Edgar Wallace
Die drei von Cordova
Edgar Wallace

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17

May Sandford saß an diesem Abend allein in ihrem Zimmer und las. Als ihr Vater sich von ihr verabschiedet hatte, um an dem Essen eines Aufsichtsrats teilzunehmen, war sie mit der Lektüre eines Buches beschäftigt gewesen, aber nun lag es unbeachtet neben ihr.

Am Nachmittag hatte sie einen dringenden Brief von Oberst Black erhalten, der sie bat, ihn ›in einer äußerst wichtigen Angelegenheit‹ aufzusuchen. Es betreffe ihren Vater und sei ganz geheim. May war bestürzt und verwirrt. Die Dringlichkeit und Heimlichkeit der Nachricht quälte sie unsäglich.

Zum zwanzigsten Male hatte sie ihr Buch wieder aufgenommen, als es plötzlich an die Tür klopfte. Rasch verbarg sie den Brief, der auf dem Tisch lag.

»Ein Mann möchte Sie gern sprechen«, sagte das Mädchen, das auf ihr »Herein!« eingetreten war.

»Wer ist es denn?«

»Ein ganz gewöhnlicher Mann.«

May zögerte. Zum Glück war der Butler nicht ausgegangen; sonst hätte sie den Besucher kaum empfangen.

»Führen Sie ihn in das Arbeitszimmer meines Vaters und sagen Sie Thomas, daß ein fremder Mann im Hause ist. Er soll sich bereithalten, falls ich nach ihm klingle.«

Sie hatte den Fremden noch nie gesehen, der sich bei ihrem Eintritt erhob. Instinktiv mißtraute sie ihm, als sie seine Gesichtszüge sah, obwohl etwas in seinem Wesen lag, das ihr Vertrauen einflößte. Er sah bleich und eingefallen aus, dunkle Schatten umgaben seine Augen, und seine Hände zitterten.

»Jakobs – Willie Jakobs. Es tut mir leid, daß ich Sie störe, Miss, aber ich habe Ihnen etwas Wichtiges mitzuteilen.«

»Es ist aber schon sehr spät – was wünschen Sie denn?«

Er drehte seinen Hut verlegen in den Händen und sah auf das wartende Dienstmädchen. Auf einen Wink Mays verließ es das Zimmer.

»Es ist wirklich wichtig für Sie«, begann der Mann wieder. »Black – er hat mich sehr schlecht behandelt.«

Einen Augenblick lang kam ihr ein merkwürdiger Verdacht in den Sinn. Hatte Frank Fellowe diesen Mann hierhergeschickt, um ihr Vertrauen zu Black zu erschüttern? Ein Gefühl des Unwillens gegen den Besucher und seinen vermeintlichen Auftraggeber überkam sie.

»Sie können sich die Mühe sparen«, erwiderte sie kühl. »Gehen Sie zu dem Herrn zurück, der Sie geschickt hat.«

»Mich hat niemand geschickt, Miss«, entgegnete er eifrig. »Ich komme ganz aus eigenem Entschluß. Ich sage Ihnen, man hat mich schlecht behandelt. Jahrelang habe ich wegen Black den Mund gehalten, und nun hat er mich elend im Stich gelassen. Ich bin krank, das können Sie ja selbst sehen.« Er streckte verzweifelt die Arme aus. »Ich bin beinahe verhungert, und man hat mir nicht einen Bissen Brot gegeben. Heute bin ich zu Black gegangen, aber er hat mich nicht einmal empfangen.«

Er wimmerte beinahe in seiner hilflosen Wut.

»Aber ich werde es ihm heimzahlen«, rief er wild. »Wissen Sie, was er vorhat?«

»Das will ich gar nicht wissen!« Der alte Verdacht stieg wieder in ihr auf. »Sie werden nichts dafür bekommen, wenn Sie von Oberst Black schlecht sprechen.«

»Seien Sie doch nicht töricht, Miss«, bat er. »Denken Sie ja nicht, daß ich Sie um Geld angehen will. Ich erwarte kein Geld – ich brauche es auch nicht. Mr. Fellowe wird mir sicher helfen.«

»Ach so! Sie kennen Mr. Fellowe? Dann war er es also doch, der Sie geschickt hat. – Ich will kein Wort mehr hören!« fuhr sie erregt fort. »Ich weiß jetzt, woher Sie kommen. Das habe ich alles schon vorher gehört.«

Entschlossen ging sie zur Tür und klingelte. Der Butler kam sofort herein. »Führen Sie den Mann hinaus.«

Jakobs sah sie traurig an.

»Ich habe Sie gewarnt, Miss. Andere Leute würden froh sein über die Mitteilungen, die ich Ihnen machen kann. Black ist Essley – das ist alles, was ich Ihnen sagen wollte.«

Nach diesen letzten, verblüffenden Worten ging er durch die Halle, die Treppe hinunter und verschwand in der Nacht.

Als May wieder allein war, kauerte sie sich in ihrem Sessel zusammen. Sie zitterte von Kopf bis Fuß vor Ärger und Empörung. Es mußte Frank gewesen sein, der diesen Mann geschickt hatte. Wie gemein, wie unaussprechlich gemein war das doch! Wie durfte er so etwas wagen!

Es war die Denkungsart des Polizisten, die ihn dies tun ließ. Er glaubte immer nur die häßlichsten und schrecklichsten Dinge von anderen Menschen. Das war bei seinem Beruf ja auch natürlich. Er kam ständig mit Verbrechern zusammen und beschäftigte sich immer mit Gesetzesübertretungen.

Sie sah auf die Uhr. Es war Viertel vor zehn. Dieser Besuch hatte ihr den ganzen Abend verdorben. Sie wußte nicht, was sie tun sollte. Sie konnte ihre Gedanken nicht mehr auf das Buch konzentrieren, und es war auch noch zu früh, zu Bett zu gehen. Gern hätte sie einen kleinen Spaziergang gemacht, aber es war niemand zu ihrer Begleitung da. Sie konnte doch nicht den Hausmeister bitten, hinter ihr herzugehen; sie mußte über diesen Einfall lächeln.

Plötzlich fuhr sie aus ihren Gedanken auf. Sie hatte von weitem das Läuten der Haustürglocke gehört. Wer konnte das sein?

Sie brauchte nicht lange zu warten. Ein paar Minuten später meldete das Mädchen Oberst Black.

Er war im Abendanzug und schien in äußerst guter Stimmung zu sein.

»Verzeihen Sie meinen späten Besuch. Ich kam zufällig hier vorbei und dachte, ich könnte einmal vorsprechen.«

In seiner Stimme lag eine solche Herzlichkeit, daß May von seiner Aufrichtigkeit sofort überzeugt war.

Natürlich hatte er nicht die Wahrheit gesagt, denn sein Besuch gehörte zu einem sorgfältig überlegten Plan. Er wußte, daß ihr Vater nicht zu Hause war, wußte auch, daß Mr. Sandford seinen Besuch nicht gebilligt hätte, denn er war am Nachmittag heftig mit ihm zusammengestoßen.

May reichte ihm die Hand, und er drückte sie herzlich.

»Ich freue mich, daß Sie gekommen sind«, sagte sie und steuerte dann sofort auf die Sache los, die sie bedrückte. »Ich bin in großer Unruhe.«

Er nickte, um seine Teilnahme auszudrücken, obwohl er nicht wußte, was sie meinte.

»Dieser Mann, der eben hier war . . .«

»Wen meinen Sie?«

»Ich habe seinen Namen vergessen – er ist erst vor kurzer Zeit gegangen. Er sah sehr krank und elend aus – soviel ich weiß, kennen Sie ihn.«

»War es etwa Jakobs?« fragte er hastig.

»Ja, ich glaube, das war sein Name.«

»Was wollte er denn?«

Black war blaß geworden.

Sie wiederholte ihre Unterredung mit dem Mann, so gut sie sich daran erinnern konnte. Als sie zu Ende war, erhob er sich.

»Sie wollen schon wieder gehen?« fragte sie erstaunt.

»Ja, leider muß ich mich verabschieden – ich habe noch eine wichtige Besprechung . . . und . . . ich hatte ja auch nur einmal kurz hereinsehen wollen. Hat Ihnen Jakobs zufällig gesagt, wohin er gehen wollte?«

»Nein. Er sagte nur, daß andere Leute für die Informationen über Sie dankbar sein würden.«

»So, so.« Black gab sich die größte Mühe zu lächeln. »Ich hätte niemals gedacht, daß Jakobs so ein Mensch ist. Natürlich weiß er nichts, was nicht jeder wissen könnte, aber man hat doch schließlich auch Geschäftsgeheimnisse, Miss Sandford. Er ist ein entlassener Angestellter von mir, der verschiedene Verträge gestohlen hat. Sie brauchen sich über die Sache nicht weiter aufzuregen.«

Er lächelte ihr vertrauensvoll zu, als er das Zimmer verließ.

*

Sein nächster Weg führte ihn zu seinem Büro in der Stadt. Es war alles dunkel im Haus, und er unterließ es auch, Licht zu machen. Er eilte die Treppe hinauf zu dem Sitzungszimmer.

Er schloß die Fensterläden und zog die Vorhänge zu, bevor er das Licht andrehte.

In der einen Ecke des Raumes befand sich eine kleine Tür, die durch eine Portiere verborgen war. Er riß die Portiere beiseite und untersuchte die Tür, doch deutete nichts darauf hin, daß sie geöffnet worden wäre. Jakobs wußte von der Existenz dieses kleinen Zufluchtsraumes und hatte diese Tatsache in einem seiner letzten Bettelbriefe erwähnt.

Black nahm einen kleinen Schlüsselbund, der an einer silbernen Kette befestigt war, aus der Tasche und schloß die Tür auf.

Ein kleiner Raum wurde sichtbar, nicht geräumiger als ein großer Kleiderschrank. Eine nackte Glühbirne hing von der Decke herunter und verbreitete das nötige Licht. Die Einrichtung bestand aus einem Toilettentisch, einem großen Spiegel und einer Anzahl Kleiderhaken, an denen mehrere Kleidungsstücke hingen. Zwei Ventilatoren, die in die Wand eingelassen waren, versorgten den Raum mit frischer Luft.

Er öffnete die Schublade des Toilettentisches und nahm eine Anzahl Perücken heraus. Es waren die besten, die überhaupt hergestellt werden konnten, vollendet in ihrer Art. Sie hatten alle die gleiche Haarfarbe, wiesen aber verschiedene Frisuren auf.

Ungeduldig warf er sie auf die Tischplatte, denn er suchte nach einem Gegenstand, der sich dort befinden mußte. Er hätte ihn auch gefunden, wenn nicht ein gerissener Einbrecher, der die Örtlichkeit genau kannte, den Raum mit einem Nachschlüssel geöffnet und durchsucht hätte. Plötzlich hielt Black inne und betrachtete aufmerksam einen Notizblock, der auf dem Tisch lag und den er für schnelle Aufzeichnungen zu benutzen pflegte. Auf der weißen Oberfläche des ersten Blattes war ein großer brauner Daumenabdruck zu sehen.

Dann war es also Willie Jakobs gewesen, dem er früher sogar eine Pension gezahlt hatte! Er hatte das kleine grüne Fläschchen entwendet, dessen Duplikat Black in seiner Westentasche trug.

Der Oberst verlor seine Fassung nicht. Er ging in das Büro hinaus, zog eine Schublade seines Schreibtisches auf und nahm einen geladenen Browning heraus. Er wog ihn in seiner Rechten, sah ihn nachdenklich an und legte ihn dann an seinen Platz zurück. Er haßte Schußwaffen; sie machten unnötigen Lärm und ließen sichere Spuren zurück, woraus man auf den Eigentümer der Waffe schließen konnte. Schon mancher Verbrecher war auf diese Weise überführt worden.

Es gab andere Wege, diesen Menschen loszuwerden. Black griff wieder in die Schublade und faßte nach einem langen, dünnen Dolch. Es war ein italienisches Stilett aus dem sechzehnten Jahrhundert – eine Art Spielzeug, das man in unseren friedlichen Tagen als Brieföffner gebraucht. Er zog es aus der schmuckvollen Lederscheide und prüfte seine Schärfe. Vor allem untersuchte er, ob die Spitze noch gut war. Dann steckte er das Stilett wieder in die Scheide und verwahrte es in der Tasche seines Mantels.

Nachdem er das Licht ausgedreht hatte, ging er fort. In diesem Fall konnte er die kleine grüne Flasche nicht verwenden. Es war zuwenig von dem kostbaren Stoff übriggeblieben, und diesen Rest brauchte er für andere Zwecke.

Er kannte zwei oder drei Lokale, wo sich Jakobs ab und zu aufhielt. Zuerst fuhr er zu einem kleinen Gasthaus in der Nähe der Regent Street, ließ den Wagen jedoch schon etwas früher halten. Er trat in das Schankzimmer, wo Leute von Jakobs' Schlag verkehrten, fand ihn allerdings nicht vor.

Auch anderswo war er nicht anzutreffen. Willie Jakobs mußte zu Hause sein. Er hatte seine Wohnung in die Gegend des Thomas-Hospitals verlegt.

Black kam eben von einer kleinen Schenke in der Nähe der New Kent Road, als er seinen Mann fand. Jakobs hatte den Abend damit zugebracht, über sein trauriges Los nachzudenken, und war nun auf dem Weg zu seiner Wohnung, um sich dort auf sein großes Abenteuer vorzubereiten.

Black klopfte ihm auf die Schulter.

»Hallo, Willie!«

Jakobs fuhr sofort herum.

»Nehmen Sie Ihre Hände von mir weg«, sagte er erregt und taumelte gegen die Mauer.

»Nun seien Sie doch nicht verrückt! Wir wollen diese Sache in aller Ruhe besprechen. Sie sind doch sonst immer so vernünftig. Um die Ecke wartet mein Auto.«

»Mich bekommen Sie um keinen Preis in Ihren Wagen. Ich habe Sie gut genug kennengelernt, Black. Sie haben mich hintergangen, Sie haben mich wie einen Hund hinausgeworfen. Ist das die Art, wie man einen Kameraden behandelt?«

»Sie haben einen Fehler gemacht, alter Freund«, erwiderte Black ruhig. »Wir machen alle Fehler. Ich habe viele gemacht, und ich darf wohl sagen, daß Sie auch einige begangen haben. Nun wollen wir einmal geschäftlich reden.«

Willie sagte nichts. Er war nach wie vor argwöhnisch. Einmal glaubte er zu bemerken, daß Blacks Hand sich heimlich nach der Brusttasche stahl, und er dachte sich sein Teil. Dort war also das kleine Fläschchen verborgen!

Black verstand es meisterhaft, mit Menschen umzugehen und sie zu beschwatzen. Er kannte die schwachen Seiten aller Leute, die einmal mit ihm verbündet gewesen waren. Scheinbar ziellos führte er Jakobs von Straße zu Straße, bis sie in eine kleine Sackgasse kamen. Auf der einen Seite standen Schuppen, auf der anderen Werkstätten. In einiger Entfernung verbreitete eine Laterne spärliches Licht.

Willie zögerte.

»Hier ist kein Durchgang«, sagte er.

»O doch«, erwiderte Black vertrauensvoll. »Ich kenne die Gegend hier sehr gut. – Aber nun möchte ich Sie etwas fragen, Willie. Ich weiß, daß Sie jetzt schon besser über mich denken.« Er legte die Hand wieder freundschaftlich auf Jakobs' Schulter.

»Sie haben mich aber übers Ohr gehauen«, beharrte Jakobs.

»Wir wollen Vergangenes vergangen sein lassen. Ich möchte nur wissen: Warum haben Sie die Flasche weggenommen, Willie?«

Black fragte ruhig, ohne dabei seine Stimme zu heben.

Jakobs vergaß plötzlich alle Vorsicht.

»Weil ich wütend war!«

»Und vermutlich warten Sie nun auf eine Gelegenheit, die Flasche unserem Freund Fellowe zu überreichen«, erwiderte Black in freundlich-vorwurfsvollem Ton.

»Ich habe sie bis jetzt noch niemand gegeben, aber wenn ich die Wahrheit sagen soll –«

Weiter kam er nicht, denn Black packte ihn plötzlich mit hartem Griff an der Kehle. Willie Jakobs wehrte sich verzweifelt, aber gegen die stahlharte Hand des Obersts war nicht aufzukommen.

»Du Hund!« keuchte Black erregt.

Er schüttelte den hilflosen Mann heftig, dann durchsuchte er mit der Linken die Taschen seines Opfers. Als er das grüne Fläschchen gefunden hatte, schleuderte er Jakobs gegen die Mauer.

»Ich werde dir zeigen, was dir bevorsteht, wenn du noch einmal gegen mich angehst!«

Jakobs taumelte bleich gegen die Wand.

»Sie haben die Flasche wieder, Black, aber ich weiß alles, was Sie damit angestellt haben.«

»So?«

»Ja, alles!« schrie Jakobs. »Sie können mich nicht so einfach abschütteln, hören Sie? Sie müssen mir die Pension weiterzahlen, wie Sie es auch mit anderen Leuten machen. Ich weiß genug, um Sie an den Galgen zu bringen –«

»Ich denke, das genügt«, sagte Black.

Eine schmale Klinge blitzte im Licht der Straßenlaterne auf, und Jakobs sank ohne einen Laut zu Boden.

Black sah sich um. Er wischte die Klinge des Stiletts sorgfältig an dem Rock des Mannes ab, steckte sie wieder in die Scheide und betrachtete seine eigenen Hände genau, ob nicht Blutspuren daran seien. Aber so ein Stilett verursachte ja nur eine kleine Wunde.

Dann wandte er sich ab, zog seine Handschuhe an und ging zu dem Auto zurück, das noch auf ihn wartete.


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