Edgar Wallace
Die Abenteuerin
Edgar Wallace

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Der Herr im dunkelblauen Anzug

Viele Herren versuchten es, eine Bekanntschaft mit Lucia Bradfield anzuknüpfen. Sie kamen ›zufällig‹ an ihrer Wohnung in der St. James Street vorbei, sie lächelten sie an, wenn sie im Hyde Park spazierenging, und sie sahen sich um, ob sie gleichfalls über die Schulter zurückblickte. Sie boten ihr an, den Platz mit ihr zu wechseln, wenn sie ihr in der Eisenbahn gegenübersaßen, oder die Fenster auf- und zuzumachen, und sie begannen mit ihr über das Wetter zu sprechen.

Aber der Herr im dunkelblauen Anzug, den sie an einem Frühlingsnachmittag im Hyde Park traf, sagte ihr nur, daß ihr linker Strumpf schief säße. Er sprach in sachlichem, nüchternem Ton, als ob es zu seinen Gewohnheiten gehörte, Damen auf derartige Dinge aufmerksam zu machen.

Dann wandte er ihr den Rücken, bis sie den Strumpf in Ordnung gebracht hatte.

»Ich danke Ihnen vielmals«, sagte sie, als sie an ihm vorüberging.

»Oh, gern geschehen.«

Mehr Worte wurden nicht zwischen ihnen gewechselt. Er schien sich nicht besonders für sie zu interessieren, und sie wunderte sich nur, daß er trotz des kühlen Wetters keinen Mantel trug.

Am nächsten Tag sah sie ihn wieder, und diesmal hatte er einen Mantel an. Sie erkannte ihn gleich wieder, als er sie im Vorübergehen durch ein Kopfnicken grüßte. Es war wie ein stillschweigendes Einverständnis. Er nickte nur, lächelte aber nicht. Er sah recht gut aus, vermutlich war er Offizier gewesen. Ein Terrier begleitete ihn.

Eine Woche später saß sie wieder im Park. Bald darauf kam er auch des Weges und nahm neben ihr Platz. Dann wehrte er seinen Hund ab, der gestreichelt werden wollte.

»Fort, Joe! – Geh, fang Kaninchen . . .!«

Joe machte sich davon, sah sich aber noch mehrmals um, als ob er seinem Herrn Vorwürfe machen wollte.

»Ein merkwürdiger Hund«, meinte er. »Er ist nicht an Damen gewöhnt. Meistens verkehre ich nur in Herrengesellschaft.«

»So«, erwiderte sie kühl und gleichgültig; sie war darauf gefaßt, daß er weitere Versuche machen würde, mit ihr ins Gespräch zu kommen. Aber er blieb schweigsam und sah nur nach der untergehenden Sonne. Sie wartete darauf, daß er wieder sprechen würde, und nahm sich vor, sofort aufzustehen, wenn er den Mund aufmachte. Eigentlich hatte sie nichts dagegen, wenn ein fremder Herr sie ansprach, aber es wäre ihr peinlich gewesen, wenn er geglaubt hätte, sie lasse sich ansprechen. Er sagte jedoch kein Wort.

Plötzlich stand er auf, pfiff seinem Hund und ging fort. Diesmal lächelte er ein wenig und berührte den Rand seines Hutes, aber es war ein konventionelles Lächeln, ebenso wie sein Gruß.

So begann ihre Freundschaft mit dem Herrn im dunkelblauen Anzug, die sich langsam weiterentwickelte. Allmählich kamen sie ins Gespräch, und sie erfuhr von ihm, daß er Briefmarken sammelte und im Krieg verwundet worden war. Er liebte gewisse Stellen und Plätze im Park, die auch ihr sehr gefielen. Jedes Thema, das er anschnitt, interessierte sie; aber er sprach wenig von sich selbst, was für einen Mann sehr ungewöhnlich war.

Eines Tages kam ihr zum Bewußtsein, daß er sie mit neuem Interesse betrachtete, aber trotzdem blieb die Unterhaltung einsilbig.

»Es ist doch unendlich schade«, sagte er unvermittelt.

Sie wußte nicht, was er meinte.

 

Mr. Thirtley ahnte nichts von diesen Begegnungen, sonst hätte er verstanden, warum sich seine Nichte Lucia in letzter Zeit so wenig für seine Unternehmungen interessierte, besonders, was Andrew Murdoch betraf.

Mr. Thirtley hatte Murdoch im ›Klub der zehn Asse‹ kennengelernt, wo dieser mit drei gerissenen jungen Leuten Karten spielte. Als Mr. Murdoch das Lokal verlassen wollte, hatte Thirtley ihn liebenswürdig beim Arm genommen.

»Aber mein lieber junger Mann«, sagte er väterlich, »wie sind Sie bloß in diese schlechte Gesellschaft geraten? Wenn Sie mit solchen Lumpen spielen, können Sie sich darauf gefaßt machen, daß die Ihnen alles abnehmen, sogar die Augenbrauen von der Stirn. Haben Sie bereits viel verloren?«

Mr. Murdoch gestand, daß er an diesem Abend dreißig Pfund verloren hatte. Sein neuer Freund war empört – wie immer, wenn ein Fremder beim Spiel an einen anderen mehr verlor als an ihn selbst.

»Ich komme nur selten hierher, aber ich studiere die Leute hier vom psychologischen Standpunkt aus; deshalb erkenne ich auch gleich die Berufs- und Falschspieler.«

Er erzählte Murdoch vieles über Spielhöllen, noch mehr über sich selbst und seine Nichte und sagte unter anderem auch, daß er Kartenspiel um Geld nicht sehr schätze.

»Ich spiele auch nicht oft Poker«, entgegnete Andrew Murdoch und lächelte dem anderen schnell und vertraulich zu. »Pikett ist mein Spiel – man hält mich für den besten Spieler in Sydney, aber in London ist es schlecht, wenn man die Leute nicht kennt, die man als Partner hat.«

Mr. Thirtley faßte den Entschluß, diesen wohlhabenden Fremden in seine Wohnung einzuladen. Vor allem sollte Mr. Murdoch Lucia kennenlernen. Ohne seine Nichte würde er bei diesem Mann wohl schwerlich Erfolg haben.

 

Drei Wochen später hörte Lucia ihrem Onkel zu, der ihr einen Plan auseinandersetzte. Als er fertig war, fragte sie ihn kühn: »Und wenn ich nun nicht mitmache, was geschieht dann?«

Ein Grinsen ging über Mr. Thirtleys breites, unfreundliches Gesicht. »Nun sei bloß nicht verrückt und fang an, mit mir zu streiten. Ich kenne dich ganz genau; du brauchst mir nichts vorzuspielen und erst recht keine Sentimentalität zu heucheln. Du bist kein Kind mehr; dieser Australier ist ziemlich leicht zu nehmen und für uns direkt Gold wert. Außerdem ist nicht das geringste Risiko damit verbunden. Er hat ein Guthaben von zwölftausend Pfund bei der Midland-Bank, und er ist rasend in dich verschossen.«

»Er hat nicht zwölftausend Shilling, die ihm selbst gehören aber du hast fünfzigtausend und kannst kommen und gehen, wie du willst«, entgegnete sie eisig. »Ich arbeite noch nicht sehr lange in diesem merkwürdigen Gewerbe, aber ich weiß genug. Dartmoor ist voll von solchen Leuten, die fremdes Geld von der Bank holten und es sich nachher im Spiel abnehmen ließen. Wenn er in mich verschossen ist, so ich noch lange nicht in ihn. Und Erpressereien sind schmutzig – wenigstens meiner Auffassung nach.«

Mr. Thirtley wurde rot. »Es handelt sich hier nicht um Erpressung«, erklärte er übermäßig laut. »Ich möchte nur wissen, was mit dir los ist. Bist du nicht mehr ganz richtig im Kopf? Ist bei dir eine Schraube locker? In den beiden letzten Monaten hast du dich vollkommen verändert. – Nun gut, wir werden ja sehen!«

Er war ehrlich erstaunt über sie und starrte sie verblüfft an.

Lucia war eine fesselnde Erscheinung – eine moderne, elegante Frau mit schlanker Figur, hübschem Gesicht und großen dunklen Kinderaugen. Außerdem bewegte sie sich mit entzückender Anmut. Mr. Thirtley wußte sehr wohl, welche Anziehungskraft sie auf die Männer ausübte, wenn auch er selbst nicht unter ihrem Einfluß stand. Ohne ihre Hilfe wäre es ihm schwergefallen, seine Opfer zu berauben. Je älter er wurde, desto mehr erkannte er seine Grenzen. Er hatte nicht mehr das unschuldige, harmlose Gesicht, das das beste Aushängeschild für seinen Beruf bildete und auf das früher fast alle begüterten Leute hereingefallen waren. Im Laufe der Jahre waren seine Züge scharf geworden; es prägte sich in ihnen eine gewisse Schlauheit und Gerissenheit aus, die seine Opfer warnte. Er mußte einen Partner haben, und schließlich hatte er Lucia Bradfield aus der Schule genommen, in der er sie hatte erziehen lassen. Damals war sie erst sechzehn Jahre alt gewesen. Nachher hatte sie ein sonderbares Leben geführt.

Bo Parker, der Betrüger, hatte auch einmal ein Mädchen zu seiner Helferin herangebildet, sich aber in sie verliebt. Als sie dann soweit war, daß sie ihm hätte nützen können, lief sie ihm fort und arbeitete mit Mr. Thirtley zusammen. Bo wurde ärgerlich darüber und wollte sich an Thirtley rächen, aber sie ging zur Polizei und verpfiff ihn, so daß er für sieben Jahre ins Zuchthaus gesteckt wurde. Zufällig wurde durch Bo auch ein gewisser Crewe Wall in die Affäre verwickelt, ein Falschspieler, der kaum seinesgleichen hatte. Auch sein offenes Geständnis änderte nichts an der Länge und Härte seiner Strafe. Mr. Thirtley dachte immer noch an das hübsche Mädchen und seufzte, denn sie war später auch ihm davongelaufen.

Mr. Thirtley hatte daraufhin seine Nichte zu seiner Assistentin herangebildet. Sie sollte die Opfer anlocken, die er auszuplündern gedachte.

»Du bist ja plötzlich ganz aufsässig geworden. Und doch habe ich dich gerade davor ausdrücklich gewarnt. Hier ist nun ein Mann –«

»Ich interessiere mich absolut nicht für ihn, wenn du darauf hinauswillst«, unterbrach sie ihn heftig. »Ich habe dir bei einer Anzahl von Coups geholfen, aber glücklicherweise hatten die nichts mit Liebe zu tun. Wenn du jetzt von mir verlangst, daß ich die Aufmerksamkeiten dieses jungen Mannes entgegennehmen und vielleicht gar meinen Kopf an seine Schulter lehnen soll, damit er mich schließlich umarmt und küßt, dann hat das nichts mehr mit unserer Abmachung zu tun.«

Lucia war wirklich ziemlich schwierig geworden. Sie war auch vorher schon nicht leicht zu behandeln gewesen, aber nun war sie so unnachgiebig und so wenig entgegenkommend, daß sie ihn unwillkürlich an seine frühere Partnerin erinnerte. Und dabei hatte er gerade jetzt einen Mann gefunden, dem er spielend leicht das Geld abnehmen konnte! Zwölftausend Pfund hatte Murdoch zur Verfügung, für die er landwirtschaftliche Maschinen in London einkaufen sollte.

»Wir wollen nicht miteinander streiten«, sagte er schließlich. »Setz deinen Hut auf, wir gehen jetzt aus.«

Auf dem Weg zum Restaurant ›Imperial‹ war Lucia nachdenklich und zerstreut. Sie beschäftigte sich in Gedanken mit dem Herrn im dunkelblauen Anzug und überlegte, was er wohl von ihr denken würde, wenn er wüßte . . .

Mr. John Thirtley war zu klug, um ihr seinen Ärger zu zeigen, aber er fühlte sich nicht sehr behaglich.

Andrew Murdoch wartete in der mit Marmorplatten ausgelegten Halle des ›Imperial‹ auf die beiden. Er war groß und schlank. Seine ernsten, melancholischen Augen leuchteten auf, als er Lucia auf sich zukommen sah. Mr. Thirtley schenkte er zunächst keine Beachtung.

»Ich möchte Ihnen etwas außerordentlich Seltsames erzählen«, begann er.

Wenn er lachte, sah er geradezu hübsch aus. Lucia hoffte, daß er um ihres inneren Friedens willen ernst und unzugänglich bleiben möchte.

»Ich freue mich, wenn Sie mir etwas Interessantes erzählen wollen, aber vor allem habe ich einen unheimlichen Hunger«, erwiderte sie.

Sie traten in den Speisesaal ein. Der Tisch, den Mr. Thirtley hatte reservieren lassen, stand in einer Fensternische, abseits von den anderen Gästen.

»So, und nun erzählen Sie mir Ihre seltsame Geschichte«, sagte sie und lächelte ihn an.

»Mir ist etwas Merkwürdiges passiert. Als ich aus dem Klub herauskam, trat ein Herr auf mich zu. Allem Anschein nach war es ein Kriminalbeamter.«

»Wie?« Mr. Thirtley blinzelte und wurde aufmerksam.

»Ich habe keine Ahnung, woher er Näheres über mich wußte, aber was er sagte, interessierte mich.«

»Was wollte er von Ihnen?«

»Er warnte mich. Er sagte, daß man einen bestimmten Mann hier in der Stadt erwarte. Wie war doch gleich sein Name? Er soll ein Erzbetrüger und Falschspieler sein . . .«

Mr. Thirtley hätte ein Dutzend Namen nennen können, die ihm auf der Zunge lagen.

»Crewe Wall – sehen Sie, so heißt er«, sagte Murdoch plötzlich. »Die Polizei hält Ausschau nach ihm. Man sagte mir, daß er Geld aus dem Rinnstein zaubern könne – wenigstens hat der Kriminalbeamte sich so ausgedrückt.«

Mr. Thirtley hatte dasselbe Urteil über Crewe Wall. Nachdenklich rieb er sich die Nase. Er selbst war ja, ohne es gewollt zu haben, für Crewes Verurteilung verantwortlich. Im geheimen freute er sich aber, daß die Polizei Murdoch nicht auch vor ihm selbst gewarnt hatte.

»Von dem Kerl habe ich noch nichts gehört.«

 

Nach Tisch fuhr Mr. Thirtley mit seiner Nichte im Auto zu seiner Wohnung in der St. James Street.

»Ich habe ihn zum Abendessen eingeladen, aber ich habe den Eindruck, daß er nur deiner schönen Augen wegen annahm.«

Thirtley war in bester Stimmung, obwohl er nach der Unterhaltung während des Mittagessens keinen Grund mehr dazu hatte.

»Was hat das übrigens zu bedeuten, daß er achthundert Pfund von dir gewonnen hat?« fragte sie.

Thirtley lächelte wohlwollend. »Gestern habe ich gewonnen. Wenn man das abzieht, hat er alles in allem nur dreißig Pfund gewonnen. Es stimmt allerdings, daß er mir achthundert Pfund abgenommen hat. Er ist eben der beste Spieler von Sydney. Ich habe dir doch schon erzählt, daß er im Auftrag der ›Australian Trading Company‹ nach London gekommen ist. Ich war erstaunt, als ich hörte, daß dieser junge Mann zwölftausend Pfund für seinen Konzern ausgeben darf. Er kann Schecks bis zu dieser Höhe unterzeichnen und braucht nur noch die Unterschrift des Direktors der Londoner Filiale dazu. Aber ich weiß, daß sein Vater steinreich ist; der hat ihm auch diese Stellung verschafft –«

Sie machte eine ungeduldige Handbewegung. »Warum erzählst du mir das alles immer wieder? Du hast es doch nur auf die zwölftausend Pfund abgesehen und legst ihn beim Spiel herein. Er gibt dir einen Scheck und macht die Unterschrift des Londoner Direktors mehr oder weniger geschickt nach. Du bekommst das Geld, und nachher ist alles in bester Ordnung.«

Sie sprach ohne jede Erregung und so monoton, als ob sie etwas auswendig Gelerntes hersagte. »Und wenn er nachher die Unterschrift des Direktors auf dem Scheck nicht fälschen will, dann soll ich in Tränen ausbrechen und ihm gestehen, daß wir ruiniert sind, wenn er es nicht tut. Die Sache ist doch einfach kindisch.«

Sie hob die Hand, um seine ärgerlichen Worte abzuwehren.

»Du sagst immer, daß du das am besten beurteilen kannst«, fuhr sie unbeirrt fort. »Dreihundertfünfundsechzigmal im Jahr erklärst du mir das. Aber du kannst dich auf den Kopf stellen, ich mache nicht mehr mit. Ich heule dem Mann nicht auf Kommando etwas vor!«

Er kniff die Augenlider zusammen und schaute sie böse an. »Ich kann dich nicht ganz verstehen, Lucia«, erwiderte er langsam. »Es ist ja möglich, daß ich ein wenig schwerfällig geworden bin.«

»Ich will nicht mehr mitspielen – auf keinen Fall!«

Er wurde dunkelrot im Gesicht, und sie glaubte schon, daß er jetzt sehr ausfallend und zornig werden würde. Aber zu ihrem größten Erstaunen lachte er nur laut auf.

»Ich bin wirklich überrascht, Lucia. Bisher hast du mir doch immer geholfen –«, begann er.

»Ich bin fertig mit dir und deinen Methoden«, entgegnete sie wütend. »Hast du das immer noch nicht verstanden? Ich will nicht mehr mitspielen, ich hasse diese Art zu leben. Früher ist mir nie zum Bewußtsein gekommen, wie verabscheuungswürdig ein solches Dasein ist, aber jetzt –« Sie brach ab.

»Nun?« fragte er vielsagend.

Sie zuckte die Schultern. »– aber jetzt habe ich eingesehen, wohin die Sache führt. Ich denke, das sollte dir als Erklärung genügen.«

Er lächelte geheimnisvoll. »Mein liebes Täubchen«, erwiderte er freundlich, »du hast mich an die fünfzigtausend Pfund erinnert, die wir beide auf der Bank haben. Dein Anteil daran beträgt fünfundzwanzig Prozent. Ich wüßte nicht, warum wir nicht auch noch diese zwölftausend einkassieren sollten. Das macht dann zusammen zweiundsechzigtausend. Du brauchst ja weiter nichts zu tun, als ihn liebenswürdig zu behandeln.«

»Laß mich aus dem Spiel; den Coup kannst du allein durchführen. Ich mache jetzt einen Spaziergang. Hier ist es mir zu –«

»Eng, willst du sagen«, unterbrach er sie ironisch. »Meine liebe Lucia, es ist sicher notwendig, daß du nicht mehr so viele Bücher aus der Leihbibliothek liest. Du wirst sonst noch ganz sentimental.«

Sie mußte ins Freie, sie hielt es im Haus nicht mehr aus. Mit hastigen Schritten ging sie durch den Park; ihre Gedanken wirbelten durcheinander, ihr Inneres war in wildem Aufruhr. Sie war mit sich selbst und mit der Welt zerfallen, sie haßte alles und alle: die Leute, die durch die Frühlingssonne in den Park gelockt worden waren, die prächtigen Häuser, die die Gartenanlagen umsäumten, die Menschen, die so viel Geld hatten, sich solche Häuser zu leisten. Aber am meisten verabscheute sie sich selbst. Sie hoffte, daß sie dem Herrn im dunkelblauen Anzug nicht begegnen würde, aber trotzdem hielt sie nach ihm Ausschau, und ihr Herz schlug schneller, als sie ihn unter einem Baum sitzen sah. Wieder hatte er seinen üblichen Platz inne, und sein Hund sprang an ihm hinauf.

Er erhob sich sofort, als er sie bemerkte, und stellte einen zweiten Stuhl neben den seinen. Dann wartete er, bis sie Platz genommen hatte, bevor er sich wieder niederließ.

»Sind Sie eigentlich rückhaltlos ehrlich?« fragte sie ihn unvermittelt. »Die meisten Männer sind es nicht, wie ich weiß. Oder sind Sie auch nur so ehrlich wie alle anderen?«

Diese Frage überraschte den merkwürdig unerschütterlichen Mann in keiner Weise.

»Ich bin rückhaltlos ehrlich«, erwiderte er ruhig und fest.

Sie nickte grimmig. »Dann hassen Sie also Diebe, Betrüger und Verbrecher, die nur davon leben, daß sie anderen Leuten das Geld abnehmen?«

Er überlegte sich diese Frage lange.

»Ich liebe sie natürlich nicht«, entgegnete er schließlich. »Aber es kommt auf die Umstände an.«

»Um Himmels willen, seien Sie doch nicht so vorsichtig mit Ihren Antworten!«

Ihr Ton klang hart und herausfordernd, aber er fühlte sich dadurch nicht gekränkt.

Nichts von alledem, was sie ihm nun hemmungslos sagte, hatte sie sich vorher überlegt, aber sie mußte es sich vom Herzen herunterreden.

»Ich habe Sie niemals nach Ihrem Namen gefragt, und Sie haben auch den meinen nicht wissen wollen. Ich hätte Sie auch gehaßt, wenn Sie so konventionell gewesen wären. Aber ich weiß, Sie sind nicht verheiratet und nicht reich, und ich fühle, daß Sie mich gern haben.«

Er antwortete nicht, aber sie sah an seinen Augen, daß das zutraf, was sie gesagt hatte, und als sie hörte, daß er leise seufzte, packte sie eine wilde Freude.

»Nehmen wir einmal an, ich wäre eine Diebin«, fuhr sie fort, »eine Helfershelferin von Dieben, erfahren in allen Verbrechen, und ich hätte alles mit offenen Augen getan. Wenn ich Ihnen nun sagte, daß ich alle möglichen unrechten Dinge getan habe, nur eines nicht, und wenn ich zu Ihnen käme und Ihnen beichtete, daß ich krank und müde von alledem bin und aus dem Sumpf entfliehen möchte . . .? Wirklich, ich habe den Wunsch, ein ordentliches Leben zu führen wie alle anderen ehrlichen Leute. Wollen Sie mich zu sich nehmen, wenn ich zu Ihnen komme? Ich meine, wollen Sie mich heiraten? Ich würde Ihnen den Haushalt führen, ganz allein, ohne Dienstboten, und ich würde jede Arbeit für Sie tun . . .«

Lucia hatte mit heiserer Stimme gesprochen. Als sie innehielt, um Atem zu schöpfen, sah sie ihn mit großen, furchtsamen Augen an.

»Ja«, sagte er und nickte zweimal, »wenn Sie bereit sind, mein Leben mit mir zu teilen, das nicht so glänzend ist, wie es das Ihre bisher war. Auch ich komme übrigens mit der häßlichen Seite des Lebens in Berührung. Damit will ich nicht sagen, daß ich selbst ein Dieb bin, aber auch Sie müssen mir verschiedenes nachsehen und verzeihen können.«

Er machte den Versuch, vollkommen ruhig zu erscheinen, aber als er seine Pfeife neu füllte, zitterte seine Hand. Lucia liebte ihn dafür um so mehr.

»Wann können wir uns im einzelnen darüber aussprechen?« fragte er.

Sie war aufgestanden und atmete schwer, als ob sie eine Meile gelaufen wäre.

»Wir wollen uns hier wiedertreffen.« Sie zeigte auf den Stuhl. »Morgen mittag um eins wollen wir hierherkommen und alles besprechen.«

Er nickte. Es war ein kurzes, freundliches Abschiednehmen. Er machte nicht den Versuch, ihre Hand zu fassen und ihr seine Liebe zu beteuern, wie es andere Männer wahrscheinlich gemacht haben würden. Aber als sie ging, sah er ihr nach, bis er sie nicht mehr erkennen konnte. Und das hatte er früher nie getan.

 

In gehobener Stimmung kam Lucia in die Wohnung zurück. Mr. Thirtley hörte, daß sie im Bad sang, und grinste.

Also weiter nichts als Weiberlaunen, sagte er zu sich selbst.

Er kleidete sich stets festlich zum Abendessen an, selbst wenn er mit seiner Nichte allein speiste. Man konnte niemals wissen, ob nicht doch noch Besuch kommen würde, und es machte immer einen günstigen Eindruck.

Mr. Thirtley sah, daß Lucias Augen leuchteten, und er hörte ihre Freude aus dem Klang ihrer Stimme.

»In deinem ganzen Leben hast du noch nie so hübsch ausgesehen wie heute«, meinte er wohlwollend. »Glänzend, Lucia! Und du wirst doch heute abend sicher auch vernünftig sein?«

Er klopfte ihr väterlich auf die Schulter.

»Selbstverständlich bin ich vernünftig«, erwiderte sie etwas spöttisch und ahmte seine Stimme nach.

Im selben Augenblick klingelte es an der Wohnungstür, und gleich darauf führte das Mädchen Mr. Andrew Murdoch herein. Lucia erkannte sofort, daß er ihr gegenüber nicht mehr so liebenswürdig und zuvorkommend war; sie hatte aber den Eindruck, daß er seine Erregung bezwang.

Zunächst sprach er von dem Direktor seiner Gesellschaft in London, der sich zur Zeit in Paris aufhielt, wie sie wußten. Dann erzählte er ein wenig über sich, aber er wandte sich immer an John Thirtley und vernachlässigte Lucia fast vollständig.

Nach dem Abendessen stellte der Hausherr den Kartentisch auf und legte zwei neue Spiele Karten auf das grüne Tuch.

»Es ist zwar nicht sehr moralisch, aber ich habe das Gefühl, daß Sie Ihre Glückssträhne ausnützen wollen.«

Die Bereitwilligkeit, die Mr. Murdoch zeigte, bestätigte Mr. Thirtley in seiner Annahme.

Lucia lehnte am Eßtisch und schaute den jungen Mann fest an, aber er sah nicht zu ihr auf.

»Setz dich doch hin«, sagte Thirtley schließlich gereizt. »Du fällst mir heute abend dauernd auf die Nerven.«

Sie folgte seiner Aufforderung ohne ein weiteres Wort. Ihr Onkel war ein solcher Meister, daß es sich lohnte, ihm zuzuschauen. Kaum ein anderer Falschspieler konnte ein Spiel Karten derartig schnell nach einem vorherbestimmten Plan mischen wie er. Beim Mischen hielt er die Karten noch in der Hand, aber noch bevor er sie auf den Tisch legte, hatte er mit unvergleichlicher Geschicklichkeit ein anderes Spiel dafür untergeschoben. Selbst Lucia, die ihn seit Jahren beobachtete, hatte niemals erfahren, wie er das anstellte. Sie ahnte nicht, aus welchen Taschen oder sonstigen Verstecken er die anderen Karten herausholte.

Als zwei Stunden vergangen waren, runzelte Mr. Murdoch die Stirn. Sein Verlust war größer und größer geworden. Die Uhr schlug halb elf; die Luft in dem Zimmer war dick von Zigarrenqualm. Mr. Thirtley ging zum Fenster, um es zu öffnen. Als er zurückkam, hatte sich sein Gast an den Eßtisch gesetzt und den Kopf in beide Hände gestützt.

»Sie haben unheimliches Glück gehabt«, sagte er.

Thirtley lächelte triumphierend, aber Murdoch sah es nicht.

»Siebentausenddreihundert Pfund haben Sie verloren . . . Ich wünschte nur, ich hätte Sie nicht zum Spielen aufgefordert.«

Murdoch tat plötzlich etwas Merkwürdiges. Er steckte die Hand in die Westentasche und nahm einen Schein heraus. Als er ihn entfaltete, sah Thirtley verwundert, daß es eine Tausendpfundnote war.

»Können Sie mir herausgeben?« fragte der Gast. »Ich möchte Ihnen wenigstens fünfhundert Pfund anzahlen.«

Der Hausherr zögerte. »Ich kann ihn wechseln, wenn Sie wollen. Aber das hat doch alles bis morgen Zeit.«

Murdoch schüttelte ernst den Kopf. »Nein, ich will Ihnen eine Anzahlung machen.«

Thirtley nahm den Schein und prüfte ihn mit Kennerblick. Tausendpfundnoten waren sehr selten, aber diese war echt.

Er ging hinaus und schloß die Tür. Im nächsten Augenblick trat Lucia an die Seite des jungen Mannes, packte ihn an der Schulter und rüttelte ihn.

»Sie werden doch nicht diese Spielschuld bezahlen wollen –«

»Seien Sie ruhig!«

Sie starrte Murdoch verblüfft an, als ob sie ihren Ohren nicht trauen könnte. Seine traurige, melancholische Haltung war vollkommen verschwunden, und seine Augen glühten gefährlich, so daß sie unwillkürlich vor ihm zurückschrak.

»Sie bleiben, wo Sie sind. Und lassen Sie es sich ja nicht einfallen, zu schreien oder um Hilfe zu rufen. Sollten Sie es doch tun, so komme ich zurück, und dann ist es um Ihr schönes Gesicht geschehen. Verstanden?«

In der nächsten Sekunde hatte er das Zimmer verlassen.

Lucia saß wie versteinert am Tisch; Staunen und Furcht erfüllten sie. Sie hörte, wie die beiden miteinander sprachen. Nach einer Weile wurde die Tür heftig aufgestoßen, und Murdoch schob Thirtley unsanft herein. Dessen Gesicht war aschgrau.

Murdoch hielt in der einen Hand eine schwarze Kassette, in der anderen einen Browning.

»Sie wissen jetzt, wer ich bin: Crewe Wall! Lange genug habe ich darauf gewartet, mit Ihnen abzurechnen, mein Junge. Halten Sie den Mund, ich weiß alles! Als Sie Bo der Polizei verrieten, haben Sie gleichzeitig auch mich verpfiffen. Ich mußte nur erst herausbringen, ob Sie Ihr Geld auf der Bank oder hier im Haus aufbewahrten.« Er schüttelte die schwarze Kassette. »Das kommt davon, wenn man andere Leute verpfeift – Sie und die hübsche Dame dort können jetzt von vorn anfangen. Aber mit mir werden Sie keine Geschäfte mehr machen. Haben Sie das verstanden?«

Die Tür, die er zugeschlagen hatte, als er hereingekommen war, öffnete sich langsam wieder. Lucia sah es, dachte aber, die Zugluft hätte sie aufgestoßen. Plötzlich bemerkte sie jedoch einen Mann in der Tür.

»Kommen Sie ruhig mit. Oder muß es erst Spektakel geben?« fragte er. »Crewe, lassen Sie den Browning fallen! Ich verhafte Sie, Crewe, und auch Sie, Thirtley.«

Der Mann in der Tür war niemand anders als der Herr im dunkelblauen Anzug. Er sprach sehr ernst und eindringlich. Hinter ihm entdeckte Lucia mehrere Beamte in Zivil.

Der Herr im blauen Anzug steckte Crewes Browning in die Tasche und trat dann zur Seite. Zwei Beamte kamen herein und führten Thirtley und Murdoch ab.

Ihr Vorgesetzter blieb mit Lucia allein.

»Mein Name ist Larry Goldwin – den Ihren kenne ich. Aber es wäre vielleicht ganz gut, wenn Sie mir Ihr Geburtsdatum sowie die Namen Ihrer Eltern aufschrieben. Es tut mir aufrichtig leid, daß ich Sie damit belästigen muß.«

Zitternd folgte sie seiner Aufforderung.

»Standesbeamte wollen solche Dinge leider wissen«, sagte er zu seiner Entschuldigung. »Also – um ein Uhr unter dem Baum im Hyde Park.«

Sie nickte stumm.

»Ich hoffe, daß Sie sich allmählich an den Hund gewöhnen, und glaube sogar, daß Sie ihn mit der Zeit gern haben werden – Joe ist wirklich ein netter Kerl . . .«

 


 


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