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Der ehrenwerte George Tackle hatte das Glück, der Sohn seines Vaters zu sein; sonst hatte er keine Anwartschaft auf Auszeichnung. Aber da sein Vater Eigentümer des Blattes »Courier und Echo« war, mit dem wer weiß wieviel tote und erloschene Sterne am Fleetstreet-Himmel fusioniert waren, hatte George Verbindungen, mit denen kein noch so großes, wirkliches Verdienst hoffen durfte, in Wettbewerb zu treten. Und als die Gerüchte von Greueltaten im Lukatibezirk durchzusickern begannen und Gegenstand von Anfragen im Parlament wurden, öffnete George sein kostbar gebundenes Nachschlagewerk und entdeckte, daß der Bezirk Lukati im britischen Schutzgebiet lag. Er forderte, sofort hinausgesandt zu werden, um diese Verbrechen aufzuklären, die ein Schandfleck unserer vielgepriesenen Zivilisation seien.
Sein Vater, der an und für sich eine falsche Wertschätzung vom Genie seines Sohnes hatte, stimmte zu und schlug vor, daß George zur Redaktion gehen und sich alle Unterlagen über jene Greueltaten geben lassen solle.
George versprach es – mit einem gutmütigen vergnügten Lächeln bei dem bloßen Gedanken, daß irgend jemand ihn über einen Gegenstand belehren sollte, über den er selbst so durch und durch unterrichtet war. Aber die »Courier-und-Echo«-Redaktion sah nichts von ihm, und der Archivar der Zeitung, der ein wirklich wertvolles Material in Gestalt von Zeitungsausschnitten, Flugblättern, Karten und gesundheitlichen Winken zur Richtschnur für den jungen Mann gesammelt hatte, war enttäuscht, als er erfuhr, daß der zuversichtliche Jüngling ohne jede andere Belehrung abgefahren sei als die, welche man sich durch hastiges Überfliegen jener kleinen Artikel sichern konnte, die von Tag zu Tag in den Morgenblättern erschienen.
Als Sonderkorrespondent führe ich mit schlecht unterdrücktem Triumph den Fall des ehrenwerten George Tackle als eine schreckliche Warnung für alle Zeitungseigentümer an, die ihren väterlichen Gefühlen gestatten, über ihr sonst gesundes Urteil zu siegen.
Alles, was der ehrenwerte George wußte, war, daß in Lukati vier zweifellose Fälle von barbarischer Grausamkeit gegen Eingeborene vorgekommen waren, und daß der Amtmann jenes Bezirks verantwortlich für das Auspeitschen und Foltern der Eingeborenen zu machen war. Der ehrenwerte George Tackle dachte, daß das alles sei, was er zu wissen nötig hätte; aber damit beging er einen groben Irrtum.
Oben in Lukati gingen alle möglichen Dinge vor, wie Bezirksamtmann Sanders auf seine eigenen Kosten erfuhr.
Einmal besuchte er diesen Bezirk und verließ ihn in tiefstem Frieden. Die Eingeborenen bauten für seinen Stationsleiter Carter, den er dort zurückließ, ein hübsches Häuschen, pflanzten Gärten darum, und das alles aus freien Stücken.
Eines Tages, als Carter eben einen begeisterten Bericht über den Gewerbefleiß seines kleinen Gemeinwesens geschrieben und berichtet hatte, wie die Leute die neue Regierung mit offenem Herzen aufnähmen und unterstützten, suchte ihn der Dorfhäuptling Olari auf, den er witzig O'Leary nannte.
Carter ging gerade durch die sauber gefegte Dorfstraße, die Hände in den Jackettaschen und den weißen Tropenhelm tief im Nacken, denn die Sonne brannte ihm auf den Pelz.
»Vater«, redete der Häuptling Olari ihn an, »ich habe diese Leute mitgebracht, sie wünschen dich zu sprechen.«
Olari wies mit einer Handbewegung auf sechs fremde Krieger, die Lanze und Schild trugen und Carter ruhig ansahen.
Carter nickte.
»Sie möchten gern den wunderbaren kleinen Fetisch (Revolver) sehen, den mein Vater in seiner Tasche trägt, damit sie ihren Leuten von seinen Zauberkräften erzählen können.«
»Sag' deinen Leuten«, erwiderte Carter gutgelaunt, »ich hätte den Fetisch nicht bei mir, aber wenn sie zu meinem Hause kommen wollen, will ich ihn ihnen gern zeigen.«
Darauf hob Olari seinen Speer und durchbohrte Carter, und die sechs Krieger warfen sich gleichzeitig auf ihn. Carter wehrte sich mannhaft, aber er war unbewaffnet.
Als Sanders die Nachricht vom Tode seines Untergebenen empfing, fiel er weder in Ohnmacht noch in einen Zustand wahnsinnigen Fluchens; er saß gerade auf seiner breiten Veranda des Regierungshauses, als der bestaubte Bote ankam. Sanders erhob sich finsteren Blickes, die Lippen fest geschlossen, den Brief Tollemachs, des Polizei-Inspektors von Bokari, in den Händen, und schritt die Veranda auf und ab.
»Armer Junge! Armer Kerl!« war alles, was er sagte.
Er sandte keine Botschaft an Olari; er machte keinerlei Anstalten zu einem Strafzug; er fuhr fort, Schriftstücke auszufertigen, die Polizeisoldaten zu mustern, Abendgesellschaften beizuwohnen, als ob es niemals einen Carter gegeben hätte. Alles das wurde Olari von dessen Spähern berichtet, und Olari atmete auf.
Da Lukati zweihundert Meilen vom Regierungssitz entfernt war, wäre eine Strafexpedition durch ein wildes Gebirgsland kein leichtes Wagnis gewesen, und das britische Gouvernement, so reich es ist, kann sich nicht gestatten, hunderttausend Pfund zu opfern, um den Tod eines Subalternen zu rächen.
Das alles wußte Sanders sehr wohl. Deshalb verwandte er seine Zeit, um die Namen von Carters Mördern festzustellen.
Als er das getan hatte, marschierte er siebzig Meilen weit in den Busch zum großen Zauberdoktor Kelebi, dessen Name von Dakka bis zur Ostgrenze von Togo an der ganzen Küste bekannt war.
»Hier sind die Namen der Leute, die Schande über mich gebracht haben«, sagte Sanders zu ihm, »aber hauptsächlich ist es Olari, der Häuptling der Lukatis.«
»Ich werde Olari unter meinen Bann stellen«, erwiderte der Zauberdoktor, »unter einen sehr schlimmen Bann – und die anderen Leute auch. Die Kosten betragen sechs englische Pfund.«
Sanders bezahlte und schenkte überdies zwei Vierkantflaschen mit Schnaps und ein Stück Lendentuch. Dann ging er nach Hause.
Eines Nachts lief durch das Lukatidorf ein Raunen, und die Menschen flüsterten einander die Neuigkeit unter Angstschauern und scheuen Blicken nach, rückwärts zu.
»Olari, der Häuptling, ist verflucht!«
Olari horte die Neuigkeit von seinen Weibern und lief aus der Hütte ins Mondlicht und gebärdete sich wie ein Wahnsinniger.
Am nächsten Tage erkrankte er; am fünften Tage lag er fast im Sterben und litt schreckliche Schmerzen, und mit ihm die sechs, die am Morde Carters beteiligt waren. Daß sie nicht starben, war nicht die Schuld des Zauberdoktors, der das Mißlingen mit der großen Entfernung entschuldigte, die zwischen ihm und seinen Beauftragten lag. –
Sanders war damit zufrieden, denn er sagte sich, daß die Schmerzen zu diesem Preise billig seien, und daß es ihm eine, große Genugtuung bereite, eigenhändig das Wort »Finis« hinter das Kapitel Olari zu schreiben.
Eine Woche darauf wurde Sanders' Lieblingsdiener Abiboo krank. Keine Fiebersymptome oder irgendein Kennzeichen einer bestimmten Krankheit; der Mann ging eben langsam ein.
Sanders forschte nach und entdeckte, daß Abiboo den Zauberdoktor Kelebi beleidigt und daß der »Doktor« diesem die »Todesbotschaft« gesandt hatte.
Sanders nahm fünfzig Haussasoldaten mit sich und suchte den »Doktor« auf.
»Ich habe Grund anzunehmen«, redete er ihn an, »daß du als Menschentöter ein Fehlschlag bist.«
»Herr«, erwiderte Kelebi sanft, »mein Zauber kann keine Berge überschweben; sonst wären Olari und seine Spießgesellen jetzt tot.«
»Das mag sein, wie's will, aber ich hab's jetzt mit einem näher liegenden Zauber zu tun, und ich muß dir sagen, daß ich dich an dem Tage, an dem Abiboo stirbt, aufhängen werde.«
»Vater«, antwortete Kelebi nachdrücklich, »unter diesen Umständen wird Abiboo am Leben bleiben.«
Sanders gab ihm einen Sovereign, ritt zum Regierungssitz zurück und fand seinen Diener auf dem Wege der Genesung.
Dieses Vorkommnis ermöglicht es, das eigentümliche Milieu zu verstehen, in dem Sanders den größten Teil seines Lebens zubrachte; und es trägt dazu bei, die Ironie der durch die Ankunft Seiner Ehren George Tackle geschaffenen Lage besser zu würdigen.
Sanders frühstückte gerade auf der Veranda seines Hauses; von da genoß er den Blick über die grellen Schönheiten seines Gartens und die Aussicht auf die weite rollende, ölige See, die ein einziges goldenes Aufflammen unter der glühenden Sonne war. Draußen, drei Meilen vom Land entfernt, lag ein Dampfer, und Sanders erkannte ihn durch sein Glas als den Elder-und-Dempster-Dampfer, der die monatliche Post brachte.
Da keine Briefe auf seinem Tisch lagen und der Dampfer bereits seit zwei Stunden hier lag, schloß er daraus, daß keine Post für ihn angekommen sei, und empfand das dankbar, denn über jenes sentimentale Stadium, in dem Briefe noch angenehme Möglichkeiten bedeuteten, war er hinaus.
Da er keine Briefe hatte, erwartete er auch keine Passagiere vom Dampfer, und der Anblick, als Seine Ehren George Tackle in der Hängematte in den Garten getragen wurde, erweckte Sanders' Betroffenheit.
Der ehrenwerte Herr George stieg vorsichtig heraus, setzte sich seinen weißen Tropenhelm auf, glättete die Falten seiner tadellosen Beinkleider und stieg die Stufen herauf, die zur Veranda führten.
»Wie geht's?« sagte der Besucher. »Mein Name ist Tackle! George Tackle!« – Er lächelte dabei, als ob mehr zu sagen eine Beleidigung für die Intelligenz seines Gegenübers sei.
Sanders verbeugte sich – ein wenig förmlich – er fühlte, daß sein Besuch dies erwartete.
»Ich bin hier in besonderem Auftrag«, fuhr der ehrenwerte George fort. »Wie Sie zweifellos gehört haben werden, ist mein alter Herr der Eigentümer des ›Courier und Echo‹, und so dachte er, es wäre besser, daß ich selbst hierher ginge und nach der Angelegenheit sähe. Ich zweifle natürlich nicht, daß das Ganze übertrieben ist.«
»Halten Sie mal den Atem an!« bat Sanders, dem jetzt ein Licht aufging. »Ich reime mir zusammen, daß Sie – – so 'ne Art Zeitungskorrespondent sind.«
»Recht geraten.«
»Und daß Sie hierhergekommen sind, um nachzuforschen, ob – – –«
»Eingeborenenbehandlung und dergleichen«, sagte Ehren George etwas obenhin.
»Und was stimmt da nicht mit der Eingeborenenbehandlung?« fragte Sanders, ganz Zucker.
Der ehrenwerte Gentleman machte eine unbestimmte Geste.
»Wissen Sie – Zeitungsartikel – Missionare –«, antwortete er hastig und etwas verlegen, da er sah, daß der Mann ihm gegenüber, wenn irgendeiner, verantwortlich für die Gewalttätigkeiten sei.
»Ich lese keine Zeitungen«, erwiderte Sanders, »und – –«
»Natürlich«, unterbrach Seine Ehren eifrig. »Wir können alles schon arrangieren, soweit es Sie betrifft –«
»O danke!« Sanders' Dankbarkeit war ein wenig übertrieben, aber er streckte seine Hand aus. »Nun, ich wünsche Ihnen Glück. Lassen Sie mich's wissen, wie es Ihnen damit geht.«
Ehren George war baff.
»Aber – entschuldigen Sie – wie – oh, zum Teufel damit! Wo soll ich denn bleiben?«
»Dachten Sie hier?«
»Ja, hol's der Henker! Mein Gepäck ist an Land! Ich dachte –«
»Sie dachten, ich beherberge Sie?«
»Nun, ich dachte – – –«
»Daß ich Ihnen um den Hals fallen und Sie willkommen heißen würde?«
»Nicht gerade das, aber – – –«
»Nun«, sagte Sanders, sorgfältig seine Serviette faltend, »ich bin alles andere als entzückt, Sie zu sehen.«
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte der Ehrenwerte, sich in die Brust werfend.
»Weil Sie Verantwortlichkeit mit sich bringen, und ich hasse solche Verantwortlichkeit. Sie können Ihr Zelt aufschlagen, wo immer Sie Lust haben, aber ich kann Ihnen nicht die Gastfreundschaft anbieten, die Sie wünschen.«
»Ich werde diese Angelegenheit dem Gouverneur berichten«, sagte der ehrenwerte George unheilkündend.
»Meinetwegen berichten Sie's meiner Großmutter Jungferntante«, erwiderte Sanders höflich.
Eine halbe Stunde später sah Sanders Herrn George wieder an Bord des Schiffes gehen, das ihn nach Isisi Bassam gebracht hatte. Sanders lachte. George würde nun stehenden Fußes zum Gouvernement gehen und dort einen Empfang erhalten, mit dem verglichen ein Saharasturm ein sanfter Zephir Arabiens war.
Gleichzeitig war Sanders ein wenig betroffen, aber nicht ein bißchen verletzt; in seinem Bezirk waren niemals Scheußlichkeiten an Eingeborenen verübt worden, und er wußte nicht, wie die Gerüchte entstehen konnten, die diesen »Beauftragten« auf seine »Forschungsreise« gebracht hatten. Konnte das vielleicht ein entstellter Bericht von der Bestrafung Olaris zustande gebracht haben? – »Fahr' schnell zum Dampfer und bring ein Buch zu dem weißen Herrn, der eben von hier fortging«, befahl Sanders einem Diener, indem er einen Zettel folgenden Inhalts schrieb:
»Ich fürchte, ich bin etwas unhöflich Ihnen gegenüber gewesen, da ich nicht wußte, auf was, zum Teufel, Sie lossteuerten. Überwältigende Neugierde veranlaßt mich, Sie einzuladen, mein Bungalow mit mir zu teilen, bis Sie Ihre Nachforschungen beginnen wollen.«
Der Ehrenwerte las das mit selbstzufriedenem Schmunzeln.
»Die einzige Möglichkeit, diese Burschen zu behandeln, ist, ihnen zu zeigen, daß man keinen Unsinn hinnimmt. Ich dachte mir's schon, daß er von seinem hohen Roß heruntersteigen wird«, meinte, er zum Kapitän des Elder-und-Dempster-Dampfers.
Der Kapitän, der Sanders' Ruf kannte, lächelte, sagte aber nichts.
Noch einmal wurde das Gepäck des Sonderberichterstatters – ein wahres Gebirge – in das Brandungsboot verladen, und Seine Ehren Herr George winkte seinen Freunden auf dem Dampfer Lebewohl.
Der Kapitän des Dampfers lehnte über der Kommandobrücke und beobachtete das auf und nieder gehende Boot in der Dünung:
»Da fährt einer hin, der nach Aufregung sucht, und ich möchte nicht die Hälfte der Aufregung haben, die er finden wird. Ist der verdammte Anker schon auf, Mr. Simmons? Halbe Kraft voraus! Steuert genau West, ihr da! Herr . . . Wie heißen Sie?«
Es war ein kleiner Triumph für Seine Ehren. Zehn uniformierte schwarze Polizisten warteten am, Strand, um sein Gepäck in Empfang zu nehmen, und Sanders ging ihm bis in die Mitte des Gartens entgegen. »Die Sache liegt so«, begann Sanders verlegen, aber der großmütige George erhob seine Hand:
»Lassen Sie Geschehenes geschehen sein!«
Sanders fühlte sich unsagbar angeödet von dieser Entfaltung von Großmut. Noch verdrießlicher war er, als sich der Berichterstatter weigerte, auf die Frage der Scheußlichkeiten zurückzukommen.
»Als Ihr Gast«, sagte George feierlich, »fühle ich, daß es besser für alle Beteiligten wäre, wenn ich eine unbeeinflußte Nachforschung vornehme. Ich werde mich bemühen, mich an Ihre Stelle zu versetzen, um alle mildernden Umstände zu berücksichtigen.«
»Oh, nehmen Sie einen Gin-Swizzel!« sagte Sanders barsch und ungeduldig. »Sie langweilen mich.«
»Hören Sie mal!« sagte er weiter. »Ich will nur zwei Fragen stellen. Wo sollen die Scheußlichkeiten verübt worden sein?«
»Im Lukatibezirk.«
Ah, Olari! dachte Sanders. Dann: »Wer war das Opfer?«
»Mehrere!« Der Berichterstatter zog sein Notizbuch. »Verstehen Sie wohl! Ich erörterte die Angelegenheit lieber nicht mit Ihnen, aber da Sie darauf bestehen!« Er las: »Efembi von Wastambo.«
»Oh!« sagte Sanders und hob die Brauen.
»Kabindo von Machembi.«
»Oh, mein Gott!« entfuhr es Sanders.
Der ehrenwerte George las noch sechs andere Fälle, und mit jedem weiteren glättete sich eine Falte auf Sanders' Stirn nach der anderen.
Als die Aufzählung zu Ende war, sagte der Bezirksamtmann zögernd:
»Ich kann Ihnen eine Erklärung abgeben, die Ihnen einen großen Teil unnötiger Mühe ersparen wird.«
»Ich sähe es lieber, Sie täten das nicht«, drückte sich George auf die für einen Juristen passendste Weise aus.
»Auch gut!« sagte Sanders und pfiff seinen Boys, sie sollten das Essen bringen.
Während des Mahles berührte Sanders nochmals den Gegenstand.
»Ich habe hier auf der Station eine Anzahl Freunde – ich verhehle Ihnen diesen Umstand nicht – Da ist O'Neill, der Schutztruppenoffizier – der Doktor, dann Kennedy von der Vermessungsabteilung und ein halbes Dutzend mehr. Haben Sie Lust, die zu fragen?«
»Es sind Ihre Freunde?«
»Allerdings! Persönliche Freunde!«
»Dann wird es vielleicht besser sein, ich spreche sie nicht«, meinte Seine Ehren würdevoll.
»Ganz wie Sie wünschen«, entgegnete Sanders.
Mit einem Gefolge von vier Polizeisoldaten und fünfzig Trägern, die von den benachbarten Dörfern herbeigeschafft worden waren, ging Herr George ins Innere. Sanders sah ihn abmarschieren.
»Ich kann natürlich nicht für Ihr Leben einstehen«, sagte er beim Abschied, »und ich muß Sie darauf aufmerksam machen, daß das Gouvernement nicht verantwortlich für irgendeinen Schaden ist, der Sie trifft.«
»Ich verstehe«, antwortete der ehrenwerte George, mit dem Kopfe nickend. »Aber ich laß mich nicht abhalten. Ich stamme von einem Geschlecht – – –«
»Das mag alles wohl sein«, schnitt Sanders dessen genealogische Erinnerungen ab. »Aber der letzte Reisende, der im Busch verspeist wurde, war ein D'Arcy, und dessen Leute kamen mit dem ›Eroberer‹ herüber.«
Der Sonderberichterstatter nahm den geraden Weg nach Lukati, und am Ende des dritten Tagemarsches kam er nach Mfabo, wo der große Zauberdoktor Kelebi wohnte.
George schlug ein Zelt außerhalb des Dorfes auf und machte, begleitet von den vier Polizeisoldaten, dem Häuptling seinen Besuch. Das war der erste Fehler, den er beging, denn er hätte dem Häuptling sagen lassen müssen, dieser solle ihn besuchen, und wenn er schon irgend jemand besuchen wollte, mußte er diesen Besuch dem Zauberdoktor machen, der ein größerer Mann war als vierzig Häuptlinge zusammen.
Bald darauf fand er sich vor der Hütte des Zauberdoktors auf der Erde hockend und inmitten einer lebhaften Unterhaltung, die durch seinen Dolmetscher aus Sierra Leone mit jener berühmten Persönlichkeit vermittelt wurde.
»Sage ihm«, befahl George seinem Dolmetsch, »ich sei ein großer Häuptling der Weißen, und mein Herz schlage für die Schwarzen.«
»Ist Sanders ein guter Mann?« fragte er darauf.
Der Zauberer, dem Sanders' Drohung mißfallen hatte, antwortete: »Nein!«
»Warum?« fragte der ehrenwerte George weiter. »Schlägt Sanders die Leute?«
»Nicht nur geschlagen hat er die Leute«, erklärte der Zauberdoktor mit Wohlbehagen, »sondern es gab Zeiten, wo er sie lebendig verbrannt hat.«
»Das ist eine schwerwiegende Anklage«, bemerkte George, seinen Kopf hin und her wiegend. Nichtsdestoweniger schrieb er hastig in sein Notizbuch:
»Interviewte Kelebi, geachteter eingeborener Arzt, welcher erklärt:
›Ich habe mein ganzes Leben in diesem Bezirk zugebracht und habe niemals einen so grausamen Mann kennengelernt wie Sandi (Sanders). Ich erinnere mich noch, daß er einmal einen Mann ersäufen ließ – den Namen dieses Opfers habe ich vergessen. Bei einer anderen Gelegenheit verbrannte er einen würdigen Schwarzen bei lebendigem Leibe, weil sich dieser weigerte, Sanders und seine Polizeisoldaten durch den Urwald zu führen. Ich erinnere mich auch der Zeit, daß Sanders ein Dorf anstecken ließ und große Leiden über die Eingeborenen brachte. Die Eingeborenen des Landes stöhnen unter der Last seiner Unterdrückung; denn von Zeit zu Zeit kommt er und fordert Geld und Getreide von ihnen, und wenn er nicht alles erhält, was er fordert, peitscht er die Eingeborenen, bis sie laut aufschreien.‹«
Ich vermute fast, daß in der letzten Angabe etwas Wahres ist, denn für Sanders war das Einsammeln der Hüttensteuer keine leichte Sache.
George schüttelte den Kopf, als er mit dem Schreiben fertig war.
»Das sieht sehr schlimm aus!« murmelte er.
Er verabschiedete sich, dem Doktor die Hand reichend; der alte Gauner machte ein sehr enttäuschtes Gesicht und stellte eine Frage in der Landessprache.
»Sie sein nicht imstande, ihm was zu schenken?« übersetzte der Dolmetsch.
»Schenken?«
»Yes! Gib ihm Präsent! Flasche Gin.«
»Aber nein! Es soll sich mit dem Bewußtsein zufrieden geben, der Menschheit einen Dienst erwiesen zu haben, und damit, daß er der Sache eines niedergetretenen Volkes dient.«
Der Zauberdoktor gab eine Antwort, die der Dolmetsch sich klugerweise hütete ins Englische zu übersetzen.
*
»Nun, wie geht's mit der Feststellung der Greueltaten?« wandte sich drei Wochen später der Hauptmann der Polizeitruppen an Sanders.
»Soweit ich sehen kann«, entgegnete dieser, »stellt unser gemeinschaftlicher Freund eine Liste von Opfern zusammen, mit der verglichen die Berichte der großen Pest anmuten wie die Reklameanzeige eines Badeortes.«
»Wo befindet er sich jetzt?«
»Er hat Lukati erreicht – und das beunruhigt mich.«
Der Schutztruppenoffizier nickte, denn alle möglichen Gerüchte waren von Lukati heruntergekommen. – Es hatte eine gute Ernte gegeben, und gute Ernten bedeuten Müßiggang, und Müßiggang bringt Unfug. Auch hatte man da oben die »Teufelstänze« getanzt, und dem gutmütigen Bokaristamm waren Weiber geraubt worden.
»Ich habe ja freie Hand, um einen Aufstand im Keime zu ersticken«, erwog Sanders verdrießlich, »und alles spricht für einen Aufstand. – Was meinen Sie, sollen wir den Bericht abschicken und auf Verstärkung warten, oder sollen wir ohne diese unser Glück versuchen?«
»'s ist Ihr Begräbnis, und ich hasse es, Ihnen einen Rat zu geben. Geht die Sache schief, kriegen Sie den Abschied; aber wenn es von mir abhinge, ich ginge sofort hin – selbstverständlich!«
»Hundertvierzig Mann!« sagte Sanders nachdenklich.
»Und zwei Revolverkanonen«, fügte der andere hinzu.
»Also los!« rief Sanders. Eine halbe Stunde später gellte das Horn durch die Baracken der Polizeisoldaten, und Sanders schrieb einen Bericht an seinen Vorgesetzten im fernen Lagos.
Der ehrenwerte George hatte keine blasse Ahnung, daß er in Lukati alles andere als willkommen war.
Olari, der Häuptling, hatte ihn freundlich begrüßt, hatte ihm Geschichten von Sanders' Grausamkeit erzählt; Geschichten, die, wie George schrieb, notwendigerweise das Sterbegeläut britischer Unbescholtenheit in unseren Eingeborenenkolonien wären. (Ich bin nicht veranlagt, den genauen Sinn dieser Äußerungen zu erraten.)
George hielt sich einen Monat als Gast in Lukati auf. Er hatte beabsichtigt, höchstens drei Tage zu bleiben, aber immer hatte es einen Grund gegeben, seine Abreise zu verschieben. Einmal hieß es, die Träger seien davongelaufen, ein anderes Mal, die Wege seien nicht sicher; und einmal bat Olari ihn, er möchte doch bleiben und seine jungen Männer tanzen sehen.
George wußte nicht, daß sich seine kleine Eskorte von vier Polizeisoldaten unsicher fühlte, weil sein Dolmetsch, ein ebenso großer Idiot wie George selbst, Anzeichen nicht zu deuten verstand.
George kannte die Bedeutung eines Tanzes nicht, an dem nicht weniger als sechs Zauberdoktoren teilnahmen; er kannte auch die Geschichte jenes in sich zusammenbrechenden Hauses nicht, das in Einsamkeit am Dorfende stand. Wenn George sich die Mühe genommen hätte, dieses Haus einer näheren Besichtigung zu unterziehen, so würde er einen Tisch, einen Stuhl und ein Feldbett gefunden haben und auf dem Tisch einen von Staub und Regen fleckigen Bericht, der folgendermaßen anfing:
»Ich habe die Ehre, Euer Exzellenz zu berichten, daß die Eingeborenen ihre fleißige und friedliche Haltung beibehalten . . .«
In diesem Hause wohnte zu seinen Lebzeiten der Stationsleiter Carter, und die Eingeborenen mit ihrer abergläubischen Scheu vor den Toten hatten nichts angerührt.
Gegen das herannahende Ende des Monats glaubte der ehrenwerte George im Benehmen seines Wirtes eine schlecht verhehlte Anmaßung im Ton und in dem Verhalten der Dörfler etwas mehr als Drohung entdecken zu können.
Jede Nacht fanden jetzt Tänze statt, und das taktmäßige Stampfen der Füße, das Anschlagen der Speere an die Bambusschilde und der niemals endende dumpf rollende Gesang, den die Tänzer hören ließen, raubten George die nächtliche Ruhe.
Täglich kamen Boten zu Olari von weither, und einmal wurde George mitten in der Nacht durch wilde Schreie aufgeweckt. Er sprang aus dem Bett, und als er den Zeltvorhang beiseiteschob, sah er, wie man ein halbes Dutzend Weiber längs der Dorfstraße schleppte – das Ergebnis eines Beutezuges gegen die friedlichen Bokari – – –
George zog sich an, in Schweiß gebadet vor Furcht und Entrüstung, und ging zum Häuptling, glücklicherweise ohne seinen Dolmetscher, denn was Olari ihm antwortete, hätte George zur Salzsäule erstarren lassen.
Am Morgen nach diesem ihn gänzlich unbefriedigt lassenden Zwiegespräch ließ George seine vier Polizeisoldaten antreten und so viele von seinen Trägern, als sich im Augenblick gerade auftreiben ließen, und machte sich marschfertig.
»Herr«, sagte Olari, als diesem die Absicht Georges verdolmetscht wurde, »ich sähe es lieber, du bliebest noch. Das Land ist unsicher von landstreichendem Gesindel, und ich habe dir noch viel von den Teufelstaten Sandis zu erzählen. Überdies«, fügte der Häuptling hinzu – dabei zeigte er auf drei Sklaven, die damit beschäftigt waren, einen großen Pfahl in der Mitte des Dorfes aufzustellen –, »heute nacht ist der große Tanz dir zu Ehren. Danach werde ich dich ziehen lassen, wohin du willst, denn«, schloß Olari, »du bist mein Vater und meine Mutter.«
Der ehrenwerte George zögerte noch, als plötzlich, wie durch Zauberei, an jedem Ende der Dorfstraße zwanzig wegstaubige Polizeisoldaten auftauchten. Einen Augenblick standen sie mit Gewehr bei Fuß, dann flankierten sie nach rechts und links, und in der Mitte jeder der beiden Gruppen wurde der gefüllte Kühlkübel eines Maximgeschützes sichtbar.
Olari sagte nichts; er sah nur erst nach der einen Richtung und dann nach der anderen; sein braunes Gesicht wechselte die Farbe zu einem schmutzigen Grau.
Sanders kam langsam auf die Gruppe zugeschlendert; unrasiert, der Anzug zerrissen vom Gestrüpp, und in der einen Hand einen langläufigen Revolver.
»Olari«, sagte er leise.
Der Häuptling trat vor.
»Ich denke, Olari, du bist etwas zu lange Häuptling gewesen.«
»Herr, mein Vater war vor mir Häuptling und mein Großvater.« Olaris Gesicht zuckte.
»Und was wurde aus Tagondo, mein Freund?« fragte Sanders. (Tagondo war der Name, den die Eingeborenen dem unglücklichen Carter gegeben hatten.)
»Herr, er starb«, antwortete Olari. »Er starb an der Krankheit Mongo – an der Krankheit selbst.«
»Gewiß«, entgegnete Sanders, mit dem Kopf nickend. »Und ebenso gewiß sollst du an derselben Krankheit sterben.«
Olari suchte nach einer Möglichkeit zur Flucht. Da sah er Seine Ehren Herrn George fassungslos von einem zum anderen blicken und warf sich zu den Füßen des Berichterstatters nieder.
»Herr«, schrie er, »rette mich vor diesem Manne, der mich haßt!«
George verstand die Gebärde, sein Dolmetscher sagte ihm das übrige, und als ein Haussasoldat die Hand nach dem Häuptling ausstreckte, schlug der Sohn des Hauses von Widner, stark im Gedanken an seine Gerechtigkeit, die Hand zurück.
»Hören Sie, Sanders!« – er vergaß alles, was er vorher am Häuptling mißbilligt hatte, vergaß seine Furcht vor ihm – »ich meine, Sie haben den armen Teufel genug gestraft.«
»Packt den Kerl, Sergeant!« befahl Sanders scharf.
Der Haussa packte Olari an den Schultern und schleuderte ihn zurück.
»Dafür sollen Sie büßen!« brüllte Seine Ehren George Tackle in ohnmächtiger Wut. »Was wollen Sie mit ihm machen? Mein Gott! Nicht ohne ein Gericht!«
Er sprang vorwärts, aber die Polizeisoldaten ergriffen ihn und hielten ihn zurück.
*
»Für das, was Sie getan haben, sollen Sie büßen!« wiederholte der Berichterstatter einen Monat später zu Sanders, als er an Bord des heimwärts fahrenden Dampfers ging.
»Ich möchte Sie nur darauf aufmerksam machen«, erwiderte Sanders, »daß, wenn ich nicht im letzten Augenblick hinzugekommen wäre, Sie selbst alles Büßen besorgt hätten; denn in der Nacht, als ich ankam, sollten Sie massakriert werden. Haben Sie denn nicht den großen Pfahl bemerkt?«
»Das ist eine Lüge!« anwortete der andere. »Ich werde England widerhallen lassen von Ihrer Missetat. Der Zustand Ihres Bezirks ist ein Schandfleck in der Zivilisation!«
*
»Da ist kein Zweifel«, sagte Herr Richter Keneally am Schluß der Verleumdungsklage Sanders' gegen »Courier und Echo« und einen anderen, »daß der Beklagte Tackle eine Anzahl verleumderischer und schädigender Artikel geschrieben hat. Nach meinem Dafürhalten ist die befremdlichste Seite des Falles die, daß der Beklagte, der den Auftrag hatte, die Zustände im Lukatibezirk zu untersuchen, sich nicht einmal die Mühe gab, festzustellen, wo dieses Lukati liegt, denn wie Ihnen, meine Herren Geschworenen, mitgeteilt wurde, gibt es nicht weniger als vier Lukatis in Westafrika; und das in Dahome gelegene Lukati war der Bezirk, wohin der Beklagte hatte gehen sollen. Wie er dazu kam, das Lukati in Britisch-Westafrika für das Lukati in Dahome zu halten, weiß ich nicht. Aber um seine Anschuldigungen gegen einen vollkommen unschuldigen britischen Beamten zu stützen, brachte er eine Anzahl völlig haltloser Artikel, von denen jeder einzelne als das Interesse des Klägers verletzend und noch schädlicher für die Zeitung angesehn werden muß, die diese Artikel in ihrer ungeheuren Unwissenheit veröffentlichte.«
Das Gericht erkannte Sanders einen Schadenersatz von neuntausendsiebenhundertundfünfzig Pfund Sterling zu.