Edgar Wallace
Der Brigant
Edgar Wallace

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12. Kapitel

Ein Spezialist

Anthony Newton war ein Opportunist und besaß wie alle diese Menschen die Fähigkeit, eine Situation sofort zu überschauen und auf Grund der gegebenen Lage unglaublich schnell zu handeln. Gut ausgearbeitete Schlachtpläne, die mühevolle Vorbereitungen erforderten, lagen ihm nicht. Das Leben bot ihm viele günstige Gelegenheiten, aber die meisten wies er sofort zurück; einige, weil sie nicht genügend Aussicht auf Erfolg hatten, andere wieder, weil sich der Erfolg nicht recht lohnte und ihm die Mittel, mit denen er das Ziel hätte erreichen können, zu zweifelhaft erschienen.

Es war eigentlich zu erwarten, daß die Erscheinung eines jungen Mannes, der keinen offensichtlichen Verdienst hatte, auf großen Fuß lebte, stets elegant auftrat und immer viel Geld ausgab, die Neugierde anderer Glücksritter erregte, die jedoch nicht auf seinen Wegen gingen. Von Zeit zu Zeit begegnete er Leuten der Aristokratie, einer ihm unbekannten Welt. Tadellos gekleidete Herren und Damen, ebenfalls ohne irgendwie bekannte Erwerbsquellen, näherten sich ihm, prüften ihn vorsichtig und mit großer Geschicklichkeit und verschwanden dann wieder. Anthony spielte weder Karten noch besuchte er Spielhöllen, auch fiel er nicht der Versuchung zum Opfer, sich auf leichte Weise Geld zu verdienen. Trotzdem waren ihm diese Bürger von Londons Unterwelt sehr interessant, die gar nicht den Anspruch erhoben, Damen und Herren der Gesellschaft zu sein.

Einst lud Anthony einen solchen Mann zum Essen ein, und im Laufe des Abends wurde der Mann gesprächig und gab ihm manche Erklärung. Er hieß Jay Gaddit, war einer der vorzüglichsten Falschspieler und Kartenkünstler, dem Äußeren nach aber ein Mann von Welt, der viel herumgekommen war und sich daher in jeder Gesellschaft bewegen konnte.

»Alle diese Geschichten von Gentlemanverbrechern sind Unsinn«, sagte er und schaute nachdenklich auf seine Zigarre. »Wenn Sie, den ich zu den Fratzen rechnen will . . .«

»Danke verbindlichst«, erwiderte Anthony.

»Sie müssen wissen, es gibt nur zwei Arten von Leuten auf der Welt, die Diebe und die Fratzen. Ich habe absolut nicht die Absicht, Sie zu beleidigen. Nehmen Sie an, daß Sie einen von den Jungens treffen und mit ihm zu Abend essen. Nach Tisch schlägt irgend jemand, wahrscheinlich ein Mädchen, das auch mit der Gesellschaft arbeitet, ein Spiel Karten vor. Wenn nun der Verbrecher, der Sie hereinlegen will, ein Gentleman wäre und sich während des ganzen Essens mit Ihnen über Kunst, Wissenschaft und dergleichen unterhalten hätte und dann plötzlich das Gespräch auf Karten brächte, würden Sie sich doch sofort sagen: ›Der Mensch muß ein Verbrecher sein.‹ Denn ein Gentleman würde sich doch niemals mit einem Fremden über Karten unterhalten. Aber wenn er sich nun nicht wie ein Gentleman gibt, sondern so wie ich daherkommt und freimütig und derb über alles spricht, Spaße macht und lustig ist, und dann nachher ein Kartenspielchen erwähnt, würden Sie gar nichts dabei finden. Sie würden mich ansehen und denken: Nun ja, der junge Mann ist gut gekleidet und hat anscheinend viel Geld. Er ist ein reicher Farmer, vielleicht auch ein Pferdehändler. Aber Sie würden keinen Verdacht schöpfen. Daß ich so vorteilhaft aussehe, gehört zu meinem Beruf. Aber mein Spezialfach ist immer noch bedeutend besser als das von anderen Leuten. Sehen Sie einmal drüben den Menschen an.« Er zeigte auf einen vornehm gekleideten, ruhigen Herrn. »Das ist Sadbury – oder er nennt sich wenigstens so. Der rührt nie eine Karte an. Und er ist ein vollkommener Gentleman.«

Anthony schaute interessiert zu Mr. Sadbury hinüber.

»Welche Spezialität hat er denn?« fragte er.

Jay Gaddit lachte leise vor sich hin.

»Das ist ein Bigamist! Er ist schon sechsmal verheiratet gewesen, meistens mit reichen Witwen mittleren Alters«, sagte der Kartenkünstler mit verhaltener Bewunderung. »Er lernt sie an Bord eines Schiffes kennen. Er macht eine Reise nach Australien und ist drei oder vier Tage nach seiner Ankunft in Sidney verheiratet. Er hat sich schon in Kapstadt, Buenos Aires, Ottawa, New York, Colombo und Vancouver trauen lassen. Aber er ist noch niemals gefaßt worden, weil sich niemand über ihn beschwerte oder eine Klage gegen ihn erhob. Eine Frau, die ausgeraubt und zum Narren gehalten wurde, macht natürlich keine Anzeige, besonders, wenn sie nichts von den anderen weiß. Ich spreche jetzt natürlich im Vertrauen zu Ihnen, wie ein Bruder zum anderen.«

Anthony nahm dieses zweifelhafte Kompliment ruhig und geduldig auf.

»War er denn noch nie im Gefängnis?«

»O ja, er hat schon drei- oder viermal gesessen«, meinte Jay sorglos, »aber niemals wegen Bigamie. Ich kann nicht sagen, daß mir dieses Spezialfach zusagen würde. Meine Sache ist glatter Diebstahl und schnelle Flucht. Nebenbei bemerkt ist das auch weniger gefährlich.«

Anthony sah sich erstaunt nach Sadbury um. Der Mann sah gut aus, mochte etwa achtundzwanzig Jahre alt sein, hatte dunkles Haar und trug einen kleinen, schwarzen Schnurrbart. Ein nachlässig gekleideter Mensch saß bei ihm, der abgerissen aussah und sich scheu umblickte. Seine Hände zitterten – das konnte Anthony sogar aus dieser Entfernung wahrnehmen.

»Das ist aber doch kein Opfer, das er ausplündern will?«

Jay Gaddit schüttelte den Kopf.

»Das ist ein morphiumsüchtiger Kerl. Der Himmel mag wissen, was Sadbury mit dem vorhat.«

Im Laufe der Zeit kam Anthony in London mit allen möglichen Leuten in Berührung, die die verschiedensten Verbrechen als Spezialität betrieben und unter den Unbesonnenen, Einfältigen und Überklugen ihre Opfer suchten. Er hatte keine Freunde unter diesen Menschen, aber er brachte seine Abende manchmal mit ihnen zu und erfuhr auf diese Weise viele interessante Dinge.

Für Anthony gab es eigentlich nur ein junges Mädchen auf der Welt. Aber obgleich er romantischen Abenteuern nicht abgeneigt war, stand es doch bei ihm fest, daß er seine Augen niemals zu Vera Mansar, der Millionärstochter, erheben konnte, deren Lieblichkeit immer um ihn schwebte und die ihm als Maßstab weiblicher Schönheit galt, wenn er andere Frauen sah. Er war jetzt kein armer Abenteurer mehr. Dank einer Anzahl gut verlaufener Unternehmungen, die einen größeren Gewinn abwarfen, als er früher in seinen kühnsten Träumen zu hoffen gewagt hatte, verfügte er jetzt über die nötigen Mittel – aber er blieb immer noch ein Abenteurer.

Die Möglichkeit, seine Bekanntschaft mit ihr zu erneuern, war sehr unwahrscheinlich. Er selbst machte sich darüber keine Hoffnung. So ging Anthony Newton allein seinen Weg durch das merkwürdige London. Er lernte Leute kennen, die plötzlich für Monate verschwanden, und er hörte von dem Klatsch und den Skandalen der Unterwelt. Er hatte unter ihren Bewohnern wenigstens zwei angenehme Menschen getroffen, die ihm gegenüber offen waren und ihm vieles im Vertrauen erzählten, nachdem die ersten Mißverständnisse beseitigt waren und sie entdeckten, daß er weder eine »Fratze« noch ein Polizist war.

Einige Zeit, nachdem Anthony mit Jay Gaddit zu Abend gespeist hatte, war der Falschspieler plötzlich spurlos von der Bildfläche verschwunden. Er war ›aufs Land gegangen‹, wie seine Freunde erzählten. Nach drei Monaten erfuhr Anthony, daß er an den ›schrecklichen Platz‹ gekommen sei, worunter Londons Unterwelt das Gefängnis von Dartmoor versteht. Und einige Tage später erhielt er einen Brief auf blauem Papier. »S. M. Gefängnis Princetown« stand darauf. Anthony zerbrach sich nicht den Kopf, wie der Mann wohl zu seiner Adresse gekommen sein mochte. Die Kenntnis solcher Dinge gehörte eben zu Gaddits Beruf. Der Brief lautete:

Mein lieber Mr. Newton!

Ich hoffe, Sie werden mir verzeihen, wenn ich mich an Sie wende. Ich bin auf Grund eines falschen Zeugnisses für drei Jahre ins Gefängnis gekommen. Auf jeden Fall war die Beschuldigung, die gegen mich erhoben wurde, nicht richtig. Unglücklicherweise hatte ich nur wenig Geld, als ich geschnappt wurde, und mußte meine Frau ohne alle Mittel zurücklassen. Ich weiß nicht, ob es ein zu großes Ansinnen an Sie ist, wenn ich Sie bitte, etwas für sie zu tun.

Das war eine sonderbare Zumutung, wie sie Anthony früher nie begegnet war. Aber er zögerte keinen Augenblick, notierte sich die Adresse, die Gaddit in seinem Brief angegeben hatte, stieg in ein Mietauto und stand bald darauf vor einer Wohnungstür in Bloomsbury. Er klopfte an, und eine hübsche, schlanke junge Frau von etwa siebenundzwanzig Jahren öffnete ihm. Zuerst schaute sie ihn mißtrauisch an, aber nachdem er ihr mit einigen Worten den Zweck seines Besuches erklärt hatte, wurde sie liebenswürdiger.

»Treten Sie bitte näher, Mr. Newton«, sagte sie und führte ihn in ein kleines, aber schön eingerichtetes Wohnzimmer. Anthony hatte keine Ahnung, wie sich Frauen von Verbrechern in solchen Fällen benehmen, aber wenn er erwartete, sie in Trauer und Kummer zu finden, so hatte er sich sehr getäuscht.

»Da können Sie einmal wieder sehen, wie unvernünftig es ist, sich zu betrinken. Wenn er nüchtern gewesen wäre, hätte man ihn nicht, gefaßt«, sagte sie. »Da ich ihn immer unterstützt habe, bedrückt es ihn natürlich, daß er mir nur hundertfünfzig Pfund zurücklassen konnte.«

Anthony war verblüfft. Aber die Frau hatte sehr bald erkannt, welchen Eindruck sie auf ihn gemacht hatte, und sie mußte lachen.

»Sie haben doch nicht etwa gedacht, daß Sie mich hier in Tränen aufgelöst finden, Mr. Newton? Sie müssen bedenken, es ist nicht das erstemal, daß Jay ›aufs Land‹ gegangen ist. Geld brauche ich wirklich nicht«, sagte sie, nachdem sie einige Augenblicke nachgedacht hatte. »Ich arbeite mit einem Freund zusammen, und ich habe wirklich genug. Wenn Sadbury mich nicht so betrogen hätte, wäre ich sogar gut bei Kasse.«

Der Name war Anthony bekannt.

»Sprechen Sie von dem Bigamisten?«

»Jay scheint Ihnen ja schon alles erzählt zu haben! Der Mann ist wirklich kein Gentleman. Ich habe fünf Tage lang ehrlich an ihm gearbeitet, und er hat mir nicht einmal Dankeschön oder dergleichen gesagt.«

Eins hatte Anthony bei seinem Verkehr mit diesen merkwürdigen Leuten gelernt – man durfte niemals fragen. Er mußte warten und konnte vorläufig nur vermuten, was es bedeutete, daß Mrs. Gaddit an Sadbury »gearbeitet« hätte. Aber die Zusammenhänge waren ihm durchaus nicht klar.

Er kehrte erleichtert in sein Hotel zurück. Eine Bekanntschaft mit Verbrechern hatte doch manchmal verwirrende Momente. Er war selbst stark beschäftigt, denn er bereitete gerade wieder ein neues Unternehmen vor. Erst nach drei Monaten sah er Mrs. Gaddit wieder. Er traf sie im Hyde Park, und sie fuhr in einem wunderschönen Wagen mit einem Chauffeur und einem Diener an ihm vorüber. Anthony lächelte sie liebenswürdig an, als er sie in so vornehmer Umgebung sah.

 

Am nächsten Tage hatte er eine Begegnung, die sein Herz höher schlagen ließ und ihm das Blut in die Wangen trieb. Er ging die Regent Street entlang und wollte gerade seinen Freund, den Rechtsanwalt und Romanschreiber, besuchen, als ihn jemand anrief. Er wandte sich um.

Die liebliche Erscheinung, die sich seinen Blicken bot, raubte ihm fast den Atem. Er erkannte die Dame nicht gleich und glaubte, daß sie sich geirrt habe. Aber sie kam mit lachenden Augen auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen.

»Wie geht es Ihnen, Mr. Newton?«

Er konnte nicht sprechen und schüttelte nur Vera Mansars Hand.

»Es ist beinahe ein Jahr, daß wir uns zuletzt gesehen haben – Sie haben uns nicht wieder besucht.«

Sie unterdrückte ein Lachen, und Anthony sah sie vorwurfsvoll an.

»Nein, ich bin nicht dazu gekommen«, sagte er etwas heiser. Er benahm sich entsetzlich schüchtern und linkisch. »Ich habe nämlich sehr viel zu tun . . .«

»Hat man Sie zum Direktor der Bank von England gemacht?« fragte sie möglichst harmlos. »Aber Sie können Ihren Hut ruhig aufsetzen. Abgesehen davon, daß Sie die Aufmerksamkeit der anderen Leute auf sich ziehen, könnten Sie sich auch erkälten.«

Anthony murmelte eine Entschuldigung und setzte seinen Hut auf.

»Wir haben sehr oft über Sie gesprochen«, sagte sie, als sie zusammen die belebte Straße entlanggingen. »Ich meine nämlich Vater und mich. Er war der Meinung, daß Sie der Klügste von allen waren.«

Anthony schluckte. Er wußte, daß Miss Vera Mansar von den zudringlichen jungen Leuten sprach, die versucht hatten, sich auf alle mögliche Weise bei ihrem reichen Vater einzuführen.

»Er möchte Sie gern wiedersehen«, fuhr sie fort.

Anthony lächelte. Er hatte endlich seine Selbstbeherrschung wiedererlangt.

»Will er mich wieder nach Brüssel schicken?« fragte er trocken.

»Nein, das glaube ich nicht«, erwiderte sie ernst. »Wir erinnerten uns an Sie, als wir die Einladungen zu meiner Hochzeitsfeier aufsetzten.«

Anthony blieb stehen.

»Zu Ihrer Hochzeit?« fragte er ungläubig.

Sie nickte.

»Ich heirate meinen Vetter – ich dachte, Sie wüßten das –, es hat in den Zeitungen gestanden.«

»Ach ja.« Anthony versuchte, die Herrschaft über seine Stimme zu behalten. »Ich wußte nicht, daß Sie einen Vetter hatten«, sagte er dann etwas lahm.

Sie mußte lachen.

»Sie wissen überhaupt nichts von mir«, antwortete sie und sah ihn wieder vergnügt an. »Geben Sie sich doch nicht erst den Anschein, als ob das der Fall wäre, Mr. Newton. Aber ich habe nur wenige Verwandte, und mein Vetter Philipp könnte Ihnen eigentlich bekannt sein. Und wenn man vom Wolf spricht, kommt er auch schon. Sehen Sie, hier ist mein Bräutigam!«

Nichts in dem Ton ihrer Stimme zeigte an, daß sie Philipp Lassinger liebte, im Gegenteil, sie sprach schnell, fast heftig. Anthony wandte sich um, um den Mann zu begrüßen, den er aus tiefstem Herzen haßte.

Philipp Lassinger war groß und hatte eine helle Gesichtsfarbe; sein glattrasiertes Gesicht sah vorteilhaft aus. Anthony dachte grollend, daß er alle Männer mit schönen Köpfen nicht leiden könne.

»Dies ist Mr. Newton«, stellte Vera ihn vor. Die beiden Männer reichten sich die Hände.

»Doch nicht Mr. Anthony Newton?« entgegnete Lassinger liebenswürdig. »Oh, ich habe schon viel von Ihnen gehört!«

Vera fühlte Anthonys Verlegenheit.

»Wollen Sie so liebenswürdig sein und mit uns zu Mittag speisen, Mr. Newton? Ich werde den Zorn meines Vaters schon zu besänftigen wissen. Aber ich glaube nicht, daß er überhaupt noch ärgerlich auf Sie ist.«

Im ersten Augenblick wollte Anthony die Einladung ablehnen. Am liebsten hätte er sich entfernt, um allein mit seinem Kummer zu sein, aber er mußte ja auch essen, und was ausschlaggebend war, er konnte in der Nähe dieser bezaubernd schönen Frau sein.

Mr. Gerald Mansar wartete schon im Palmenhof des Carlton-Hotels, als sie eintraten. Als er Anthony sah, zog er seine weißen Augenbrauen hoch.

»Das ist ja ein unerwartetes Vergnügen«, meinte er und schüttelte Anthonys Hand kräftig. »Ich glaube, Sie sind mir noch sechshundert Pfund schuldig.«

»Und Sie sind mir noch eine Erklärung schuldig, die mir viel mehr wert ist als sechshundert Pfund«, erwiderte Anthony gelassen.

»Ich war damals sehr gekränkt, das gebe ich zu«, entgegnete Mansar, der sich jetzt offensichtlich bei der Erinnerung an dieses Abenteuer freute. »Sie haben also meinen Neffen Lassinger kennengelernt?« Er klopfte Philipp auf den Rücken, und Anthony stellte fest, daß der alte Herr eine Schwäche für seinen Neffen hatte. Bevor das Essen endete, hatte er schon herausgefunden, daß Philipp die Heirat angenehmer war als Vera. Sie sprach nur selten zu ihrem Verlobten, und wenn sie es tat, so war es gewöhnlich nur, um auf seine Fragen zu antworten.

»Was denken Sie von unserem Bräutigam, Mr. Newton?« fragte Mr. Mansar und blies dicke Rauchwolken zur Decke. »Er hat sich in der ganzen Welt herumgetrieben. Du bist besser zurückgekommen, als wir jemals erwarten konnten, Phil.«

»Ja, als Junge habe ich nicht viel getaugt«, sagte Lassinger lächelnd. »Ich glaube, die lange Wanderzeit hat mir recht gut getan. In den Tagen, die ich allein auf der Farm zubrachte, habe ich viel nachgedacht.«

Für Anthony war dieses Essen nicht angenehm, und er bedauerte sehr, die Einladung angenommen zu haben. Sobald es schicklich war, verabschiedete er sich.

Eines Tages sah er die beiden wieder, als sie zusammen die Piccadilly entlangfuhren. Lassinger sah wohl und vergnügt aus, aber Vera erschien ihm blasser und weniger lebhaft. Er gab sich die größte Mühe, sie ganz zu vergessen, aber immer wanderten seine Gedanken zu ihr zurück. Wie um ihn noch mehr zu quälen, brachten die Zeitungen ganzseitige Abbildungen von ihr. Er schnitt sie alle aus und heftete sie an die Wand seines kleinen Schlafzimmers.

Am Abend vor ihrer Hochzeit begegnete er ihr noch einmal. Es war ein regnerischer, stürmischer Sommertag, und das Wetter spiegelte die Gedanken und die traurige Stimmung wider, in der er sich befand. Schnell schritt er durch den Hyde Park. Plötzlich sah er vor sich eine Gestalt in einem Regenmantel, aber er wäre an der Dame vorbeigegangen, ohne ihr ins Gesicht zu sehen, wenn er nicht plötzlich ihren erstaunten Ausruf gehört hätte.

»Das ist Schicksal«, sagte sie düster. »Kommen Sie und setzen Sie sich etwas zu mir. Hier unter den Bäumen ist eine Bank. Der Parkwächter wird wahrscheinlich annehmen, daß wir ein Liebespärchen sind, aber wenn Ihnen dieser schreckliche Verdacht nichts ausmacht . . .«

»Ich könnte heute alles tun – für Sie«, entgegnete er.

Sie setzte sich nieder und schaute ihn an. Aber Anthony sagte sich, daß sie nicht wie eine glückliche Braut aussah. Ihr Filzhut war vom Regen ganz durchnäßt, eine feuchte Locke klebte an ihrer Wange, und um ihren Mund lag ein harter Zug.

»Ich bin weggegangen, weil ich die Vorbereitungen für die Hochzeit nicht mit ansehen kann. Beinahe wäre ich in Ihr Hotel gekommen, aber ich wußte nicht, wo Sie wohnten. Was sagen Sie dazu, Anthony Newton?«

»Es ist kein schlechtes Hotel . . .«, begann er.

»Nun seien Sie doch nicht lächerlich. Was halten Sie eigentlich von meiner Hochzeit?«

»Ich darf nicht daran denken«, entgegnete er.

Ihre Augen leuchteten auf.

»Meinen Sie das im Ernst?«

Er nickte.

»Mir ist diese Hochzeit verhaßt«, sagte sie leise. »Aber mein Vater wünscht die Verbindung so sehr. Es war eine kurze und ungestüme Werbung, weniger von meinem Bräutigam als von meinem Vater. Philipp ist ja sehr nett und zuvorkommend zu mir, er quält mich nicht mit Liebesbeteuerungen, umarmt mich nicht dauernd und bringt mich auch sonst nicht in Verlegenheit. Aber ich möchte ihn nicht heiraten. Ich fühle mich wie in einer Gefängniszelle. Ich zähle die Minuten, aber sie gehen zu schnell vorüber, Anthony!«

Eine Pause trat ein.

»Habe ich Sie eben Anthony genannt? Ich wußte selbst nicht, warum ich das tat.«

»Wahrscheinlich, weil es mein Name ist. Aber wenn Sie noch einen anderen Grund haben, so sind Sie entschuldigt. Warum heiraten Sie denn eigentlich überhaupt, Vera?«

»Vater will es durchaus haben . . . es ist allerdings wahr, daß heutzutage Töchter nicht mehr heiraten, um ihrem Vater einen Gefallen zu tun – das kommt eigentlich nur noch in Büchern und Romanen vor. Und doch bin ich im Begriff, es zu tun. Ich kann meinen Vater nicht so verletzen und enttäuschen.«

»Aber Sie verwunden einen anderen noch viel tiefer«, sagte Anthony ruhig. »Sie tun mir dadurch bitter weh.«

Sie sah ihm offen in die Augen.

»Meinen Sie das wirklich?«

Er nickte.

Er wagte es nicht, zu sprechen. Sie wollte etwas sagen, aber plötzlich sprang sie auf.

»Ich kann nicht länger bleiben, sonst begehe ich noch eine große Dummheit. Und was noch viel schrecklicher wäre, ich würde auch Sie zu einer Unvorsichtigkeit hinreißen. Ich gehe jetzt als eine moderne Braut nach Hause, werde mir alle Hochzeitsgeschenke ansehen und ihren Wert zusammenrechnen.«

Sie gingen schweigend durch den Park, aber Anthony sprach schließlich doch noch auf sie ein; er bat, er schmeichelte, ja er drohte.

»Es hat ja keinen Zweck, Anthony«, sagte sie. »Ich liebe Sie doch gar nicht, es wäre lächerlich, wenn ich das behaupten wollte. Aber sicherlich liebe ich auch Philipp nicht. Vielleicht wären Sie das kleinere von beiden Übeln. Es täte mir leid, wenn Sie sich verletzt fühlten.« Sie drückte seinen Arm leidenschaftlich und war verschwunden, bevor er ahnte, daß sie die Absicht gehabt hatte, sich so schnell von ihm zu trennen.

Anthony Newton hatte eine schlaflose Nacht. Er war fest entschlossen, weder zur Kirche noch zu ihrem Hause zu gehen, aber plötzlich überkam ihn doch eine Sehnsucht, die stärker war als alle seine Entschlüsse, und er stand um elf Uhr unter einer kleinen Gruppe interessierter Zuschauer, die die Ankunft der Hochzeitsgäste erwarteten. Ein großer Wagen fuhr vor, ein Herr stieg aus und grüßte einen Bekannten. Es war Philipp Lassinger. Anthony hörte einen unwilligen Ausruf an seiner Seite, wandte sich um und sah zu seinem Erstaunen Mrs. Gaddit neben sich stehen, die Frau des Falschspielers.

»Hallo, Mr. Newton«, sagte sie. »Was denken Sie von dem Lumpen da? Ich wäre versucht, hinzugehen und ihn anzuzeigen. Sie erkennen natürlich Sadbury nicht wieder?«

»Sadbury?« rief Anthony entsetzt. »Das ist doch Lassinger!«

Sie nickte.

»Das ist doch sein Gewerbe! Es ist einfach schrecklich, daß man ihn nicht verfolgt – er wird sie schon während der Flitterwochen verlassen.«

»Aber Sadbury hat schwarze Haare und dunkle Gesichtsfarbe«, erwiderte Anthony heiser.

»Ich habe ihm doch die Haare blond gefärbt – die Prozedur hat fünf Tage lang gedauert –, und er hat mir nicht einen Cent dafür gegeben. Und ich habe ihn doch mit dem heruntergekommenen Lassinger, dem Morphinisten, zusammengebracht, dem eigentlichen Lassinger. Sadbury hat erzählt, daß er von Südamerika zurückgekommen sei, aber der wirkliche Lassinger ist seit langen Jahren hier in England gewesen. Hat Jay Ihnen den Mann nicht gezeigt?«

Blitzartig erinnerte sich Anthony an den verkommenen Menschen, den er damals in der Begleitung Sadburys gesehen hatte.

»Er wird sich aber mit diesem Mädchen in acht nehmen müssen, sonst kann er lebenslänglich Zuchthaus bekommen . . .«

Anthony hörte ihr nicht mehr zu. Er sah, wie der Wagen mit der Braut kam, und im nächsten Augenblick stand er mitten auf der Auffahrt. Mr. Mansar half seiner Tochter beim Aussteigen. Sie sah in ihrem weißen Kleide wunderbar aus. Sie blieb stehen, während sich die Brautjungfern sammelten. Plötzlich fiel ihr Blick auf Anthony. Auch Mr. Mansar sah ihn jetzt und runzelte die Stirn, als Anthony auf ihn zukam.

»Ich muß Sie in einer dringenden Angelegenheit sprechen, Mr. Mansar.«

»Aber das ist doch jetzt unmöglich!«

»Es handelt sich um Leben und Tod! Der Mann, den Sie für Lassinger halten, ist ein Schwerverbrecher, der eigentlich Sadbury heißt!«

»Sie sind verrückt!«

»Wollen Sie nicht die Hochzeit verschieben, bis Sie meine Angaben untersucht haben? Ich kann alles beweisen, was ich gesagt habe!«

»Auf keinen Fall.« Mr. Mansar wurde rot vor Ärger, »Komm, mein Liebling.«

Aber die Braut kam nicht.

»Vater, wäre es nicht besser, wenn du dich erst vergewissern würdest?«

»Ich werde nichts Derartiges tun«, rief Mr. Mansar aufgeregt. Er wurde noch nervöser, als er sah, daß die Leute auf die Gruppe aufmerksam wurden und das allgemeine Interesse sich ihnen zuwandte. Zweifelnd legte Vera ihren Arm in den ihres Vaters, aber Anthony trat dazwischen.

»Vera«, sagte er entschieden, »Sie gehen jetzt nach Hause!«

Einen Augenblick zögerte sie, sah von ihrem Vater zu Anthony, der so unerwartet die Feier gestört hatte, wandte sich plötzlich um, ohne ein weiteres Wort zu sagen, und ging zum Erstaunen der wartenden Diener zu ihrem Wagen zurück.

»Nach Hause!« rief sie dem Chauffeur zu.

Mr. Mansar war wie vom Blitz getroffen, als der Wagen abfuhr.

»Sie Schuft!« zischte er Anthony ins Gesicht. »Ich werde –«

»Bringen Sie doch Ihren Schwiegersohn hierher – ich werde dann alles veranlassen, was notwendig ist.«

Durch den Wortwechsel wurde der Bräutigam aufmerksam und erschien in dem Augenblick an der Kirchentür.

»Was, zum Teufel, soll das bedeuten?« fragte er.

»Sadbury, ich verhafte Sie!« sagte Anthony und packte den Mann mit einem berufsmäßigen Griff am Arm.

Und nun machte Mr. Sadbury einen Fehler.

»Es ist ein Detektiv! Machen Sie hier kein Aufsehen ich will ruhig mit Ihnen gehen.«

*

Zwei Monate später ging Anthony Newton hocherhobenen Hauptes im Branksome-Tower-Hotel in Bornemouth zu den Privaträumen Mr. Gerald Mansars. Der alte Herr selbst war noch nicht von der Stadt zurückgekehrt, und Anthony hoffte, daß er auch noch länger ausbleiben würde.

»Ich kann dir jetzt die ganze Geschichte erzählen«, sagte er zu Vera. »Sadbury hat ein volles Geständnis abgelegt. Er hat Lassinger in London getroffen, der ganz heruntergekommen war und den man seit Jahren aus den Augen verloren hatte. Als Sadbury von der Verwandtschaft mit deinem Vater hörte, machte er seinen Plan und trat in der Rolle des erfolgreichen Neffen auf.«

»Ja, er kam eines Tages in Vaters Büro, der ihn mit nach Hause brachte. Er wußte also nur daher alles von uns, weil der richtige Lassinger ihm alles gesagt hatte. Ich brauche weiter nichts mehr zu hören, Anthony. Hast du mit meinem Vater gesprochen?«

Er nickte.

»War er sehr ärgerlich?«

»Ein wenig«, erwiderte Anthony Newton vorsichtig.

»Er tobte ein wenig und fluchte ein wenig – aber schließlich sagte er ›Ja‹.«

Sie atmete tief auf.

»Es war sehr tapfer von dir, daß du den Löwen in seiner Höhle aufgesucht und gereizt hast.«

Anthony hustete und sagte nichts darauf.

Aber später erfuhr Vera von ihrem Vater, daß Anthony telefonisch um ihre Hand angehalten hatte.

In diesem einen Fall hatte Anthony der Mut verlassen.

 

Ende

 


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