Edgar Wallace
Die Abenteuerin
Edgar Wallace

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Privatsekretärin

Als sich Barbara Long in dem Haus Nr. 704 in der Avenue Road meldete, das am Rand des Regent's Park lag, hatte sie keine andere Absicht, als der Tretmühle der Büroarbeit bei den großen Firmen zu entgehen. Sie wollte sich um die Stelle einer Sekretärin bewerben und dadurch genügend freie Zeit gewinnen, um ihren künstlerischen Neigungen folgen zu können. Mit einem bescheidenen Gehalt hoffte sie das kleine Einkommen aus der Hinterlassenschaft ihres Vaters zu erhöhen.

Es war ein repräsentatives, jedoch nicht allzu großes Gebäude mit einer schönen Fassade; auch eine kleine Garage gehörte dazu. Später erfuhr sie, daß darin nur das Motorrad des Butlers stand. Die tadellos geputzten Fenster glänzten in der Sonne, und der Vorgarten war gut gepflegt. Große Beete schwefelgelber Chrysanthemen hoben sich prachtvoll von dem grauen Mauerwerk ab. Dies alles machte auf Barbara gleich zu Anfang einen sympathischen Eindruck.

Sie hatte sich vorher in Nachschlagewerken vergewissert, wer Mr. Harbord Brownwill eigentlich war. Dabei hatte sie feststellen können, daß er noch immer den Beruf eines Rechtsanwaltes ausübte, obwohl er bereits das Alter von fünfundsiebzig Jahren erreicht hatte. Aus weiteren Angaben ging hervor, daß er keinen Klubs angehörte und daß er sich auch sonst sehr wenig in der Öffentlichkeit zeigte. In dem kurzen Artikel, den sie in einem Handbuch über Juristen fand, war natürlich nicht erwähnt, daß er ein großes Vermögen besaß; auch von einem Erben war darin nicht die Rede.

Sie drückte auf die Klingel und stand gleich darauf dem Butler gegenüber. Mr. Jennings, ein Mann in mittleren Jahren, trug eine tadellose Livree; er hatte einen etwas melancholischen Gesichtsausdruck. Im übrigen sah er sehr achtbar und würdevoll aus. Später lernte sie auch seine hagere und zänkische Frau kennen, die zu gleicher Zeit Haushälterin und Krankenpflegerin Mr. Brownwills war.

»Sie wollen sich um die Stellung bewerben?« Der Butler sah Barbara prüfend von der Seite an, dann kratzte er sich das Kinn und schaute nachdenklich an ihr vorbei auf die gutgehaltenen Buchsbaumhecken, die parallel zur Gartenmauer liefen. »Wollen Sie bitte näher treten?«

Er führte sie in das Arbeitszimmer, das mit einem gewissen Luxus ausgestattet war, und erkundigte sich dann nach ihrem Namen. Seine Züge hellten sich auf, als sie seine Fragen beantwortete.

»Ja – Barbara Long, das war der Name.« Er nickte. »Mr. Brownwill hat mich bereits instruiert. ›Engagieren Sie die junge Dame, wenn sie nett aussieht‹, sagte er. Aber warten Sie bitte, ich will ihn erst noch einmal fragen.«

Daraus schloß sie, daß Mr. Brownwill infolge seines hohen Alters zurückgezogen lebte und sich nicht zeigen wollte. Sie wartete. Nach einiger Zeit wurden die gedämpften Schritte des Butlers auf der mit dicken Läufern belegten Treppe wieder hörbar. Seine Unterhaltung mit Mr. Brownwill hatte ziemlich lange gedauert. Sicher hatte sich der Rechtsanwalt von Jennings genauen Bericht über sie erstatten lassen.

»Neun Pfund wöchentliches Gehalt«, erklärte der Butler, als er zur Tür hereintrat. »Außerdem haben Sie eine sehr angenehme Arbeitszeit: von zehn Uhr vormittags bis drei Uhr nachmittags.«

So erhielt Barbara Long die Stelle einer Sekretärin, und es begann ihre Bekanntschaft mit dem Haus, das von dem Butler Jennings verwaltet wurde.

Sie erfuhr sehr bald, daß er eine große Vorliebe für das Theater hatte und viel von der Bühne und von Schauspielern sprach.

Mr. Jennings hatte eine Dreizimmerwohnung im Obergeschoß des Hauses, öfter lud er Barbara ein, seine Sammlung von Fotografien berühmter Künstler zu betrachten. Und es war rührend, daß seine Frau seine merkwürdige Leidenschaft für das Theater teilte. Beide besuchten häufig Schauspiel und Oper und kannten den Spielplan der Londoner Bühnen sehr genau.

»Es gibt nichts Schöneres und Höheres als die Beschäftigung mit der Kunst, besonders mit der klassischen Schauspielkunst«, meinte Mr. Jennings begeistert. »Es ist doch etwas deprimierend, wenn man mit einem kranken alten Mann im selben Haus leben muß. Da ist das Theater ein schönes Gegengewicht. Es sorgt dafür, daß man nicht vollkommen abstumpft und schließlich selber melancholisch wird.«

Der Umgang mit Mr. Brownwill schien tatsächlich nicht einfach und leicht zu sein. Barbara hatte niemals Gelegenheit, in das Krankenzimmer zu gehen, und sie war eigentlich auch froh darüber, denn Mr. Jennings hatte ihr schon gesagt, daß der Rechtsanwalt ein griesgrämiger alter Herr sei, der über alles schimpfe. Deshalb überließ sie den Verkehr mit Mr. Brownwill gern dem Butler und seiner etwas verbissenen Frau.

»Er ist beinahe achtzig Jahre alt. Da ist es schließlich kein Wunder, wenn er sauertöpfisch und verdrießlich ist. Der arme Mann liegt nun schon seit mehreren Jahren fest zu Bett; es ist ein Jammer, daß er nicht mehr ausgehen kann. Früher habe ich ihn wenigstens noch im Fahrstuhl ausgefahren, aber jetzt ist er zu gebrechlich geworden und hat sich gänzlich zurückgezogen. Mir macht nur Sorge, daß er keinen Arzt sehen will, ebensowenig einen Rechtsanwalt. Er hat auch keine Verwandten – mit Ausnahme eines Enkels. Das ist allerdings ein ganz wilder Mensch; so etwas habe ich überhaupt noch nicht erlebt. Gesehen habe ich ihn allerdings noch nicht, aber Mr. Brownwill hat öfter von ihm gesprochen und sich über den zügellosen Charakter des jungen Mannes beklagt.«

Nur ein einziges Mal sprach Barbara mit Mr. Brownwill selbst. Als sie gerade damit beschäftigt war, einen unendlich langen Pachtvertrag abzuschreiben, klingelte plötzlich das Haustelefon.

»Schicken Sie mir Mrs. Jennings«, befahl eine etwas rauhe Stimme.

»Jawohl, Mr. Brownwill«, antwortete Barbara, da sie die Identität des Mannes vermutete.

»Sind Sie Miss Long? – Hm, haben Sie Ihr Gehalt regelmäßig bekommen? Und sind Sie mit der Stellung zufrieden?«

»Ja, ich danke Ihnen.«

Damit war das Gespräch zu Ende, und im Zimmer über ihr wurde der Hörer aufgelegt. Später telefonierte sie nicht mehr mit dem Hausherrn.

Die Arbeit war nicht allzuschwer. Barbara hatte gewöhnlich ein paar Geschäftsbriefe zu schreiben, deren Inhalt ihr von Mr. Jennings skizziert wurde. Wenn sie die Briefe aufgesetzt und geschrieben hatte, brachte sie der Butler zur Unterschrift ins Krankenzimmer. Außerdem hatte sie viele alte Akten, Verträge und so weiter abzuschreiben, und einmal in der Woche wurde sie auf die Bank geschickt, um einen Scheck einzulösen. Das waren ihre Pflichten, die sie nicht gerade schwer drückten. In den Haushalt hatte sie keinen rechten Einblick. Es war noch ein Stubenmädchen vorhanden; es schien irgendeinen heimlichen Kummer zu haben, denn es sah immer bedrückt und traurig aus. Einmal hatte das Mädchen auch rotgeweinte Augen.

Als Barbara eines Tages früher als sonst kam, traf sie auch eine Aufwartefrau an. Alle Zimmer waren stets schon in Ordnung, wenn sie erschien, und der ganze Haushalt schien sich glatt abzuwickeln, ohne daß weitere Angestellte notwendig waren.

Barbara hatte ihre Stellung nun schon sechs Monate inne, und das erste Grün zeigte sich an den Sträuchern und Bäumen im Garten, als Mr. Jennings eines Morgens in ihr Arbeitszimmer trat und ihr wie immer guten Morgen wünschte. Er gab ihr dann die Briefe, die mit der Post gekommen waren. Der Rechtsanwalt hatte mit Bleistift kurz darauf vermerkt, wie sie beantwortet werden sollten.

Damit war eigentlich die Aufgabe des Butlers erledigt, aber er blieb noch in der Tür stehen und sah Barbara sonderbar an. Sie spannte gerade einen Bogen in ihre Schreibmaschine.

»Wenn Sie können, schreiben Sie bitte die Briefe möglichst bald – heute morgen ist er wieder in sehr schlechter Stimmung.« Er seufzte schwer und schüttelte den Kopf. »Er regt sich sehr leicht auf – bei einem kranken alten Mann ist das ja nicht weiter verwunderlich. Ich staune nur, wie er schimpfen kann. Aber sonst ist er trotz seiner langen Krankheit wirklich noch ziemlich rüstig. – Haben Sie übrigens schon an Miss Alma Devinne wegen des Fotos geschrieben?«

Barbara Long lächelte. »Ja, gewiß, Mr. Jennings.«

Er nickte, und seine Augen leuchteten in Begeisterung auf. »Das ist dann Bild Nummer 192«, erklärte er stolz. »Ich glaube nicht, daß es eine bessere Sammlung von Schauspielerporträts in London gibt als die meine. Wenn ich in meiner Jugend meinen Willen hätte durchsetzen können, wäre ich selbst zur Bühne gegangen. Meine Frau übrigens auch, die schwärmt ebenso für das Theater wie ich.«

Barbara blieb ernst, obwohl es ihr schwerfiel. Sie konnte sich nicht recht vorstellen, wie Mrs. Jennings auf der Bühne gewirkt hätte.

»Gestern abend waren wir wieder im Theater und haben uns ›Irrwege der Liebe‹ angesehen. Ich sage Ihnen, Miss Long: ein wunderbares Stück! Der Höhepunkt ist, wenn die Heldin ihrem Onkel ins Gesicht sagt: ›Du bist ein Mörder!‹ Und dann die Szene, in der Richard mit Ernest aneinandergerät und ihn nach hartem Kampf die Treppe hinabwirft – einfach herrlich!«

Barbara konnte sich kaum denken, daß ein solcher Reißer irgendwelchen künstlerischen Wert besitzen sollte.

»Sie lieben es wohl, wenn es richtig schaurig ist, Mr. Jennings?«

»Selbstverständlich.« Er seufzte befriedigt. »Da hat man doch etwas zum Nachdenken – man bekommt Gedanken und Ideen . . .«

Plötzlich verdüsterte sich sein Gesicht; er zögerte einen Augenblick, dann schloß er die Tür und trat auf Barbara zu. Gleichzeitig nahm er den Schlüssel zu dem großen Safe aus der Tasche, der in der Bibliothek stand.

»Ich möchte Sie um eine Gefälligkeit bitten, Miss Long. Könnten Sie diesen Schlüssel an sich nehmen? Aber befestigen Sie ihn bitte an Ihrem Schlüsselring und behalten Sie ihn immer bei sich, damit Sie ihn zu jeder Zeit finden können, ganz gleich, ob es Tag oder Nacht ist.«

Sie starrte ihn verblüfft an.

»Ich soll wirklich den Geldschrankschlüssel an mich nehmen?« fragte sie, als ob sie nicht richtig gehört hätte.

»In dem Safe liegt ein großer Briefumschlag . . . er ist versiegelt.« Jennings war so aufgeregt und nervös, daß er kaum zusammenhängend sprechen konnte. »Wenn mir etwas zustoßen sollte . . . dann nehmen Sie den Brief bitte heraus.«

Barbara hatte das Gefühl, daß etwas hinter dieser Sache steckte. Jennings hatte zwar theatralische Anwandlungen, aber damit allein ließ sich dieses ungewöhnliche Verhalten nicht erklären. Sie nahm den Schlüssel daher an sich und schob ihn auf den Ring, an dem auch der Hausschlüssel hing.

»Ich habe noch einen zweiten Schlüssel zum Safe«, versicherte er und zeigte ihr diesen.

Dann nickte er ihr noch einmal geheimnisvoll zu und ging befriedigt und erleichtert aus dem Zimmer.

 

Am selben Nachmittag lernte Barbara im Autobus einen jungen Mann kennen. Zuerst nahm sie keine Notiz von ihm, obwohl er sich neben ihr niederließ. Ihre Aufmerksamkeit war ganz durch den regen Verkehr auf der Straße in Anspruch genommen, und außerdem dachte sie an den Abend. Barbara hatte nämlich vor, ins Theater zu gehen, und zwar mit einer Freundin, die in derselben Pension wohnte wie sie. Die beiden hatten von ihrer Wirtin Karten zu einem nicht gerade erfolgreichen Theaterstück geschenkt bekommen.

Plötzlich erhob sich der junge Mann neben ihr, aber nach Barbaras Meinung hätte er sich einen anderen Platz für seinen Fuß aussuchen können als ausgerechnet die Spitze ihres Schuhs.

Sie schrie leise auf, und er wandte sich bestürzt und verwirrt zu ihr um.

»Ach, das tut mir wirklich außerordentlich leid«, entschuldigte er sich.

Er hatte ein sonnengebräuntes Gesicht wie Leute, die lange in den Tropen gelebt haben.

»Es ist nicht so schlimm«, erwiderte sie. »Sie sind mir zum Glück nur auf den Schuh und nicht auf den Fuß getreten; ich hätte eigentlich gar nicht zu schreien brauchen.«

»Verzeihen Sie, daß ich so unachtsam war, aber ich sah eben einen Mann, den ich am liebsten umbringen möchte.«

Er sagte das, ohne zu lächeln, und seine Worte klangen auch nicht theatralisch. Sie war sofort überzeugt, daß er tatsächlich die Absicht hatte, den Mann umzubringen.

Sie betrachtete ihn näher. Er mochte etwa fünfundzwanzig Jahre alt sein, hatte klassisch geschnittene Züge, einen energischen Mund und ein wohlgeformtes Kinn. Aber am meisten gefielen ihr seine lebhaften grauen Augen.

Er hatte sie schon vorher von der Seite angesehen, denn ihre Schönheit war ihm aufgefallen. Barbara hatte auch wirklich ein charaktervolles Gesicht, und er hielt sie auch für intelligent und klug. Außerdem war er gerade erst aus einer einsamen Tropengegend zurückgekommen, wo es nur wenige weiße Frauen gegeben hatte. Es war daher nicht verwunderlich, daß ihm zunächst beinahe jede Frau reizvoll und anziehend erschien.

Barbara Long lebte schon mehrere Jahre allein in der Großstadt und besaß daher ein feines Gefühl dafür, welchen Leuten sie trauen konnte. Sie wußte sofort, ob sie sich mit einem jungen Mann in eine Unterhaltung einlassen durfte oder ob sie ihn kurz abweisen mußte. Zu diesem Mann mit den grauen Augen faßte sie gleich Vertrauen.

»Wollen Sie ihn wirklich umbringen?« fragte sie.

»›Wollen‹ gewiß. Aber tun werde ich es natürlich nicht.«

»Sie waren sicher in den Tropen?«

Er sah sie erstaunt an, dann lachte er. »Ja, ich war in Afrika. Wenn ich nicht so lange von England fern gewesen wäre, würde ich auch nicht einen anderen Menschen umbringen wollen. Dieser Kerl ist ein ganz gemeiner Schleicher.« Er stöhnte, als ob ihm furchtbare Erinnerungen kämen. »Ich war tatsächlich ein Narr, daß ich so leichtgläubig war. Aber ich sehe ihn heute abend. Mir ist zumute wie einer Fliege, die von der Spinne eingeladen wird, in ihr Netz zu kommen.«

Sie lachte. »Das klingt ja fast dramatisch.«

Sie stiegen zusammen an der Ecke der Addison Road aus. Er half ihr beim Aussteigen, aber er gab sich weiter keine Mühe, die Bekanntschaft zu vertiefen. Sie wäre auch erstaunt gewesen, wenn er sich auf die üblichen Anknüpfungsversuche verlegt und zum Beispiel gefragt hätte, wo sie wohnte, ob sie gern ins Kino ginge und so weiter. Und doch hätte sie es gern gesehen, wenn er sie noch ein Stück begleitet und mit ihr gesprochen hätte.

Die Pension, in der Barbara Long wohnte, befand sich in der Earl's Court Road und unterschied sich in keiner Weise von anderen Pensionen. Barbaras großes Zimmer war mit den Möbelstücken ausgestattet, die sie aus dem Haus ihres Vaters gerettet hatte. Nach seinem Tod hatte fast alles veräußert werden müssen, um seine Schulden zu bezahlen.

Sie trank im Speisezimmer Tee und aß ein paar belegte Brote, dann ging sie auf ihr Zimmer und kleidete sich langsam fürs Theater an. Immer wieder mußte sie an den hübschen jungen Mann mit dem gebräunten Gesicht und den grauen Augen denken. Sie überlegte, wer er wohl sein mochte und wer sein Gegner war, den er am liebsten umgebracht hätte.

Dann dachte sie an Mr. Jennings. Sie hätte doch eigentlich diesen großen Theaterkenner vorher fragen sollen, was er über das Stück dachte, das sie heute abend sehen würde. Währenddessen schloß sie die Schublade auf, in der sie die wenigen Schmuckstücke ihrer verstorbenen Mutter aufbewahrte.

Als sie zum Abendessen hinunterging, erfuhr sie, daß ihre Freundin, die mit ihr ins Theater gehen wollte, sich mit Grippe hatte zu Bett legen müssen.

Barbara blieb jedoch bei ihrer Absicht. In gewisser Weise war es ihr sogar angenehm, daß sie allein sein konnte, denn sie hatte genug erlebt, um darüber nachzudenken.

Die Pensionsinhaberin saß ihr bei Tisch gegenüber.

»Hat Luise Ihnen die Mitteilung ausgerichtet, Miss Long?«

»Welche Mitteilung?« fragte Barbara erstaunt.

Die Wirtin schüttelte ärgerlich den Kopf und ließ Luise kommen.

»Er hat telefoniert, nachdem Sie auf Ihr Zimmer gegangen waren, und ich dachte, Sie wären schon fort«, sagte das Mädchen.

»Wer war es denn?«

»Mr. Pennings.«

»Ach, Sie meinen sicher ›Jennings‹«, verbesserte Barbara schnell. Es war das erstemal, daß der Butler sie angerufen hatte.

»Ja, das stimmt – ›Jennings‹ hieß der Herr. Er fragte, ob Sie kommen wollten – ich habe ihn nicht recht verstanden, weil es draußen so laut war. Aber jetzt weiß ich es wieder. ›Bestellen Sie Miss Long, daß sie kommen möchte‹, sagte er.«

»Hat er nicht gesagt, wann ich kommen soll?«

Luise überlegte; sie runzelte die Stirn.

»Vielleicht morgen«, meinte sie dann.

»Das glaube ich nicht«, erwiderte Barbara. »Ich werde ihn selbst einmal anrufen.«

Aber die Nummer war besetzt. Nach einigen Minuten versuchte sie es aufs neue, sie hatte jedoch wieder keinen Erfolg. Darauf kehrte sie ins Speisezimmer zurück und beendete ihr Abendessen. Schließlich ging sie nach oben, holte ihren Mantel, verließ das Haus und leistete sich den Luxus, ein Taxi zu nehmen.

Wahrscheinlich war noch ein Brief zu schreiben, der mit der Abendpost weggehen sollte.

Als sie zu dem Haus kam, war es dunkel in der Halle. Aber sie kannte den Weg sehr genau; sie ging durch den dunklen Korridor und trat in die Bibliothek ein.

Sie hatte erwartet, Mr. Jennings dort zu finden, aber der Raum war leer. Deshalb ging sie zur Tür zurück und lauschte auf den Gang hinaus, aber sie konnte nichts hören; es herrschte vollständige Ruhe im Haus. Vielleicht hatte er ihr einen Zettel auf den Schreibtisch gelegt? Sie suchte alles ab, aber sie entdeckte nichts. Das Telefon stand auf dem Schreibtisch – der Hörer war abgenommen. Nun wußte sie auch, warum sie vergeblich angerufen hatte.

Was sollte sie tun? Während sie noch nachdachte, hörte sie, daß die Haustür aufgeschlossen wurde, und gleich darauf vernahm sie die Stimme des Butlers.

»Treten Sie ruhig näher. Es ist niemand im Haus außer Mr. Brownwill. Hier können wir uns ruhig unterhalten, ohne daß uns jemand belauscht.«

Barbara zögerte unentschlossen. Hinter dem schweren blauen Vorhang in der einen Ecke lag eine Tür, die zu einem kleineren Raum führte. Dort nahm sie für gewöhnlich ihren Lunch ein. Sie schlüpfte hinter den Vorhang, als sie hörte, daß Mr. Jennings seinen Besucher in die Bibliothek brachte. Aber sie sah sich einer neuen Schwierigkeit gegenüber, denn die Tür war verschlossen. Wohl oder übel mußte sie sich also hinter dem Vorhang verstecken und anhören, was in dem Zimmer gesprochen wurde.

Eigentlich wollte sie kühn hervortreten, aber ein merkwürdiges Gefühl hielt sie zurück. Außerdem war sie auch in gewisser Weise neugierig. Warum hatte Mr. Jennings mit solcher Betonung gesagt, daß niemand das Gespräch belauschen würde?

»Die Sekretärin geht schon um drei Uhr nachmittags nach Hause«, erklärte der Butler. »Ich wollte Sie eigentlich erst bitten, morgen hierherzukommen, damit wir alles eingehend besprechen können. Ich habe ihr deshalb auch telefonisch mitgeteilt, daß sie morgen nicht zu kommen braucht.«

Nun erfuhr Barbara, welche Nachricht Mr. Jennings in der Pension hinterlassen hatte. Luise hatte sie falsch ausgerichtet.

»Nehmen Sie doch bitte Platz, Mr. John. Hier ist ein Stuhl; setzen Sie sich.«

Die Stimme des Butlers klang unnatürlich und schrill. Barbara hätte sie beinahe nicht wiedererkannt.

»Wie geht es meinem Großvater?« fragte der Besucher.

Barbara glaubte, seine Stimme schon einmal gehört zu haben, und überlegte verwundert, wo das gewesen sein konnte. Durch die Spalte des Vorhangs durfte sie nicht schauen, wenn sie nicht entdeckt werden wollte.

»Es geht ihm schlecht – äußerst schlecht«, erwiderte Jennings und seufzte tief. »Ich fürchte, der alte Herr wird nicht mehr lange leben.«

Es trat eine Pause ein.

»Jennings, ich möchte eine direkte Frage an Sie richten«, sagte der Fremde dann. »Sind alle Briefe, die ich an meinen Großvater geschrieben habe, ihm sofort überbracht worden?«

»Ich kann Ihnen versichern, daß ich ihm alle gegeben habe«, erklärte Jennings. »Ich habe sie stets sofort ins Krankenzimmer gebracht, Mr. John.«

»Sie lügen!«

Barbara wurde neugierig. Sie zog den Vorhang ein wenig zur Seite und sah – den jungen Mann, den sie im Bus kennengelernt hatte!

Er war in Abendkleidung, aber sie erkannte ihn trotzdem sofort wieder. Als sie ihn gerade genauer betrachten wollte, wandte er sich um, und erschrocken trat sie einen Schritt zurück.

»Keiner meiner Briefe ist meinem Großvater ausgehändigt worden«, sagte Mr. John streng. »Sie haben mich immer gehaßt, Jennings, Sie haben keine Gelegenheit vorüber gehen lassen, ohne meinen Großvater über mich zu belügen. Vor drei Monaten habe ich ihm einen Brief geschickt, in dem ich ein paar Zeilen in französischer Sprache schrieb. Darin teilte ich ihm mit, daß meiner Meinung nach meine Briefe unterschlagen würden, und bat ihn, sofort zu antworten. Hätte er das Schreiben erhalten, so hätte er mir todsicher geantwortet.«

Mr. Jennings schwieg. Barbara hörte, daß er schwer atmete.

»Sie haben eine falsche Meinung von mir, Mr. John«, sagte der Butler nach einer Pause. »Ich habe alles getan, was ich für Sie tun konnte, ebenso auch für Ihren Großvater. Es ist sehr ungerecht von Ihnen, daß Sie mich derart beleidigen –«

»Ich will den alten Herrn jetzt selber sprechen.«

Barbara konnte sich vorstellen, daß Jennings den Kopf schüttelte.

»Es tut mir sehr leid, aber das kann ich nicht zulassen. Wir haben erst heute über Sie gesprochen, und er entließ mich mit den Worten: ›Lassen Sie den jungen Mann nicht in dieses Zimmer; er will nur Geld von mir.‹«

Barbara zog den Vorhang wieder ein wenig zurück und sah, daß Mr. John vom Stuhl aufsprang.

»Das ist schon wieder eine grobe Lüge!« rief er laut.

»Es tut mir leid«, erwiderte Jennings in entschuldigendem Ton.

Die beiden waren jetzt in die andere Ecke des Zimmers getreten, so daß Barbara sie nicht sehen konnte; sie standen aber in der Nähe des Vorhangs. Ihre Stimmen klangen lauter.

»Es tut mir sehr leid. Ich hätte niemals gedacht, daß Sie mir so etwas vorwerfen würden«, fuhr der Butler in seiner monotonen Art fort. »Obendrein hier in diesem Zimmer, wo das Bild Ihres Großvaters auf Sie herabschaut.«

In dem Zimmer hängt doch gar kein Bild von Mr. Brownwill, dachte Barbara.

Allem Anschein nach mußte diese Behauptung auch den jungen Mann in Erstaunen gesetzt haben, so daß er sich umdrehte.

Dann hörte Barbara ein dumpfes Geräusch.

Mr. Jennings trat einen Schritt vor und brummte.

»So, nun wirst du Bursche genug haben!« sagte er triumphierend.

Ein paar Sekunden später wurde die Tür geschlossen, und als Barbara den Vorhang zurückschlug, wäre sie beinahe ohnmächtig umgesunken. Ein grauenvoller Anblick bot sich ihr.

Vor ihren Füßen lag John Brownwill – es konnte, nach allem, was sie gehört hatte, niemand anders sein. Nirgends vermochte sie eine Wunde zu entdecken, aber er lag besinnungslos am Boden. Gleich darauf bemerkte sie jedoch einen kurzen, dicken Gummiknüppel, der dicht neben John Brownwills Kopf lag.

Kaum hatte sie das alles entdeckt, als sie draußen schon wieder Schritte hörte, und sie war gerade hinter den Vorhang geschlüpft, als Jennings eintrat. Diesmal war er von seiner stets so schweigsamen Frau begleitet.

»Hilf mir, ihn in den Keller zu bringen«, sagte er scharf und befehlend.

Vom Gang draußen drang unterdrücktes Schluchzen herein.

»Das Mädel soll den Schnabel halten«, fuhr er seine Frau an.

»Sei ruhig!« rief Mrs. Jennings auf den Korridor hinaus.

»Um Himmels willen«, hörte Barbara eine heisere Stimme von draußen, »wir kommen bestimmt alle noch deshalb ins Zuchthaus. Ach, Mutter, warum hast du nur zugelassen, daß Vater das getan hat!«

»Komm herein und hilf, statt daß du wie ein Schloßhund heulst«, erwiderte Mr. Jennings rauh.

Das weinende Mädchen kam zögernd in die Bibliothek, bückte sich und hob die Beine des jungen Mannes auf.

Barbara lauschte und beobachtete, starr vor Schrecken.

Bald darauf wurde eine Tür im Erdgeschoß geöffnet; Jennings und die beiden Frauen gingen in den Keller hinunter. Barbara trat nun aus ihrem Versteck hervor. Sie dachte an Mr. Brownwill; der Rechtsanwalt war, zwar ein alter Mann, aber vielleicht konnte er doch helfen.

Sie lief die Treppe hinauf und drückte die Türklinke seines Zimmers nieder; die Tür ging auf.

»Mr. Brownwill«, flüsterte sie erregt.

Als keine Antwort kam, drehte sie das Licht an. Der Raum war leer und nicht einmal vollkommen möbliert. Das Bett war nicht bezogen. Barbara schaltete das Licht wieder aus; sie wußte nicht, was sie von dieser Entdeckung halten sollte. Ratlos trat sie wieder auf den Flur hinaus und ging bis zum Anfang der Treppe. In diesem Augenblick hörte sie die Stimme des Butlers, der unten mit seiner Frau sprach.

»Ich dachte, du würdest früher kommen«, sagte Mrs. Jennings. »Ich hörte, wie die Haustür geöffnet wurde. Hier im Haus gibt es so viele unheimliche Geräusche, daß ich jedesmal eine Gänsehaut bekomme . . . Was willst du mit ihm machen?«

»Das weiß ich noch nicht, aber ich werde mir schon noch etwas überlegen«, erwiderte er leise. »Wir haben ja noch den morgigen Tag vor uns. Miss Long kommt nicht.«

Unten wurde die Küchentür geöffnet und wieder zugeschlagen. Barbara entschloß sich, in die Bibliothek zurückzukehren. Dort befand sich eine Tür zur Veranda, und auf diesem Weg wollte sie sich aus dem Haus schleichen. Sie zitterte am ganzen Körper, aber sie erreichte die Bibliothek, ohne das geringste Geräusch zu machen.

Plötzlich hörte sie ein schwaches Klappern in ihrer Handtasche; die Schlüssel darin mußten zusammengestoßen sein. Barbara erinnerte sich nun an das sonderbare Verlangen, das Jennings an sie gestellt hatte. Sie dachte an den versiegelten Brief, der im Safe liegen sollte, und zögerte nicht länger. Mit zitternden Händen schloß sie den Safe auf und tastete ins Innere. Gleich darauf hatte sie auch schon das gesuchte Kuvert gefunden.

Sie trat an den Kamin, schürte das Feuer, so daß die Flammen hell emporschlugen, und las dann die Aufschrift. Sie lautete sonderbar; ›An alle, die es betrifft. Beweis für Mr. Jennings Unschuld.‹

Barbara richtete sich auf, als plötzlich das Licht angedreht wurde. Jennings stand in der Tür und starrte sie an, während sein Gesicht zuckte.

»Was . . . was . . . machen Sie denn hier?« fragte er atemlos.

Dann sah er die offene Tür des Geldschranks und den großen Briefumschlag in ihren Händen und taumelte zurück, als ob ihn jemand ins Gesicht geschlagen hätte.

»Geben Sie das her«, rief er außer sich und machte ein paar Schritte auf sie zu.

Barbara wußte selbst nicht, wie sie auf den Einfall kam, plötzlich den Brief in die Nähe des Feuers zu halten. Aber sie hatte erkannt, daß er Angst hatte.

»Kommen Sie keinen Schritt näher«, rief sie erregt, »sonst werfe ich ihn ins Feuer.«

Wie gebannt blieb er stehen. Sein Gesicht wurde aschfahl, und er zitterte vor Angst.

»Nein – tun Sie das nicht!« stieß er hervor.

In diesem Augenblick trat seine Frau in die Bibliothek.

»Ich will alles tun – alles, was Sie wollen!« schrie Jennings. »Aber verbrennen Sie den Brief nicht! Um Himmels willen, Miss Long, tun Sie das nicht!«

»Gehen Sie auf die Straße und holen Sie einen Polizisten«, befahl Barbara.

Sie hielt das selbst für ein geradezu tollkühnes Verlangen, und sie wollte ihren Augen und Ohren kaum trauen, als er sich tatsächlich sofort an seine Frau wandte.

»Schnell, lauf auf die Straße und hol einen Polizisten«, sagte er mit bebender Stimme. Dann drehte er sich wieder um. »Halten Sie das Papier nicht so nahe ans Feuer, nehmen Sie es weg . . .«

Mrs. Jennings verschwand. Von irgendwoher aus dem Keller hörten sie, daß jemand mit der Faust gegen eine Tür trommelte.

»Geben Sie mir den Brief«, bat Jennings in flehendem Ton und streckte die Hand nach dem Kuvert aus. »Ich gebe Ihnen tausend Pfund dafür und tue Ihnen nichts zuleide. Ich schwöre Ihnen, daß ich mich ganz ruhig verhalte.«

Zusammenhanglos sprach er noch eine Weile weiter, bis schließlich ein hochgewachsener Polizist in die Bibliothek trat.

 

Drei Tage später speiste Mr. John Brownwill mit Barbara Long im ›Ritz-Carlton‹ zu Abend. In den drei Tagen hatte sich viel ereignet.

»Die Hauptsache ist, daß Jennings nicht als Mörder verurteilt wird«, erklärte der junge Mann. »Wenn Sie den Brief ins Feuer geworfen hätten, wäre das wahrscheinlich unvermeidlich gewesen. Mein Großvater war ein Sonderling und ein ziemlicher Menschenfeind. Sonst hätte er wahrscheinlich gewußt, daß er einen durchtriebenen, egoistischen Butler hatte, der ihn dauernd beschwindelte. Und hätte er sich an einen Arzt gewandt, so hätte der ihm wahrscheinlich gesagt, daß er sehr herzleidend war.

Mein Großvater hatte die Angewohnheit, spät abends noch lange Spaziergänge zu machen; während eines solchen Ausgangs wurde er plötzlich von Schwäche befallen und sank kurz darauf tot aufs Straßenpflaster. Man brachte ihn ins Leichenschauhaus, fand aber nichts in seinen Taschen, was zur Feststellung seiner Identität hätte dienen können. Jennings war erstaunt, als Mr. Brownwill nicht mehr zurückkehrte, und wollte ihn suchen. Dabei erfuhr er zufällig, daß ein unbekannter Mann tot auf der Straße aufgefunden worden war.

Ich glaube, er hatte zuerst die Absicht, meinen Großvater zu identifizieren, aber dadurch hätten er, seine Frau und seine Tochter eine gute Stellung und eine schöne Wohnung verloren. Außerdem wäre wahrscheinlich auch herausgekommen, daß Jennings seit einiger Zeit die Unterschrift meines Großvaters auf Schecks gefälscht hatte. So wurde Walter Brownwill, der ein Vermögen von fünfhunderttausend Pfund besaß, in einem Armengrab beigesetzt, ohne daß jemand seinen Namen kannte. Alle Einzelheiten über seinen Tod und sein Begräbnis waren in dem großen Briefumschlag. Jennings fürchtete, daß eines Tages doch die Abrechnung kommen würde und man ihn dann als Mörder vor Gericht stellen könnte.

Nachdem mein Großvater beerdigt worden war, schien zunächst alles gut zu gehen. Jennings brauchte ja nur so zu tun, als ob Brownwill noch im Hause lebte. Deshalb engagierte er auch Sie als Privatsekretärin, um seine Stellung zu sichern. Einmal in der Woche schickte er Sie zur Bank, um Geld zu holen, wodurch Sie den Bankbeamten bekannt wurden. Und das hatte wieder zur Folge, daß der Butler immer größere Summen abheben konnte, ohne daß es besonders auffiel.

Zum Unglück für ihn tauchte aber ich in Europa auf und bestand darauf, meinen Großvater zu sehen. Jennings versuchte mich abzuweisen – er war übrigens auch der Mann, den ich durchs Fenster des Autobusses auf der Straße sah. An jenem Abend speiste ich mit einigen Bekannten, und ich begegnete ihm vor dem Restaurant, in dem ich gegessen hatte. Dabei sprach er mich an. Er wollte mich treffen, wie er sagte, und hätte schon den ganzen Abend nach mir Ausschau gehalten. Dann brachte er mich hierher. Das hätte leicht mein letzter Besuch werden können. Jennings ist ein vollendeter Schauspieler. Er verstand es glänzend, sich zu verstellen, so daß ich ihm zuerst glaubte.«

Barbara dachte an die Theaterleidenschaft dieses Mannes und an seine Sammlung von Fotos berühmter Schauspieler und Künstlerinnen, aber sie sagte nichts.

»Und Ihnen verdanke ich nun mein Leben«, fuhr Mr. Brownwill ruhig fort. »Ich habe daher ein kleines Geschenk für Sie besorgt, das ich Ihnen geben möchte, wenn Sie nichts dagegen haben.«

Sie schüttelte den Kopf. Es zeigte sich, daß er wenig Erfahrung in solchen Dingen hatte, denn er steckte den Ring, den er aus einem Etui nahm, an ihre rechte Hand.



 << zurück weiter >>