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Prisca befand sich wieder in Rom, wo in der nächsten Woche ihre Hochzeit mit Steffens stattfinden sollte. Während der in Rocca di Papa verbrachten langen Sommerwochen hatte sie die Erfahrung machen müssen, daß es mit dem großen Entschluß eines Augenblicks nicht geschehen sei; selbst das kraftvollste Gemüt muß Zeiten des Kampfes und Leidens durchleben, um in sich ein Gefühl zu befestigen, welches der Mensch in jenem einen feierlichen Augenblick für unerschütterlich hält.
Prisca überhäufte sich mit den schwersten Anklagen, daß es möglich war, überhaupt noch kämpfen und leiden zu müssen, sie entsetzte sich über ihren weiblichen Wankelmut und ihre innere Haltlosigkeit, wie sie es nannte, empfand eine marternde Selbstverachtung und bedachte nicht, wie tief diese »Schwäche« in der menschlichen Natur begründet liegt, die einen Märtyrer oder Entsagenden nicht in einem Tage schafft.
In jenen drangvollen Zeiten des Ringens erschien es Prisca bisweilen, als hätte sie unter einer Hypnose gestanden. Sie kam nach Rom, lernte ihren Verlobten und ihre Freunde kennen, und alles vereinigte sich, um sie ihrem Geschick zuzuführen. Die Freunde sagten ihr: Du kannst diesen verlorenen Menschen retten – du allein! Dasselbe sagte Steffens, dasselbe sagte der Mann, den sie liebte, dasselbe sagte schließlich sie sich selbst: du mußt ihn retten; denn nur du allein kannst es!
Oft schien ihr's als wäre die mächtigste Hypnose von Rom ausgegangen, von dieser Stadt der Märtyrer und Heiligen, die auf gewisse Naturen so überwältigend wirkt. Rom hatte sie über sich selbst hinausgehoben, hatte sie in einen geistigen Rausch versetzt, in jene Ekstase, in welcher der Büßer, nachdem er sich blutrünstig gegeißelt, himmlische Gesichte hat. Ihre »Mission«, die ihr von allen Seiten gepredigt worden, war solche Vision gewesen.
Erst nach den Kämpfen und Leiden so vieler Wochen fühlte sie sich fähig, auszuführen, wozu sie sich in einem Augenblicke seelischer Aszese bereit erklärte; jetzt erst hatte sie in sich die Ruhe und mit dieser die Kraft der Ruhe gefunden. Jetzt hielt sie sich aber auch gegen jeden weiteren Kampf, jedes weitere Leid gefeit. Wie oft im Leben nach blutigem Schmerz und tiefem Jammer der Mensch sich völlig »gegen alles« geschützt fühlt?!
Prisca kam nach Rom zurück in einer solchen schönen Heiterkeit, als wäre sie in Wahrheit eine glückliche Braut. In dieser Stimmung schrieb sie nach München dem Glöcklein, in dieser Stimmung suchte sie dem Signor Arturo zu begegnen, der noch immer nicht abgereist war, der jedoch, wie der Knabe Checco wußte, für seine »Straße im modernen Rom« längst keine Studien mehr machte.
Sie traf ihn indessen weder im Garten der Kolonie noch im Atelier ihres Verlobten, der ganz seiner Arbeit lebte, um nichts sich kümmerte, was nicht diese Arbeit war. Prisca durfte voller Bewunderung vor dem »Prometheus« stehen, den der Künstler »Priscas Werk« nannte, womit er alles aussprach, was er an Glück und neuem Leben empfand.
Es wurde beschlossen, in Rom sich trauen zu lassen, dann zu Wagen nach Frascati zu fahren, wo in der trefflichen Trattorie der Sora Rosa das Festmahl stattfinden sollte, und mit dem Nachtzuge nach Neapel zu reisen. Friedrike und Peter Paul sollten Trauzeugen und die einzigen Hochzeitsgäste sein. Signor Arturo war eingeladen worden, hatte jedoch abgelehnt, da dringende Geschäfte ihn in die Heimat zurückriefen. Jedenfalls würde Prisca ihn vor seiner Abreise noch sehen; dann wollte sie ihm sagen, wie leid ihr täte, daß er – warum –
Nein! Sie wollte nicht lügen. Auch nicht aus übertriebenem Entsagungsmut. Als wäre nicht ihr, der Wahrhaftigen, ganzes Leben bereits zur Lüge geworden.
Sie empfand heftige Sehnsucht nach Michelangelo und der Sixtinischen Kapelle, und zwar wollte sie diesen allerheiligsten Raum allein betreten. So sagte sie denn weder den Freunden noch ihrem Verlobten von ihrem Vorhaben und begab sich eines Morgens zu Fuß nach dem Vatikan. Es war doch ein eigentümliches Gefühl, mit dem sie jetzt durch die Straßen Roms ging: Also es ist entschieden – du bleibst dein Leben lang hier, bist hier fortan zu Hause, findest hier deine Heimat: in Rom! Jetzt besitzest du's sicher und zwar für dein ganzes Leben. Wonach so viele lebenslang sich sehnen, das ist jetzt dein bleibendes Eigentum.
In dem Gedanken an dieses Zuhausesein in Rom lag doch etwas Befreiendes, Erhebendes und Erlösendes. In Wien oder Berlin, in Paris, London oder Neuyork eine zweite Heimat zu finden, konnte unter Umständen auch etwas recht Schönes sein: aber auf dem Kapitol zu stehen, im Vatikan aus und ein zu gehen, die Campagna zu durchstreifen und sagen zu dürfen: auf diesem Boden bist du heimisch geworden – Nein! Nichts läßt sich mit dem Empfinden vergleichen, welches den in Rom heimisch Gewordenen durchdringt. So wenigstens dachte auf diesem herbstlichen Morgenspaziergang durch Rom Prisca.
Auch das war in ihrem Leben so wundersam gekommen, daß die Heimat ihrer Mutter die ihre geworden. Gerade in diesen Wochen hatte sie wieder so viel ihrer toten Mutter gedacht. Es mußte schön sein, wenn eine Braut an dem Herzen der Mutter ruhen durfte, ehe die Arme des Gatten sie umfaßten.
Mit dem beständigen Gefühl des Besitzergreifens ging Prisca den gewohnten Weg am Torre di Nono vorüber zur Engelsbrücke. Die alte Gasse, in der noch bis vor kurzem das Mittelalter geschlafen hatte, war zum größten Teil abgebrochen, und die Seite nach dem Flusse zu bestand aus Schutthügeln. Es war, als hatte ein ungeheures Erdbeben Rom über Nacht zu einem Casamicciola gemacht; dennoch blieb es, mit Schutt gefüllt und auf seiner schimpfierten Scholle die häßlichste aller modernen Städte tragend, das hochherrliche, einzige Rom.
Das war an diesem Morgen Priscas Empfindung, als sie auf dem kleinen Platz vor der Engelsbrücke stand, deren Zugang wegen Erweiterung des ehrwürdigen Baues gesperrt war, und nach der Engelsburg hinübersah. Rechts und links von der Brücke, hüben und drüben vom Tiber die gleichen häßlichen Bilder der Veränderung und Zerstörung: Die einstmaligen berühmten Wiesen, die Prati dei Castelli, mit dem berüchtigten Spekulationsviertel bedeckt, und an beiden Tiberufern die niedergerissenen und nicht mehr aufgeführten Bauten, die angefangene und nicht vollendete Regulierung des Strombettes.
Unvollendetes und Ruinen gab es, wohin das Auge fiel! Aber trotz alledem und alledem – ein Blick auf den braunen Mauerkoloß der Kaisergruft, auf Peterskuppel und Vatikan, auf die Gärten des Janiculus und die des Monte Aventin genügte, um das ganze übrige verunstaltete Rom vergessen, das herz stärker schlagen zu machen und das Gemüt mit dem einzigen Bewußtsein zu füllen: du bist in Rom, in dem Rom der Cäsaren, in dem Rom Julius des Zweiten und Leo des Zehnten; in dem Rom Raffaels und Michelangelos! Vor der Engelsbrücke stehend und tief hineinblickend in Herbstesglanz unterlag Priscas Seele dem uralten, ewig neuen Zauber der Stätte, daß sie fast aufgejauchzt hätte:
Zu Hause! Du bist hier zu Haufe!
Sie schlenderte umher: durch den Borgo bis zur Porta Angelica; dann durch die Kolonnaden über den Petersplatz und um den ganzen gewaltigen Mauerring des Doms bis zum Eingang in die vatikanischen Gärten.
Die Sonne brannte sommerwarm, und ein Gewitter stand in der Luft. In der großen Stadt, welche die hehre Feste des Apostelfürsten umlagerte, herrschten eine Öde und ein Schweigen, als wäre jedes Leben erstorben, jeder laute Ton der Erde erstickt. Nur die Eidechsen raschelten durch das wieder grünende Gras und Unkraut, das aus dem Pflaster der toten Straße aufsproß, und über den Gipfeln des hohen Gartens, darin um diese Morgenstunde der einsame Greis wie ein blasser Lichtstreifen wandelte, kreiste ein Falkenpaar.
Wenn dieser Weg Priscas letzter Gang durch Rom gewesen, wenn sie morgen Rom hätte verlassen müssen, ohne Hoffnung, jemals zurückzukehren, so wäre es eine Trennung gewesen wie von einem heißgeliebten Menschen, den sie nie wiedersehen sollte.
Aber sie blieb, blieb lebenslang, sie war in Rom zu Hause!
Das Rollen eines Wagens unterbrach die schwere Stille. Es war eine herrschaftliche Equipage, deren Insassen durch den Damasushof zur Audienz fuhren. Kutscher und Diener trugen Trauerlivree, und Prisca hätte die Fürstin Romanowska, die allein in dem Coupé saß, nicht erkannt, wenn sie sich nicht vorgebeugt und zu der einsamen Spaziergängerin hinübergeblickt hätte. In dem schwarzen Schleier, der ihr Haupt umhüllte, sah die Fürstin totenhaft bleich aus; aber sie erschien Prisca schöner als je. Sie fand kaum Zeit, zu grüßen, bemerkte nicht, ob ihr Gruß erwidert wurde, und bekam bei ihrem Anblick plötzlich wiederum jene seltsame Einbildung: diese von dir heißbewunderte Frau hat etwas gegen dich, etwas Unbegreifliches und Feindseliges, das fast Haß ist. Sie ging noch etwas weiter, sah den Wagen durch das äußere Tor in die Halle einfahren und kehrte dann um. Ein Hauch von der schwülen Herbstluft hatte sich plötzlich in ihre Seele gesenkt. Sie atmete auf, als sie, an den bunten, prächtigen Gestalten der Schweizer vorüber, die herrlichste aller Treppen emporstieg. Sie war auch hier ganz allein.
Es gab in Rom erst wenige Fremde, von denen manche durch den heißen Tag und das drohende Unwetter abgehalten sein mochten, den Vatikan zu besuchen. Ohne einer Seele zu begegnen, kam sie zu der so gut gekannten kleinen Tür, klopfte leise an, worauf ihr aufgetan wurde. Durch die enge Pforte ging sie ein in den Himmel der Gottheit Michelangelos ...
Sie pries ihr Glück, welches sie der einzige Besucher sein ließ: der einzige selige Mensch in diesem Abglanz des höchsten Gottes der Kunst. Doch sie irrte sich: noch ein zweiter Gast war anwesend. Er lag auf der Bank rechter Hand vom Eintritt, die unterhalb der Fensterreihe an der Wand hinlief. Lang ausgestreckt lag er und starrte zur Decke empor: zu dem Chaos, daraus der Gott Sistina die Welt schafft, zu den von diesem göttlichen Geist geschaffenen Gestirnen und dem in der Lenzesschönheit der jungen Erde prangenden ersten Menschenpaare: dem herrlichsten Manne, dem wonnigsten Weibe, bei deren Anblick man nicht faßte, daß der Mensch so schön sein konnte!
Dieser zweite Besucher war so in Anschauen versunken, das; er Priscas Kommen gar nicht gewahrte, die nur für jene andre überirdische Welt Auge und Sinn hatte. Sie schritt langsam durch den ehrwürdigen Raum, so leise, als störte sie eine heilige Handlung, nahm dem Jüngsten Gerichte gegenüber auf der Querbank Platz und ließ sich durch den stiftinischen Gott einer Erde entrücken, die nicht so vollkommen war wie jene von ihm erschaffene.
Inzwischen war das Unwetter heraufgestiegen. Plötzlich überzog eine schwarze Wolkenwand die Sonne. Es wurde Nacht in der Kapelle, Sturm erhob sich und umfuhr das hohe Haus des Heiligen Vaters, heulend wie eine Schar von Dämonen, die in die Burg des Hauptes der Christenheit eindringen wollten. Immer wieder stürmten sie an, immer wieder entwichen sie.
Dann brach das Gewitter aus.
Regungslos saß Prisca und ließ das gewaltige Schauspiel vor ihren Augen sich abspielen. Ein Gewimmel von überirdischen Gestalten entstieg der Dunkelheit, lebte einen Augenblick in der zuckenden Lohe der Blitze ein Flammendasein, versank wieder in Nacht, tauchte von neuem glanzvoll auf, wurde von der Finsternis von neuem verschlungen.
In Gegenwart eines Geschlechts, dem Geiste gleich, der es erschuf, vollzogen sich die Wunder der Schöpfung, vollzog sich das Ende der Welt mit der Auferstehung der Toten und dem Gericht über Gute und Böse, Gerechte und Ungerechte. Welch ein Richter! In furchtbarer Herrlichkeit erscheint er im Feuer der Blitze. Sein Blick ist nicht Gnade, sondern Gerechtigkeit; seine aufgereckte linke Hand nicht Sünden vergebend, sondern Schuldige verdammend. Es bedarf noch einer andern Gestalt, der göttlichen Jungfrau, es bedarf des ewigen Erbarmens des Weibes, der göttlichen Liebe der Mutter, die zur Rechten des Zürnenden für die Sünder bittet.
Im Aufleuchten des himmlischen Feuers, begleitet vom Donnergetöse, vom Sturmgebrause, drängen die Heerscharen der Auferstandenen empor, werden die Verurteilten von der verdammenden Rechten des Richters zurückgeschaudert in die Tiefen – werden die Begnadigten in den Himmel erhoben, welchen Cherubine mit den heiligen Werkzeugen des Martyriums durchstürmen.
Über der letzten Welttragödie thronen die Helden der heiligen Geschichte, sind die Vorfahren der Mutter des göttlichen »Menschensohns« versammelt, sind versammelt die Propheten und Sibyllen: alle Gedanken denkend, welche der Menschheit höchste Güter umfassen, in Sinnen verloren, welches die tiefsten Lebensrätsel durchdringt, Göttliches aufzeichnend, von heiliger Ekstase ergriffen, die Seelen verzehrt in einem Feuer, welches Flamme ist von der Flamme, deren Gluten alle diese Gestalten umhüllt, wenn am Himmel Roms die Wetterwolke zerreißt.
Wundersam beim Aufzucken der Blitze war auch der Anblick all der hüllenlosen jungen Leiber, auf den Gehalten von Michelangelos fabulierter Palastarchitektur, ein Geschlecht nicht minder von Titanenart als der Beseelte, welcher sie schuf. Doch nichts kam dem Eindruck gleich, wenn die Gestalten der großen Deckengemälde beim Flammenspiel der Blitze aus Dunkelheiten auftauchen, in Dunkelheiten hinstarben, um wiederum in Lichtfluten geboren zu werden.
In dem blendenden Aufleuchten sah Prisca den Gott Michelangelos die Finsternisse zerreißen: »Und es ward Licht!« sah sie ihn davonstürmen zu neuen Schöpfungstaten; im Glanze des himmlischen Feuers sah sie den gewaltigsten und furchtbarsten Gott als milden und liebenden Geist von Engeln geleitet seiner eben erschaffenen, frühlingsgrünen Erde zuschweben und mit einer würdevollen Bewegung die Rechte ausstrecken. Und siehe – – der Mensch, der atmende, beseelte, lebendige Mensch, der schuldlose, selige Bewohner des Paradieses, das vollkommenste Geschöpf dieses strahlenden Schöpfers, der schöne Sohn dieses liebenden Vaters, hob sich aus dem Leibe der jungen Mutter Erde dem göttlichen Finger entgegen, wurde dann aufgezogen, daß er stand und wandelte, emporgehobenen Hauptes der Sonne entgegen.
Und aus diesem von der Glorie des ersten Schöpfungstages umflossenen ersten Menschen schuf der himmlische Vater in überströmender Liebeshuld das Weib, schuf es für ihn ...
Das Unwetter wütete fort. Strahl auf Strahl zuckte auf. Oft war's, als stünde die Erde in Feuer, als hätten die Flammen den Vatikan ergriffen, züngelten an den Mauern der Kapelle empor, erfaßten die Scharen der Unsterblichen an Wänden und Decke, schlügen über der Decke und dem letzten Gerichte zusammen, begrüben eine Welt Michelangelos, begrüben den Gott der Sistina unter Donnergetöse und Sturmesgebraus.
Wie es geschah, darüber wurden die beiden einsamen Besucher der Sixtinischen Kapelle niemals sich klar: es geschah eben. Der unter dem Fenster auf der Bank hingestreckte Mann erhob sich plötzlich, und im Scheine des Blitzes sahen sie sich. Wie durch eine göttliche Hand gezogen, schritten sie aufeinander zu.
Als er vor ihr stand, als sie ihm in die Augen sah, da wußte sie's. Plötzlich wußte sie's! Der Blitz der Erkenntnis erhellte die Nacht ihrer Seele. Sie liebte ihn, sie liebte ihn! Und – Gott, barmherziger Gott, du Vater im Himmel! er liebte sie.
Sie standen sich gegenüber, sahen einander stumm in die Augen, Über ihnen im Flammengewande der Blitze schwebte der allgütige und alliebende Gott und schuf sein erstes Menschenpaar, welches noch ohne Wissen und ohne die Sünde des Wissens war. Trat Dunkelheit ein, so standen Mann und Weib sehnsüchtig den Blitz erwartend, um einander schweigend in die aufleuchtenden Augen zu schauen.
Der Custode war hinausgegangen, die beiden waren allein.
Da sprach er das erste Wort. Es war eine Frage, eine schicksalsentscheidende: »Ist es zu spät?«
Mit angehaltenem Atem wartete er auf ihre Antwort, versuchte, sie in ihren Augen zu lesen, als ob diese glanzvollen Sterne keine Antwort geben könnten, die vernichten würde, als ob ihm aus ihren Augen das Glück entgegenleuchten müßte. Es war jedoch finster um die beiden.
Dann sagte es ihr Mund: »Zu spät!«
Einen Augenblick hatte sie gezaudert; nur einen Augenblick! Dann sagte sie leise und ruhig die wenigen Worte, die ihm keine Hoffnung mehr ließen. Aber warum es zu spät war, wie es hatte geschehen können,, daß es zu spät war?
Nebeneinander hergehend, erzählten sie sich's. Sie gingen langsam, langsam und sprachen so leise, als läge in der Kapelle ein Toter aufgebahrt: ihr gestorbenes Lebensglück. Und über ihnen, fort und fort von Blitzen umleuchtet, das Wunder der Schöpfung und der Seligkeit des ersten Menschenpaares vor der Schuld.
»Als ich in Florenz zu Ihnen ins Coupé stieg, wie Sie mir gleich damals gefielen! Das ist nicht das richtige Wort. Ich sah Sie an und dachte: ›Bei der muß ein Mann gut aufgehoben sein! Besonders wenn es so recht stürmt und das Leben dem Menschen seine Krallen zeigt.‹ Gleich damals empfand ich, daß von Ihnen etwas ausgeht, das wohltut bis in die tiefste Seele hinein, das bei Ihnen ausruhen läßt und den dunkelsten Tag hell macht. Namentlich der Selbstling wäre bei Ihnen für Zeit seines Lebens versorgt. Und Sie wissen nicht, was für krasse Egoisten auch die Besten von uns sind. Ihr armen Frauen könnt unsertwillen vor unsern Augen einen Flammentod, ein Martyrium erleiden, und wir schauen gelassen zu. Es hat nie größere Barbaren gegeben, als wir Männer sind euch liebenden, hingebenden Frauen gegenüber. Am besten gefiel mir Ihre Ehrlichkeit. Wie empört Sie über mich waren, weil ich nicht als Wallfahrer nach Rom ging und nicht anbeten wollte. Wer mir damals gesagt hätte, daß ich Ungläubiger in Rom meinen Gott finden würde!
»Zunächst fand ich Sie, obgleich Sie sich von mir nicht finden lassen wollten. Immer wieder entkamen Sie mir. Damals nahm ich mir vor: du wirst sie fassen und nicht mehr lassen; denn sie ist das Weib, welches der Gott, der das erste Menschenpaar geschaffen hat, für dich schuf. Plötzlich stand zwischen mir und Ihnen ein dritter: Karl Steffens! Ich sah, wie dieser kranke, gewaltsame Geist sich Ihrer Seele bemächtigte, und ich wollte Sie ihm entreißen. Da fiel mir ein: wenn sie ihn aber liebt! Und mir kam meine Selbstsucht zum Bewußtsein, die Sie einem andern nehmen wollte, um Sie für mich zu fordern. Ein großes Leid kam über mich, aber mein Stolz half mir,– denn es ist zu schmählich, an eine Frau zu denken, die einen andern liebt, und mußte ich auch nur hinzusetzen: die vielleicht einen andern liebt!
»Dann lernte ich Steffens kennen. Wenn ich damals noch schwankend gewesen wäre und gezweifelt hätte, so wäre das jetzt vorbei gewesen. Es kam zwischen uns Männern zu einer Aussprache. Steffens gestand mir seine Liebe zu Ihnen und zugleich seine Angst, Sie würden von einem andern geliebt, der Ihrer würdiger wäre und Sie glücklicher machen würde. Aha, so dachte ich, dieser andre bist du! Karl Steffens will deinetwegen großmütig entsagen, will sie dir überlassen. Er ist von euch beiden der Selbstlosere, also der Edlere. Dabei tut diesem Manne diese Frau – gerade diese, so not, wie einer armen Mutter für ihre hungernden Kinder ein Stück Brot, und du bist doch wahrhaftig nicht der Mann, der Hungernden das Brot stiehlt. Demnach erfand ich das Märchen von der Liebe zu meiner reizenden Cousine. Ich erfand die fromme Lüge für den Fall, daß er immer noch fürchten und zweifeln sollte; denn ein Unglücklicher von dem Schlage Karl Steffens ist selbst da noch mißtrauisch, wo jeder andre blindlings glaubt.
»Sie verlobten sich mit ihm... Da Sie sich mit ihm verlobten, so liebten Sie ihn auch, so mußten Sie ihn lieben. Ich bedachte eben nicht, daß Sie zu jenen Frauen gehören, die sich selbst verleugnen um eines andern willen, die sich selbst unglücklich machen um des Glückes eines andern willen, zu jenen Frauen, die sich würden kreuzigen lassen, wenn sie durch ihren Kreuzestod jemand von seinem Leide erlösen könnten. Solche Frau sind Sie!«
Hier kam der Custode zurück und entschuldigte sich bei den Fremden: er hätte in der Capella Paola des Unwetters wegen etwas nachsehen müssen. Der Mann erzählte, der Blitz hätte an verschiedenen Stellen eingeschlagen und an mehreren Orten gezündet. Ob die Signori gehen wollten? Diese wollten noch bleiben. Das Gewitter war noch immer nicht vorüber, und sie wünschten sein Aufhören in der Kapelle abzuwarten. Der Custode besaß Einsicht genug, die Situation zu verstehen und das Paar auf die Aussicht eines guten Trinkgelds hin nicht zu belästigen. Er zog sich an seinen Platz bei der Tür zurück, woselbst er sich wie in einem andern Raum befand.
Die beiden fuhren fort, in dem höchsten Heiligtume langsam, langsam nebeneinander hinzugehen. Prisca hatte die Empfindung, als wandelte sie an der Seite des Geliebten zwischen Himmel und Erde, von dieser befreit und jenem näher. Wie schön mußte die Ewigkeit sein: welterlöst an seiner Seite als seliger Schatten dahin zu wallen.
Er sprach weiter, so leise, daß sie, um keines seiner Worte zu verlieren, ihren Atem anhielt.
»So kam es, und es hätte leicht anders kommen können ... Warum ich noch immer in Rom bin? Mir war's, als könnte ich nicht fort, nicht so fort! Als müßte ich hier noch eine Stunde erleben, wo ich Ihnen sagen, wo ich an Sie die Frage richten würde, die Sie beantworten würden. Sie wissen nicht, daß ich mehr als einmal heimlich in Rocca di Papa war, daß ich Sie dort sah, daß ich Ihnen auflauerte und dann doch nicht den Mut fand, Ihnen in den Weg zu treten und Ihren Frieden zu stören – da Sie ja Karl Steffens liebten. Aber jetzt weiß ich: Sie lieben ihn nicht, Sie wollen sich ihm nur opfern; Sie lieben mich und – Sind mir denn beide von Sinnen? Es ist noch Zeit! Da Sie sich nicht opfern dürfen, da Sie mich lieben, so muß es noch Zeit sein!... Prisca! O mein Gott, Prisca, du liebst mich ja doch!«
Unter Michelangelos Gott, der das erste Menschenpaar schuf, fiel er vor ihr nieder, umschlang sie und schluchzte krampfhaft. Sie stand regungslos, ließ es zitternd geschehen, fühlte, daß sie schuldig werde, daß sie ihre Schuld büßen müßte.
Tonlos kam es von ihren Lippen: »Soll ich dem Hungernden das Brot stehlen?«
Weiter sagte sie nichts.
Er ließ sie sogleich los, erhob sich und stammelte: »Ich danke dir! Vergib mir! Du bist besser als ich! Lebewohl! Mache ihn glücklich! Sei glücklich!«
Und er wollte gehen, da hielt sie ihn noch einmal zurück.
»Bleiben Sie noch! Gehen Sie nicht so von mir! Sie müssen mir sagen – – Ich bitte Sie, bleiben Sie!«
Er blieb stehen, kam langsam zu ihr zurück. Jetzt sagte sie ihm, was seit seinem ersten Wort ihr einziger Gedanke war:
»Sie werden nicht unglücklich? Meinetwillen! Das ist ja doch nicht möglich? Meinetwillen ein edler Mensch unglücklich! Sie werden mich vergessen; Sie werden erkennen, daß Sie mich überschätzten, daß Sie mich zu hoch stellten, viel, viel zu hoch! Lassen Sie mich das für Sie hoffen. Ich wäre so glücklich, wenn Sie sich jetzt täuschen sollten – für Sie so glücklich, dem Himmel so dankbar. Sie können mich darum ja doch in freundlicher Erinnerung behalten. Und wenn wir dann einmal voneinander hören, daß wir glücklich sind – jeder in seiner Art, so wird diese Stunde nur ein Traum gewesen sein, für mich ein leuchtender Traum, trotzdem ich darin meinem Bräutigam die Treue brach. Aber das wird mir vergeben werden; denn ich will, oh, ich will – –«
Sie sprach mit ersticktem Jammer, mit einem Weh, das sie zu überwältigen drohte. Doch sie bezwang sich und fuhr ruhiger fort:
»Was Sie mir noch sagen müssen: von Ihrer Kunst, Ihrem besten und höchsten Leben. Sie werden nach Deutschland gehen, nach München oder Berlin, und Sie werden dort in Ihrer Kunst glücklich sein können? Das ist meine größte Sorge um Sie. Verzeihen Sie, daß ich jetzt daran denke und meine Angst Ihnen sage.«
Ihre Haltung gab ihm die seine wieder.
»Es sieht Ihnen gleich, in dieser Stunde an etwas zu denken, was mein Bestes und Höchstes sein sollte: meine Arbeit. Wenig andre Frauen hätten jetzt daran gedacht. Ich werde noch Deutschland zurückkehren, aber – nicht mehr als Künstler.«
»Wie?!«
»Denn ich bin kein Künstler.«
Prisca stieß einen leisen Schrei aus, und eine Traurigkeit bemächtigte sich ihrer, wie sie zuvor niemals empfunden. Es war wie Trostlosigkeit. Mechanisch sprach sie ihm nach: »Denn Sie sind kein Künstler ...«
»Das habe ich erkannt.«
»Sie haben Talent! Sie haben ein starkes Talent! Glauben Sie doch an Ihr Talent!«
Er trat ihr näher: »Wie ich Sie kenne, wären Sie die Letzte, die mich trotz meines starken Talents einen Künstler nennen würde – was Sie einen Künstler nennen.«
Prisca schwieg. Und wenn es ihr ewiges Seelenheil gegolten, sie hätte schweigen müssen.
»Sehen Sie wohl, wie gut ich Sie kenne!« Und er lächelte. Es war ein fast glückliches, war fast sein altes, strahlendes Lächeln.
»Seit wann kamen Sie zu dieser furchtbaren Erkenntnis?«
»Seitdem ich Sie kenne.«
»Nein! O nein! Nein!«
»Und seitdem ich in Rom bin.«
»In Rom?«
»Schauen Sie doch nur hinauf.«
Er deutete mit den Augen zur Decke empor: wiederum blitzumloht der sistinische Gott.
»Jener Gott offenbarte sich mir in Rom. Unter Blitz und Donner erschien er mir und rief mir zu: ›Du sollst keine andern Götter haben neben mir!‹ Der Gott Michelangelos verkündete mir in Rom seine ewige Herrlichkeit. Seine Allmacht hat mich zu Boden geschmettert und zermalmt. Ich bin fürder nicht wert, daß ich sein Sohn heiße.«
Er sagte das sehr einfach, aber mit solchem tiefen Ernst, daß Prisca wußte: auch über dieses Menschenschicksal war in Rom eine Entscheidung gefällt worden, die unumstößlich war. So begnügte sie sich denn, ihm zu sagen: »Und was wollen Sie jetzt tun?«
»Ein neues Leben beginnen. Sie brauchen sich darum nicht zu sorgen.«
Leise erwiderte sie: »Es ist jetzt meine einzige, meine größte Sorge.«
Von dieser wollte er sie befreien: »Ich bin der Sohn eines Landmannes, war von jeher zum Landmann bestimmt, hätte nie etwas andres werden sollen. Da ich noch sehr jung bin, so ist es noch nicht zu spät, um mit bester Hoffnung einen Beruf zu erfüllen, für den der Himmel mich schuf. Ich habe fortan mit der Kunst nichts mehr zu schaffen; aber der Geist Michelangelos und Raffaels, die Gottheit, die ich leugnete, wird als der Genius des ewig Schonen und Großen mit mir sein. Das dürfen Sie glauben und darüber sich für mich freuen.«
Das Unwetter war vorüber. Plötzlich brach aus schwarzem Gewölk die Sonne hervor. Ein Glanz füllte die Kapelle, daß Prisca wie geblendet die Augen schloß.
Als sie ihre Augen wieder öffnete, war er gegangen.
In einer Gloriole von Sonnenglanz schwebte der Gott über der einsamen Frau, deren Seele er in dieser Stunde mit seinem Odem berührt und zum Leben erweckt hatte.