eine gute Erziehung sagen. Ich würde gerne sechs Sprachen sprechen, und es wäre mir angenehm, wenn ich mich gebildet in Suaheli unterhalten könnte. Aber ich bin auch ohne alle diese Vorzüge etwas geworden. – Jetzt gehe ich zu Cardews Büro, um den Briefumschlag von Hanna Shaw zu holen. Kommen Sie mit?«
Die Andächtigen strömten aus der Kirche des Temple, als der schmutzbespritzte Wagen vor Cardews Büro hielt. Jim, der das Gebäude sehr gut kannte, führte ihn die Treppe hinauf bis zu der großen eisernen Außentür. Im Temple hat jede einzelne Flucht von Bürozimmern doppelte Türen. Wenn die äußere Tür geschlossen ist, zeigt das an, daß der Insasse nicht gestört werden will. Aber während der Bürostunden steht sie auf. Durch die innere Tür kann man eintreten, ob sie offensteht oder geschlossen ist. Nun war die äußere Tür aber nicht verschlossen, und als der Detektiv den großen Schlüssel in das Schloß steckte, fühlte er, daß sie unter seinem Druck nachgab.
»Es ist nicht abgeschlossen«, sagte er und ging hinein. Sie kamen in einen engen Gang, an dessen rechtem hinterem Ende Elfa Leighs Büro lag, wie Jim wußte. Die Tür war geschlossen, aber die zu Mr. Cardews Büro stand sperrangelweit auf. Super trat in die Türöffnung und betrachtete einige Zeit schweigend den Raum.
»Es sieht so aus, als ob wir zu spät kommen«, brummte er.
Die wenigen Aktenkästen, die noch im Büro waren, lagen auf dem Fußboden umher, und ihr Inhalt war nach allen Richtungen hin verstreut. Cardews Schreibtisch, der mit einer Rolljalousie verschlossen werden konnte, war geöffnet, und eine Menge Papiere lagen auf der Tischplatte.
»Es scheint schon jemand vor uns hier gewesen zu sein«, bemerkte Super. Dann sah er die offenen Kästen nacheinander an. »Hier ist der Deckel mit H. S. – der Kasten ist leer.«