Edgar Wallace
Der Brigant
Edgar Wallace

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2. Kapitel

Die Kunst sich einzuführen

Mit vornehmer Höflichkeit ausgeführte Räubereien weichen von den altherkömmlichen Gebräuchen so sehr ab, daß man durch die Neuartigkeit fasziniert ist. Gewöhnliche Verbrecher, die keine Phantasie haben, bleiben noch immer bei der alten Methode, durch Anwendung bloßer Gewalt zu ihrem Ziele zu kommen. Aber die Vertreter der feineren und vornehmeren Richtungen entwickeln bei ihren Plänen ebensoviel Geist und Witz wie große Dichter.

Es gehörte zu der Ausführung eines fein angelegten Tricks, daß sich Mr. Anthony Newton eines Tages in einer peinlichen Situation befand. Die beiden Hinterräder seines Wagens steckten in einem tiefen Graben, und er hatte sich bei dem Unfall nur mit größter Mühe auf seinem Sitz am Steuer behauptet. Die überhängenden Zweige der Hecke bedrängten ihn so sehr, daß er den Kopf auf eine Seite biegen mußte. Trotzdem bewahrte er seine Haltung, und der Blick, mit dem er die junge Dame anschaute, war milde und wenig vorwurfsvoll.

Sie saß starr und aufrecht an dem Steuer ihres schönen luxuriösen Wagens, denn sie war durch das plötzliche Ereignis so erschreckt, daß sie nicht gleich etwas sagen konnte.

»Sie sind auf der falschen Seite gefahren«, erwähnte Anthony Newton höflich.

»Es tut mir furchtbar leid«, erwiderte sie atemlos. »Aber ich habe doch gehupt. Diese elenden Straßen in Sussex sind so unübersichtlich . . .«

»Bitte sagen Sie nichts mehr darüber«, entgegnete Anthony. Langsam kletterte er aus dem Wagen heraus, stand dann auf der Straße und schaute ernst auf die Trümmer seines Autos.

»Ich dachte, Sie hätten mich gesehen, als ich die Höhe herunterkam«, sagte sie entschuldigend. »Ich habe Sie sehen können und habe Ihnen doch mit meiner Hupe ein Zeichen gegeben.«

»Ich habe es nicht gehört. Aber das will eigentlich nicht viel sagen. Der Fehler liegt ganz auf meiner Seite. Aber ich fürchte, mein armer Wagen ist vollständig erledigt.«

Jetzt stieg sie auch aus und trat an seine Seite. Der Unfall tat ihr wirklich sehr leid, und sie schaute bedrückt auf die vollständig ruinierte Maschine.

»Wenn ich nicht die Geistesgegenwart gehabt hätte, sofort in den Graben auszubiegen, wäre es ein böser Zusammenstoß geworden. Es ist ja schließlich besser, daß mein Wagen dabei kaputtging, als daß Ihnen die leichteste Verletzung zugestoßen wäre.«

Sie seufzte.

»Gott sei Dank ist es nur ein alter Wagen. Mein Vater wird Ihnen natürlich –«

Anthony konnte das nicht unwidersprochen lassen.

»Ja, der Wagen sieht jetzt zwar alt aus«, meinte er liebenswürdig, »nachdem er vollständig zusammengefahren ist. In Wirklichkeit war es ein neuer Wagen.«

»Aber das ist ganz bestimmt ein alter Wagentyp«, entgegnete sie hartnäckig. »Es ist ein Bennett-Wagen – die neueren Modelle haben eine ganz andere Haube.«

»Die Haube meines Wagens mag ja altmodisch sein«, protestierte er. »Ich bin überhaupt ein altmodischer Mann und fahre deshalb ein solches Modell. Als ich den Wagen kaufte, bestand ich darauf, daß er mit der alten Haube geliefert wurde. Sonst ist er aber vollkommen neu. Sehen Sie doch einmal auf die gute Polsterung, die Lackierung . . .«

»Sie haben ihn erst ganz kürzlich streichen lassen«, unterbrach sie ihn. »Die Farbe ist ja noch ganz frisch!« Sie tippte mit dem Finger darauf und zeigte ihm einen kleinen, schwarzen Flecken. »Sehen Sie!« rief sie triumphierend. »Und ich möchte darauf wetten, daß der Wagen mit Binko gestrichen ist. In allen Fachzeitschriften können Sie annonciert finden: ›Binko-Automobillack trocknet in zwei Stunden‹.« Wieder berührte sie den Wagen mit ihrem Finger und schaute auf einen zweiten Flecken. »Das heißt, Sie haben die Maschine vor vierzehn Tagen streichen lassen, denn es dauert einen Monat, bis die Farbe trocken ist.«

Anthony hüllte sich in diskretes Schweigen. Er fühlte instinktiv, daß das ihrer Entdeckung gegenüber die richtige Taktik war. Und um die Wahrheit zu sagen, fiel ihm im Augenblick auch keine passende Antwort ein.

»Es war aber sehr ritterlich von Ihnen, daß Sie in den Graben ausbogen«, fügte sie jetzt wärmer hinzu. »Mein Vater wird Ihnen sehr dankbar sein. Glauben Sie nicht, daß Sie die Maschine wieder in Gang bringen können?«

Aber Anthony war sicher, daß er dazu nicht mehr imstande wäre. In Wirklichkeit hatte er den Wagen erst vor einer Woche zum Preise von dreißig Pfund gekauft. Der frühere Eigentümer hatte fünfunddreißig verlangt; daraufhin hatte Anthony ihm dreißig Pfund in die Hand gedrückt und damit war der Kauf perfekt geworden. Mit dieser Praxis hatte Anthony von jeher gute Erfahrungen gemacht.

»Soll ich Sie nach Pilbury fahren?« fragte sie.

»Habe ich Gelegenheit, von dort aus zu telefonieren?«

»Ich werde Sie mit nach Hause nehmen«, sagte Vera Mansar kurz entschlossen. »Unsere Wohnung liegt nicht weit von hier, und Sie können von dort aus telefonieren. Auch hätte ich gerne, daß Sie mit meinem Vater sprechen. Natürlich werden wir nicht zugeben, daß Sie durch Ihre Aufopferung irgendwelchen Schaden haben – trotzdem ich ein Signal gab, als ich um die Ecke bog.«

»Das ich aber leider nicht hörte«, erwiderte Anthony ernst.

Gleich darauf saß er an ihrer Seite. Geschickt wandte sie den Wagen und fuhr dann ein scharfes Tempo. Plötzlich bog sie von der Fahrstraße ab und fuhr haarscharf an einem der großen Steinpfeiler vorbei, die den Eingang eines Parktores flankierten. Die breite Fahrstraße führte zu einer palastähnlichen Villa, deren Umrißlinien zwischen prachtvollen Ulmen sichtbar wurden.

Mr. Gerald Mansar war ein untersetzter Herr mit einem kahlen Kopf. Er war äußerst lebhaft, und man sah ihm an, daß er ein energischer, erfolgreicher Geschäftsmann war. Sein interessantes Gesicht erhielt durch einen weißen Schnurrbart und durch weiße Augenbrauen eine besondere Note. Mit unerschütterlicher Ruhe hörte er die Geschichte an, die ihm seine schöne Tochter von dem Unfall erzählte.

»Aber du hast doch ein Warnsignal gegeben?«

»Jawohl, Vater, ich bin ganz sicher, daß ich es tat.«

»Und außerdem bist du doch sicherlich in einem vernünftigen Tempo gefahren?«

Anthony Newton hatte in früheren Jahren einige Erfahrungen über die gesetzlichen Bestimmungen gesammelt, die auf dem Lande Geltung haben. Er erkannte sofort, worauf Mr. Mansar hinauswollte, und hielt den Augenblick für günstig, persönlich in die Unterhaltung einzugreifen.

»Sie verstehen, Mr. Mansar, daß ich Ihrer Tochter keine Schuld zuschieben will und sie von jeder Verantwortung freispreche. Ich habe nie bezweifelt, daß sie ein Signal mit ihrer Hupe gegeben hat, obwohl ich es nicht hörte. Ich will ihr auch keinen Vorwurf machen und bin ebenso davon überzeugt, daß sie nicht zu schnell fuhr. Wenn ein Fehler gemacht wurde, so liegt er ganz auf meiner Seite.«

Anthony Newton hatte die Charaktere der Menschen, besonders der reichen, studiert, und hatte seine Studien von den verschiedensten Gesichtspunkten aus betrieben. Es war eine der ersten Tatsachen, die er lernte, daß man diese Leute möglichst von jeder gesetzlichen Verantwortung freisprechen mußte, wenn man einen Anspruch an sie stellte. Gerade die Reichen hassen gesetzliche Verpflichtungen. Sie zahlen den Rechtsanwälten große Summen, um zu ihrer eigenen Genugtuung und vor der Welt zu beweisen, daß sie gesetzmäßig zu keiner Zahlung verpflichtet sind. Großmütigkeit ist dagegen die Freude der vornehmen Reichen. Die meisten Millionäre ziehen es vor, freiwillig tausend Pfund zu zahlen als fünf Schilling unter gesetzlichem Zwang.

Mr. Mansars Gesichtszüge entspannten sich.

»Sicherlich kann ich nicht zugeben, daß Sie geschädigt werden, Mr. . . .«

»Mein Name ist Newton.«

»Ach, Newton? Sind Sie Teilhaber der Firma Newton, Boyd & Wilkins, die die großen Gummiplantagen besitzen?«

»Nein, mit Gummiplantagen habe ich nichts zu tun.«

»Dann sind Sie einer von den Newtons, die die große Porzellanfabrik haben?« fragte Mr. Mansar erwartungsvoll.

»Nein, auch zu dieser Firma habe ich keine Beziehung.«

Nachdem Mr. Mansar durch eine längere Unterhaltung herausgefunden hatte, daß sein Gast weder zu den Newtons von Warwickshire, noch zu denen von Monmouth gehörte, und ebensowenig mit den Newtons in Irland oder Schottland verwandt war, ließ sein Interesse plötzlich nach.

»Nun also, meine Liebe, was wollen wir tun?«

Vera lächelte.

»Wir müßten doch mindestens Mr. Newton zum Mittagessen einladen?« sagte sie, und ihr Vater, der anscheinend nicht recht wußte, wie er diese Verhandlung zu einem guten Ende bringen sollte, ging sofort darauf ein.

»Woher wußten Sie denn eigentlich meinen Namen? Natürlich wird meine Tochter . . .«

Anthony lächelte.

»Nein, ich weiß in der Stadt gut Bescheid, und selbstverständlich ist auch Ihr Landsitz hier bekannt.«

»Gewiß«, sagte Mr. Gerald Mansar. Dieser Mann, der die Hausse in Petroleumaktien von Nigeria und in den Aktien irischer Leinewebereien inszeniert, der das Milwaukee-Patentleder-Syndikat gegründet und zwei Millionen hineingesteckt hatte, wußte sehr wohl, daß er nicht unbekannt war.

»Sind Sie auch in der City tätig, Mr. Newton?«

»Jawohl.«

Anthony war zwar an der City nur insoweit interessiert, als er ein Büro in der ersten Etage eines Geschäftshauses gemietet hatte. Auch ein schönes Schild war an der Tür angebracht. Es war gerade kein großer Raum – man hätte in seinem Büro keine Katze am Schwanz umherwirbeln können, wie einer seiner Bekannten gesagt hatte. Aber Anthony hielt ja keine Katze, und selbst wenn er eine besessen hätte, wäre er niemals so grausam gewesen.

Das Mittagessen verlief in angenehmer Unterhaltung, denn ein unerwarteter Faktor, den Anthony ursprünglich bei seinem Plan nicht eingesetzt hatte, ließ ihm die Sache reizvoll erscheinen. Anthony Newton wußte ganz genau, daß Mr. Mansar selbst jeden Sonntagmorgen in seinem eleganten Wagen nach Pullington fuhr. Er kaufte deshalb ein altes Auto und verbrachte manche Stunde damit, es mit Binko zu streichen und ihm dadurch einen jugendlicheren Glanz zu verleihen. Er hatte nicht voraussehen können, daß sein Abenteuer so liebenswürdig enden würde. Er wußte zwar, daß der Millionär Mr. Mansar eine Tochter hatte, auch hatte ihm irgend jemand gesagt, daß sie schön sei. Aber als er diesen Unglücksfall so listig und schlau bewerkstelligt hatte, konnte er nicht ahnen, daß er der jungen Dame selbst begegnen würde.

Anthony Newton war auf seine Art ein ehrlicher Abenteurer. Er war zu dem Schluß gekommen, daß man auf diese Weise Geld verdienen konnte, nachdem er lange Zeit die Zeitungen eifrig studiert hatte. Die Namen vieler solcher Leute, früherer Soldaten und Offiziere, wurden häufig in nicht gerade sehr schmeichelhafter Art in den Polizeiberichten erwähnt. Es waren alles intelligente, rührige Menschen, aber sie wandten ihre Begabung in falscher Weise an. Ihre Art zu handeln war mit seinen Prinzipien über Eigentum nicht vereinbar, obwohl er nicht peinlich an alten Begriffen hing.

Einige dieser Abenteurer waren mit einer Maske vor dem Gesicht und einem Revolver in der Hand in einsam gelegenen Postbüros erschienen und hatten unter dem lauten Protest der Beamten den Inhalt der Schalterkassen mitgenommen. Andere waren ähnlich verkleidet in Depositenkassen und Banken aufgetaucht und hatten Geldsummen mitgehen lassen, die ihnen nicht gehörten.

Anthony hatte alles dies wohl überdacht und eingesehen, daß man auch durch Anwendung des reinen Verstandes Geld verdienen konnte, ohne das Geringste zu riskieren.

Er hatte sich vorgenommen, den einflußreichen Mr. Mansar kennenzulernen, der sich unter gewöhnlichen Umständen überhaupt nicht sprechen ließ. In sein Büro in der Stadt zu gehen und um eine Unterredung mit ihm zu bitten, wäre ebenso nutzlos gewesen, wie einen Beamten am Schalter zu fragen, ob man nicht den Postminister sprechen könnte. Mr. Mansar wurde von vielen Wächtern umgeben, die ihn hermetisch von der Außenwelt abschlossen. Da gab es Sekretäre, Abteilungschefs, Hauptgeschäftsführer und Direktoren, gar nicht zu reden von den Pförtnern, Bürodienern, Boten und anderen Angestellten.

Es gibt zwei Wege, mit großen Leuten bekannt zu werden. Man kann sich ihnen nähern, wenn man ihre Liebhabereien entdeckt hat; das ist gewöhnlich ihre schwächste Seite. Oder man tritt ihnen gegenüber, wenn sie auf Erholungsreisen sind. Es ist eine bekannte Tatsache, daß man den Mann, der in der City von London unerreichbar ist, sehr leicht an der Riviera sprechen kann.

Aber anscheinend ging Mr. Mansar niemals auf Erholungsreisen, und es schien seine einzige Liebhaberei zu sein, sich mit dem Glanz des Genies zu umgeben.

Nachdem das Essen vorüber war, und Anthony also seinen Zweck erreicht hatte, gab es keine Entschuldigung mehr für ihn, noch länger hier zu verweilen. Er wartete allen Ernstes auf die Mitteilung, daß ein Wagen vor der Tür stände, um ihn nach der Station zu bringen, und daß Mr. Mansar sich freuen würde, wenn er nächsten Donnerstag ihn zum Abendessen in seiner Stadtwohnung erwarten könnte. Vielleicht würde er ihn auch zum Mittwoch oder Freitag einladen, möglicherweise würde sich die Sache auch um eine oder zwei Wochen verschieben. Aber merkwürdigerweise ließ diese Einladung auf sich warten, und man behandelte ihn so, als ob er zu dauerndem Besuch hier eingetroffen sei.

Mr. Mansar zeigte ihm die Bibliothek und forderte ihn auf, es sich gemütlich zu machen. Er empfahl ihm bestimmte Bücher, die in Mußestunden sein Interesse wachgerufen hatten.

Anthony Newton gab eine liebenswürdige Antwort und ließ sich in einem Klubsessel nieder. Aber er las nicht, sondern gab sich schönen Gedanken hin und träumte von großen Plänen, die er mit Hilfe dieses mächtigen Finanzmannes ausführen konnte, vielleicht sogar als sein Partner.

In der Bibliothek befand sich ein großes Fenster, von dem aus man eine mit Marmorfliesen belegte Terrasse überschauen konnte, und Anthony sah, daß Mr. und Miss Mansar draußen auf und ab gingen. Sie sprachen leise miteinander, und da er schon alle Scheu abgelegt hatte, schlich er sich nahe an das Fenster heran und lauschte, als sie vorübergingen.

»Er sieht entschieden besser als der letzte aus«, sagte Vera.

Mr. Mansar nickte.

Was soll das heißen? Er sah viel besser aus als der letzte? Anthony zerbrach sich den Kopf.

Jetzt kamen sie wieder zurück.

»Er hat ein recht kluges Gesicht und schlaue Augen«, hörte er wieder Veras Stimme.

Mr. Mansar brummte irgend etwas.

Anthony zweifelte nicht einen Augenblick, von wem sie sprachen. Als sie sagte, »er hatte ein kluges Gesicht«, wußte er, daß er gemeint war.

Sie kamen nicht wieder. Anthony wartete ungeduldig und ein wenig neugierig. Er hatte gerade den Entschluß gefaßt, sich nun zu verabschieden, als Mr. Mansar in die Bibliothek trat und die Tür sorgfältig schloß.

»Ich möchte eingehend mit Ihnen sprechen, Mr. Newton«, sagte er feierlich. »Ich habe mir überlegt, daß Sie meiner Firma von größtem Nutzen sein könnten.«

Anthony räusperte sich. Dieser Gedanke war ihm ja vorhin auch gekommen.

»Kennen Sie Brüssel?«

»Wie meine Tasche«, erwiderte Anthony prompt. Er war zwar niemals dort gewesen, aber er wußte ja, daß er sich aus jedem Fremdenführer die nötigen Kenntnisse aneignen konnte.

Mr. Mansar runzelte die Stirn.

»Es scheint irgendwie von der Vorsehung so eingerichtet gewesen zu sein, daß Sie kamen. Ich brauche jemand für eine vertrauliche Mission. Gerade diesen Nachmittag wollte ich zur Stadt fahren, um jemand für diesen Auftrag auszusuchen, aber ich sagte Ihnen ja, daß Sie mir wie durch ein Wunder in den Weg gelaufen sind. Ich habe es eben mit meiner Tochter besprochen. Ich hoffe, daß Sie mir diese kleine Unliebenswürdigkeit verzeihen«, sagte er höflich.

Anthony hatte ihm längst vergeben.

»Meine Tochter, die sich gut auf Charakterbeurteilung versteht, hat den besten Eindruck von Ihnen bekommen.«

Anthony war neugierig, welche Mission ihm anvertraut werden sollte, und Mr. Mansar ließ ihn auch nicht lange warten.

»Sie müssen heute abend noch mit dem Nachtzug nach Brüssel fahren und bis Mittwoch dort bleiben. Haben Sie genügend Geld zu Ihrer Reise?«

»O ja«, sagte Anthony leichthin.

»Nun, das ist gut.« Mr. Mansar nickte ernst, als ob er darin nie gezweifelt hätte. »Sie werden einen versiegelten Brief mitnehmen, den Sie am Mittwochmorgen in der Gegenwart meines Brüsseler Agenten, des Monsieur Larnont öffnen. Er ist der Chef der Firma Larnont & Cie., der großen Bankfirma, von der Sie wahrscheinlich schon gehört haben.«

»Selbstverständlich.«

»Ich wünsche, daß Sie Ihre Mission geheimhalten und niemand etwas davon sagen. Sie werden das verstehen.«

Anthony verstand vollkommen.

»Glücklicherweise braucht man zwischen England und Belgien keinen Paß. Sie können also ohne Schwierigkeiten und ohne weitere Vorbereitungen abreisen. In einer halben Stunde fährt ein Zug zur Stadt, und hier ist der Brief.«

Er nahm ein Schreiben aus seiner Brusttasche, das. an Mr. Anthony Newton adressiert war. Darunter stand der Vermerk: Zu öffnen in Gegenwart von Monsieur Lamont, 119, Rue Patriele, Brüssel.

»Ich kann Ihnen allerdings nicht versprechen, daß Sie gut bezahlt werden oder überhaupt eine Belohnung bekommen, wenn Sie diese Mission ausführen. Aber ich nehme an, daß Ihnen diese Erfahrung in mehr als einer Weise nützlich werden wird.«

Anthony legte diesem vorsichtigen Versprechen eine ganz besondere Bedeutung bei und lächelte glücklich.

»Ich glaube, ich breche am besten sofort auf«, sagte er energisch. »Wenn ich diesen Auftrag ausführen soll, möchte ich keine Zeit verlieren. Es ist nicht das erstemal, daß mir wichtige Missionen anvertraut werden.«

»Ich glaube, Sie haben recht, wenn Sie jetzt gehen«, erwiderte Mr. Mansar nüchtern.

Anthony hoffte, die junge Dame noch einmal zu sehen, bevor er ging, aber er hatte kein Glück. Nur der Chauffeur war da, der ihn zur Station brachte. Als er an den Trümmern seines Wagens vorbeifuhr, der noch im Chausseegraben stand, bedauerte er nicht, so viel Geld dafür gegeben zu haben. Immerhin konnte man den Wagen noch als Alteisen verkaufen.

Er erreichte Brüssel zeitig und besuchte Monsieur Lamont am Montag in seinem Büro. Er lernte einen kleinen, untersetzten Herrn kennen, der einen wunderbaren Vollbart trug. Er war sehr erstaunt über die Ankunft dieses flotten und geheimnisvollen jungen Engländers.

»Ach, das ist sehr interessant. Sie kommen von Mr. Mansar?« fragte er respektvoll, ja mit einer gewissen Verehrung. »Er hat mir nicht mitgeteilt, daß er jemand senden würde. Steht Ihr Kommen vielleicht in Verbindung mit den Rentenzahlungen der Regierung?«

»Darüber darf ich Ihnen leider nichts mitteilen«, sagte Anthony diplomatisch. »Ich bin tatsächlich sozusagen mit versiegelter Order hierhergekommen.«

Monsieur Lamont nickte verständnisvoll.

»Selbstverständlich ehre ich Ihre Diskretion . . . Kann ich irgend etwas für Sie tun, während Sie in Brüssel sind? Würden Sie mir die Ehre geben, heute abend mit mir in meinem Klub zu speisen?«

Anthony war sehr erfreut über diese Einladung, da er gerade nicht sehr viel Geld bei sich hatte.

Während des Essens sprach Monsieur Lamont mit der größten Hochachtung von seinem englischen Geschäftsfreund.

»Ein wunderbarer Mann«, sagte er mit einer bedeutungsvollen Geste. »Sind Sie sein Freund, Mr. Newton?«

»Nicht gerade sein Freund«, erwiderte Anthony vorsichtig. »Wie kann jemand der Freund eines so überragenden Mannes, eines so leuchtenden Vorbilds sein? Man kann ihn nur bewundern.«

»Das haben Sie sehr schön und richtig gesagt«, entgegnete Monsieur Lamont nachdenklich. »Er ist ein bedeutender Charakter. Und seine Tochter« – er küßte seine Fingerspitzen – »ich habe nie solchen Charme, solche Intelligenz und solche Schönheit bei einer Dame vereinigt gesehen.«

Anthony war ein so unterhaltender und liebenswürdiger Gast, daß Monsieur Lamont ihn am nächsten Tag zum Mittagessen einlud. Diesmal zeigte der Belgier aber größere Neugierde.

»Ich wollte Sie nur im Vertrauen fragen, ob Ihr Besuch vielleicht etwas mit der ottomanischen Anleihe zu tun hat?«

Anthony lächelte.

»Sie werden verstehen, daß ich die größte Verschwiegenheit wahren muß«, sagte er fest.

»Natürlich, selbstverständlich, ganz gewiß!« erwiderte Monsieur Lamont schnell. »Ich ehre Ihre Diskretion, aber wenn Ihr Kommen etwas mit der ottomanischen Anleihe oder mit der Wiener Stadtanleihe zu tun haben sollte . . .«

Aber Anthony hob seine Hand und schnitt dadurch höflich die Fortführung dieser Unterhaltung ab.

Monsieur Lamont zerfloß vor Entschuldigungen.

Anthony war ja selbst zu neugierig, als er am Mittwochmorgen zum Büro des Bankmannes ging. Er war in bester Laune, denn er hoffte auf einen großen, überraschenden Erfolg.

Er stand in dem mit Rosenholzpaneel getäfelten Raum, lehnte an dem weißen Marmorkamin und öffnete mit zitternden Fingern das Kuvert in dem Bewußtsein, daß er an einem Wendepunkt seines Lebens angekommen sei. Sein Plan, den großen Finanzmann kennenzulernen, hatte einen Erfolg gehabt, der seine kühnsten Hoffnungen weit überstieg.

Zu seinem größten Erstaunen war der Brief von Vera Mansar geschrieben und je weiter er las, desto mehr wuchs seine Verwunderung.

Mein lieber Mr. Newton!

Mein Vater wollte Sie eigentlich der Polizei übergeben oder Sie in den Teich werfen. Ich habe deshalb diese Art und Weise vorgeschlagen, um Ihnen einen guten Abgang zu verschaffen. Denn meiner Meinung nach sollte ein so talentvoller Mann wie Sie nicht so unrühmlich behandelt werden. Sie sind der Vierunddreißigste, der meinen Vater durch neue und in manchen Fällen sehr unangenehme Methoden persönlich kennenlernen wollte. Ich bin schon von schrecklichen Vagabunden angegriffen worden, die von meinen Rettern ihres schrecklichen Aussehens wegen gemietet wurden. Das ist mir schon sechsmal passiert. Ich wurde in den Fluß gestoßen und wieder herausgezogen. Mein Vater hat drei Leute angeschossen, als er auf der Hasenjagd war, und fünf sind plötzlich vor sein Auto gesprungen, als er zur Station fuhr.

Wir möchten Ihre neue Methode anerkennen, die liebenswürdiger ist als die bisherigen. Ich muß auch gestehen, daß ich im ersten Augenblick durch den glänzend inszenierten Autounfall getäuscht wurde. Um aber ganz sicher zu gehen, daß ich Ihnen nicht unrecht tat, habe ich mit der Garage im Ort telefoniert und erfahren, daß Sie schon vierzehn Tage dort auf diese Gelegenheit warteten. Armer Mr. Newton, ich wünsche Ihnen für das nächste Mal mehr Glück.

Ihre aufrichtige

Vera Mansar.

Anthony las den Brief dreimal und schaute dann mechanisch auf einen eingeschlossenen Zettel.

An Monsieur Lamont!

Zahlen Sie Mr. Anthony Newton eine Summe, die ihm die Rückfahrt nach London und den Unterhalt während der Reise ermöglicht.

Gerald Mansar.

Monsieur Lamont beobachtete den erstaunten jungen Mann.

»Ist Ihr Auftrag sehr wichtig?« fragte er eifrig. »Sollen Sie mir etwas mitteilen?«

Anthony ließ sich auch von den erschütterndsten Ereignissen nicht ganz aus der Fassung bringen. Er faltete den Brief zusammen, steckte ihn in die Tasche und schaute dann wieder auf das beigefügte Blatt.

»Es tut mir leid, daß ich Ihnen nicht den ganzen Inhalt mitteilen kann. Ich muß sofort nach Berlin abreisen, von dort muß ich nach Wien fahren, von Wien nach Konstantinopel. Dann muß ich nach Rom und von dort habe ich sogar den Auftrag, nach Tanger zu gehen. Die Geschäfte dort werden mich einige Zeit aufhalten, so daß ich etwa in einem Monat wieder in Gibraltar eintreffe. Dann werde ich mit dem Schiff nach England zurückkehren.«

Er überreichte das Schreiben Monsieur Lamont, der eifrig las.

Zahlen Sie Mr. Anthony Newton eine Summe, die ihm die Rückfahrt nach London und den Unterhalt während der Reise ermöglicht.

Gerald Mansar.

Monsieur Lamont schaute Anthony fragend an.

»Wieviel werden Sie benötigen?« fragte er.

»Ich glaube, daß ich mit sechshundert Pfund auskommen werde«, erwiderte Anthony höflich.

Monsieur Lamont wies das Geld sofort an.

Als Mr. Mansar die Belastungsanzeige dafür erhielt, war er nicht mit Unrecht sehr ärgerlich.

Er kam erregt nach Hause.

»Dieser . . . dieser . . .« polterte er, »dieser Schuft!«

»Wen meinst du denn, Vater – du kennst doch so viele schlechte Leute?« fragte sie lächelnd.

»Natürlich Newton! Du weißt doch, ich gab Lamont den Auftrag, seine Reisekosten nach London zu zahlen.«

Sie nickte.

»Denke dir, der Mensch hat sechshundert Pfund abgehoben!«

Sie machte große Augen, aber sie war doch ein wenig belustigt.

»Er hat Lamont erzählt, daß er über Berlin, Wien, Konstantinopel und Rom reisen müßte! Gott sei Dank fährt zur Zeit die transsibirische Eisenbahn nicht!« fügte er grimmig hinzu. Und dieser Gedanke war sein einziger Trost.


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