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Gordon zögerte noch vor dem großen Spiegel des Zimmers, das er im Hotel gemietet hatte. Er hatte das Rasiermesser in der Hand, der kleine Backenbart war eingeseift. Es gibt keinen feierlicheren Akt, als wenn Männer sich den Bart abnehmen. Es liegt so etwas Unwiderrufliches, so etwas von Selbstaufopferung darin, daß man sich wundern muß, warum so wenige große Dichter dieses Thema behandelt haben.
Er biß die Zähne zusammen und ging mit fester Hand zum Angriff über. Die breite Klinge blitzte im Sonnenlicht . . . es war geschehen.
Er reinigte sein Gesicht vom Seifenschaum und betrachtete dann das Resultat im Spiegel. Sein Aussehen hatte sich tatsächlich vollkommen verändert. Er betrachtete sich erstaunt – er sah zehn Jahre jünger aus.
»Wie ein Junge!« rief Gordon aus. Seine Gefühle hielten zwischen Freude und Verzweiflung die Mitte.
Bis jetzt hatte er sich seinen Anzug noch nicht besehen. Er hatte beinahe schon wieder vergessen, wie dieses moderne graue Karo mit den roten Tupfen aussah . . .
»Mein Gott!« sagte er plötzlich.
Er war kein Stutzer. Einmal hatte ihm Diana einen solchen Ausruf entlockt. Aber Dianas modernstes Kleid war zahm im Vergleich zu diesem Kunstwerk des Schneiders, das auf dem Bett lag.
Das konnte er doch unmöglich anziehen! Aber der schwarze Cut, den er jetzt trug, und der glänzende Zylinder waren für eine kurze Seereise ebenfalls unmöglich.
Die Zeit verging im Fluge, er mußte sich entschließen. Also zog er zunächst einmal die Beinkleider an. Er betrachtete sich im Spiegel, sie sahen eigentlich gar nicht so schlecht aus . . . er machte sich fertig.
Nun stand er in seiner vollen Größe vor dem Spiegel, staunte und bewunderte sich. Eins war sicher: Auch sein bester Freund hätte ihn so nicht wiedererkannt. Außerdem konnte er ja seinen Mantel anziehen, der verdeckte fast alles. Dieser neue Gordon Selsbury faszinierte ihn geradezu.
»Wie geht es Ihnen?« fragte er sein Spiegelbild freundlich. Die Gestalt in dem Spiegel machte eine höfliche Verbeugung.
Plötzlich erschrak Gordon – er hatte zuviel Zeit mit dem Umziehen versäumt. Er packte schnell und klingelte dann dreimal nach dem Hausdiener. Das Zimmermädchen erschien. Glücklicherweise war es ein Durchgangshotel, Gäste kamen über Nacht und verließen das Haus am Morgen wieder. Niemand erkannte jemand, es sei denn, daß Rechtsanwälte durch ihre Leute schnelle und dringende Nachfragen stellen oder das Gästebuch einsehen ließen.
Zehn Prozent der Hotelangestellten waren dauernd als Zeugen vor Gericht beschäftigt.
»Rufen Sie mir den Hausdiener!« sagte Gordon. Als dieser erschien, gab er ihm Instruktionen wegen des Handkoffers, in den er seinen Anzug verpackt hatte, und wegen der Hutschachtel. Erst jetzt fiel es ihm ein, daß man nicht im Zylinder nach Schottland reist, und er war sehr froh, daß Diana ihn nicht gesehen hatte, als er sein Haus verließ.
Der Würfel war nun gefallen. Er nahm den anderen Koffer, zahlte seine Hotelrechnung und trat auf die Straße. Die Uhren schlugen gerade Viertel vor elf, als er auf den Victoria-Bahnhof kam. Der Zug fuhr um elf. Er brauchte sich nicht um Plätze zu bemühen, er hatte die Platzkarten in der Tasche. Glücklicherweise war das Wetter ziemlich schlecht – Sonnenschein und Regen wechselten miteinander ab, und es wehte ein ziemlich heftiger Wind. Er konnte also getrost den Kragen seines Mantels hochschlagen. Auf dem Anschlagbrett las er: Wind Nordnordwest, See mäßig bewegt bis stürmisch, Sicht gut.
Er war auf jeden Fall froh, daß die Sicht gut war.
Dann schaute er sich nach Heloise um. Sie wollten sich erst kurz vor Abgang des Zuges treffen.
Zehn Minuten vor elf wurde er unruhig. Aber plötzlich sah er sie auf sich zueilen. Sie drehte sich ein paarmal ängstlich um, und es lag ein Ausdruck in ihrem Gesicht, vor dem er erschrak.
»Folgen Sie mir in den Wartesaal!« Sie war an ihm vorbeigehuscht und hatte ihm nur diese Worte zugeflüstert. Wie im Traum nahm Gordon seinen Koffer auf und ging ihr nach. Der große Raum war fast leer.
»Gordon, es ist etwas Schreckliches passiert!« Ihre Aufregung und Unruhe übertrugen sich auf ihn. »Mein Mann ist unerwartet vom Kongo zurückgekehrt. Er verfolgt mich . . . er ist rasend, er ist wild! Ach, Gordon, was habe ich getan!«
Er wurde nicht ohnmächtig, er ertrug diese Situation, ohne das Bewußtsein zu verlieren.
»Er sagt, ich hätte meine Neigung und Liebe einem anderen geschenkt, und er würde nicht eher ruhen, bis er diesen anderen tot zu meinen Füßen niedergestreckt hätte. Er hat gedroht, furchtbare Dinge zu tun – er ist ein Bewunderer Peters des Großen.«
»So, ist er das?« Gordons Frage war kaum am Platz, aber es fiel ihm im Augenblick nichts Besseres ein. Auch war er kein bißchen an Mr. van Oynnes historischen Neigungen interessiert.
»Gordon, Sie müssen nach Ostende fahren und dort auf mich warten«, sagte sie schnell. »Ich komme so bald wie möglich nach . . . o mein Lieber, Sie wissen nicht, wie ich leide!«
Gordon war so sehr mit sich selbst beschäftigt, daß es ihm gleichgültig war, was andere Menschen fühlten.
»Haben Sie ihm denn nicht erzählt, daß unsere . . . unsere Freundschaft nur . . . geistiger Art ist?«
Sie lächelte schwach und traurig.
»Mein lieber Gordon . . . wer würde denn das glauben? Aber beeilen Sie sich jetzt – ich muß gehen.«
Ihre Hand lag einen kurzen Augenblick lang zitternd auf seinem Arm, dann war sie verschwunden.
Er nahm seinen Koffer, der ihm merkwürdig schwer vorkam, und folgte ihr in den Bahnhof. Aber sie war nirgends mehr zu sehen.
Ein Gepäckträger bot ihm seine Dienste an.
»Zug nach dem Festland, Sir? Haben Sie einen reservierten Platz?«
Gordon schaute auf die Uhr. Es war fünf Minuten vor elf.
»Der Zug nach Ostende geht um elf Uhr fünf, mein Herr.«
»Ich dachte um elf«, sagte Gordon verwirrt.
»Sie haben noch sehr viel Zeit, Sir.«
Gordon stand wie erstarrt da. Seine Gedanken arbeiteten plötzlich nicht mehr. Er war im Augenblick unfähig, sich zu einem Entschluß aufzuraffen oder sich zu rühren.
»Besorgen Sie mir ein Auto.«
»Jawohl, mein Herr.«
Der Gepäckträger nahm ihm den Koffer aus der Hand, Gordon leistete keinen Widerstand. Er folgte dem Mann ins Freie, absolut hilflos.
»Wohin wünschen Sie zu fahren?«
Der Träger stand da, hatte den Wagenschlag in der Hand und lächelte freundlich. Er hatte nämlich noch nicht sein Geld bekommen.
»Nach Schottland«, sagte Gordon heiser.
»Schottland – Sie meinen wohl Scotland Yard?«
Plötzlich arbeiteten die Räder in Mr. Selsburys Gehirn wieder.
»Nein, nicht doch, ich will ins Grovely-Hotel.« Das Trinkgeld, das er dem Träger in die ausgestreckte Hand drückte, war sehr hoch.
Der Wagen setzte sich in Bewegung, und der Bahnhof war bald außer Sicht.
Zur selben Zeit suchte Bobby Selsbury fieberhaft den ganzen Zug ab und eilte von Abteil zu Abteil, um seinen Bruder zu finden.
Gordon war nun ruhiger geworden, obwohl er noch keineswegs aus der Gefahrenzone war. Er überlegte. Einen eifersüchtigen, rachegierigen Ehemann, der Waffen trug und wahrscheinlich Mordabsichten hatte, konnte er nicht ganz aus seinen Gedanken verdrängen. Gordon war neugierig, ob er in seiner Bibliothek eine ungekürzte Ausgabe der Geschichte Peters des Großen finden werde.
Der Hotelportier war geschäftsmäßig erfreut, als er wieder zurückkehrte.
»Lassen Sie den Wagen warten«, sagte Gordon. Er war nicht ganz sicher, ob er ohne fremde Hilfe fähig war, sich ein anderes Auto zu besorgen.
Er erhielt seinen Schlüssel wieder, ging in sein Zimmer und klingelte nach dem Hausdiener. An seiner Stelle kam der Portier.
»Ach, Sie wollten den Hausdiener sprechen? Der ist nicht mehr im Dienst, er geht am Sonnabend schon um elf.«
»Wann wird er denn wieder dasein?«
»Erst am Montag, mein Herr. Wir haben jede zweite Woche einen ganzen Tag frei. Kann ich irgend etwas für Sie tun?«
Gordon schüttelte den Kopf. Er wollte nur den anderen Koffer und sein verlorenes, achtbares Aussehen wieder haben. Er legte seinen Überzieher ab und schaute in den Spiegel.
»Das bin ich nicht mehr«, sagte er gebrochen.
Sein Aussehen hatte sich vollkommen verändert, seitdem er sich zum letztenmal im Spiegel betrachtet hatte. Die Type, die er da vor sich sah, kam ihm bekannt vor – er hatte sie irgendwo in einem Film gesehen, wo jedermann hinter jedem herlief.
Es gab nun zwei Möglichkeiten für ihn. Er konnte hierbleiben und sich so lange als Gefangener in diesem Raum aufhalten, bis der Diener zurückkam, oder er konnte unbeobachtet nach Hause gehen und sich umziehen. Er hatte sehr viele schwarze Cuts, ganze Batterien von Zylindern und Wälder von gestreiften Beinkleidern. Dieser Gedanke hatte etwas Anziehendes. Diana würde um ein Uhr zu Mittag essen. Das Eßzimmer lag seinem Studierzimmer gegenüber auf der anderen Seite der Diele. Es wäre eine einfache Sache, nach oben zu gehen, sich umzukleiden und sich dann einer erstaunten Diana vorzustellen. Wie verwundert würde sie sein, und wie interessant und unterhaltsam wäre das für ihn selbst!
»Du hast wohl nicht erwartet, mich schon wieder hier zu sehen? Nun, ich erhielt im letzten Augenblick vor Abgang des Zuges ein dringendes Telegramm. Beinahe wäre der Zug auf und davon gewesen. Mein Backenbart? Ach, den habe ich abrasiert, um dir eine kleine Überraschung zu bereiten. Du findest auch, daß ich so besser aussehe?«
Er begeisterte sich für diesen Plan.
Er freute sich auch, daß er heute abend wieder in seinem eigenen Bett schlafen konnte. Und er würde wieder bei Diana sein. Bis jetzt hatte er viel zu wenig auf ihre Gesellschaft geachtet. Ihre Bedeutung für ihn wuchs, das gestand er sich selbst ein. Wenn Heloise nach Ostende fahren würde, dann wäre das allerdings sehr peinlich. Der Gedanke, daß sie seinetwegen umsonst reiste, war ihm unsympathisch, aber sie würde ja erst in ein oder zwei Tagen fahren, und er konnte inzwischen Mittel und Wege finden, sich mit ihr in Verbindung zu setzen.
Er schauderte, denn im Hintergrund tauchte wieder der rachsüchtige Ehemann auf, dieser große, brutale Mensch, der verrückt war, verrückt, wahnsinnig!
Gordon mußte noch zwei Stunden warten, bevor er seinen Plan ausführen konnte.
Er zog dann seinen Mantel an und fuhr mit dem Fahrstuhl hinunter. Sein Wagen wartete noch, der Taxameter war allerdings inzwischen zu einer ziemlichen Höhe emporgeklettert. Er hatte überhaupt nicht mehr an das Auto gedacht. An seiner Straßenecke zahlte er den Chauffeur und ging schnell auf sein Haus zu. Er hatte den Mantelkragen hochgeschlagen. Glücklicherweise war die Straße vollkommen leer. Er rannte beinahe bis in die kleine Seitenstraße und schloß mit zitternder Hand das rückwärtige Tor auf. Wenn die Riegel nun vorgeschoben waren! Aber die Tür bewegte sich nach innen, und er sah darauf die wohlbekannten Fenster seines Studierzimmers. Er schlich sich auf Zehen zu dem kleinen hinteren Eingang und lauschte. Er konnte kein Geräusch hören. Mit größter Vorsicht schloß er auf und öffnete die Tür zuerst einen Spalt, dann ein wenig weiter, schlüpfte hinter den Vorhang, der die Tür verbarg und zog sie hinter sich zu.
Das Zimmer war leer, die beiden Türen zur Diele waren angelehnt. Er konnte das feierliche Ticken der Großvateruhr im Treppenhaus hören.
Er hatte sich überlegt, daß er sich zuerst mit Bobby in Verbindung setzen mußte. Er lauschte in die Diele hinaus und hörte ein schwaches Geklirr von Tellern. Diana war also, wie er erwartet hatte, beim Mittagessen. Er schloß leise die Stofftür, dann die Holztür, schob einen Riegel vor und ging auf Zehenspitzen durch das Zimmer. Jetzt war er Diana dankbar, daß sie das Telefon in sein Studierzimmer hatte legen lassen.
Bobbys Büro meldete sich. Ein Angestellter, der sich verspätet hatte, bediente das Telefon noch.
»Nein, Sir, Mr. Selsbury ist heute nicht im Geschäft.«
Gordon hängte den Hörer wieder ein, ohne seinen Namen zu nennen. Dann rief er Bobbys Wohnung an, hatte aber keinen besseren Erfolg. Er verschwendete wertvolle Zeit – Bobby konnte ja noch warten. Mit einem glücklichen Lächeln richtete er sich auf. Er war wieder zu Hause! Diana würde natürlich sehr erstaunt sein, wenn sie ihn sähe!
Er ging quer durch den Raum zur Diele. Seine Hand lag schon auf der Türklinke, als er sich noch einmal umschaute und plötzlich bemerkte, daß sich der Vorhang bauschte, der die Geheimtür verbarg. Er dachte daran, daß er die Tür offengelassen hatte und wollte gerade zurückkehren, um sie zu schließen, als eine Hand den Rand des Vorhangs faßte. Gordon blieb wie angewurzelt stehen. Wieder bewegte sich der Vorhang, und nun wurde eine Frau sichtbar. Es war Heloise!
Gordon traute seinen Augen nicht. Sicher war das eine Halluzination seiner überhitzten Phantasie und ein Symptom dafür, daß seine Nerven nicht mehr in Ordnung waren.
»Sie sind es doch nicht wirklich?« fragte er ganz verwirrt.
»Gordon!« Er sah ihre ausgestreckten Hände und den unendlich traurigen Blick ihrer Augen.
»Wie sind Sie denn hierhergekommen?« fragte er verzweifelt.
»Auf demselben Weg, den auch Sie genommen haben. Ich folgte Ihnen, Gordon. Er ist so fürchterlich, Sie müssen mich beschützen!«
Er starrte sie entsetzt an.
»Ach, Sie meinen – Peter?« Er nickte.
»Peter? Nein, ich meine Claude, meinen Mann . . . Er weiß alles!«
Heloise kam jetzt auf ihn zu und legte ihre beiden Hände auf seinen Arm.
»Ich kann doch hier in Ihrem Haus bleiben – Sie werden mich doch nicht auf die Straße werfen? Er war hinter mir her, aber ich bin seinen Verfolgungen glücklich entgangen!«
»Was, Sie wollen hier bleiben?« Gordon erkannte kaum seine eigene Stimme wieder. »Sind Sie verrückt – sind Sie wahnsinnig?«
Sie schaute ihn argwöhnisch an.
»Sind Sie etwa verheiratet?«
»Nein!« Aber plötzlich kam ihm eine Erleuchtung. »Ja!«
»Ja – nein«, sagte sie ungeduldig. »Was sind Sie denn – geschieden?«
»Nein. Sie müssen doch einsehen, daß das nicht geht, Heloise!«
»Sie sind mit Diana verheiratet!« rief sie anklagend.
Gordon nickte ganz verwirrt.
»Sie müssen wirklich gehen, sonst bin ich ruiniert!«
Sie trat einen Schritt zurück und stemmte die Arme in die Hüften.
»Und was erbe ich bei diesem Ruin?« fragte sie.
»Sie müssen zu Ihrem Mann zurückgehen!« Seine Gedanken begannen sich wieder zu sammeln. »Sie müssen ihm sagen, daß Sie einen Irrtum begangen haben!«
»Das vermutet er schon so«, klagte sie. Langsam legte sie ihren Mantel ab. Gordon eilte zu ihr hin und wollte sie daran hindern.
»Ziehen Sie ihn schnell wieder an!« sagte er, aber sie machte sich von ihm frei.
»Ich gehe nicht – unter keinen Umständen gehe ich fort! Gordon, Sie können mich doch nicht auf die Straße werfen, nach allem, was wir einander waren!«
Er schob sie nach der Hoftür zu. Er war außer sich vor Furcht und hoffte kaum noch auf eine glückliche Lösung.
»Schnell durch diese Tür«, zischte er ihr zu. »Ich treffe Sie in einer halben Stunde in irgendeinem Restaurant. Heloise, verstehen Sie denn nicht, mein guter Ruf hängt davon ab –«
Aber nun ließ sie die Maske vollkommen fallen.
»In einem Restaurant – wollen Sie mich wirklich den Löwen zum Fraß vorwerfen?«
Er sah sie erbittert an. War es möglich, daß eine Frau in einem so ernsten Augenblick noch dumme Witze machen konnte?
»Ihr guter Ruf kümmert mich gar nicht«, sagte sie kühl. »Deswegen würde ich nicht den kleinsten Schritt tun. Ich werde dieses Haus nicht – allein verlassen!«
Gordon bedeckte seinen Mund mit der Hand, obwohl er ja gar nicht sprechen, sondern nur ihr die Rede abschneiden wollte. Aber er stand zu weit von ihr entfernt, um ihr den Mund zuhalten zu können. Seine unfreiwillige Geste hatte aber wenigstens den Erfolg, daß sie schwieg. Plötzlich klopfte es an der Tür.
»Wer ist in dem Zimmer?« fragte Diana.
Gordon zeigte auf die Seitentür und suchte Heloise durch Gebärden verständlich zu machen, daß sie gehen solle, aber sie reagierte nicht darauf.
»Wer ist hier?« fragte Diana lauter.
»Schnell durch die Seitentür«, flüsterte Gordon.
Heloise schüttelte den Kopf, zögerte und trat dann leise hinter den Vorhang. Das war ihr einziges Zugeständnis.
»Wer hat die Tür abgeschlossen?«
Dianas Stimme war jetzt dringend und erregt. Gordon zog seinen Rock zurecht, fuhr mit der Hand über das Haar, schloß die Tür auf und öffnete sie weit.
»Es ist alles in Ordnung, meine liebe Diana!« Er grinste geistlos und fade. »Haha – Gordon ist wieder da! Gord, wie du ihn immer nennst. Ich komme gerade nach Hause. Hier bin ich . . . hier bin ich wieder wie ein falscher Pfennig!«
Diana war ganz starr vor Schrecken, als sie hereintrat.
Sein Mut sank, aber er hielt sich durch die Überzeugung aufrecht, daß sie schließlich überhaupt kein Recht hatte, sich in diesem Hause aufzuhalten. Er war doch der Hausherr, er war die höchste Autorität in seinen eigenen vier Wänden, obwohl er sich eben wie ein Dieb ins Zimmer geschlichen hatte.
Sie betrachtete ihn schnell von Kopf bis zu Fuß und bemerkte eine fabelhafte Ähnlichkeit mit Gordon. Aber dann sah sie ihn genauer an: Er war etwas korpulenter als ihr Vetter (der graue Sportanzug mit den roten Tupfen brachte diesen Eindruck hervor), er war auch kleiner. Außerdem hatte er einen ganz gewöhnlichen Geschmack. Anscheinend wollte er sich durch diesen Aufzug als Sportsmann legitimieren. Gordon war ein Ruderer und ging auf die Jagd, aber er hätte sich niemals in einer solchen Aufmachung blicken lassen. Sie überlegte sich das schnell, ihre Gedanken rasten. Er dachte überhaupt nicht mehr. In Dianas Augen sah er jenes Leuchten, das er nicht liebte, und als sie auf ihn zuging, wich er vor ihr zurück.
»Aber das ist doch nur der alte Gordon, haha!« scherzte er schwach.
»So, Sie sind nur der alte Gordon!« Sie nickte verstehend. »Setzen Sie sich einmal dorthin, alter Gordon!«
»Nun hör doch einmal zu, liebes Kind! Ich will dir alles erklären. Ich habe meinen Zug versäumt . . .«
Sie öffnete langsam eine Schublade des Schreibtisches, ließ ihn dabei aber nicht aus den Augen. Plötzlich hielt sie eine Browningpistole in der Hand.
Er hörte, wie sie lud und entsicherte.
»Aber was tust du denn da, Diana!« rief er.
Sie sah ihn durchbohrend und vernichtend an.
»Wollen Sie bitte so liebenswürdig sein, mich nicht mehr Diana zu nennen«, erwiderte sie eisig. »Sie sind also doch gekommen, sehen Sie einmal an. Und selbst ich, die gewöhnlich auf alles gefaßt ist, habe Sie nicht erwartet! Aber Sie sind zu einer glücklichen Stunde gekommen, mein Freund!«
»Aber begreife doch, mein liebes Mädel!«
»Unterlassen Sie gefälligst die Vertraulichkeiten!« Energisch wies sie wieder auf einen Stuhl, und er setzte sich gehorsam. »Und bilden Sie sich ja nicht ein, daß ich mich von Ihnen täuschen lasse – ich kenne Sie!«
»Du kennst mich?« fragte er heiser. Er wußte bald nicht mehr, ob er sich selbst noch kannte.
»Ich kenne Sie«, wiederholte sie langsam. »Sie sind der Doppelgänger!«
Er sprang auf, aber sie erhob sofort die Pistole. Er gestikulierte wild mit den Händen und wollte sprechen.
»Sie sind der Doppelgänger!« Ihre Augen blitzten unheimlich. »Ich weiß alles von Ihnen – Sie erscheinen in der Gestalt Ihrer Opfer – Sie und die Frau, mit der Sie zusammenarbeiten, locken unschuldige Männer von ihren Häusern weg, damit Sie sie ausplündern können.« Sie schaute sich um. »Wo ist denn die Frau? Ist sie nicht auf der Szene? Oder ist ihre Aufgabe zu Ende, wenn sie die Leute weggelockt hat?«
»Diana, ich schwöre dir, du irrst dich, ich bin dein Vetter Gordon!«
»Mein lieber Doppelgänger, Sie sind diesmal nicht so sorgfältig zu Werk gegangen wie früher. Lassen Sie sich aber die Tatsache, daß ich Sie eben so freundlich angeredet habe, nicht zu Kopf steigen! Sie haben Ihr augenblickliches Opfer nicht genau genug studiert. Mein Vetter Selsbury trägt einen Backenbart – wußten Sie das nicht?«
»Ich – ich hatte einen Unfall! In Wirklichkeit nahm ich ihn ab, um dir zu gefallen – dir zuliebe!«
Ihr verächtliches Lächeln erschütterte ihn vollständig.
»Mein Vetter Gordon gehört nicht zu den Männern, die Unfälle mit ihren Backenbärten haben«, sagte sie nachdrücklich. »Nun erzählen Sie mir einmal, wo Ihre Freundin steckt.«
Er versuchte von dem Vorhang fortzuschauen und starrte feierlich geradeaus, aber dann wanderten seine Augen doch unfreiwillig zu dem Ausgang nach dem Hof. Diana folgte seinen Blicken und sah plötzlich, daß sich der Vorhang leise bewegte.
»Kommen Sie, bitte, hervor!«
Es kam keine Antwort.
»Kommen Sie hervor – oder ich schieße sofort!«
Sie sah, wie sich der Vorhang bewegte. Heloise stürzte kreidebleich ins Zimmer und warf sich dem vollständig geschlagenen Gordon an die Brust.
»Schütze mich doch, sie darf nicht schießen! Sie darf nicht schießen!« schrie sie los.
Diana nickte befriedigt.
»Das ist also Ihr Mann?« konstatierte sie.
Sie ging zur Tür und schloß sie ab.
»Nun hören Sie einmal zu, Herr und Frau Doppelgänger, oder welchen Namen Sie sonst führen mögen. Sie sind hierhergekommen, um einen ganz gemeinen Betrug auszuführen. Wenn ich wollte, könnte ich sofort zur Polizei schicken, um Sie dem Arm der Gerechtigkeit auszuliefern. Ich bin aber noch nicht ganz sicher, ob ich das tun werde. Im Augenblick ist Ihre Gegenwart jedenfalls wie von der Vorsehung herbeigeführt. Gordon Selsbury!« sagte sie dann verächtlich. »Glauben Sie vielleicht, daß Gordon Selsbury heimlich eine Frau in dieses Haus bringen würde? Bilden Sie sich ein, er würde wie ein drittklassiger Komödiant in einem derartigen Aufzug erscheinen? Erwähnen Sie nie wieder Mr. Selsburys Namen in meiner Gegenwart!«
Gordon öffnete und schloß seinen Mund, aber er brachte keinen Ton hervor.
»Sie werden jetzt in diesem Zimmer bleiben, bis ich Ihnen erlaube, etwas anderes zu tun! Sie haben doch einen Schlüssel zu dieser Tür gehabt, geben Sie ihn sofort her!«
Gordon gehorchte lammfromm und beobachtete, wie sie die Tür nach dem Hofe zweimal verschloß. Dann machte er einen letzten, verzweifelten Versuch, sich aus dieser Situation zu retten.
»Diana, ich kann dir doch alles erklären«, sagte er verzweifelt. »Ich bin – es ist wirklich so – ich will dir die Wahrheit erzählen. Ich war im Begriff abzureisen, und – ich bin tatsächlich Gordon, obwohl der Schein gegen mich ist. Ich gebe ja gern zu, daß ich einen ganz abscheulichen Anzug trage und daß ich auch in anderer Weise mein Aussehen verändert habe, aber das kann ich dir alles genau erklären –«
Es klopfte an die Tür.
»Warten Sie!« sagte Diana und ging zur Tür. »Wer ist dort?«
»Eleanor. Es ist ein Telegramm gekommen!«
»Schieben Sie es unter der Tür durch!«
Ein gelbes Formular wurde sichtbar, sie riß es auf und las.
»Nun, fahren Sie doch fort!« wandte sie sich an Gordon. »Sie sagen, Sie seien Gordon Selsbury? Erzählen Sie mir nur noch ein wenig mehr. Aber hören Sie vorher einmal zu, was ich Ihnen vorlese: ›Habe gerade Custon verlassen. Sei vorsichtig. Gordon.‹ Wir wollen uns nun gegenseitig nichts mehr vormachen. Beichten Sie mir alles, kleiner Bursche! Schütten Sie mir Ihr Herz aus! Wer sind Sie: Gordon Selsbury oder der Doppelgänger?«
»Irgend jemand«, sagte er, verzweifelt wie ein Verdammter.
»Gordon Selsbury oder der Doppelgänger?« fragte sie unbarmherzig.
Er streckte seine Hände aus und ließ sie resigniert wieder fallen.
»Der Doppelgänger!« stöhnte er kaum vernehmlich.
Von den beiden Rollen erschien ihm diese als die glaubwürdigere.