Edgar Wallace
Die Abenteuerin
Edgar Wallace

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Der betrogene Betrüger

1

John Trevor war nicht eifersüchtig. Das sagte er sich mindestens ein dutzendmal, bevor er den Mut faßte, es Marjorie Banning zum erstenmal zu erklären.

»Eifersüchtig?« fuhr sie auf, aber dann faßte sie sich wieder. »Ich verstehe nicht, was du willst. Wieso bist du nicht eifersüchtig?«

John fühlte sich durchaus nicht behaglich. »›Eifersüchtig‹ ist nicht das richtige Wort«, erwiderte er zu seiner Entschuldigung. »Ich meinte eigentlich ›argwöhnisch‹ –«

Aber er sprach nicht weiter, denn nun hatte er es erst recht schlimm gemacht.

Die beiden saßen im Londoner Hyde Park unter den breiten Ästen einer großen Ulme. Wenn auch die große Menschenmenge nicht weit entfernt war, saßen sie hier doch verhältnismäßig allein. In der Nähe waren nur noch drei andere Liebespaare, ein Kindermädchen, ein Polizist und ein paar kleine Mädchen zu entdecken.

»Ja, was ich dir eigentlich sagen wollte . . .«, begann John wieder verzweifelt. »Ich traue dir natürlich, Liebling, und ich will mich auch nicht in deine Geheimnisse einmischen, aber . . .«

»Aber was . . .?« fragte sie eisig.

»Nun, ich habe jetzt schon dreimal gesehen, daß du in einem eleganten Auto die Straße entlangfuhrst.«

»Der Wagen gehört einem Kunden des Geschäfts, in dem ich arbeite«, erklärte sie gelassen.

»Hm. Aber wenn du auch bei einem Friseur tätig bist, so brauchst du deshalb doch nicht bis spät am Abend dort zu arbeiten«, entgegnete er hartnäckig. »Es tut mir sehr leid, daß ich dich damit belästige, aber sooft du mir erzählt hast, daß wir uns nicht treffen können, habe ich dich in diesem prächtigen Auto spazierenfahren sehen.«

Sie antwortete ihm nicht sofort.

Er machte es ihr furchtbar schwer, und sie war ihm deswegen ernstlich böse. Erstens, weil er an ihr zweifelte, zweitens, weil sie ihm keine Erklärung dafür geben konnte. Am meisten aber ärgerte sie sich darüber, daß ihr Schweigen ihm anscheinend recht gab.

»Wer hat dir denn eigentlich diese merkwürdigen Ideen in den Kopf gesetzt?« fragte sie schließlich. »Etwa Lennox Mayne?«

»Lennox!« sagte er vorwurfsvoll. »Das ist doch einfach lächerlich, Marjorie. Lennox würde sich nicht im Traum einfallen lassen, etwas gegen dich zu sagen, weder zu mir noch zu einem anderen. Lennox hat dich sehr gern – denk doch daran, daß er uns miteinander bekannt gemacht hat.«

Sie biß sich nachdenklich auf die Lippen; sie wußte sehr gut, daß Lennox sie mehr als gern hatte. Er hatte ihr nachgestellt wie so mancher anderen Angestellten, die er zufällig kennengelernt hatte.

Sie war in einem der bekanntesten Friseursalons im Westen Londons tätig, konnte aber ihren Beruf nicht ausstehen, obwohl er ihr die Möglichkeit gab, Geld zu verdienen. Ihr Vater, ein kleiner Landarzt, war vor einigen Jahren gestorben und hatte sie und ihre Mutter ohne Vermögen zurückgelassen. Deshalb mußte sie schließlich dankbar sein, daß ein Freund der Familie den Modefriseur Mr. Fennett kannte, der sie als seine Sekretärin engagierte. Sie hatte dann nach und nach auch die praktische Arbeit einer Friseuse erlernt, und der Inhaber des Geschäfts, der in seinem Fach sehr tüchtig war, hatte sie vor allem auch in die Geheimnisse des Haarfärbens eingeweiht.

»Es tut mir unendlich leid, daß du dich über mich geärgert hast«, sagte sie kurz und erhob sich. »Aber wenn man ein Ladenmädchen ist, hat man eben gewisse Pflichten!«

»Um Himmels willen, sag doch nicht, daß du ein Ladenmädchen bist!« entgegnete er aufgebracht. »Selbstverständlich glaube ich dir, aber warum machst du ein so großes Geheimnis daraus?«

»Ich werde dafür bezahlt, daß ich darüber schweige«, erwiderte sie lächelnd. »Und nun wollen wir zu ›Fragiani‹ gehen, denn ich habe einen Bärenhunger.«

Während des Abendessens sprachen sie wieder über Lennox.

»Ich weiß, daß du ihn nicht leiden magst«, sagte John. »Aber er ist ein guter Kerl und mir sehr nützlich. Ich kann es mir bei meiner Lage nicht gestatten, auf solche Freunde zu verzichten. Früher haben wir im selben Fußballklub zusammen gespielt, und auch da habe ich immer von ihm gelernt. Inzwischen hat er ein großes Vermögen zusammengebracht, während ich mich noch abquäle, die nötigen tausend Pfund zusammenzubringen, damit wir beide heiraten können . . .«

Sie drückte unter dem Tisch zärtlich seine Hand. »Du bist ein lieber Kerl, aber ich hoffe, daß du dein Geld niemals auf dieselbe Weise verdienen wirst wie Lennox.«

Er protestierte, aber sie schüttelte den Kopf. »Wir machen seltsame Erfahrungen und hören die merkwürdigsten Dinge, wenn wir die grauen Haare der Damen wieder frisch auffärben müssen. Und Lennox ist in ganz London bekannt als ein Mann, der nur von seinen Spekulationen lebt.«

»Aber sein Onkel –«

»Sein Onkel ist sehr reich und haßt ihn. Alle Leute wissen das.«

»Aber darin irrst du dich«, erklärte John triumphierend. »Sie haben sich zwar lange Zeit nicht verstanden, aber jetzt vertragen sie sich wieder und haben sich ausgesöhnt. Gestern abend habe ich mit Lennox gegessen, als du in deinem Luxusauto umherfuhrst – ich will dir ja gar keinen Vorwurf daraus machen, Liebling. Also, ich aß mit ihm zu Abend, und er sagte mir, daß der alte Herr jetzt sehr freundlich sei. Und was noch mehr ist«, fügte er mit leiser Stimme hinzu, »er wird mir einen guten Tip geben, durch den ich bald zu Geld kommen kann.«

»Das sollte Lennox tun?« fragte sie ungläubig und schüttelte den Kopf. »Ich kann mir wohl vorstellen, daß Lennox selbst durch Spekulationen ein Vermögen verdient und daß er jungen, unerfahrenen Mädchen eine goldene Zukunft vorgaukelt, aber daß er dir helfen will, glaube ich nie und nimmer.«

»Hat er einmal versucht, dir goldene Hoffnungen zu machen?« fragte er scherzend.

Sie antwortete nicht darauf.

Im Hause einer gemeinsamen Bekannten war ihr Lennox eines Tages vorgestellt worden. Später war sie ihm im Hyde Park begegnet, und er hatte ihr einen bestimmten Vorschlag gemacht, der sicher von pekuniärem Vorteil für sie gewesen wäre. Aber sie hatte ihn trotzdem abgelehnt. Einige Zeit darauf fuhren sie in einem Boot auf der Themse und trafen dabei John Trevor. Und seitdem kümmerte sie sich nicht mehr um Lennox.

Nach dem Essen gingen die beiden wieder in den Hyde Park. Als sie durch den Marble Arch gingen, kam ein nicht sehr sauber gekleideter junger Mann an ihnen vorüber, der John grüßte und ihn vertraulich angrinste.

»Das ist Willie Jeans«, erklärte John lächelnd. »Sein Vater war bei uns Stallknecht, als wir noch den Landsitz Royston hatten. Ich möchte nur wissen, was der hier in London treibt.«

»Welchen Beruf hat er denn?« fragte sie neugierig.

»Das ist schwer zu erklären. Hauptsächlich spioniert er in den Rennställen.«

»Zu welchem Zweck?«

»Er beobachtet die Rennpferde bei ihrem Morgengalopp, und er versteht sehr viel von der Sache. Nachher verkauft er seine Informationen an die Sportpresse, und ich glaube, er verdient ganz anständig dabei.«

»Es gibt doch merkwürdige Existenzen«, meinte sie und lachte.

»Worüber freust du dich denn so?« fragte er erstaunt, aber sie sagte es ihm nicht.

2

Der kleine Willie Jeans lag um sieben Uhr oben auf einer Mauer. In seinem abgetragenen grünen Jackett und der schmutzigbraunen Hose war er wie ein Chamäleon unauffällig seiner Umgebung angepaßt. Jedenfalls war er von der alten, halbverfallenen Mauer und den Bäumen in der Nähe kaum zu unterscheiden, und kaum jemand hätte ihn dort bemerkt; aber glücklicherweise kamen hier keine Spaziergänger vorüber.

Er stützte die Ellenbogen auf die Mauer; er hielt einen Feldstecher in der Hand und beobachtete mit gespannter Aufmerksamkeit.

Zwanzig Minuten lang blieb er in dieser Haltung, dann hörte der korpulente Mann am Steuer des alten Autos, das in einiger Entfernung parkte, daß Jeans von der Mauer herunterkletterte.

Er sah sich um und fragte: »Nun, bist du fertig?«

»Ja«, entgegnete Willie kurz und stieg ein.

Der Dicke seufzte, ließ den Motor an und fuhr den etwas geräuschvollen Wagen zum nahen Dorf. Erst als sie an den ersten Häusern von Baldock angekommen waren, fand Willie Jeans seine Sprache wieder.

»›Yamen‹ ist lahm.«

Der dicke Mann am Steuer geriet in Aufregung und hätte beinahe das Auto auf den Bürgersteig gefahren.

»Lahm?« wiederholte er ungläubig.

Willie nickte. »In der zweiten Hälfte des Galopps begann er zu lahmen. Der gewinnt das Derby nicht.«

Der Chauffeur atmete schwer.

Die beiden waren Brüder: Willie der jüngere, Paul der ältere. Familienähnlichkeit existierte zwischen ihnen allerdings ebensowenig wie zwischen einer Ratte und einem Kaninchen.

Der Wagen hielt vor dem Postgebäude von Baldock, und Willie stieg nachdenklich aus. Eine Weile blieb er auf dem breiten Bürgersteig stehen und strich sich mit der Hand über die Stirn. Er wußte immer noch nicht, was er tun sollte, aber endlich schien er doch einen Entschluß gefaßt zu haben, denn er kam wieder zu dem Wagen zurück.

»Wir wollen zur Garage zurückfahren und tanken.«

»Warum denn?« fragte Paul. »Ich dachte, du wolltest telegrafieren?«

»Es kommt nicht darauf an, was du denkst«, erwiderte Willie ungeduldig. »Du kannst mich überhaupt gleich nach London fahren; in der nächsten halben Stunde wird die Post hier doch noch nicht aufgemacht, also ist der Unterschied nicht so groß.«

Der ältere Bruder versuchte zu protestieren, aber Willie kümmerte sich nicht darum. Als sie kurz darauf wieder auf der Landstraße waren, ließ sich Willie herbei, Paul die Sache zu erklären.

»Wenn ich von hier aus ein Telegramm schickte, würde das sehr bald im ganzen Ort bekannt sein. Du weißt doch, wie es in diesen kleinen Nestern ist, und Mr. Mayne würde mir niemals verzeihen, wenn ich so unvorsichtig wäre.«

Willie arbeitete außer für Sportblätter auch für Lennox Mayne und wurde von ihm ausgezeichnet bezahlt. Daneben hatte er noch einige andere Klienten, von denen er aber verhältnismäßig wenig erhielt.

Der Mann hatte wirklich einen sonderbaren Beruf. Sein Hauptquartier hatte er in Newmarket aufgeschlagen. Da es aber auch sehr viel Rennställe außerhalb der großen Plätze gab, wo die Rennen stattfanden, reiste Mr. Jeans in die verschiedensten Orte, wenn Lennox Geheiminformationen über den Stand des Trainings zu erhalten wünschte.

»Es war ein außerordentlicher Glücksfall«, sagte er zu seinem Bruder, als sie weiterfuhren. »Ich glaube, es gibt keinen anderen Mann in England, der sich so nahe an die Pferde Mr. Greymans heranschleichen konnte wie ich. Für gewöhnlich hat er ein halbes Dutzend Leute, die die Straße abpatrouillieren, damit niemand in die Nähe kommt.«

Stuart Greyman besaß ein großes Landgut an der Straße nach Royston und hatte die Lage seiner Ställe so vorzüglich gewählt, daß eigentlich niemand die Pferde bei ihrer Morgenarbeit beobachten konnte. Außerdem hatte er den großen Park, in dem die Pferde trainiert wurden, mit einer hohen Mauer umgeben lassen, und seine Angestellten waren äußerst zugeknöpft.

Von anderen Ställen konnte man ab und zu wertvolle Mitteilungen bekommen, wenn man mit einem der Angestellten auf gutem Fuß stand, aber Greyman bezahlte entweder seine Leute so gut, daß sie nicht aus der Schule plauderten, oder er wählte sie mit ungewöhnlicher Sorgfalt aus. Infolgedessen war er vielen etwas unheimlich. Seine Pferde gewannen unerwarteterweise, und er hütete seine Stallgeheimnisse so gut, daß niemand etwas wußte, bevor das Rennen zu Ende war. Wenn Pferde seines Stalles gewannen, waren es fast immer Überraschungssiege. Er konnte daher auch günstige Wetten für seine Pferde abschließen. Jeder Versuch, seine Tiere zu beobachten, war bisher fehlgeschlagen. Willie Jeans' Genugtuung war deshalb nicht unberechtigt; sein Erfolg grenzte fast ans Wunderbare.

Das staubbedeckte Auto hielt auf einem schönen Platz im Westen Londons an. Willie stieg aus und klingelte an der Tür eines vornehmen Hauses. Der Butler war empört, als er das wenig vorteilhafte Äußere des Besuchers sah, und es dauerte einige Zeit, bis er Willie Jeans anmeldete.

Lennox Mayne saß beim Frühstück und war durchaus nicht empört, als er Jeans sah.

»Nehmen Sie Platz«, sagte er kurz, als der Butler das Zimmer verlassen hatte. »Nun, was gibt es?«

Willie erzählte, was er beobachtet hatte, und Lennox Mayne hörte nachdenklich zu.

 

»Dieser verteufelte alte Kerl«, sagte er leise, aber nicht ohne Bewunderung. »Man sollte es doch kaum für möglich halten, daß er sich so verstellen kann.«

Willie Jeans war über diese Äußerung etwas überrascht.

Lennox saß einen Augenblick tief in Gedanken versunken, dann sagte er plötzlich: »Sie sind sich natürlich darüber im klaren, Jeans, daß dies ein Geheimnis ist. Es darf nicht herauskommen, daß ›Yamen‹ nichts taugt. Sie werden erstaunt sein, wenn Sie hören, daß mich mein Onkel vor zehn Minuten aus Baldock anrief und erklärte, daß ›Yamens‹ Morgengalopp außerordentlich befriedigend verlaufen sei. Das Pferd werde bestimmt das Rennen machen.«

»Was?« fuhr Willie empört auf. »Es lahmt doch ganz entsetzlich!«

»Daran zweifle ich nicht. Aber Mr. Greyman hat wohl einen guten Grund, allen Leuten zu erzählen, ›Yamen‹ sei in bester Form. Welche Pferde haben denn sonst noch an dem Morgenritt teilgenommen?«

»Ich kenne sie nicht besonders gut, aber der Hengst, der an der Spitze lag, war prima. Gegen den kann keins der anderen Tiere aufkommen. Ich konnte den Galopp nicht mit der Stoppuhr kontrollieren, aber ich weiß, daß es eine vorzügliche Leistung war.«

»Sind Sie auch ganz sicher, daß es ›Yamen‹ war, der lahm wurde?«

»Natürlich. Ich habe ihn doch im letzten Jahr in Ascot und Newmarket gesehen. Man kann das Pferd ja schon wegen seiner weißen Fesseln mit keinem anderen verwechseln.«

Lennox dachte nach. »Und welches Pferd lag an der Spitze?«

»Es war vollkommen braun und hatte kein einziges weißes Fleckchen am ganzen Körper.«

»Hm, das muß ›Fairyland‹ sein. Das muß ich mir merken. Ich danke Ihnen jedenfalls, daß Sie mir die Nachricht gebracht haben.« Er entließ seinen Besucher mit einem Nicken. »Und denken Sie daran –«

»Ich bin stumm wie eine Auster und still wie das Grab«, erwiderte Willie, während er die beiden Banknoten einsteckte, die ihm Lennox über den Tisch zuschob.

Als Mr. Mayne allein war, dachte er nach. Er machte seinem Onkel nicht den geringsten Vorwurf. Als Spieler hatte er bisher die besten Erfolge gehabt; er spekulierte auch an der Börse und wettete auf Pferde. Aber er hatte sich getäuscht, als er seinen Onkel Stuart Greyman, den Bruder seiner Mutter, für unintelligent hielt. Er hatte Geheiminformationen, die dieser ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit mitgeteilt hatte, weitergegeben, und sein Onkel hatte davon erfahren. Dadurch war es zu einer Entfremdung zwischen den beiden gekommen, die fünf Jahre dauerte. Erst kürzlich, als der alte Greyman ihn zufällig getroffen und ins ›Carlton‹ zum Mittagessen eingeladen hatte, war eine Versöhnung zustande gekommen. Der Alte hatte ihm dabei ziemlich barsch erklärt, daß er ihm verziehen habe.

»Dieser verfluchte alte Kerl«, sagte Lennox bewundernd. »Beinahe hätte er mich doch hereingelegt.«

Greyman hatte ihm im Vertrauen geraten, beim Derby auf ›Yamen‹ zu setzen. Lennox Mayne traute niemandem, am wenigsten seinem Onkel, den er noch immer für seinen heimlichen Feind hielt. Deswegen hatte er auch Willie Jeans nach Baldock geschickt, um die Angaben Mr. Greymans zu kontrollieren. ›Yamen‹ war vorher erst zweimal auf der Rennbahn erschienen, und man hatte in der Sportpresse nichts über ihn erfahren. Daher war es schließlich nicht von der Hand zu weisen, was ihm der alte Greyman alles über den dreijährigen Hengst erzählt hatte.

Dieser schlaue alte Fuchs wollte ihn also hereinlegen. Glücklicherweise hatte Lennox bisher noch keine einzige Wette auf ›Yamen‹ abgeschlossen.

Eine ebenso große Enttäuschung wie ›Yamen‹ war Marjorie Banning für ihn. Lennox gestand sich sogar ein, daß sie der größte Fehlschlag gewesen war, den er jemals erlebt hatte. Und doch war es ihm zu Anfang so leicht erschienen, sie zu gewinnen.

Es war ein merkwürdiger Zufall, daß das Telefon klingelte, als er an sie dachte, und daß John Trevor ihn anrief.

Als Lennox den Namen hörte, verzog er das Gesicht, aber er ließ sich nichts von seinem Ärger anmerken.

»Hallo, John, alter Junge, komm ruhig her! Hast du denn heute nichts zu tun? – Na gut!«

Er legte den Hörer auf und ließ sich wieder am Tisch nieder. Er kniff die Augen zusammen. John Trevor hatte ihm Marjorie Banning weggenommen. Das hatte er seinem Freund niemals verziehen, und er hatte schon oft darüber nachgedacht, wie er sich an ihm rächen könne.

John hatte eine einigermaßen gute Anstellung in der City, und zwar bei der Vertretung einer Gummiplantagengesellschaft. Da zu dieser Zeit die Geschäfte aber nicht gut gingen, hatte er verhältnismäßig wenig zu tun und viel freie Zeit. Lennox empfing ihn freundlich und bot ihm sofort zu rauchen und zu trinken an.

»Nun, wie kommt es, daß du schon so früh Zeit hast? Willst du nicht zum Essen bleiben?«

John schüttelte den Kopf. »Ich bin etwas besorgt um Marjorie.«

Lennox zog die Augenbrauen hoch. »Was hat sie denn gemacht? Will sie ihr Haar rot färben lassen? Oder hat sie sich sonst etwas in den Kopf gesetzt?«

John lächelte. »Nein, so etwas ist es nicht. Ich weiß, daß du etwas für sie übrig hast, Lennox. Du bist ein Mann von Welt, und ich gebe viel auf deinen Rat. In letzter Zeit weiß ich nicht mehr recht, was ich von ihr halten soll.«

Lange Zeit schwieg er, und Lennox beobachtete ihn neugierig.

»Entweder hat sie einen geheimnisvollen neuen Freund oder eine geheimnisvolle neue Beschäftigung«, erklärte John schließlich. »Viermal schon habe ich sie in einem eleganten Wagen durch die Straßen fahren sehen.«

»War sie allein?«

John nickte.

»Vielleicht ist sie zu einer Kundin geholt worden?«

»Aber eine solche Kundin würde eine Friseuse nicht von drei Uhr nachmittags bis elf Uhr abends beschäftigen«, entgegnete John hitzig. »Um diese Zeit kam sie nämlich zurück. Ich weiß, daß es nicht recht war, ihr nachzuspionieren, aber ich habe es getan, um endlich hinter ihr Geheimnis zu kommen. In letzter Zeit hatte sie außerdem unheimlich viel Geld. Ich habe auch mit ihrer Wirtin gesprochen. Ich besuchte sie unter dem Vorwand, Marjorie abholen zu wollen, und brachte sie schließlich so weit, daß sie mir verschiedenes erzählte. Dabei erwähnte sie auch, daß sie neulich einen Scheck über hundert Pfund für Marjorie bei der Bank eingelöst hat.«

»Hm«, erwiderte Lennox nachdenklich. Er war ebenso erstaunt wie sein Freund und dachte einige Zeit nach. »Es gibt sicher irgendeine ganz einfache Erklärung für diese Tatsachen. Deshalb würde ich mir keine grauen Haare wachsen lassen. Marjorie ist nicht leichtsinnig, das traue ich ihr unter keinen Umständen zu. Wann wirst du übrigens heiraten?«

John zuckte die Schultern. »Das weiß der Himmel. Du kannst leicht über solche Dinge reden, denn du bist reich, aber ich muß mindestens noch zwölf Monate sparen, bis ich daran denken kann.«

»Hast du dir schon einen Plan gemacht, wieviel du sparen willst?« fragte Lennox lächelnd.

»Tausend Pfund. Und sechshundert habe ich erst zusammen.«

»Nun, dann will ich dir Gelegenheit geben, nicht allein tausend, sondern zehntausend zu verdienen.«

»Wie soll ich das verstehen?«

»Es handelt sich um das Rennpferd ›Yamen‹, das meinem Onkel gehört. Ich sagte dir doch neulich, daß ich gut verdiente. Jetzt ist die große Gelegenheit für dich gekommen.« Er erhob sich, ging zum Tisch, nahm die Morgenzeitung auf und blätterte darin.

»Hier kannst du lesen, wie die Wetten stehen. ›Yamen‹ – sechs zu hundert. ›Yamen‹ gewinnt aber das Derby bestimmt, und dann kannst du dein kleines Mädchen heiraten. Ich kann heute noch Wetten für dich abschließen. – Sechshundert zu zehntausend. Morgen sind die Chancen sicher nicht mehr so günstig.«

»Aber wo denkst du hin! Ich bin doch nicht so reich, daß ich sechshundert Pfund aufs Spiel setzen könnte«, erwiderte John atemlos.

Lennox lachte. »Wenn du wüßtest, wie gering das Risiko ist, würdest du nicht soviel Aufhebens davon machen. Ich sage dir, hier kannst du das Geld direkt auf der Straße finden.«

»Nehmen wir einmal an, ich setzte sechzig Pfund auf das Pferd!«

»Sechzig Pfund!« wiederholte Lennox verächtlich. »Aber mein lieber Junge, welchen Zweck hätte denn das? Hier hast du nun einmal eine große Chance, und wenn du nicht ganz blödsinnig bist, nützt du sie. Morgen gibt es wahrscheinlich nur sechsfachen Gewinn. Wenn du jetzt zupackst, kannst du in ein paar Tagen ein Vermögen machen.«

Lennox verbreitete sich eine halbe Stunde lang über Pferde, besonders über ›Yamens‹ schnellen Morgengalopp, und John hörte fasziniert zu.

»Ich werde jetzt einen Buchmacher anrufen und eine Wette für dich abschließen«, erklärte Lennox dann.

»Nein, warte noch«, entgegnete John heiser, als sein Freund nach dem Hörer langte. »Es ist doch ein ziemliches Risiko.«

»Aber der Gewinn ist auch entsprechend.«

Hätte Lennox mehr Zeit zur Verfügung gehabt, so hätte er die Wette selbst mit seinem Freund abgeschlossen, um ihm die sechshundert Pfund persönlich abzunehmen. Aber er kannte John Trevor. Den Mann mußte man überrumpeln. Es war nicht richtig, ihm Zeit zum Nachdenken zu lassen. Inzwischen konnte außerdem herauskommen, daß ›Yamen‹ lahmte. Ein verärgerter Stallknecht konnte es ausplaudern; vielleicht hatte es auch jemand durch Zufall gesehen, oder ein Tierarzt erzählte es weiter. Auf tausend Wegen konnte ein Stallgeheimnis an die Öffentlichkeit gelangen. Lennox mußte also drängen. Sein Hauptziel konnte er ja auch so erreichen, denn wenn sein Freund die sechshundert Pfund verlor, mußte die Hochzeit aufgeschoben werden und die Zeit konnte manches ändern.

»Gut, ich will die Wette riskieren«, sagte John schließlich und hörte wie im Traum, daß Lennox mit einem Buchmacher telefonierte.

». . . bitte notieren Sie die Adresse: ›Mr. John Trevor, Castlemaine Gardens.‹ – Ja, ich übernehme die Garantie. – Danke.«

Lennox legte den Hörer auf und betrachtete John mit einem sonderbaren Lächeln.

»Ich gratuliere dir«, sagte er dann freundlich.

 

John fuhr kurz darauf wieder in die City zurück, aber seine Gedanken wirbelten durcheinander. Selbst die heimlichen Autofahrten seiner Verlobten waren in diesem Augenblick nicht mehr wichtig für ihn, als er sich klar darüber wurde, daß er alle Ersparnisse riskiert hatte.

Marjorie Banning hörte am nächsten Abend im Hyde Park die Nachricht und sank auf eine Bank. Es war ein Glück, daß sie gerade davor stand, denn sonst hätte sie sich auf den Boden gesetzt.

»Was, du hast all dein Geld auf ein Pferd gesetzt?« fragte sie entsetzt. »Aber John, wie konntest du nur so leichtsinnig sein!«

»Liebling, das Geld ist so gut wie gewonnen«, erklärte er zuversichtlich. »Was Lennox sagt, stimmt. Gestern standen die Wetten für ›Yamen‹ sechzehn zu eins, und heute stehen sie acht zu eins.«

»Aber John!« war alles, was sie erwidern konnte.

Er mußte sich selbst Mut zusprechen, denn die Unterredung mit Marjorie führte ihm seine Torheit erst richtig vor Augen. Er machte sich jetzt die bittersten Vorwürfe, daß er sich von seinem Freund zu dieser Wette hatte verleiten lassen.

»Die Sache ist in bester Ordnung, Marjorie«, sagte er und gab sich den Anschein, daß er fest an den Erfolg glaubte. »Das Pferd gehört doch Lennox Maynes Onkel, und der hat Lennox mitgeteilt, daß es bestimmt gewinnen wird. Denk doch einmal – wenn wir zehntausend Pfund gewonnen haben, Marjorie . . .«

Sie hörte zu, ließ sich aber nicht überzeugen. Nur zu gut wußte sie, mit wieviel Mühe dieses kleine Kapital zusammengespart worden war. Viel besser als er erkannte sie, was der Verlust des Geldes bedeuten würde, und verzweifelt saß sie neben ihm.

 

Auch Lennox Mayne war zur selben Zeit in trüber Stimmung. Vor seinem Haus stand der alte Wagen, in dem Willie Jeans auf ein Telegramm von Lennox hin gekommen war.

Nun stand Willie vor Lennox und ließ geduldig dessen Wut über sich ergehen.

»Sie sind dümmer, als die Polizei erlaubt! Es war wirklich der größte Unsinn, daß ich mich an Sie gewandt habe«, wetterte Lennox. »Welchen Zweck hat es denn, ein Rennpferd beim Morgengalopp zu beobachten und sich dabei erwischen zu lassen? Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollten mit niemand darüber sprechen, daß Sie irgendwie mit mir in Verbindung stehen. Und trotzdem haben Sie das Maul aufgerissen und allen Leuten davon erzählt.«

»Das ist nicht wahr«, erwiderte der andere beleidigt. »Darüber spreche ich niemals. Ich würde ja überhaupt kein Geld verdienen, wenn ich –«

»Sie haben Ihren ungewaschenen Schnabel nicht halten können! Sehen Sie einmal hierher.« Lennox nahm einen Brief aus der Tasche. »Dieses Schreiben ist von meinem Onkel gekommen. Sie verdammter Dummkopf, hören Sie zu, was der geschrieben hat:

›Allem Anschein nach bist Du mit dem, was ich Dir gesagt habe, nicht zufrieden, sondern hast einen Kerl engagiert, der meine Pferde beim Training beobachten soll. Du kannst Mr. Willie Jeans getrost von mir bestellen, daß er eine ordentliche Tracht Prügel bekommt, wenn ich ihn noch einmal in der Nähe meines Landsitzes antreffe . . .‹«

Den folgenden Absatz, in dem Stuart Greyman seinem Neffen die Meinung sagte, las Lennox Willie Jeans nicht vor.

»Ich habe aber doch nicht wissen können, daß ich beobachtet wurde. Es war auch bestimmt niemand in der Nähe, als ich auf die Mauer kletterte«, brummte Jeans. »Ich habe meine fünfzig Pfund sauer genug verdient.«

»Von mir bekommen Sie niemals fünfzig Pfund«, fuhr Lennox auf. »Ich habe Ihnen alles gezahlt, was Sie verdient haben, und ich gebe Ihnen nur den einen Rat, sich nie wieder bei mir sehen zu lassen.«

Als Mr. Willie Jeans wieder zu seinem Bruder ins Auto stieg, war er in keiner freundlichen Stimmung.

»Wo geht die Fahrt jetzt hin?«

Willie sagte etwas von ›Hyde Park‹. Paul kannte die Launen seines Bruders und sagte weiter kein Wort. Eigentlich hatten sie nach Epsom fahren wollen. Das alte, klapprige Fahrzeug nahm sich sonderbar aus in der Prozession der eleganten Rolls-Royce-Wagen, die durch den Park fuhren. Der Zufall wollte es, daß sie gerade an der Stelle eine Panne hatten, wo Marjorie Banning und John Trevor am Wege saßen.

»Was ist denn das für ein merkwürdiges Auto?« fragte Marjorie. »Ist das nicht derselbe Mann, den wir vor ein paar Tagen hier getroffen haben?«

»Ja«, erwiderte John düster. Dann kam ihm plötzlich eine Idee. »Ich möchte nur wissen, ob er über ›Yamen‹ unterrichtet ist.«

Er erhob sich und ging zu dem Mann hinüber.

Willie Jeans tippte mit dem Finger an die Hutkrempe. »Guten Abend, Mr. Trevor.«

»Nun, wo wollen Sie denn hin?« fragte John.

»Ich bin gerade im Begriff, nach Epsom zu fahren und dort das Training für das Derby zu beobachten. Es sind schon fast alle Pferde dort versammelt, die am Rennen teilnehmen. – ›Yamen‹ ist allerdings nicht darunter«, fügte er grinsend hinzu.

»Warum nicht?« John hatte ein unangenehmes Gefühl, denn er erkannte instinktiv die Abneigung des anderen gegen das Pferd, von dessen Sieg soviel für ihn abhing.

»Der wird niemals mehr bei einem Rennen starten«, fuhr Jeans wütend fort.

»Wieso? Wie meinen Sie das?« fragte John langsam.

»Der Gaul ist lahm – lahm wie eine alte Nebelkrähe. Hoffentlich haben Sie nicht auf ihn gesetzt?«

John nickte. »Doch. Kommen Sie doch bitte einmal mit. – Das ist allerdings eine sehr unangenehme Nachricht, Marjorie. Mr. Jeans sagte, daß ›Yamen‹ lahmt.«

»Ja, das stimmt auch.« Willie nickte. »Dieser Gaul von Mr. Greyman ist kein Pfund mehr wert. Sie besinnen sich doch noch auf ihn? Es sah immer so aus, als ob er im Finish nicht geschlagen werden könnte, aber auf den letzten hundert Metern fiel er ab und blieb zurück.«

»Ich verstehe nicht viel von Pferden«, erklärte John. »Aber erzählen Sie mir doch mehr von ›Yamen‹. Seit wann ist er denn lahm?«

»Seit drei Tagen. Eine Woche lang habe ich ihn beim Morgengalopp beobachtet; vor dem Finish fällt er jedesmal zurück.«

»Aber weiß Mr. Greyman denn das nicht?«

»Selbstverständlich weiß der das. Er hat Lennox Mayne zwar das Gegenteil gesagt und erklärt, ›Yamen‹ würde unter allen Umständen gewinnen, aber ich habe Mayne gesagt, wie sich die Sache wirklich verhält. Gedankt hat er mir allerdings nicht dafür, er hat nur geschimpft.«

»Wann haben Sie es ihm denn gesagt?« fragte John, der bleich geworden war.

»Vorgestern bin ich direkt zu ihm gefahren.«

Lennox Mayne mußte also von der Katastrophe gewußt haben, als er die Wette vorschlug! John war so bestürzt, daß er kaum sprechen konnte.

»Das kann doch nicht stimmen«, sagte er dann. »Lennox würde niemals –«

»Ach, da kennen Sie den nicht. Der verkauft seine eigene Tante«, erwiderte Jeans verächtlich und spuckte auf den Boden.

»Hat Lennox Mayne dich dazu überredet, das Geld auf das Pferd zu setzen?« fragte Marjorie.

John nickte.

»Und es stimmt wirklich, daß ›Yamen‹ lahm ist?«

»Darauf kann ich einen Eid schwören. Ich kenne das Pferd so gut wie meine eigene Hand«, entgegnete Jeans mit Nachdruck. »Es ist das einzige Pferd mit vier weißen Fesseln in dem Stall in Baldock –«

»Baldock!« rief Marjorie und sprang auf. »Habe ich recht gehört? Es ist ein Pferd aus dem Stall in Baldock?«

»Ja.«

»Wem gehört denn der Rennstall?« fragte sie schnell.

»Mr. Greyman.«

»Was ist denn das für ein Mann? Beschreiben Sie ihn mir doch.«

»Er ist ungefähr sechzig Jahre alt, hat graues Haar und ist furchtbar zäh. Ich sage ihnen, das ist ein verschlagener Teufel. Der steckt Lennox Mayne hundertmal in die Tasche.«

Sie schwieg lange, nachdem Willie Jeans gegangen war.

»John, würdest du mich zum Derby nach Epsom mitnehmen?« fragte sie dann unvermittelt.

»Um Himmels willen, ich habe es bisher für unmöglich gehalten, daß du dich für ein Rennen interessieren könntest! Aber es hat ja alles keinen Zweck. Es wird nur eine furchtbare Katastrophe.«

»Willst du mich nicht zum Rennen mitnehmen? Du kannst doch ein Auto für den Tag mieten, dann können wir vom Dach des Wagens aus das Rennen beobachten.«

Er nickte erstaunt. Früher hatte sie nie das geringste Interesse für Pferderennen gezeigt.

3

Es mußte etwas über die schlechte Form ›Yamens‹ in die Öffentlichkeit gedrungen sein, denn am Morgen des Rennens standen die Wetten für ihn auf eins zu fünfundzwanzig, und in den Morgenzeitungen konnte man sogar einige Bemerkungen über das Pferd lesen. Die ›Sport-Post‹ schrieb zum Beispiel:

Wie wir hören, steht es nicht gerade sehr gut um ›Yamen‹, den Mr. Greyman für das Derby in Epsom gemeldet hat. Es ist vielleicht nicht richtig, wenn man das Pferd als unbekannt bezeichnet, denn es hat schon zweimal an Rennen teilgenommen. Aber niemand hatte eine Ahnung, daß es an dem Rennen in Epsom teilnehmen sollte, bis plötzlich sein Name in den Wettlisten erschien. Wir hofften schon um Mr. Stuart Greymans willen, der ein Sportsmann ist, daß die Gerüchte über ›Yamen‹ nicht zutreffen.

Marjorie hatte noch nie ein Rennen besucht; Epsom war daher ein großes Erlebnis für sie. Diese sportliche Veranstaltung wirkte auf sie wie ein großes Volksfest. Aber die wimmelnden Massen, die sich hier versammelt hatten, flößten ihr zugleich Angst ein. Als sie oben auf dem Dach des Autos stand, versuchte sie, die Zahl der Menschen zu schätzen. In dichten Haufen drängten sie sich auf den Tribünen, auf den Sattelplätzen und an den Barrieren, und nach jedem Rennen war eine große Bewegung zu beobachten.

Das Durcheinander von Menschen und Farben, die verschiedenen Buden und die bunten Plakate nahmen Marjories Interesse zunächst mehr in Anspruch als die Rennpferde selbst.

»Es gehen allerhand Gerüchte um«, sagte John, der von einem kurzen Erkundungsgang zurückkam. »Ich habe gehört, daß ›Yamen‹ überhaupt nicht am Rennen teilnehmen soll. In den Zeitungen standen ja auch schon verschiedene Notizen, die einen darauf vorbereiteten. Ich fürchte nur, Liebling, daß ich einen großen Fehler machte, als ich auf das Pferd setzte.«

Marjorie beugte sich zu ihm herab, und zu seinem größten Erstaunen drückte sie ihm ein Papier in die Hand.

»Was hast du denn da – eine Banknote? Du willst doch nicht am Ende auch noch wetten?«

Sie nickte. »Ich möchte, daß du für mich wettest.«

»Auf welches Pferd denn?«

»Auf ›Yamen‹.«

»›Yamen‹?« wiederholte er; er traute seinen Ohren nicht. Dann sah er auf die Banknote – es war ein Hundertpfundschein. Sprach- und hilflos schaute er Marjorie an. »Aber das mußt du nicht tun – das darfst du nicht!«

»Bitte – tu, was ich dir gesagt habe«, drängte sie.

Er bahnte sich einen Weg durch die Menge. Nachdem das Rennen, das augenblicklich gelaufen wurde, vorüber war, trat er zu einem Buchmacher, dessen Name ihm bekannt war. Die Nummern der Pferde wurden gerade hochgezogen, als er zu Marjorie zurückkehrte.

»Beinahe hätte ich es im letzten Augenblick doch noch unterlassen, für dich zu wetten.«

»Ich wäre aber sehr böse auf dich gewesen, wenn du meinen Wunsch nicht erfüllt hättest!«

»Aber ich verstehe gar nicht, wieso du –«, begann er; dann brach er plötzlich ab, als die letzten Nummern hochgezogen wurden. »›Yamen‹ startet also doch!«

Niemand wußte besser als Marjorie, daß ›Yamen‹ an dem Rennen unter allen Umständen teilnehmen würde. Sie betrachtete die hellblaue Jacke des Jockeis bei der Parade der Pferde, dann sah sie auf die weißen Fesseln des rassigen Tieres. Ihre Arme schmerzten, weil sie dauernd das Glas hielt. Sie nahm es nicht von den Augen, bis die Tausende von Menschen durcheinanderschrien, daß das Feld gestartet sei.

Das Pferd mit dem blauen Jockei war das dritte, als das Feld den Hügel hinaufjagte, und das vierte bei der großen Kurve an der Eisenbahnlinie. Als die Pferde in die Gerade einbogen, holte ›Yamen‹ auf. Dann hörte Marjorie den lauten Ruf eines Buchmachers ganz in der Nähe: »›Yamen‹ macht das Rennen todsicher!«

Und ›Yamen‹ setzte sich tatsächlich an die Spitze des Feldes und gewann das Rennen in glänzender Form mit drei Längen.

»Ich weiß nicht, wie ich meine Geschichte beginnen soll«, sagte Marjorie, als sie mit John beim Abendessen saß, zu dem sie ihn eingeladen hatte. »Die Sache fing vor einem Monat an. Damals kam ein älterer Herr in unseren Laden und hatte eine längere Unterhaltung mit Mr. Fennett, unserem Chef. Nach etwa zehn Minuten wurde ich in das Privatauto gerufen, und Mr. Fennett erklärte mir, daß der Herr einen Spezialauftrag habe und jemanden brauche, der besonders gut Haare färben könne. Zuerst dachte ich, es handle sich um den Kunden selbst, und es tat mir schon leid, daß dieser gutaussehende ältere Herr sein schönes silbergraues Haar färben lassen wollte. Ich erfuhr nicht, was ich eigentlich machen sollte, bis ich in der nächsten Woche mit einem Auto nach Baldock geholt wurde. Da erst klärte er mich auf. Er fragte mich, ob ich die nötigen Mittel bei mir habe, um Haare zu bleichen und braun zu färben. Als ich bejahte, weihte er mich in das Geheimnis ein. Er sagte, er habe ein Pferd mit weißen Fesseln, das ihm durchaus nicht gefalle, und gab mir den Auftrag, die Fesseln des Tieres so braun zu färben wie das übrige Fell. Zuerst lachte ich und glaubte, er mache einen Scherz, aber das war nicht der Fall. Ich wurde tatsächlich in den Stall dieses fabelhaften Pferdes geführt. – Noch nie habe ich einen so fügsamen Kunden gehabt, der mir so wenig Schwierigkeiten machte!« fügte sie lächelnd hinzu.

»Und du hast wirklich die Beine braun gefärbt?«

Sie nickte.

»Damit war meine Aufgabe aber noch nicht erledigt. Bei einem anderen Pferd mußte ich nämlich die Haare an den Fesseln bleichen. Inzwischen habe ich erfahren, daß dieses Tier ›Junket‹ heißt. Alle paar Tage mußte ich nun nach Baldock kommen und das Färben und Bleichen wiederholen. Mr. Greyman hatte es meinem Chef zur Bedingung gemacht, daß meine Tätigkeit geheimgehalten werden sollte. Und ich habe auch mit niemandem darüber gesprochen; nicht einmal dir habe ich davon erzählt.

Als du mich damals in dem eleganten Auto sahst, war ich auf dem Weg nach Baldock, um die beiden Pferde zu behandeln«, erklärte sie lachend. »Ich verstehe nichts von Rennpferden und hatte nicht die geringste Ahnung, daß das Pferd, das ich färbte, ›Yamen‹ heißt. Das wurde mir erst in dem Augenblick klar, in dem Willie Jeans den Namen ›Baldock‹ erwähnte.

Am nächsten Morgen wurde ich von Mr. Greyman geholt, um die braune Farbe von ›Yamens‹ Beinen wieder zu entfernen. Er sagte mir, er habe seine Meinung geändert. Das Pferd solle beim Rennen doch wieder weiße Fesseln haben. Darauf faßte ich Mut und vertraute ihm an, daß du soviel Geld auf ›Yamen‹ gesetzt hättest. Er war so liebenswürdig, mir die Wahrheit zu sagen – freilich unter der Bedingung, daß ich auch weiterhin schweigen würde. Er hatte sich nämlich mit Lennox ausgesöhnt und ihn tatsächlich über ›Yamen‹ richtig unterrichtet. Als er dann aber entdeckte, daß Lennox ihm nicht glaubte und die Pferde bei ihrem Morgentraining beobachten ließ, wurde er so ärgerlich, daß er sich entschloß, den Spion seines Neffen hinters Licht zu führen. Aus diesem Grund ließ er dann die Beine des Pferdes färben, und Mr. Jeans verwechselte natürlich ›Junket‹ mit ›Yamen‹. Dann erzählte mir Mr. Greyman noch, daß er große Summen auf seinen Favoriten gesetzt habe und daß er hoffe, dadurch ein Vermögen zu verdienen.«

»Dann hast also – außer Greyman – du allein von all den vielen Leuten in Epsom gewußt, daß ›Yamen‹ gewinnen würde?«

»Hätte ich sonst hundert Pfund auf ihn gesetzt? Du wirst doch nicht glauben, daß ich so leichtsinnig gewesen wäre . . .«



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