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Anthony war weder ehrgeizig noch rachsüchtig im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Sein einziger Ehrgeiz bestand darin, möglichst viel Geld zu verdienen und möglichst bekannt zu werden. In jeder anderen Beziehung war er ungewöhnlich bescheiden. Und sein Bedürfnis, sich zu rächen, erstreckte sich nur darauf, seinen Feinden alles Böse, das sie ihm angetan hatten, zu vergelten.
Es ging ihm so gut, daß sich seiner eine gewisse Ruhelosigkeit bemächtigte. Als er eines Tages die Zeitungen durchblätterte, fielen ihm zwei Annoncen auf. Sie hatten beide mit dem Wahlbezirk Bursted zu tun, aber dies erfuhr er erst, als er einen Agenten aufsuchte und entdeckte, daß das ›aufstrebende, wöchentlich erscheinende Blatt, das die größte Verbreitung in hervorragenden landwirtschaftlichen Distrikten hatte und eine große Zukunftsmöglichkeit für einen tatkräftigen Mann bot‹, die Zeitschrift ›Rakete‹ war, die in dieser kleinen Stadt erschien und zum Verkauf angeboten wurde.
Daß Mr. Josias Longwirt als konservativer Kandidat für Bursted aufgestellt werden sollte, war in der Zeitung großartig angekündigt.
Als er den Namen dieses Mannes gedruckt in der Zeitung sah, erwachte in Anthonys Herz ein Wunsch nach ausgleichender Gerechtigkeit. Seit Jahren erinnerte er sich an eine häßliche Szene. Er traf einen besonders gut gekleideten jungen Mann, den er von früher her kannte, in der Hauptstadt und bat ihn um das nötige Geld zu einem Abendessen, da er sehr hungrig war. Es war in jenen Tagen, als er abgerissen in London herumlief und sich um eine Stelle abmühte, zu der er nach all den Opfern, die er dem Vaterland gebracht hatte, und nach seiner Begabung berechtigt war.
Mr. Longwirt hatte aber auch ein sehr gutes Gedächtnis, und er besann sich darauf, daß er dreimal tüchtig von einem Schulkameraden verprügelt worden war, und zwar von Anthony Newton. In seiner kleinlichen Einstellung sah er jetzt die Gelegenheit gekommen, sich dafür zu rächen.
»Tut mir furchtbar leid, Newton, ich kann Ihnen nicht helfen. Ich werde von so vielen Seiten angesprochen. Warum gehen Sie nicht ins Armenhaus, mein Junge? Dort gibt es ganz gut zu essen, und dort können Sie auch wohnen . . .«
Es klang unglaublich, aber das waren die weisen und trostvollen Worte, mit denen Mr. Josias Longwirt seinen früheren Schulkameraden abfertigte. Als er Anthony wieder begegnete, hatte er ihn überhaupt geschnitten.
Anthony war kein Journalist, aber die Möglichkeiten, die der Erwerb der ›Rakete‹ in sich barg, lagen auf der Hand.
Er hatte die etwas schadenfrohe Absicht, Mr. Longwirt ein wenig zu ärgern und zu blamieren und einige der wunden Punkte seines Charakters aufzudecken. Aber so merkwürdig und seltsam gestaltet das Schicksal das Leben der Menschen, daß keine unfreundliche Bemerkung über Josias Longwirt Esq. in den Spalten der Zeitung vor Bursted erschien. Und das hatte auch seinen guten Grund.
Anthony Newton hatte sein Scheckbuch eingesteckt, einen Zeitungsausschnitt der ›Stationer's Gazette‹ in sein Zigarettenetui gelegt und ging nun mit großen Schritten auf dem vierten Bahnsteig der Station Waterloo auf und ab, um sich ein Abteil erster Klasse auszusuchen. Plötzlich entdeckte er an dem Fenster eines Wagens ein bekanntes Gesicht. Der andere hob zwar sofort seine Zeitung hoch, um nicht gesehen zu werden, aber Anthony stieg in das Abteil ein und setzte sich ihm gerade gegenüber.
»Mr. Longwirt!« sagte Anthony ruhig.
Der junge Mann ließ seine Zeitung sinken.
»Ach, das sind Sie ja, Newton«, sagte er mit schlechtgespieltem Erstaunen und reichte ihm nachlässig die Hand.
»Was haben Sie denn eigentlich während des Krieges gemacht?« fragte Anthony anklagend.
»Oh, ich war beim Militär und habe mitgekämpft«, erwiderte Josias triumphierend.
»Ja, ich habe auch davon gehört. Sie waren bei einer Abwehrbatterie in Bristol, wo die Flugzeuge ja nie hingekommen sind. Nun, wie geht es Ihnen denn, und was macht das Geschäft mit den Lumpen und Knochen?«
»Oh, ich bin zufrieden«, entgegnete Josias nicht gerade sehr begeistert.
Er sah blaß und schmal aus und hatte keinen klaren, offenen Blick. Sein Vater hatte ein Millionenvermögen durch An- und Verkauf von Knochen, Lumpen und anderen Abfällen zusammengescharrt. Außer Anthony Newton erwähnte niemand diese Tatsache in seiner Gegenwart, und deshalb konnte er auch Anthony durchaus nicht leiden.
»Ich hörte, daß es Ihnen gut geht.« Mr. Longwirt hoffte, daß die unangenehme Vergangenheit nicht mehr erwähnt werden würde. »Ich freue mich, wenn es meinen früheren Kameraden gut geht. Ich werde jetzt ins Parlament gehen. Und ich würde nach allem, was ich erfahren habe, nicht erstaunt sein, wenn man mir eine gute Stellung in der Regierung anböte.«
»Sie meinen wohl für Bursted«, sagte Anthony mit einer merkwürdigen Betonung. »Ich sah die Mitteilung in der Zeitung. Da werden Sie wohl einen leichten Sieg davontragen.«
Mr. Longwirt zögerte.
»Es ist noch ein unabhängiger Kandidat aufgestellt worden, der aber eigentlich nicht die mindeste Aussicht hat. Nebenbei bemerkt, ist es möglich, daß er zurücktritt.« Er lächelte verschmitzt.
Anthony blinzelte, und Mr. Longwirt blinzelte auch.
»Wollen Sie ihm eine Abstandssumme zahlen, daß er zurücktritt?«
»So verrückt werde ich nicht sein, mich derartig zu kompromittieren.« Und dann zwinkerte Josias wieder mit den Augen.
»Aha, daher der Ausdruck ›ehrenhafte Politiker‹. Haben Sie nicht auch schön gehört, daß die Bursteder Zeitung ›Rakete‹ zu verkaufen ist?«
»Ja. Sie gehört dem alten Murkle, einem verdrehten Kerl – ich werde wahrscheinlich das jüngste Mitglied im Parlament sein, Newton.«
»So?! Sehen Sie einmal an! Können Sie sich eigentlich darauf besinnen, daß Sie mich vor ungefähr zehn Monaten auf dem Strand getroffen haben?«
Josias runzelte die Stirn.
»Ich erinnere mich dunkel daran, aber ich habe so ein schlechtes Gedächtnis für Personen . . .«
»Sie haben mich aber nicht nur gesehen, Sie haben sogar mit mir gesprochen und dabei das Armenhaus erwähnt. Ich sah damals etwas heruntergekommen aus, und es ging mir nicht sehr gut. Seit der Zeit bin ich mit Ihnen fertig!«
Mr. Longwirt krümmte und wand sich, aber dann bekannte er doch offen Farbe.
»Wenn Sie sich beleidigt fühlen, kann ich Ihnen nicht helfen. Ich kann nicht allen Leuten Geld geben.«
»Sie werden noch allerhand zu tun haben, um sich selbst zu helfen«, meinte Anthony mit einer düsteren Andeutung.
In diesem Augenblick setzte sich der Zug langsam in Bewegung. Als er schon schneller fuhr, sprang plötzlich noch ein Mann auf das Trittbrett, riß die Tür auf und fiel fluchend halb in den Wagen hinein.
Es war ein kahlköpfiger Mann von etwa sechzig Jahren, kurz und gedrungen gebaut. Er hatte ein großes, kräftiges, breites Kinn und scharfblickende Augen.
». . . all diese verrückten Stationsmeister, Billettkontrolleure und Eisenbahnportiers«, schimpfte er laut.
»Haben Sie sich verletzt?« fragte Anthony höflich.
»Nein, durchaus nicht.« Auf einmal sah er Anthony scharf an. »Zuerst glaubte ich, daß Ihr Gesicht unsymmetrisch sei, aber jetzt sehe ich, daß es nur ein Schatten war. Verzeihen Sie mir, daß ich darüber spreche, aber ich habe seit Jahren kein gleichmäßigeres Gesicht gesehen als das Ihre.«
Anthony neigte ernst den Kopf.
»Darf ich Ihnen das Kompliment zurückgeben?« begann er.
»Nein, das dürfen Sie nicht. Mein Unterkinn ist vorgeschoben, mein rechtes Ohr ist anomal, die Verlängerungen der Scheitelbeinknochen sind gänzlich unregelmäßig. Einer der besten Gelehrten hat noch dieser Tage erklärt, es sei nach menschlicher Voraussicht einfach unmöglich, daß ich mit einem solchen Scheitelbein einen gesunden Verstand haben könnte.«
Er schaute dann Mr. Longwirt an, der ganz erstaunt dabeisaß.
»Großer Gott«, sagte der kleine Herr, »das ist aber ein merkwürdiges Gesicht!«
»Das interessiert mich«, erwiderte Anthony. »Bitte erläutern Sie es ein wenig.«
Mr. Longwirt war sprachlos.
»Die zurückfliehende Stirn deutet auf geringen Verstand – die abstehenden Ohren in dieser Form zeigen Veranlagung zum Mörder, der Unterkiefer ist zu schwach – wollen Sie einmal so gut sein und Ihren Kopf etwas drehen?«
»Das will ich durchaus nicht – ich drehe meinen Kopf nicht!« rief Mr. Longwirt beleidigt, der plötzlich seine Sprache wiederfand. »Wie dürfen Sie so etwas sagen?«
»Ihr Verhalten«, sagte der kleine, fremde Mann mit großer Genugtuung, »erklärt auch zum Teil die abstehenden Ohren. Sie sind ein unausgeglichener Charakter – leicht durch Geringfügigkeiten aus dem Gleichgewicht gebracht, die gewöhnlichen Anzeichen einer persönlichen Eitelkeit . . .«
»Ich bin Mr. Longwirt von Leathbro's Hall!«
»Und ich bin Dr. Clayfield vom Clayfield-Irrenhaus!« stellte sich der andere vor. »Longwirt – Longwirt – hat nicht einer Ihrer Verwandten seine Mutter vergiftet?«
»Nein!« brüllte Josias beinahe.
»Sind Sie dessen auch ganz sicher?« fragte Anthony beinahe liebenswürdig.
»Aber selbstverständlich. Sie sind ein ungebildeter Mensch! Sie wissen sich beide nicht zu benehmen!«
Dr. Clayfield wechselte einen verständnisvollen Blick mit Anthony.
»Ich möchte Ihnen nur sagen, daß ich nächstens für den Bezirk von Bursted ins Parlament gewählt werde. Meine Wahl ist praktisch schon gesichert.«
Der Arzt schaute fragend auf Anthony, der aber den Kopf schüttelte und bedeutsam auf die Stirne zeigte.
»Alle Leute sind mehr oder weniger verrückt«, meinte Mr. Clayfield ruhig. »Diese Theorie habe ich mir aus langen Erfahrungen gebildet. Sie sind«, damit wandte er sich an Anthony, »der einzige vernünftige Mensch, den ich heute getroffen habe. Fahren Sie nach Bursted? Nun, das ist gut, ich gehe nach Larchleigh, das liegt zwei Stationen weiter. Ja, da können Sie stolz sein, Sie sind eine der drei vollständig gesunden Personen, die ich diese Woche gesehen habe. Werden Sie in Bursted bleiben?«
»Ja, Doktor, ich gehe mit der Absicht um, dort die Zeitung die ›Rakete‹ zu kaufen.«
»Dann sind Sie auch verrückt! Jeder, der Bursted als Wohnsitz aussucht, ist ein Narr, und jeder, der einen Groschen ausgibt, um die ›Rakete‹ zu lesen, ist mindestens schwachsinnig. Aber ein Mann, der diese verlotterte Zeitung kauft, ist unheilbar geisteskrank!«
Anthony kam also nach Bursted und verabschiedete sich steif von Josias, dagegen recht herzlich von dem Arzt. Josias hatte von der Möglichkeit, daß sich Anthony in Bursted der journalistischen Laufbahn widmen wollte, mit Unbehagen gehört.
Die Verbreitung der Bursteder Zeitung war wirklich groß: bei der Eröffnung der neuen Gemeindehalle wurden tausend Exemplare gedruckt, aber sie würden nicht alle verkauft. Mr. Murkle behauptete jedoch stolz, daß dieses Organ der öffentlichen Meinung, das auch in vielen Dörfern der Umgegend gelesen wurde, als wöchentlich erscheinendes Blatt die weiteste Verbreitung in einem Umkreis von zwanzig Meilen hatte. Und wenn Leute, die ihm übelwollten, auf die Tatsache aufmerksam machten, daß überhaupt keine andere Zeitung in der Gegend herauskam, so legte sich Mr. Murkle das als noch größeres Verdienst aus, weil er überhaupt die einzige dortige Zeitung besaß.
Die ›Rakete‹ wurde in Mr. Murkles Zeitungs- und Papierladen in der High Street ausgegeben und in einem Schuppen gedruckt, der auf der Rückseite des Ladens lag. Annoncen für die nächste Nummer wurden im Geschäft entgegengenommen bis zu dem Tage, an dem das Blatt erschien. Wenn sie groß genug waren, wurden sie sogar noch während des Druckes angenommen. Mr. Murkle ließ dann einfach die Maschinen stillstehen, und die neue Anzeige wurde noch irgendwo eingeflickt.
Roffles, der Lokalpoet, beklagte sich bitter, daß sein Beitrag unter diesen Umständen unmöglich erscheinen könnte. Diese Klage war aber insofern ungerechtfertigt, als Mr. Murkle ihm unweigerlich die fünf Schilling zahlte, ob sein Gedicht in der Nummer gedruckt wurde oder nicht.
Die Einwohner von Bursted bildeten sich ihre Meinung von der Welt und ihren Vorgängen nach den Nachrichten, die sie in der ›Rakete‹ lasen. Das war auch ganz natürlich, denn es gab in der ganzen Gegend keinen besser informierten Mann als Mr. Murkle. Er erzählte dies oft im Kreise seiner Freunde, die das unschätzbare Vorrecht genossen, aus erster Hand alle die Ansichten zu hören, die er später in seinen in mehr klassischer Sprache abgefaßten Artikeln in der ›Rakete‹ zum Abdruck brachte.
Der Herausgeber und Eigentümer der ›Rakete‹ und voraussichtlich unabhängige Kandidat für den Wahlkreis von Bursted war bereits sechzig Jahre alt. Er trug einen kurzgeschnittenen weißen Bart und eine Hornbrille.
In Bursted lebte auch ein gewisser Mr. Dogbery, der sehr unzufrieden mit Mr. Murkle war, denn die Artikel, die er der ›Rakete‹ einsandte, wurden nicht angenommen. Alle Leute wußten das. Er erklärte, daß Mr. Murkle aussähe, als ob er sich mit Patentmedizinen kuriert habe, damit sein Bild in die Zeitung gebracht werde.
»Dogbery kann den Artikel nicht leiden, den ich letzte Woche über Anthony Eden in die Zeitung setzte«, sagte Mr. Murkle und kaute nachdenklich an einem Strohhalm. Er stand an diesem sonnigen Nachmittag vor seiner Ladentür und beobachtete das Schauspiel des vorüberziehenden Verkehrs, der besonders am Sonnabend in Bursted recht lebhaft war. Genaue Beobachter sahen sogar einmal zu gleicher Zeit drei Fordwagen auf der Straße. Neben Mr. Murkle stand ein Kaufmann, den er zur Aufgabe einer Annonce überreden wollte.
»Dogbery ist ein vollkommen unzufriedener Mensch. Mein Angriff auf die Amerikaner, den ich neulich schrieb, hat ihn ganz krank gemacht, wenigstens sagt er so. Und wegen meines Artikels, den ich über die Marine schrieb, hat er Leibschmerzen bekommen. Aber, Mr. Walsh, ich habe eine gewisse Pflicht dem Lande gegenüber, dessen bin ich mir immer bewußt. Die Amerikaner setzen doch keine Annoncen in die ›Rakete‹, auch Mister Eden nicht. Und was die Marine anbetrifft, so habe ich in den letzten fünf Jahren nur einen einzigen Anzeigenauftrag von ihr erhalten, zwei Spalten breit und drei Zoll hoch! Was aber die Konferenz in Genf angeht, so muß ich entschieden dagegen sein. Dogbery wird natürlich wild werden, aber wie gesagt, ich habe doch meine Pflichten dem Lande gegenüber. Wo liegt denn eigentlich Genf? Ich habe überhaupt noch nicht davon gehört, bevor die Geschichte anging. Ich wäre nicht erstaunt gewesen, wenn es in Rußland gelegen hätte. Irgendwo in der Schweiz ist es doch wohl? Man mag das zwar behaupten, aber Sie wissen ja, wie diese lahmen Kerle vom Kriegsministerium sind. Denken Sie daran, was ich Ihnen jetzt sage. Man teilt uns noch lange nicht alles mit. Warten Sie nur, bis Sie nächste Woche meinen Leitartikel lesen. Da habe ich es der Regierung aber einmal kräftig gesagt. Was Dogbery davon hält, ist mir ganz gleichgültig. Ich könnte Ihnen auch alles über die Konferenzen in Lausanne erzählen, aber nur unter uns, verstehen Sie – das dürfen Sie keinem anderen wiedersagen. Ich habe es aus erster Quelle – meine Tochter ist nämlich mit einem Regierungsbeamten verheiratet . . . ich weiß wohl, daß Dogbery erzählt, mein Schwiegersohn wäre Fensterputzer bei der Admiralität. Aber er würde wohl staunen, wenn er erführe, daß er kein Fensterputzer ist. Er ist Heizer und transportiert Kohlen. Und wenn ein Mann, der eine Uniform mit Messingknöpfen trägt, kein Regierungsbeamter ist, dann weiß ich nicht, wer es sonst wohl sein sollte. Aber die ›Rakete‹ ist sehr gut informiert, alles, was darin steht, ist absolut wahr. Es ist ja auch möglich, daß eine andere Zeitung dasselbe sagt, aber dann hat sie es aus der ›Rakete‹ abgedruckt.
Was nun die nächste Wahl hier betrifft«, fuhr er nach einer Weile fort, »so weiß ich noch nicht, wen ich unterstützen werde. Mag sein, die eine Seite, mag sein, die andere. Aber darauf können Sie sich verlassen: mit wem ich es halte, der gewinnt bei den Wahlen!«
In mancher Hinsicht richtete sich Mr. Murkle in seinem Stil und seinen Gewohnheiten ganz nach der Londoner Presse.
»Es geht auch ein Gerede, daß ich als unabhängiger Kandidat für die Wahl auftreten werde. Man hat mich darum gefragt. Wenn ich es tue, dann ist es ganz sicher, daß ich in das Parlament komme. Longwirt hat große Angst vor mir und ebenfalls vor der ›Rakete‹. Ich mache ihm ja keine Vorwürfe, aber glauben Sie mir, die Zeitung wird in diesen Tagen noch in die Höhe kommen. Ich werde ein Vermögen mit ihr verdienen. Es ist die einzige Zeitung in dieser Gegend, mit der überhaupt Geld verdient wird, und das will etwas heißen. Sie können mir ruhig glauben, daß Sie einen großen geschäftlichen Erfolg haben, wenn Sie in der ›Rakete‹ annoncieren. Ich will in der nächsten Nummer eine vier Zoll hohe und zwei Spalten breite Annonce auf der ersten Seite einsetzen, wo der Leitartikel steht. Die würde ich gerne für Sie frei halten, aber Sie haben mir ja bis jetzt noch keinen Bescheid darüber zukommen lassen. Beecham hat schon lange nach einer solchen Gelegenheit ausgeschaut, ebenso Fry's Schokoladenfabrik. Auch eine Automobilfirma, so etwas Ähnliches wie Rolls Royce, drängt sich danach, eine Annonce bei mir einrücken zu können. Wenn Sie fünfunddreißig Schilling zahlen, dann nehme ich Sie.«
Der Kaufmann sagte etwas davon, daß er sich die Sache erst noch überlegen und seinen Teilhaber fragen wolle, und drückte sich dann. Eine Weile schaute ihm Mr. Murkle mit bösen Blicken nach, dann wandte er sich um, trat in seinen Laden und sah zum ersten Male, daß dort schon geraume Zeit ein Kunde auf ihn wartete.
»Was wünschen Sie?« fragte Mr. Murkle.
»Mein Name ist Newton, Anthony Newton«, erklärte der Fremde. »Ich bin auf die Annonce hin gekommen, die Sie in einer Londoner Zeitung einsetzten.«
»Treten Sie bitte näher«, sagte Mr. Murkle und führte seinen Besuch ins Wohnzimmer.
»Ich würde die Zeitung nicht verkaufen«, meinte er, nachdem sie eine Stunde lang über das Geschäft gesprochen hatten. »Aber ich bin über die Regierung sehr ärgerlich. Ich möchte nichts mehr mit dem politischen Leben zu tun haben. Ich mache einen Vorschlag. Solange ich den Druck der Zeitung weiter herstellen kann, werde ich Ihnen ein Büro hier einrichten. Ich rechne Ihnen zwölf Schilling die Woche dafür und außerdem müssen Sie mir zehn Prozent von allen Annoncen geben, die ich für Sie hier im Laden annehme. Das ist ein faires Angebot.«
So wurde Anthony Newton der Herausgeber der ›Rakete‹, und Josias Longwirt erfuhr zu seinem nicht geringen Schrecken von dieser Tatsache. Man hätte annehmen sollen, daß sein einziger politischer Gegner, der gegen ihn auftreten konnte, sich dieses Organs der öffentlichen Meinung bediente, wenn er ernste Absichten hatte, sich ins Parlament wählen zu lassen.
Anthony widmete sich seiner neuen Tätigkeit als Journalist mit dem Eifer und der Begeisterung, die ein Kind einem neuen mechanischen Spielzeug entgegenbringt.
Zwei Nummern hatte er bereits herausgebracht, als die Hauptwahl wie eine Granate über Bursted platzte und die gewöhnlich friedliche Bürgerschaft in wilde, zähnefletschende Menschen verwandelte. Der erste der Wahlaufrufe, der erschien, lobte die Verdienste, die literarischen Fähigkeiten, das verwaltungstechnische Geschick und die politische Unantastbarkeit von Mr. Murkle. »Ein Mann aus Bursted für Bursted.« Und Mr. Murkle war sowohl der Verfasser als auch der Drucker.
Anthony ging die High Street entlang und traf Mr. Josias Longwirt, der sehr bedrückt aussah.
»Ich behaupte, Anthony, daß dieser alte, verrückte Kerl zum Schluß doch noch einen Zurückzieher macht. Was halten Sie davon?« fragte er ängstlich. »Ich lege der Sache nicht viel Bedeutung bei, es ist nur eine Geldfrage.«
»Ich stehe auf Ihrer Seite. Ich will alles tun, um Ihnen zu helfen. Je mehr Anstrengungen und Aufsehen der alte Murkle macht, desto mehr wird es Sie kosten, ihn zu veranlassen, seine Kandidatur zurückzuziehen. Die Leute hier haben mir erzählt, daß sich Murkle in den letzten dreißig Jahren bei jeder Wahl als Kandidat aufstellen ließ und jedesmal in der letzten Minute zurücktrat. Ihn kostet es ja nichts; die Wahlaufrufe und die Zettelverteilung hat er so ziemlich umsonst. Das ist tatsächlich die beste Art und Weise, sich dauernd ein festes Einkommen zu sichern.«
Josias legte den Finger nachdenklich an die Nase.
»Ich kann eigentlich nicht verstehen, warum Sie hierhergekommen sind«, sagte er unsicher. »Ich dachte zuerst, daß Sie die ›Rakete‹ gekauft hätten, um gegen mich zu arbeiten. Aber Ihr Artikel über mich war absolut liebenswürdig und dezent.«
»Anständigkeit war stets meine Schwäche«, erwiderte Anthony ernst, »Und warum ich eigentlich hier bin, wird sich eines Tages schon zeigen. Was werden Sie nun mit Murkle anfangen?«
»Ich werde ihm vermutlich eine Abstandssumme zahlen; das hat jeder andere früher auch tun müssen. Es ist direkt Erpressung – wieviel will er denn haben?«
»Das müssen Sie ihn selbst fragen.«
Es fand eine persönliche Aussprache zwischen Mr. Longwirt und Mr. Murkle statt, und zwei Tage vor der Aufstellung des Kandidaten wurden die Wahlplakate Mr. Murkies mit weißem Papier überklebt. Am Abend ging Anthony von Gasthaus zu Gasthaus und fand viele Freunde. Was er eigentlich tat, wird man niemals sicher herausbekommen. Es steht nur das eine fest, daß er ein großes Schriftstück vorzeigte und sagte, es sei eine Petition um Aufschub der Vollstreckung der Todesstrafe für einen Mann, der gehenkt werden sollte. Und alle Leute, die er um ihre Unterschrift bat, setzten ihren Namen darunter.
Mr. Miller, ein Stockkonservativer, Mr. Jordan, ein Liberaler, und sogar Mr. Hallingay, der kommunistische Anwandlungen hatte – alle, alle unterzeichneten die vermeintliche »Petition«.
Am nächsten Tage war die Erregung in Bursted vollkommen verschwunden. Der erwartete Kampf fand nicht statt, obwohl es bis zuletzt Leute gab, die hofften, daß Murkle seine Kandidatur aufrechterhalten werde.
Aber Mr. Murkle erklärte traurig, daß das nicht möglich sei.
»Als ich meine Zeitung die ›Rakete‹ aufgab, habe ich auch mit meiner politischen Laufbahn Schluß gemacht. Es war ein Fehler, daß ich mich noch einmal als Kandidat aufstellen ließ.«
An diesem Abend wurde er von Anthony eingeladen. Andere Gäste erschienen nicht. Das Essen fand in einem Privatraum des Gasthauses »Zur Weizengarbe« statt. Die beiden tranken Ginger Ale. Mr. Murkle wurde um acht Uhr politisch, um neun bekam er musikalische Anwandlungen, um zehn rühmte er sich mit allem, was er schon geleistet hatte, und wurde zu Tränen gerührt. Um elf Uhr wurde er restlos vertrauensselig und erzählte Anthony Newton seine ganze Lebensgeschichte und auch, was er neulich mit Mr. Josias Longwirt vereinbart hatte.
Der Tag der Wahl dämmerte herauf, und Mr. Josias Longwirt schien der Himmel nur zu seinem Ruhmestag zu strahlen. Aber was er alles an diesem Tage noch erleben sollte, ahnte er nicht.
Er war in dem ersten Hotel der Stadt abgestiegen und hatte eben seine Morgentoilette beendet und sich der Bedeutung des Tages entsprechend gekleidet, als ein Brief für ihn abgegeben wurde, und zwar wurde er ihm von einem besonderen Sendboten persönlich eingehändigt. Das Schreiben war schwer versiegelt und trug die Aufschrift: »Geheim und streng vertraulich.« Auf der Rückseite des Kuverts war ein Wappen eingeprägt. Das Briefpapier war schwer und kostbar und trug als Kopf nur die einfachen Worte: »Inneres Kabinett. Streng geheim.«
Sehr geehrter Mr. Longwirt!
Es ist plötzlich eine Krisis ausgebrochen. Wir treffen uns in Malby House, Blackpond. Wir brauchen Ihren unmittelbaren, persönlichen Rat, Sie müssen sofort kommen. Fragen Sie nicht nach S. B. oder sonst jemand. Geben Sie auch nicht Ihren Namen an, sondern nennen Sie sich selbst Foch und fragen Sie nach dem König von Griechenland. Diese Anweisungen müssen Sie unter allen Umständen ausführen. Dies ist äußerst wichtig und dringend. A. C. kommt im Sonderzug. Malby House ist das weiße Gebäude auf der linken Seite der Straße, bevor Sie nach Blackpond kommen.
S. B. (P. M.)
Mr. Longwirt wurde nicht ohnmächtig, er verlor nicht die Besinnung. In seinen Träumen hatte er ja schon derartige Dinge erlebt. Er ging hinunter und bestellte sofort seinen Wagen.
»Schließen Sie die Türen und ziehen Sie die Vorhänge vor«, wies er seinen Chauffeur an.
Der Mann wunderte sich, führte aber den Auftrag aus. Vor der Stadt zog Josias die Vorhänge wieder beiseite und überließ sich kühnen Träumen. Es war ihm, als ob die Würde der Staatsregierung auf seinen Schultern ruhte, und er machte ein ernstes Gesicht und legte die Stirn in Falten. Als er in die Nähe von Blackpond kam, das er von früheren Besuchen her kannte, sah er das weiße Haus und gab seinem Chauffeur ein Zeichen. Sie fuhren durch schwere, eiserne Tore und hielten bei einer Säulenvorhalle. Die Tür wurde sofort geöffnet, und ein Mann in einem weißen Rock trat heraus.
Josias nahm ihn vertraulich beiseite.
»Ich bin Foch«, sagte er mit leiser, vor Aufregung zitternder Stimme, »und ich möchte den König von Griechenland sprechen.«
Der Mann nickte. »Gewiß, General«, sagte er. »Wollen Sie bitte näher treten.«
Mr. Longwirt befand sich in einem mit weißgestrichenem Paneel versehenen Büro. Plötzlich trat ein untersetzter Herr herein. Josias hatte eine schwache Erinnerung, ihn schon irgendwo einmal gesehen zu haben.
»Ich bin Foch«, sagte Mr. Longwirt wieder, »und ich möchte den König von Griechenland sprechen.«
Dr. Clayfield schaute den Besucher wohlwollend an.
»Jawohl, Sie werden zu ihm geführt werden, General – und Sie werden auch die Königin Elisabeth sehen und den Rajah von Bhong!« Er läutete und diesmal kamen zwei Männer in weißen Kitteln herein.
»Auf Zimmer Nr. 8 zur Untersuchung«, sagte der Arzt kurz.
Mr. Longwirt folgte den beiden freudestrahlend.
Ein paar Minuten vor zwölf Uhr mittags wartete der Wahlkommissar auf die Ankunft von Mr. Josias Longwirt. Aber an seiner Stelle erschien Anthony Newton, legte eine Summe Geldes auf den Tisch und eine mit unglaublich vielen Unterschriften versehene Wahlliste.
»Ich hatte keine Ahnung, daß Sie als Kandidat aufgestellt waren, Mr. Newton«, sagte der Beamte überrascht.
»Ich auch nicht«, erklärte Anthony.
Drei Rechtsanwälte hatten vier Stunden lang zu tun, um Mr. Josias Longwirt aus dem Clayfield-Irrenhaus zu befreien.
»Es hat gar keinen Zweck, daß Sie obendrein noch schimpfen und ärgerlich werden, junger Mann«, sagte der Chefarzt. »Wenn jemand zu mir kommt, sich als General Foch vorstellt und dann noch die höchsten Persönlichkeiten sehen will, habe ich wohl allen Grund, ihn hier zurückzuhalten. Dazu bin ich absolut berechtigt.«
»Ich werde Sie zur Anzeige bringen, ich werde Sie verklagen«, schrie Josias. »Ich werde eine Anfrage im Parlament einbringen!«
Aber er führte seine Drohungen nicht aus.
Mr. Anthony Newton, Mitglied des Parlamentes für den Wahlbezirk von Bursted, gab ihm den Rat, von all diesen Dingen abzusehen.
»Das hat alles keinen Zweck. Es ist zwar ein Unglück, aber es wäre noch viel unglücklicher für Sie, wenn ich alle Ihre Durchstechereien und die Korruption des alten Murkle aufdecken würde. Ich kann alles beweisen und habe alles schwarz auf weiß. Kommen Sie einmal nach London ins Parlament – ich will Sie dann herumführen und Ihnen alles zeigen!«