Richard Voß
Römisches Fieber
Richard Voß

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30. Aus Priscas Tagebuch

Rom, im Winter

Sein Leichnam ist noch immer nicht gefunden. Modelle sahen ihn zuletzt über den Spanischen Platz der Via Tritone zu fahren. Der Polizei gelang es, den Kutscher zu ermitteln. Er wollte nach dem Kolosseum, stieg jedoch am Forum aus. Hier verschwindet jede Spur von ihm. Wir müssen annehmen, er habe sich beim Aventin in den Tiber geworfen und der Leichnam sei ins Meer geschwemmt worden. Ich werde nicht aufhören, suchen zu lassen, muß daher bleiben.

Wohin sollte ich auch? Ich habe so Reiches verloren, muß so Großem entsagen. In Rom erfüllt sich mein Schicksal; in Rom kann ich arbeiten wie an keinem andern Ort, kann ich einsam sein, wonach ich mich leidenschaftlich sehne. Arbeit und Einsamkeit in Rom ist immerhin Glückes genug. Und das eine habe ich denn doch gelernt: daß ich dem Himmel für dieses Glück auf den Knien danken muß und lästern würde, wenn ich mein Leben arm nennen wollte.

Baron Artur hat Steffens tragischen Tod in der Zeitung gelesen und mir geschrieben. Es war ein schöner Brief, der mich sehr tröstete und beglückte; denn er war seiner so ganz würdig. Er befindet sich in Norddeutschland auf dem Gute seines Oheims, wo jene schöne blonde Cousine lebt, mit der er als Kind Braut und Bräutigam spielte. Übrigens sprach er nur wenig von sich selbst und kein Wort von der Zukunft! Sie liegt vor ihm. Wenn er als Landwirt etwas Tüchtiges leisten kann, und wenn er einmal seine Cousine heiratet ...

Er schrieb auch an Friedrike. Sobald ich ihn sehen könnte und sehen wollte, sollt' ich's ihn durch Friedrike wissen lassen; er werde dann sofort kommen.

Friedrike und Peter Paul können sich noch immer nicht darüber beruhigen, daß ich den armen Steffens nicht liebte und trotzdem seine Frau werden wollte. Sie sind über meine Tat verstörter als über den schmerzlichen Untergang Steffens, der doch noch leben würde, wenn Peter Paul ihm nicht gesagt hätte, was ihm verschwiegen bleiben sollte. Hätte Peter Paul nicht gesprochen, so hätte ich Steffens geheiratet und dann vielleicht durch einen Zufall erfahren oder durch ein Bekenntnis, welches er seiner Frau gemacht – – ich weiß nicht, ob ich stark genug gewesen wäre, das zu ertragen, und was hätte dann aus uns beiden werden sollen?

Aber daß er darum starb! Und daß er starb, weil er ohne mich nicht leben konnte – wie soll ich jemals darüber hinauskommen?

Als ich erfuhr, meine Mutter lebe noch und wäre jene Frau – außer dem Unaussprechlichen, welches mich durchdrang, empfand ich durch allen Jammer, allen Abscheu, alle Verzweiflung mit ersticktem Jubel: du bist frei! Als ich mich dann darein ergab, ihm meine Mutter verschweigen wollte und Peter Paul mir seinen Brief brachte, in der Stunde des Todes an mich geschrieben – außer dem Schmerz und Grausen, welches mich packte, waren es wiederum jene Worte, die durch meine Seele brausten: du bist frei! Selbst in diesem fürchterlichen Augenblick war ich fähig, solchen Gedanken zu fassen, und das richtet mich.

Niemals kann ich die Todsünde dieses Gedankens genug sühnen, niemals darf ich vergessen, wessen ich fähig war; niemals werde ich den Geliebten wissen lassen: es ist Zeit! Komme! Wir wollen uns lieben, wollen leben, wollen glücklich sein! Durch jenen Gedanken bin ich seiner für alle Zeit unwert geworden, habe ich mich selbst für Lebenszeit von allem Glücke geschieden, denn er darf kein Weib haben, welches in einem entsetzlichen Augenblick voll heimlichen Frohlockens war, weil es, durch den freiwilligen Tod ihres Verlobten erlöst und befreit, sich in die Arme des Geliebten werfen konnte.

Was ich hier aufschreibe, wird kein Mensch erfahren. Ich muß es stumm in meiner Seele tragen und meine Lippen verschlossen halten, wenn sie sein Kuß auch öffnen wollte.

Jetzt wird sich's zeigen, ob ich wirklich bin, was ich sein soll: »stark«.

Wenn ich meinen Geist nur zwingen könnte, nicht fort und fort Steffens' letzte Stunde zu durchleben! Es ist eine Qual ohnegleichen. Ich begleite ihn auf seinem letzten Wege, empfinde alles, von dem ich mir vorstelle, daß er es empfand, sehe mit seinen Augen alle Dinge zum letztenmal, gehe den Strom entlang, suche die Stelle, wo ich mich hineinstürzen kann, ohne von jemand gesehen und gerettet zu werden, stürze mich hinab, sinke, sinke tiefer und tiefer, ersticke, ringe mit Todesqual, denke mit schwindenden Sinnen:

Erlöst und befreit! Du vom Leben und sie von dir! Erlöst und befreit ... Fühlte er's denn nicht? Mit unlösbaren Banden hat er mich durch seinen Tod an sich gefesselt. Wie ich leide! ...

Ich muß arbeiten, arbeiten! Das Leben darf für mich nichts andres mehr sein als Arbeit, Arbeit! Aber nur gut arbeiten, etwas schaffen, das wert ist, geschaffen zu werden. Das ist meine beständige, qualvolle Angst.

Früher war mir Arbeiten Lust und Glück. Es war wie das Atemholen an einem sonnigen Frühlingstag. Wie kann es nur möglich sein, daß jetzt auch das anders, ganz anders geworden? Ich bin wie gelähmt. Kaum kann ich meine Hand heben, um den Pinsel zu fassen. Was ist das mit mir? Wenn ich nie mehr mit Luft und Leben sollte arbeiten können – dann, ja dann ...

Ich war bei dem Kunsthändler in der Via Condotti und fragte ihn: »Ist der Mäzen, der mich für die Kopie der ›Salome‹ so überschwenglich bezahlte und mir für andre Arbeiten solche glänzenden Bedingungen stellen ließ, etwa die Fürstin Romanowska?«

Der Mann wußte nicht gleich, was er mir antworten sollte. Ich nahm seine sichtliche Verlegenheit für eine bejahende Antwort und ließ ihn ohne ein weiteres Wort stehen. Also die Fürstin Romanowska! Also ein mütterliches Almosen! Jetzt weiß ich, was ich zu tun habe ...

Weswegen sie mich wohl in ihre Nähe zog? ... Auch das weiß ich jetzt. Aus Buße? Aus einer Buße, ihr von ihrem Beichtiger auferlegt. Mein Anblick sollte dieser Sünderin eine Demütigung sein. Auf Befehl des Priesters sollte ich sogar in ihrem Hause leben! Nicht als Tochter, sondern als Mittel zur christlichen Pönitenz.

Niemals hätte sie sich als meine Mutter bekannt; niemals mich anerkannt. Sie schämt sich meiner! Ich bin ihr widerwärtig; sie haßt mich. Darum ihr feindseliger Blick, darum! Und meine Seele trieb in Entzücken und Bewunderung mit ihrer stolzen Schönheit einen Götzendienst! Aber jetzt weiß ich, was ich zu tun habe.

Das einzige Gute, was diese Mutter ihrer Tochter erwies, wofür die Tochter der Mutter zu danken hat, ist deren Abneigung und Haß. Wenn sie mich lieben würde ... Was sollte aus mir werden, wenn meine Mutter mich liebte, wo doch jeder Schlag meines Herzens gegen sie sich empört, wo ich doch nie aufhören werde, sie anzuklagen und zur Rechenschaft zu ziehen.

Don Benedetto, der, in seiner eifersüchtigen Liebe ihrer Vergangenheit nachforschend, mein Dasein entdeckte und dieses als Bußmittel benutzte, sagte mir an jenem Morgen meines Eintritts in die Villa Romanowski: ich müßte einen großen Schmerz erleben, um durch ihn zu Gott zu gelangen; zu Gott in seinem, des Priesters, Sinn. Diesen großen Schmerz erlebte ich. Bin ich durch ihn Gott nähergekommen?

Ja! Denn ich kam durch ihn dem Guten näher, was dasselbe ist. Denn auszuführen, was man als das Rechte erkannte, ist das Gute. So helfe mir denn Gott, der Versuchung nicht zu erliegen und stark zu bleiben. Amen.

Ähnlich betete ich an dem Abend des Tages, an dem ich mich mit Steffens verlobte. Herr, deine Wege führen wunderbar.

Es ist kalt, aber ich friere nicht. Ich trage in meinem Herzen einen Frost, der mich gegen die römische Winterkälte unempfänglich macht. Dafür habe ich einen andern Kummer, vielmehr ein Bekümmernis; denn mein großes Leid stumpft mich ab gegen kleine Leiden. Das ist an meinem Unglück das Glück.

In München verkaufte ich nichts, seit meinem ersten Gemälde gar nichts! Zwar habe ich immer noch einiges Geld von jenem Honorar, welches ich für meine Kopie der »Salome« empfing, zehre also noch immer von dem mütterlichen Almosen. Aber bald werde ich nichts mehr haben. Ich muß meinen lorbeerumgrünten, von Rosen durchglühten Hügel verlassen, muß die Freunde verlassen und mir ein andres, billigeres Atelier suchen. Auch darf ich nicht mehr in der Trattorie speisen, muß an eine Arbeit denken, die mich ernährt. Jeder Pfennig, den ich über Stillung meines Hungers einnehme, muß für einen bestimmten Zweck zurückgelegt werden. Es wird mir wohl etwas schlecht gehen; aber das Hungern soll ja nicht so weh tun, als man allgemein annimmt. Ich fürchte mich auch nicht davor.

Ich kopiere.

Ich habe keine Bestellung, muß es eben wagen. Ich kopiere in der Galerie Borghese Tizians »Himmlische und irdische Liebe« und harre des kauflustigen, reichen Ausländers. Mit der »Himmlischen und irdischen Liebe« fange ich an, um vielleicht mit der »Beatrice Cenci« zu enden. Das würde wohl allerdings dann das Ende sein.

Wie gut die Menschen doch sind!

Friedrike und Peter Paul wollen mich nicht fortlassen. Sie lamentieren über meinen baldigen Abzug von dem Hügel vor der Porta del Popolo, wie einstmals mein gutes Glöcklein meine Auswanderung aus dem lieben alten München beklagte. Sie wollen mich bei sich behalten, wollen ihre Armut mit mir teilen, wollen womöglich heimlich Hunger leiden, damit ich satt werde. Ich verriet ihnen natürlich nicht, wie es in Wahrheit um mich steht. Das sollen nur meine stummen Freunde, diese weißen Seiten, erfahren. Aber ich mußte ihnen doch Gründe vorlegen, triftige Gründe. Die beiden alten Leutchen gerieten außer Rand und Band und zerren mir nun mit ihrer Liebe die Seele wund.

Und du nennst dich arm, Prisca Auzinger? Arm an Lebensglück, wo du von guten Menschen geliebt wirst! Schäme dich, undankbares, törichtes Herz.

Zwei andre Malerinnen kopieren gleichzeitig mit mir das berühmte Gemälde der Galerie Borghese. Beide sind ältliche, armselige Wesen, und beide waren einstmals gewiß voller Hoffnung und Zuversicht. Jetzt sind sie so traurig verblüht, so trostlos hoffnungslos. So wird der Mensch eben. Aber daß der Mensch so werden kann!

Vor dem Hunger fürchte ich mich nicht, den Hunger werde ich ertragen. Aber das ertrüge ich nicht. Ich könnte es nicht. Dabei müssen sich die Armen noch allerlei kleine Allüren geben: Allüren von Künstlerinnen, denen es gut geht im Leben. Sie erzählen von den vielen Bestellungen, die sie hatten und haben, von den hohen Honoraren, die sie erhielten und erhalten, und wie man dieses köstliche Künstlerdasein nur in Rom führen könne. Ach, und wie abgeschabt ihre Kleider sind, wie dünn ihre Mäntel, wie kläglich ihre Hüte. Sie fühlen die Kälte und den Hunger. Mit blauen, steifen Fingern pinseln und pinseln sie. Sie haben etwas Eingewickeltes bei sich, dessen Inhalt sie um zwölf Uhr in aller Heimlichkeit verzehren, jede für sich. Ich sehe ihnen den Hunger an, den gierigen, unersättlichen Hunger.

Das Trostloseste jedoch ist, wenn Fremde kommen. Dann diese Erwartung, diese atembeklemmende, angstvolle, entsetzliche Erwartung: Werden sie deine Kopie ansehen, werden sie deine Kopie kaufen? Du würdest sie ja hergeben für trockenes Brot! Trotz aller Bestellungen und Honorare führen sie noch zahlreiche andre unverkaufte Kopien bei sich, die neben ihnen in einer großen Mappe ausgestellt sind. Die große Mappe ist ganz voll! Ach, und wenn dann die Fremden kommen ...

Und es kommen so viele! Es kommen Hunderte, Tausende, alle bleiben vor Tizians Meisterwerk stehen, und viele, so viele betrachten sich die Kopien. Wie meine beiden armen Gefährtinnen dann sich beleben! Einige fragen auch wirklich nach dem Preise. Wie sie dann erglühen vor Hoffnung. Mit zitternden Stimmen wird der Preis genannt, der ja nicht zu niedrig sein darf. Aber alle treten wieder zurück, alle gehen wieder fort! Ach, und dann die armen, enttäuschten alten Weiblein mit den steif gefrorenen Händen und dem Hunger in den Augen. Herrgott, erbarme dich meiner! Nur nicht werden, was diese geworden sind! Nur nicht das, nicht das! Ich demütige mich vor dir tief, und du weißt, wie hoch ich mich erhob. Strafe mich, Herrgott! Aber strafe mich barmherzig, mehr nach deiner Gnade als nach deiner Gerechtigkeit.

Wenn die vielen Besucher der Galerie Borghese vor mir stehenbleiben, wenn sie meine Kopie betrachten, mich nach dem Preise fragen – wie ich mich dann schäme! Nicht aus Eitelkeit für mich, sondern weil ich gefragt wurde und nicht meine beiden Gefährtinnen. Aber alle treten auch von meiner Kopie zurück, gehen auch von mir fort, und – ich atme erleichtert auf.

Wenn jemand in Gegenwart der beiden armseligen Malerwesen meine Kopie kaufen würde! Und doch muß auch ich harren und hoffen. Ach, so sehr.

Abends, wenn ich todmüde und hungrig bin, muß ich bei den Freunden möglichst wach und wohlgemut sein, um sie nicht zu sehr zu betrüben. Und die beiden Alten haben schon ohne mich und die Bürde meines Leides schwer genug am eignen Jammer zu tragen; denn Peter Paul erholt sich doch nicht wieder trotz seiner getreuesten Friedrike und seines hochherrlichen Rom. Er macht pflichtgemäß jeden Morgen seine Spesen, pinselt sodann einige Stunden schlecht und recht an seinen winzigen Heiligenbildern, läßt sich darauf geduldig von Friedrike füttern und später durch Rom führen. Im Grunde genommen lebt er nur dafür, um seiner Lebensgefährtin nach Möglichkeit zu verbergen, daß es mit ihm aus ist.

Und sie –

Jeden Tag muß ich das welke Frauchen von neuem anstaunen, jeden Tag kann ich von ihr von neuem lernen, lernen mit hoher Bewunderung, voll tiefer Beschämung. Sie sieht alles und scheint doch nichts zu sehen. Damit Peter Paul nicht etwa auf die Vermutung verfiele, sie beargwöhne etwas, tut sie fast lustig. Tagsüber immer ein Lächeln der Liebe, des Mutes, des Glücks; nachts ersticktes Schluchzen und heimliche Tränen; denn ich habe sie erraten, was ich mir jedoch nicht merken lasse. Aber auch diese beiden Absterbenden, die sich fest, fest aneinander schmiegen und ihren letzten Seufzer gewiß gemeinschaftlich aushauchen werden, sind reich und glücklich im Vergleich zu der dunkeln, kalten Einsamkeit meines Herzens, die fortan mein Leben sein wird.

Ach, diese gemeinsam verbrachten langen, langen Abende! Wir sitzen in einem kalten, schwach erleuchteten Raum, vor dem feuerlosen Kamin, und haben nur zwei Gesprächsstoffe: der Tod von Steffens und die Herrlichkeit Roms. Abend für Abend dasselbe. Unausgesetzt lassen wir nach dem Leichnam suchen; aber auch auf die ausgeschriebene hohe Belohnung hin ward er bis jetzt nicht gefunden. Und wir reden davon immer wieder und wieder.

Ich merke es wohl: Friedrike bereitet für mich jeden Abend Butterbrote, und Peter Paul stellt jeden Abend zu der Foglietta das große Glas, welches er früher regelmäßig für Steffens brachte. Die guten Seelen wollen mich tränken und speisen. Ich versichere Abend für Abend, ich wäre weder hungrig noch durstig, und ich weiß, wenn ich fortgegangen bin, so ruht Friedrike nicht eher, bis Peter Paul sämtliche Brötchen verzehrt und ein Glas Wein getrunken hat – ein großes Glas Wein! Das ist Liebe. Und es ist noch etwas andres: es ist Elend – ist heimliches Künstlerelend.

Ich fand eine Wohnung. Sie liegt in Via Ripetta, ist kein Atelier, sondern nur eine Kammer. Aber sie hat Nordlicht und ist billig. Überdies werde ich zum Malen für mich so bald nicht kommen, da ich lange Zeit kopieren muß. Ich siedle schon in den nächsten Tagen über, werde jedoch nach wie vor Abend für Abend auf dem Berge bei den Freunden verbringen und von Steffens' Tod und römischer Herrlichkeit reden.

Ich muß häufiger dem guten Glöcklein schreiben und muß besser lügen. Das Gismondlein ist in solcher Sorge um mich, daß es mit seinem Kommen droht, wenn ich dieses »alte, garstige, widerwärtige Rom« nicht verlasse. Mein Zimmer im Schwabinger Idyllenhäuschen stehe bereit, und das herzogliche Menü zu dem Festessen der Rückkehr der verlorenen Tochter sei bereits bestimmt. Ich komme aber nicht zurück nach Schwabing, und das Glöcklein darf nicht nach Rom kommen. Unmöglich! Es würde mir das Herz abdrücken.

Als Kopistin habe ich entschieden mehr Glück denn als Künstlerin: meine »Himmlische und irdische Liebe« ist verkauft, ehe sie nur zur Hälfte fertig ward! Es geschah in Gegenwart meiner beiden Kolleginnen – denn Kolleginnen sind wir ja, und mir war zumute, als säße ich an einer mit Speisen beladenen Tafel und schwelgte angesichts von Hungernden, denen ich nicht einmal Brosamen zuwerfen konnte. Mit welchen Augen sie mich ansahen! Und jetzt beneiden sie mich grimmig, ein Bewußtsein, welches mir wahre Qualen verursacht. Auch weiß ich ja, daß sie ihre unverkauften Kopien viel, viel besser finden. Aber ich bin jung, habe blondes Haar; dazu kommt mein niedriger Preis ... Das alles sagten sie mir nämlich, und mir wurde leichter ums Herz, als sie in dieser Weise ihren Schmerz und ihre Enttäuschung gegen mich aussprachen.

Jetzt bin ich des Verkaufs aber doch froh geworden, gar nicht davon zu reden, wie bitter not er mir tat. Und daß keine Fürstin Romanowska die Kopien bestellte, ist doch auch eine rechte Wohltat. So spendet das Leben immer wieder allerlei Freuden, wenn sie mitunter auch etwas dürftig ausfallen.

Der kleine Erfolg hat mich wundersam belebt. Denn Arbeit ohne Erfolg ist ein ungesegnetes Land. Die Seele wird nicht satt davon.

Die Fürstin Romanowska – so und nicht anders will ich fortan mein Leben lang sie nennen – wohnt wieder in der Villa. Sie soll den Heiligen Vater persönlich angegangen sein, ihre Ehe zu lösen, aber der Fürst soll in die Scheidung nicht willigen wollen. Er kommt und geht und kommt. Es kann geschehen, daß er in Kairo oder London eintrifft, um bereits am nächsten Morgen wieder abzureisen: in einer Tour nach Rom, zu seiner wunderschönen Frau, von der er nicht lassen kann, und die er doch nicht besitzen soll; denn das ist in Rom ein öffentliches Geheimnis. Er soll vor Leidenschaft und Verzweiflung halb von Sinnen sein und seinem einst so zärtlich geliebten Bruder im Grabe fluchen.

Die Fürstin Romanowska lebt inzwischen in der prachtvollen Villa wie in einem armseligen Kloster, befindet sich jedoch der Fürst in Rom, so ist scheinbar alles, wie es früher war. Die beiden gehen in die Welt und geben ihre berühmten kleinen Diners. Auch Korso fahren sie jeden Nachmittag, und die Fürstin kauft am Spanischen Platz weiße Blumen. Aber in der nämlichen Stunde, in welcher der Fürst Rom verläßt, zieht sich die Fürstin von der ganzen Welt zurück. Sie soll dann wie in einer Klausur leben.

Alle diese Nachrichten erfahre ich durch Friedrike, die mich damit weich zu stimmen hofft. Als ob ich hart wäre! Ich bin nur gerecht. Konnte jene Frau eine schlechte Gattin und unnatürliche Mutter sein, so bin ich in Gottes Namen eine unnatürliche Tochter. Einmal im Leben werde ich sie noch sehen: ein einziges Mal! Dann werde ich zu ihr sprechen, und danach soll sie für mich abgetan sein, tot und begraben, wie aus höchster Liebe und tiefstem Erbarmen mein Vater sie für mich sein ließ. Aber zuvor ein einziges Mal!

Ich warte darauf; oh, ich warte ...

Sie soll jetzt nicht mehr zur Beichte gehen.

Rom, im Frühling.

Wieder Frühling!

Ich erlebe nicht viel vom römischen Frühlingszauber; denn ich muß arbeiten, arbeiten! In aller Frühe stehe ich auf und male in meinem Kämmerlein. Ich komponiere! Vielmehr: ich phantasiere, fabuliere. Es ist wirres, unverkäufliches Zeug, welches mich an meinen armen Vater erinnert. Ich bin doch recht sehr Joseph Auzingers Tochter: die Tochter des Künstlers, der seine schönsten Gemälde in der Seele trug, sie jedoch niemals aus seiner Seele heraus und auf die Leinwand brachte. Es ist nur sehr merkwürdig, daß diese natürliche Erbschaft jetzt erst bei mir sich zu zeigen beginnt: in Rom und zu einer Zeit, wo ich mit dem Leben abgeschlossen habe, wo ich nicht mehr daseinsfreudig und hoffnungsreich bin.

Von meinen Phantastereien und Fabeleien sende ich nichts mehr nach München auf den Markt, da sich ja doch keine Phantasten und Fabulanten finden, um sie zu kaufen. Habe ich mir einen Gedanken oder eine Empfindung von der Seele gemalt, so kommt das Stück Leben in die Mappe. Ich werde mich jedoch bald mit Stift und Kreide begnügen müssen, da Leinwand und Farben ein Luxus sind, den ich mir nur gestatten darf, wenn ich – kopiere.

Ich kopiere tagtäglich. Schlag zehn Uhr stehe ich an der Pforte und harre geduldig, daß mir aufgetan wird. Dies geschieht, ich trete ein, begebe mich zu dem Meisterwerk, welches ich nachstümpere, sitze davor, harre auf den, der da kommen soll, um zu fragen, zu bestellen, zu kaufen, und bleibe außer kurzen Unterbrechungen sitzen, bis es Zeit ist, aufzustehen und zu gehen. Ich könnte dann recht gut einige Stunden schlendern, um Rom zu sehen und glücklich zu sein. Aber ich bin dann so müde, o so müde, daß ich nur mühsam in meine hohe und enge Kammer gelange, wo ich ausruhen muß, lange, lange ausruhen.

Tizians »Himmlische und irdische Liebe« ist vollendet, verkauft und bezahlt, sogar leidlich gut bezahlt. Jetzt kopiere ich den Sebastian del Piombo im Palazzo Doria. Danach werde ich mich an Murillos Madonna in der Galerie Corsini wagen; danach – eben an einen andern Großen. Und so fort bis ins Unendliche, bis ...

Die Freunde wollen den Sommer über mit mir nach einem Felsennest im Sabinergebirge, wo es märchenhaft schön und fabelhaft billig sein soll. Das wäre gewiß herrlich. Aber ich muß diesen Sommer über in Rom bleiben; denn ich muß arbeiten, arbeiten – kopieren, kopieren! Ich habe es den beiden so ernsthaft gesagt, daß sie's aufgaben, in mich zu dringen. Sie wollten anfangs auch bleiben, was eine schwere Verantwortung für mich gewesen wäre. Aber Peter Pauls angegriffene Gesundheit verlangt eine Villeggiatur, und so werden sie denn gehen; ich glaube, sehr bald. Dann bin ich einsam, ganz einsam, worauf ich schlechtes, undankbares Geschöpf mich freue. Dabei gibt es nichts Trostloseres unter der Sonne als Einsamkeit.

Friedrike fragte mich, ob sie den Baron Artur von mir grüßen dürfte? Also schreiben sich die beiden?

Er erkundigt sich bei Friedriken nach mir, und sie berichtet ihm über mich. Er weiß also, daß ich kopiere, nichts andres tue als kopieren; denn meine bunten Konturen, die ich in aller Heimlichkeit mache, bekommen die Freunde nicht zu sehen. Wenn Friedrike ihm schreiben würde, daß es mir nicht allzu gut ginge. Wenn er aus Mitleid, wie ich aus Mitleid ... Er soll nicht, er soll nicht! Er würde mich stark finden, unüberwindlich.

Aber ich sprach mit Friedriken. Ich sagte ihr: wenn sie mich liebte, wenn sie mir im Leben noch etwas Gutes wünschte, so solle sie diese Korrespondenz aufgeben. Sie könne zu nichts anderm führen, als mir die Ruhe zu nehmen, die ich so notwendig brauche, und mein Inneres aufzuwühlen, welches Frieden haben muß. Ich sagte ihr vor, was sie ihm von mir schreiben solle und was ihn über mich beruhigen werde. Sie mußte ihm auch mitteilen, daß ich mich, solange Steffens' Leichnam nicht gefunden wird, trotz allem Vorgefallenen noch immer als dessen Verlobte ansähe, und daß auch danach jede Hoffnung hinter mir läge, weit, weit hinter mir. Friedrike weinte über diesen Brief, den sie schreiben mußte, bittere Tränen, aber ich konnte ihr nicht helfen, und jetzt ist es geschehen.

Die Freunde sind im Sabinergebirge, aber ich habe einen Gefährten, der meine Kammer und mein Brot mit mir teilt: die arme Fanny lebt bei mir. Ich fand sie – irgendwo! Und ich fand sie in einem Elend, welches hundertfach größer ist als das meine. Sie ist zu Tode ermattet und sehr krank. Ich pflege sie, was mir unbeschreiblich wohl tut. Für solche kleinen Frauendienste bin ich viel mehr geschaffen als für die Kunst, die eben doch eine zu große gestrenge Göttin ist für mich winziges Menschenwesen. Von Fannis Schicksal will ich nur sagen, daß der Cavaliere sie schließlich aus dem Hause jagte, nachdem sie so elend geworden, daß er sie hätte in ein Spital schicken müssen. Wenn sie sich erholt hat und wenn ich hundert Lire missen kann, wird sie nach Hause zurückkehren. Ich werde in Rom leben und in Rom sterben.

Rom, im Sommer.

Wolkenloser Himmel, Glut und Glanz, Schirokko. Seit Wochen wolkenloser Himmel, seit Wochen Glut und Glanz, Schirokko.

Große Ermattung, aber Arbeit. Der Sebastian del Piombo im Palazzo Doria fertig. Die Madonna Murillos begonnen. Nichts verkauft. Zum Glück große Ermattung, sonst großen Hunger, der doch wohl etwas weh tun würde.

Fanni abgereist.

In meiner Kammer ist es so heiß, wie ich mir die Bleidächer Venedigs vorstelle. Seit Wochen schlief ich keine Nacht. Aber ich arbeite.

Wenn ich mir einen Festtag machen will, so gehe ich in den Vatikan, in die Sixtinische Kapelle. Drinnen ist's kühl; drinnen sitze ich stundenlang – stundenlang. Wär's nur nicht so weit bis zur Galerie Corsini! Fahren kann ich nicht. Ich schleiche hin und zurück. Das Pflaster brennt unter meinen Füßen; neben mir brennen die Mauern. Und es brennt der Himmel, die Luft.

Ein Münchner Regentag! Ach, Regen, grauer Himmel, Regen!

Ich glaube, ich habe etwas Fieber. Aber ich muß arbeiten, arbeiten! Ich werde etwas Chinin nehmen. Das hilft gewiß. Wäre Chinin nur nicht so teuer.

Ich kann so wenig zurücklegen und muß doch die ganze große Summe haben, die das empfangene Almosen ausmacht. Ich muß eben noch weniger ausgeben und – muß arbeiten, arbeiten!

Die Fürstin Romanowska war bei mir. Sie bat mich um Verzeihung; aber ich verzieh ihr nicht. Sie will mich als ihre Tochter anerkennen. Ich antwortete ihr, daß sie keine Tochter habe. Sie weinte. Ich kann kein Mitleid empfinden. Ich muß denken, daß sie meinen Vater verließ, daß sie meinem Vater das Herz brach und – nein, nein, nein! Ich kann kein Mitleid empfinden.

Sie mußte wieder gehen. Wie schön meine elende Kammer mir vorkam, wie wohl mein Herz mir tat, nachdem diese Frau wieder gegangen war. Denn – ich hungere.

Rom, im Winter.

Gestern nacht, als ich von den Freunden nach Hause ging, begegnete ich einer Gassendirne.

Es war Fanni.

Sie schlich mir nach, und vor meinem Hause redete sie mich an.

Sie hat von dem Cavaliere nicht fort können, ist in Orvieto ausgestiegen und nach Rom zurückgefahren, der Cavaliere hat sie auf die Straße geworfen.

Sie stürzte vor mir nieder und bat mich um Verzeihung.

Mit ihr hatte ich Mitleid.

Meine Kopie von Murillos Madonna verkauft. Heute will ich mich satt essen. Aber es fehlt mir noch immer viel an der Summe, die ich zurückerstatten muß.

Die Fürstin Romanowska hat mich wieder besucht. Ich habe sie wieder abgewiesen.

Übrigens kommt es ihr nicht aus dem Herzen. Ja, wenn es ihr aus dem Herzen käme! Wahrscheinlich gebot es ihr einstmals Don Benedetto; sie aber war damals zu feige. Don Benedetto starb, und jetzt zwingt sie der Tote, seinem Gebot zu gehorchen. Wieder soll ich nur als Bußmittel dienen, aber ich weigere mich.

Fanni starb im Spital. Bis zu ihrem letzten Atemzug war ich bei ihr. Sie starb an meinem Herzen. Dieser Sünderin wird Gott barmherzig sein.

Mein mühsam Erspartes schmolz wieder etwas zusammen, da ich für Fanni ein christliches, vielmehr menschliches Grab besorgen mußte. Sie wäre sonst in die allgemeine, große, gräßliche »Grube« gekommen.

Ich muß arbeiten, arbeiten! Und ich muß hungern.

Der stumme Freund, dem ich's anvertraue, verrät mich nicht.


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