Richard Voß
Römisches Fieber
Richard Voß

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13. Aus Priscas Tagebuch

Rom, im Januar.

... Jetzt, erst jetzt im zweiten Monat meines Aufenthaltes, fange ich an, zum Bewußtsein meiner Umgebung zu kommen. Bisher war alles, trotz der Winterkälte, wie ein Frühlingstraum, wie ein Farbenrausch. Aber auch die Erkenntnis, daß ich wache und Wirklichkeiten erlebe, ist immer noch traumhaft genug. Und da gibt es Leute, die von Enttäuschungen reden, wenn sie von Rom sprechen!

Mein Anfang hier war eigentlich eine einzige gewaltige Warnungstafel. Ein Riesenplakat war für mich armes Erdenwurm wie eine Flagge auf dem Kapitol aufgehißt, und darauf stand in Riesenlettern geschrieben: ›Liebe Künstlerseele, hüte dich vor Rom! Es vernichtet.‹

Die arme Fanni Pirngruber, Peter Paul Enderlin, Signorina Rica, selbst Herr Karl Steffens, sie alle wurden hier zu lebendigen Warnungen, die mir laut und leise, wissentlich und unbewußt die flammenden Worte des Menetekel, das am Himmel Roms verzeichnet steht, wieder und wieder zurufen:

Prisca Auzinger – hüte dich!

Nun ja! Ich will es nur gestehen: es hat auch seine Wirkung gehabt. Ich war erschrocken, wurde verwirrt; es überschlich mich eine große Angst: wirst du hier durchdringen?

Dieser elende Zustand ist glücklich vorüber. Ich mache wieder mein fröhliches Münchnerkindlgesicht; schaue wieder – gewiß aus ungeheuer großen Augen, mutig und entzückt in diese fremde, glanzvolle Welt hinein, lache über mein unprophetisches Gemüt; freue mich ganz frech meines Lebens und sehe den römischen Himmel voller Geigen hängen ... ein ganzes Orchester, das eigens für mich eine jubilierende Zukunftsmusik spielt.

Freilich! Tüchtig zusammennehmen muß sich meines guten Glöckleins liebe Lange. Aber das ist sie gewöhnt von Kindheit an – ihrem lieben Vater sei Dank. Weshalb sollte sie es also nicht können, jetzt, wo sie groß geworden ist wie ein preußischer Grenadier, stark und gesund wie ein Bauernjunge, so recht brutal gesund! Und noch dazu, wo es sich um ihre Kunst, also um ihr Lebensglück handelt.

Wie das klingt: um ihr Lebensglück ...

Vor dem Hunger fürchte ich mich auch nicht, obgleich ich kein Genie bin, sondern nur ein Talent. Vielmehr ein Talentlein.

Da ich mich jedoch nach Möglichkeit sattmachen möchte, und dieweil der Mensch nicht von Luft allein, nicht einmal von römischer Luft, leben kann, so muß ich arbeiten, arbeiten, arbeiten!

Meine »Römischen Rosen mit Lorbeer« sind fertig. Heute noch werden sie eingepackt, und morgen schon gehen sie, die Armen, als Eilgut über die Alpen nach München, und zwar direkt zu meinem lieben, alten Rottmann in die Ausstellung unter den Arkaden, wo vielleicht ein paar junge, lustige Herren auf sie stoßen und sie auslachen werden.

Diese Begegnung wäre mir unangenehm, denn ich will meine »Römischen Rosen mit Lorbeer« im Kunstverein verkaufen, und zwar möglichst rasch zu einem möglichst hohen Preis.

Was male ich nun? EZ ist hier eine Ab erfülle: jeder Blick ein Bild! Was greife ich aus der Menge heraus? Wiederum das erste, beste, das nächste. Mein allernächstes ist – denn es steht dicht vor meinem Atelier, der Torso einer antiken Jünglingsstatue. Ringsum blühen hohe violette Levkojen in solcher Menge, daß der Boden davon purpurn leuchtet, und den Hintergrund bilden rankende Glyzinen, die sich aus dem Wipfel einer Pinie herabstürzen und gewiß auch bald blühen werden. Das wäre ein prächtiges Vormittagsmotiv. Nun muß ich noch ein Nachmittags- und ein Dämmerungsmotiv haben; denn ich muß arbeiten, arbeiten!

*

Ich leide Hunger!

Nicht aus Notdurft – noch nicht; sondern des kleinen Ungetüms wegen. Ich werde sichtlich magerer, und Checco wird ebenso merklich fett. Um nicht jetzt schon in Rom zu verhungern, werde ich mich von meinem Raben, der mir zu seinem eignen Vorteil Speise und Trank zuträgt, entschieden emanzipieren müssen. So fasse ich denn einen großen Entschluß und gehe fortan zum Speisen aus. Und zwar speise ich in der Künstlertrattorie der Via Flaminia. Dort speisen Römer und Spanier, Germanen und Franzosen, Männlein und Weiblein. Dort speisen mein junger Siegfried und Herr Karl Steffens; und es speisen dort seit kurzem, das Essen ist niederträchtig geworden, mit wahrer Wonne Peter Paul und Signorina Rica. Also kann auch ich dort hingehen, frei von meinem unersättlichen Cherub, unter starkem moralischem Schutz, so daß selbst mein gutes Glöcklein nicht gleich Sturm läuten würde.

Aber trotz der in schlechtem Öl gebackenen schlechten Meerfische, trotz der zweifelhaften Fritti von Gemüsen, von Leber und Hirn, der Eierfrittaten, der ewigen Minestren – trotz allem und allein: welche Mahlzeiten, welche Symposien! Man schimpft über nichts, läßt sich alles schmecken. Nicht einmal über die Fliegen ärgern mir uns, die es hier sogar im Winter gibt; nicht einmal über den Kellner, der sogar hier (in Rom!) betrügt; nicht einmal über etwelche Kollegen, die sogar hier bisweilen bösartige, neidische, unangenehme Menschenkinder sind. Wir essen, trinken, schmatzen, lachen, debattieren. Durch die offene Tür dringt höllischer Lärm schrillrasselnder Kastagnetten herein, der grelle Pfiff der Tram, der zum klassischen Ponte Molle geht, Gezeter von Weiberstimmen, Geheul der Ausrufer ... Aber: sogar das ist schön!

Wie kommt es nur, daß hier selbst die Werktage zu Feiertagen werden, daß hier der Mensch auch bei bewölktem Himmel und in grauer Zeit eine Reihenfolge von Sonnenfesten erlebt?

Ich dachte darüber nach, und ich glaube, ich fand den Grund: wer in dieser wunderbaren Stadt mit voller Empfindung lebt, der fühlt sich aus seiner Alltagsexistenz hoch hinausgehoben. Er läßt den Dunst der Tiefe unter sich und führt auf leuchtenden Bergeshöhen ein seelisches Freilichtdasein. Das muß den ganzen Menschen erheben und verklären. Und in einer solchen verfeinerten Existenz sollte eine Gefahr liegen? Unmöglich!

Ach nein! Nur zu leicht möglich. Um aus dieser ewigen Weihestimmung ja nicht herausgerissen zu werden, um den schönen Rausch, denn das ist er, ja nicht mit einer Ernüchterung vertauschen zu müssen, versucht man alles, um zu verhindern, nicht an die so viel weniger schöne reale Welt erinnert zu werden.

Das also ist die Gefahr, von der das große Genie Karl Steffen sprach; ihr fielen meine beiden alten Leutchen zum Opfer. Wer aber diese Gefahr mit klarem Auge erkennt, der ist dagegen gefeit.

Ich sehe sie, und ich ... Mein gutes Glöcklein, über ein solches tragisches Geschick deiner lieben Langen kannst du ruhig sein. Solchem Schicksal wird sie nicht verfallen; trotz des geheimnisvollen Etwas in ihren Augen.

Was das nur sein mag?

*

»Sie malen ja gar nicht wie ein Frauenzimmer!«

Diesen Ausruf tat hinter mir eine mürrische Männerstimme, als ich eben vor meinem Atelier an der Studie zum Torso der antiken Jünglingsgestalt malte. Ich drehte mich um und sah in das ganz und gar nicht schöne Antlitz des Herrn Karl Steffens, der unbemerkt hinter mich getreten war und meine kaum angefangene Skizze mit höchst kritischen Blicken betrachtete.

Etwas verwirrt war ich zurückgewichen, obgleich es mich im geheimen freute, nicht wie ein Frauenzimmer zu malen. So sind wir Frauenzimmer nun einmal; und es ist eigentlich eine Schande, daß mir so sind. Da ich mich über meine heimliche Freude ärgerte, machte ich gewiß ein recht einfältiges Gesicht. Übrigens kommt es bei meinem Gesicht gar nicht darauf an, welchen Ausdruck es hat.

Nachdem Herr Steffens eine lange Weile meine Skizze betrachtet hatte, trat er dicht vor mich hin, blitzte mich durch seine häßlichen Brillengläser an und sagte mir seine Meinung über meine Malerei ins Gesicht hinein. Diese Meinung war: Obgleich ich gar nicht wie ein Frauenzimmer malte, war an meinem Bilde eigentlich so gut wie alles schlecht, pfuscherhaft, mit einem Wort: miserabel.

Da stand ich und hörte zu.

Während Herr Karl Steffens über mich sein Urteil abgab, das eigentlich eine Verurteilung war, mußte ich anerkennen, wie klug der Mann sprach. Er gab für alles seine Gründe. Und zwar waren es Gründe, die ich nicht widerlegen konnte, denen ich beipflichten mußte, die mir schon früher halb und halb, mit einer dumpfen Angst, selbst zum Bewußtsein gekommen waren, nur nicht so grausam klar, so unerbittlich logisch richtig.

Ja, und da stand ich nun ...

Er war ganz rücksichtslos, fast brutal, wie vielleicht eine andre in meiner Lage gedacht hätte. Und doch – ja, und doch mußte ich ihn bewundern.

Und wie er so in mich hineinsprach, immer beredter wurde, wie er große Gedanken groß äußerte, begriff ich, die er mit seinen großen Gedanken zermalmte, plötzlich nicht mehr, wir ich ihn hatte häßlich finden können.

Nun, meine liebe Lange, in diesen Dingen bist du ganz und gar ein Frauenzimmer.

Ja, und da stand ich denn.

*

Jetzt heißt's tapfer sein nach der zermalmenden Kritik des Herrn Steffens.

Warum sollte ich denn nicht tapfer sein können? Ich habe ja doch entschieden starkes Talent, sogar ein garadezu männliches Talent, da ich ganz und gar nicht wie ein Frauenzimmer male. Und das ist schon etwas sehr Großes und Bedeutsames, wohlverstanden für solch armes Frauenzimmer.

Also bin ich denn tapfer!

Lieber himmlischer Vater! Tapfer mußte ich von Kindesbeinen an sein, tapfer werde ich bis zum letzten Atemzuge sein müssen.

Ich habe den Torso einer antiken Jünglingsstatue zerstört und neu begonnen, bei jedem Pinselstrich der Kritik des Herrn Steffens gedenkend. Also muß mein Bild dieses Mal besser werden; es muß! Ich beiße die Zähne zusammen und sage mir immer nur das eine Wort: »Es muß, muß, muß!«

In dem Wort liegt ein Zauber.

*

Ich habe jetzt keine Zeit, Rom zu sehen, denn ich muß arbeiten, arbeiten! Auch mein junger Siegfried hat für nichts andres Zeit. Den geniert Rom indessen nicht weiter. Der tut, als gäbe es auf der Welt gar kein Rom, als lebte er nicht mitten darin.

Kürzlich hat er mir seine Ansicht über Rom wieder einmal ins Gesicht gesagt, sogar ohne dabei schamrot zu werden. Rot vor Scham, daß ein Künstler so reden konnte, wurde statt seiner ich. Zu dumm, nicht wahr? Übrigens beehrt mich der Herr seiner besonderen Beachtung; ja, er ist gegen mich beinahe ritterlich, geradezu liebenswürdig. Wahrscheinlich findet er mich häßlich genug. Ich muß mich darauf vorbereiten, daß er mir eines Tages die Erklärung macht: ›Mein Fräulein, Sie sind so herrlich anmutslos, so köstlich eckig, so himmlisch häßlich, daß ich mich in Sie verliebt habe. Darf ich vielleicht Ihr Bild malen? Etwa gegen eine alte Mauer lehnend, bei voller Mittagsbeleuchtung, damit Ihre wundervolle Häßlichkeit so recht von der Sonne beschienen wird. Verlassen Sie sich darauf, ich gewinne mit Ihrer Häßlichkeit einen Preis, mein Fräulein.‹

Vielleicht bin ich ihm gar häßlich genug, mich zu seiner Lebensgefährtin zu erkiesen, da er eine andre, dermaßen häßliche, eckige, von allen Grazien verlassene Dame so leicht nicht finden dürfte. Und kommt dazu meine männliche Manier zu malen ...

Pfui! Es gibt doch nichts Verfehlteres und Verpfuschteres unter der Sonne als ein Weib, das nicht in allem ein echtes, ganzes Weib ist! Und wenn die Götter dem Weibe die Schönheit versagten, sollten sie wenigstens mit der Anmut nicht geizen.

*

Ich wollte berichten, was der Freiherr Artur von Schönaich mir kürzlich über seine Meinung von »diesem Rom« anvertraute. Er sagte wörtlich: »Da machen die Leute solchen Lärm davon! (Von diesem Rom nämlich.) Wo steckt es denn eigentlich? Wenn ein Germane nur den Namen hört, gebärdet er sich sofort wie von der Tarantel gestochen. Wissen Sie, was für eine Bewandtnis es in Wahrheit damit hat? Es liegt im Namen! Denn: Rom, das klingt so sonderbar, so geheimnisvoll, so feierlich. Es ist einfach Humbug. Infame Heuchelei ist die ganze Geschichte! Ein echter Germane kann seiner ganzen Natur nach mit diesem italienischen Lotterwesen nichts gemein haben. Dieses Italien muß ihm im Grund seines Herzens unangenehm sein, seiner ganzen Natur zuwider. Aber derselbe Mensch, der jenseits der Alpen ein ganz verständiges Lebewesen ist, hält es für seine Pflicht und Schuldigkeit, hier allmählich seinen Verstand zu verlieren, und zwar um nichts und wieder nichts: um eine Stadt, welche die ewige genannt wird, um dieses Rom.

»Der berühmte römische Wein ist ja soweit ganz trinkbar, aber doch lange nicht das, was wir ›süffig‹ zu nennen pflegen. Und was die römischen Frauen anbetrifft – nun, mein wertes Fräulein, der deutsche Mann muß ein ganz erbärmlicher Kerl sein, der wegen einer solchen Römerin auch nur für einen Augenblick um seine Vernunft kommt. Alles Heuchelei und Humbug, glauben Sie mir.«

Ich dachte: diesem Manne kann nicht geholfen werden. Ist auch gar nicht nötig.

*

Ich war in der Sixtinischen Kapelle, ich sah im Vatikan die Stanzen, endlich, endlich! Aber – ich spreche nicht davon.

Ich kann nicht.

Mein Vater! O mein Vater!

*

Ich verbringe meine Sonntage köstlich, obgleich ich nicht umhin kann, jedesmal ein schlechtes Gewissen zu haben. Und zwar habe ich es wegen meiner beiden alten Leutchen, die mich ganz unverdienterweise liebhaben und mir Gutes über Gutes erweisen möchten. Nun können sie mir nichts Besseres erweisen, als mich in Rom, in ihrem Rom herumzuführen. Sie kennen jeden Winkel, behaupten indessen, noch einmal ein volles Menschenleben zu gebrauchen, um darin »nur annähernd« Bescheid zu wissen.

Des Sonntags nun wollen sie mich schier gewaltsam mitnehmen: vormittags in das Kapitolinische Museum, nachmittags auf den Palatin.

Ich bin ihnen von Herzen dankbar, aber in meinem tiefsten Gemüt bin ich gar zu sehr ein der Freiheit und Einsamkeit bedürftiges Menschenkind. Schon in München wurde es mir bisweilen herzlich schwer, alle Liebesgewalt meines guten Glöcklein mir gefallen zu lassen; und nun gar erst hier ... Ich habe nämlich an mir selber die Erfahrung gemacht, wie recht Fräulein Friedrike hat, daß es geradezu zur Qual werden kann, in Rom nicht unabhängig, nicht frei und einsam zu sein. Ich glaube, selbst ein geselliger Mensch könnte in Rom dahin gelangen, die Menschen zu meiden. Woher kommt diese gefährliche Wirkung?

Hier spricht die Menschheit zu uns, die Menschheit von Jahrtausenden; hier lebt man mit den Gestalten längst vergangener Zeiten und Kulturen. Und wer mit Geistern verkehrt, der bedarf nicht nur der Lebenden nicht, sie stören ihn sogar.

Also fliehe ich undankbare Kreatur an meinen freien Sonntagen den vortrefflichen Peter Paul sowie seine vortreffliche Signorina Rica und genieße mutterseelenallein, schwelge in Schönheit und Einsamkeit.

Am letzten Sonntag schlich ich mich mit schlechtem Gewissen, aber glücklich in aller Heimlichkeit frühzeitig fort. Ach, solch römischer Wintersonnenmorgen, wo schon auf goldigen Wolken der Frühling über der Erde schwebt und Strahlen und Veilchen herabstreut!

In Santa Maria del Popolo hielt ich, strenge Protestantin, glühende Andacht vor dem Genius Raffaels und trat dann mit einem stillen Leuchten in der Seele hinaus auf den Platz, wo um den Obelisken des Augustus die Brunnen rauschen und die Gartenterrassen des Pincio leuchtend aufsteigen.

Die Stufen der Brunnen, selbst die Sockel, die die steinernen Löwen tragen, nahm eine Herde schwarzer, langhaariger Ziegen ein. Die Hirten melkten die klugen Tiere, und römische Hausfrauen und Mägde standen herum, um sich ihr Krüglein oder Glas füllen zu lassen. Als ich hinzutrat und verlangend auf die schaumige Milch schaute, wurde mir sogleich von mehreren Seiten Gastfreundschaft angeboten. Ich hatte noch nicht gefrühstückt, verspürte, ach, wie immer! heftigen Hunger, nahm einer ärmlich aussehenden Frau das gefüllte Glas ab und hielt angesichts des Pincio und des Obelisken das köstlichste Frühstück. Als ich der Frau meine Milch zahlen wollte, stieß ich zunächst auf heftigen Widerstand und mußte der guten Seele meine Soldi schließlich aufdrängen. Es sind doch nicht alle Römer wie mein junger Frascataner Checco!

Alsdann machte ich in der Ripetta meine Einkäufe für den Tag: zwei weiße Brote und ein halbes Dutzend Orangen. Da ich mein Skizzenbuch bei mir hatte, mußte ich diese Vorräte in meinen Taschen unterbringen, welche Behältnisse sich als dermaßen unpraktisch erwiesen, daß ich mir vornahm, mir demnächst einen umfangreichen Pompadour zuzulegen. Damit wäre dann glücklich der Anfang gemacht, um einstmals in dreißig Jahren eine zweite Signorina Rica, eine zweite alte Römerin zu werden.

Nur vor einem schütze mich, mein guter Genius, der du mich nach Rom führtest: daß ich, um in Rom nicht Hungers zu sterben, Kopistin werden muß! Dutzende von Auroren, von Beatrice Cenci ... Selbst wenn ich sie alle zu herrlichen Preisen verkaufen würde, es wäre entsetzlich!

An einem leuchtenden Sonntagmorgen durch den Korso zu schlendern, über den Venezianischen Platz, an der Trajanssäule vorbei, vorbei an Forum, Palatin und Kolosseum und dabei solche nachtschwarzen Betrachtungen anzustellen, das ist strafbar. Ich hielt mir denn auch sofort eine meiner kräftigsten Predigten und sah darauf das ganze Leben so heiter an, wie es der römische Himmel war. So und so viele menschenfreundliche Kutscher boten mir ihre Wagen an. Aber ich lachte sie aus, denn ich und fahren! So und so viele bettelnde Kinder versicherten mir, daß sie am Verhungern wären. Sie lachten dabei, und ich lachte auch; und dann gab ich ihnen, und dann lachten wir zusammen: sie über meine Dummheit und ich vor lauter Herzensfreude, daß ich lebte, daß ich etwas Talent hatte und daß ich in Rom war, die Tasche voller Orangen und auf dem Wege hinaus in die Campagna, mutterseelenallein!

Es sollte zwar in der Campagna Briganten geben und bissige, mächtig große Wolfshunde. Die einen Ungetüme sollten den harmlosen Fremden entweder erst ausrauben und dann totstechen oder gleich mit in den Buschwald schleppen, um mehr Lösegeld herauszuschlagen; die andern Ungeheuer sollten sich auf den Wanderer stürzen und ihn womöglich in Stücke reißen. Pah, es würde wohl so schlimm nicht sein! Furcht, weder vor Räubern noch vor Gespenstern, weder vor grauen Tagen noch sonst vor allerlei Trübem und Traurigem, das Menschen treffen kann, hat meines Vaters Tochter nie gekannt. Ich wüßte nur eines, was mich schrecken könnte: gelebt und nicht gearbeitet zu haben! Und dann noch eines: sich selbst untreu zu werden. Und wäre es nur auf einen Augenblick.

Sagte nicht irgendein Weiser, daß kein Mensch für sich selbst einstehen könnte?

Nun, dafür stehe ich bei mir ein!

Grellweiße Gartenmauern, darüber ein hoher Lorbeer zu einem indigoblauen Himmel aufsteigt. Immer wieder blendende Wände, an denen graue, grüngefleckte Eidechsen hinauf und hinab huschen. Auf der Straße wenige Fußgänger und bisweilen ein zweiräderiges ländliches Fuhrwerk, bunt angestrichen, mit einem wunderlichen Zeltdach über dem Kutschersitz, daran ein lärmendes Schellenwerk rasselt. Dann ein Stück freies Feld, von Rosenhecken eingezäunt, mit Artischocken bepflanzt, deren schönes, silberhelles Blattwerk prächtig zu den blühenden Rosen steht. Eine einsame Villa mit verwildertem Garten, blau von Veilchen, gelb von Narzissen, die Wege mit weißen und roten Levkojen eingefaßt. Ein verlassenes Kirchlein, um welches das Gras hoch aufsprießt. Dann wieder Mauern, Gemüsefelder, Rosenhecken, und endlich durch einen engen Hohlweg, dessen braune Abhänge von blühendem Laurustinus schimmern, ein Ausblick auf die freie, weite Landschaft.

Beschreiben kann ich die römische Campagna so wenig, wie ich sie malen kann. Ich kann sie nur empfinden. Gott sei Dank, daß ich das kann!

Ich lief und lief, sah mich todmüde, hatte die Seele so voll leuchtender Bilder, daß, wenn ich die Augen schloß, eine ganze Galerie römischer Landschaften an meinem inneren Gesicht vorüberglitt. Bisweilen schlug ich mein Skizzenbuch auf und notierte mir einen Umriß. Oder ich saß vor dem leeren Blatt, begann zu träumen, zu fabulieren. Endlich gelangte ich auf eine Höhe, zu einem Hain von Steineichen, unter deren Schatten ich angesichts der Albanerberge Mittagsrast hielt und meine Orangen verzehrte – das ganze halbe Dutzend!

Ein Göttermahl!

Im Hain der Egeria – denn keine geringere Stätte hatte ich mir für mein Diner ausgesucht, ward Siesta gehalten, und darauf ging es querfeldein über eine Wiese, die schneeweiß war von wilden Margueriten, zur Via Appia und dem Grabmal der Metella. Dann die Gräberstraße weitergewandert, bis ich umkehren mußte.

Als ich mich am späten Nachmittag wieder im Korso befand, so entzückt über den verlebten Tag, daß ich keine Müdigkeit verspürte, sah ich in einer prächtigen Equipage die größte römische Schönheit.

Zugleich erlebte ich ein kleines Abenteuer. Daß es ein solches war, bilde ich mir wenigstens ein.

Das Gewühl der sonntäglichen Spaziergänger war so groß, daß ein Gedränge entstand und ich – es war an der Ecke der Via belle Vite – nicht weiter gelangen konnte. Durchaus nicht ungern ließ ich mich von der Menge einstauen und schaute dem unterhaltenden und prächtigen Schauspiel der Korsofahrt zu.

Die römische Aristokratie, die ganze einheimische und fremde elegante Welt defilierte an mir vorüber.

Ich staunte über so viel Frauenschönheit in einer einzigen Stadt.

Auch was Grazie und Vornehmheit war, hatte ich bisher nicht gewußt. Wie diese Aristokratinnen in ihren effektvollen Umhängen aus Samt und Seide, überreich mit Federn und Spitzen besetzt, in ihren sensationellen Pariser Modellhüten unter prächtigen Pelzdecken im offenen Wagen sich zurücklehnten, wie sie einer befreundeten Dame zuwinkten, die Grüße der Herren erwiderten, mit einer leisen Bewegung des Hauptes, so nachlässig, so gleichgültig, so königlich!

Ja, eine Ausfahrt von lauter Königinnen schien es zu sein.

Neben mir standen zwei junge Leute, zwei Prachtexemplare der goldenen Jugend, eine Menschenklasse, die ich sonst nicht ausstehen kann. Aber hier ist mir sogar diese fatale Spezies, von der ich nicht begreife, warum sie existiert, weniger zuwider; und diese zwei schönen, überflüssigen Jünglinge besaßen so viel Anmut, daß ich nicht umhin konnte, sie mir genau zu betrachten.

Die beiden Adonis kannten nicht nur die ganze Aristokratie, nannten nicht nur die Namen aller der Herzoginnen und Prinzessinnen, Gräfinnen und Marchesen, die an uns vorbeifuhren, sondern sie erzählten sich bei diesem und jenem Namen zugleich eine Anmerkung aus der Chronique scandaleuse. Soviel ich von dem eleganten Geschwätz verstand, handelte es sich bei allen Schönen um denselben häßlichen Gegenstand: cherchez l'homme!

In mir stieg es heiß auf. Da saßen sie mit einer Miene, einer Haltung, als wäre es Frevel, diese stolzen Gestalten auch nur mit einem Hauch zu berühren! und dann sollten sie alle, alle –

Ich mochte nicht weiter hören, hätte den beiden Anmutsvollen am liebsten laut zugerufen, daß sie infame Lügner wären, drängte hinweg und kam in die erste Reihe der gaffenden Müßiggänger zu stehen, die neben den Equipagen Spalier bildeten.

Jeder kennt das seltsame Gefühl: plötzlich, ganz plötzlich, ohne jede Ursache, überläuft uns ein Frösteln, ein kalter Schauder; jemand geht über unser Grab, so lautet die Redensart. Jemand also ging über mein Grab, als ich gestern am späten Nachmittag im Korso an der Ecke der Via delle Vite stand. In demselben Augenblick sah ich eine auffallende, elegante Equipage. Kutscher und Diener trugen eine Livree aus weißem Tuch mit Silbertressen, silbergraue Atlasweste und silbergraue Seidenstrümpfe. Mit Weiß war auch der Wagen ausgeschlagen. Eine Dame saß darin.

Welch ein Gesicht! Daß es auf Erden etwas so Vollkommenes gab! Die Phantasie des größten Künstlers hätte keine vollendetere Schönheit ersinnen können.

Es geschah bei dem unerwarteten Anblick dieses wunderbaren Frauengesichtes, daß es mich auf einmal so unheimlich überlief.

Obgleich ich nur das Gesicht anstarrte – ich glaube neben ihr saß ein älterer, sehr vornehm aussehender Herr, weiß ich doch genau, wie sie gekleidet war. Echt frauenzimmerlich von mir!

Sie trug ein Kostüm aus schwarzem Samt, mit Blaufuchs besetzt. Ihr Hut bestand aus einem kunstvollen Gewirr von Goldspitzen und grauen Federn.

Ihr Gesicht hatte eine Farbe wie Alabaster, und ihre Augen ...

Ich staunte sie so an, in solcher Ekstase, daß sie meinen Blick zu fühlen schien. Wenigstens sah sie plötzlich zu mir herüber. And da geschah etwas Seltsames. Sie heftete ihre mächtigen, brennenden Augen auf mich und starrte mich an wie ich sie. Jawohl, mich, Prisca Auzinger, starrte sie an! Unglaublich, aber es war so.

In der Wagenreihe entstand eine Stockung. Gerade vor mir machte die Equipage halt. Wir befanden uns einander gegenüber und starrten uns an, bis der Wagen weiterfuhr.

Welche lächerliche Phantasie ich hatte! Mir war, als ob in dem Blick, den die herrliche Frau auf mir ruhen ließ, etwas Feindseliges läge, etwas wie – ich finde keinen Namen dafür.

Sagte ich auch, daß sie gar nicht mehr jung ist? Aber das ist ja bei ihr ganz gleichgültig.

*

Hinter mir, dicht hinter mir ein Seufzer! Nein, ein ersticktes Stöhnen, daß ich mich erschrocken umsah nach dem Menschen, der so grausam litt. Karl Steffens war's. Er gewahrte mich gar nicht, denn er schaute jener Dame nach mit einem Ausdruck ...

Sie also ist die Frau, um derentwillen er sich aus Rom nicht losreißen kann, um derentwillen auch er vielleicht dem Schicksal so vieler verfällt: in Rom zugrunde zu gehen.

*

Als Karl Steffens mich endlich bemerkte, als er mich ansah, betrachtete er mich mit demselben fast entsetzten Blick von damals, als ich ihn bei den beiden alten Römern kennen lernte. Er sah mich an, nicht anders, als wäre ich mein eignes Gespenst.

Ich begrüßte ihn mit möglichster Unbefangenheit, aber statt mir meinen Gruß zurückzugeben, rief der merkwürdige Mensch:

»Jetzt weiß ich, an welche Augen mich die Ihren erinnern! Aber wie ist denn das nur möglich? Denn Sie und ...«

Da ich nicht wußte, was er meinte, so sagte ich, es wäre spät, und ich fühlte mich müde, denn ich sei seit dem frühen Morgen unterwegs.

»So müssen Sie eilen, nach Hause zu kommen. Die Sonne geht unter, das ist die gefährlichste Zeit, um sich das Fieber zu holen.«

»Im Korso?«

»Der Teufel von Malaria kann Sie hier überall in seine Klauen bekommen.«

»Ich fürchte nicht, daß er mich holt.«

»Vielleicht hat er Sie schon bei den Haaren. Der Satan nämlich, den ich meine.«

Ich drängte mich durch die Menge, welche die Trottoirs wie eine lebendige Mauer umschloß. Und da ich im Korso nur mit Mühe vorwärts gekommen wäre, schlug ich den Weg ein, der mich an der Post vorüber zum Spanischen Platz führte.

Karl Steffens war mir gefolgt und schien mich begleiten zu wollen, was mir nicht angenehm war, da ich mich plötzlich völlig ermüdet fühlte und keine Lust zum Sprechen hatte. Dabei beschäftigte mich unausgesetzt der Gedanke an jene schöne, vornehme Römerin, und daß sie es war, die Karl Steffens liebte.

Dieser schien zum Glück auch nicht in mitteilsamer Stimmung zu sein, was ich bei einem Menschen, der soeben mitten unter andern so jammervoll aufgeseufzt hatte, sehr begreiflich fand. Aber auf einmal begann er zu reden, leise, fast flüsternd, und die Worte heftig hervorstoßend.

»Haben Sie sie gesehen? Sie müssen sie gesehen haben. Solches Gesicht übersieht man nicht.«

Da ich ihn nicht merken lassen wollte, daß er sich verraten hatte, so fragte ich:

»Sie meinen die Dame in der Equipage mit der weißen Livree?«

»Ich kann nur die eine meinen.«

»Sie ist wunderschön.«

»Wunderschön? Sie ist ... Aber Sie haben sie ja gesehen!«

»Wer ist sie?«

»Das wissen Sie nicht?«

»Wie sollte ich, da ich hier fremd bin.«

»Sie müssen aber doch von ihr gehört haben? Sie ist ja geradezu berühmt! Ein Meisterstück der Natur.«

»Also wer ist sie?«

»Die Fürstin Romanowska.«

»Romanowska? Ich glaubte, sie sei eine Vollblutrömerin.«

»Vollblutrömerin wie eine Agrippina! Oder wie eine keusche Lukretia, wenn Ihnen das besser gefällt.«

Er lachte auf, so grell, daß es mich durchfuhr. Nur um etwas zu sagen, bemerkte ich:

»So stelle ich mir Frauenhoheit vor.«

»Hoheit? Sagen Sie lieber Majestät. Alles an dieser Frau ist wie an einer geborenen Souveränin, wenn sie auch von der Gasse kommt und weder lesen noch schreiben kann. Übrigens ist die Fürstin Romanowska eine Römerin, wenn auch keine Romana di Roma.«

»Sondern?«

»Sie ist aus Rocca di Papa.«

»Aus Rocca di Papa? Ist das möglich?!«

»Finden Sie darin etwas so Außerordentliches?«

»Daß die Fürstin Romanowska aus Rocca di Papa stammt ...«

»Es kommen viele Modelle von dort her.«

»Aber die Fürstin Romanowska war doch nicht ...«

»Jawohl! Sie war ehemals Modell. Sie sehen, in diesem wundersamen Lande ist alles möglich.«

Ich tat einen Ausruf. Unklugerweise sagte ich dann:

»Und Sie kannten die Fürstin schon damals, als sie noch ...«

»Ganz richtig, als sie noch Modell war. Sie reden ja, als hätten Sie niemals von meiner ›Tochter der Semiramis‹ gehört.«

»Es soll ein herrliches Werk sein.«

Er höhnte mit einem beißenden Spott, der mir förmlich physisch weh tat:

»Ein herrliches Werk? Es ist eine Pfuscherei, wenn Sie das Urbild damit vergleichen.«

»Die Fürstin Romanowska?«

»Nun ja, ja! Eben dieselbe, die vorhin wie eine Göttin an uns vorüberfuhr und meinen demütigen Gruß nicht erwiderte.«

»Warum grüßen Sie sie also?«

»Ja, warum ...«

Darauf ein langes Schweigen. Mir ward mehr und mehr unheimlich zumute. Wenn er doch nur gegangen wäre.

Er blieb jedoch und sagte, vielmehr er stieß hervor:

»Was für ein Schwächling ich bin! Ich, der ich ein Genie sein soll! Ein Mensch, der eines schönen Weibes wegen um den Verstand kommt, ein Genie! Nicht einmal ein ganzer Mann ist der Kerl! Und ein solcher Mensch läuft noch immer auf Erden herum! Und er läuft nur herum, weil ... Doch das sind Dinge, von denen eine reine Seele wie Sie nichts wissen kann, auch gar nichts wissen soll. Pfui, wie erbärmlich!«

»Oh, Herr Steffens!«

»Lassen Sie sich nicht etwa einfallen, mich zu bedauern, einen Mann, der so verächtlich geworden ... Nein, sehen Sie mich nicht so an! Hören Sie nicht? Sie sollen mich nicht so ansehen, mit diesen Augen –«

Er murmelte etwas, das ich nicht verstand, drückte den Hut in die Stirn und war plötzlich von meiner Seite verschwunden.

Die ganze Nacht tat ich kein Auge zu. Ich sah immerfort das alabasterbleiche, wunderschöne Gesicht der Fürstin Romanowska, die ein Modell gewesen, und die mich so seltsam angeblickt hatte; ich hörte immerfort das Stöhnen des Mannes, der diese Frau liebte, der durch seine Liebe so unglücklich geworden, daß er sich selber verachten mußte, und der ein großer Künstler gewesen war. Denn jetzt – nein, jetzt war er es sicher nicht mehr.

Er dauert mich. Ach Gott, wie er mich dauert!

Was er nur immer mit meinen Augen hat?


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