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Er konnte jedoch von der in der Fremde fremd Gewordenen nicht lassen. Wie hätte er das können? Er, Hanns Wolfram, von seiner Jugendliebe lassen! Das wäre Untreue gewesen. Nicht allein Untreue gegen die Geliebte, sondern auch Untreue gegen sich selbst. Dennoch ließ er sich fortan auf dem Seehof nur selten sehen, obgleich Graf und Gräfin Boten auf Boten nach ihm aussandten zu Festessen, der Heimgekehrten zu Ehren. Denn wie hätte man diese glorreicher feiern können, als durch Gastmähler? Und was auf dem Seehof ein Gastmahl besagen wollte, das war in der ganzen Gegend bekannt. Doch ließ sich der so dringlich Geladene entschuldigen: er habe in Wald und Feld viel zu tun und sei des Abends zu müde; gäbe es erst weniger Arbeit, werde er kommen. Einstweilen sei Arbeit sein Leben und dieses Leben sei das herrlichste auf der Welt.
Zu müde. Er, Hanns Wolfram, zu müde. Es war zum Lachen! Als ob er jemals müde werden könnte? Freilich versuchte er sich zu ermüden, um die Gedanken zur Ruhe zu bringen, die ihn hinterrücks überfielen gleich einer Bande von Wegelagerern. Der Braune mußte tüchtig herhalten und ermüdete früher als sein Herr. Auf den Feldern spielte der Freiherr seinen eigenen Aufseher, in den Wäldern den eigenen Förster. Zum Glück konnte er selbst um diese vorgerückte Jahreszeit noch den Auerhahn anspringen, das Birkwild schießen und, unmittelbar hinter seinem Hause, nach Herzenslust klettern bis zu den Regionen ewigen Eises hinauf. Aber auch das ermüdete ihn nicht. Seine jungen Glieder bedurften nicht des Ausruhens und seine stürmenden Gedanken gaben ihm keine Ruhe. Fand er des Nachts auf seinem Lager – es glich einem Feldbett – keinen Schlaf, so sprang er beim ersten Morgengrauen auf, weckte weder Knecht noch Magd, eilte in den Stall, sattelte selbst sein Pferd, jagte hinaus. Bis zum Seehof jagte der Liebende ...
Heute nun wollte er dem Bäschen endlich einen vetterlichen Besuch abstatten. Gerade heute war er guten Muts: die Heimat würde sie sicher sehr bald wieder heimisch machen; hatte es vielleicht schon getan. Und dann –
Seine Liebesglut heroisch dämpfend, ritt der Junker in den Seehof ein. Der Schloßwart meldete: die Komtesse befände sich unten im Garten. »Die Komtesse.« Es mußte nun einmal ein Fremdwort sein. Unmutig erwiderte er: »Du meinst, die junge Gräfin.«
»Freilich. Wir müssen aber Komtesse sagen. Das ist feiner.«
Der Schloßgarten erstreckte sich rings um den Seehof und bildete zu allen Jahreszeiten ein köstliches Blumengelände: Tulpen, Narzissen und Hyazinthen waren die ersten – Astern, Dahlien und Sonnenblumen die letzten Kinder Floras. Auf der smaragdgrünen Seeflut leuchteten, vom Winde bewegt, weiße Seerosen, gelbe Lilien säumten die Ufer, wie durch goldene Schranken das Wasser vom Land trennend. Wildenten trieben auf dem einsamen Gewässer ihr lustiges Wesen. Sie durften nicht geschossen werden und waren so zahm, daß sie nicht nur in den Schloßhof, sondern als Hausgenossen bis in die Zimmer drangen. Auch Wildgänse besuchten den Alpsee. Diese galten als Jagdwild und wurden nach einem alten Familienrezept gebeizt. Auf solchen Braten freute sich die Herrschaft wie auf ein Festmahl...
Scholastika, in hellem Sommerkleid, einen mit rosa Levkoyen garnierten Florentiner auf dem blonden Haupt, saß auf einer Steinbank am Strande. Sie schrieb mit einer Füllfeder einen Brief und war in ihre Beschäftigung so versunken, daß sie ihren Vetter erst bemerkte, als er dicht neben ihr stand. Erschreckt fuhr sie auf.
»Ich störe dich. Entschuldige.«
»Es war nur, weil ich dich nicht hörte.«
»Du schreibst?«
»An meine Freundin.«
»Wie heißt sie doch?«
»Yvonne d'Yvray.«
»Richtig! Yvonne d'Yvray aus Paris ... Sie ist doch aus Paris?«
»Ich sagte dir ja, daß sie nur aus Paris sein kann; aus der Stadt der Anmut und Lebensfreude.«
»Zugleich die Stadt höchster Sitte und Sittlichkeit, höchster Zivilisation und Kultur.«
»Wie du das sagst.«
»Es soll kein Spott sein. Denn für dich und deine Freundin ist Paris sicher das, was ihr beide in engelhafter Unschuld glaubt ... So oft ich dich jetzt sehe, muß ich dich wegen irgend einer Dummheit um Verzeihung bitten.«
»So oft du mich jetzt siehst? Seit beinah einem Monat ist es heute das dritte Mal.«
»Hast du das bemerkt?«
»Die Eltern schickten oft genug nach dir. Aber du kamst nicht.« »Es war von deinen Eltern sehr freundlich ... Du selbst ließest mir niemals sagen, ich möchte mich bei euch sehen lassen.«
Letzteres fügte er nach einer Pause hinzu, eine freundliche Antwort erwartend. Aber kühl und fremd meinte sie: »Wie käme ich dazu, dich zum Kommen aufzufordern? Bist du doch hier zu Hause.«
»Ich wäre hier zu Hause?«
»Aber Vetter Wolf –«
Der Vetter versetzte mit Haltung: »Obgleich ich hier zu Hause bin, hätte es sich für dich nicht geschickt, mir ein freundliches Wort sagen zu lassen?«
Erstaunt sah sie zu ihm auf. »Ich hielt es für unnötig. Übrigens –«
Er fiel ihr ins Wort: »Übrigens hast du in deinem vornehmen Institut vornehme Manieren gelernt, die Manieren einer Weltdame ... Schreibe ruhig weiter an deine geliebte Pariserin. Ich werde inzwischen die Eltern begrüßen.«
»Mein Brief ist so gut wie fertig.«
»Du korrespondierst mit deiner Freundin natürlich Franzosisch?«
»Natürlich.«
»Sie kann, gleichfalls natürlich, kein Wort Deutsch?«
»Wie sollte sie? Eine Pariserin? Die Franzosen finden unsre Sprache barbarisch. Hättest du dein Französisch nicht verlernt, so –«
»Vielleicht spreche ich es nur nicht, obgleich ich in München dazu genug Gelegenheit hätte. Ist doch in unsern Salons das Französische sozusagen Muttersprache. Wenigstens wird es dort ›unsre Sprache‹ genannt. Hörst du wohl: ›Unsre Sprache!‹ Vollends dann, wenn uns ein Ausländer mit seiner Gegenwart beehrt. Sofort bemühen sich sämtliche Anwesende, in einem mehr oder minder guten Französisch Konversation zu machen, stolz darauf, zeigen zu können, daß wir Deutsche doch nicht so entsetzlich unkultiviert seien. Das ist nicht etwa deutsche Höflichkeit, das ist deutsches Lakaientum, welches vor allem Fremden sich bückt und beugt.« »Aber Vetter! Vetter Wolf!«
Sie lachte ihn einfach aus. Und er lachte mit, lachte sich selbst aus über sein albernes Deutschtum, und diese Selbstverspottung tat dem Eifernden gut. Er vergaß darüber das Wehgefühl, daß das Mädchen, welches einmal seinen Namen tragen sollte, in der Heimat noch immer eine Fremde war. Er mußte Nachsicht üben, Geduld haben, um welche sie selbst ihn gebeten hatte ...
Sie erhob sich, wollte den Brief später beenden. Jetzt freute sie sich, daß er da sei, ihr »guter Vetter Wolf«. Hätte sie doch gesagt: »Ihr lieber Vetter Wolf.« Sie bat ihn: »Bleiben wir im Garten. Im Hause ist's so dumpfig und dunkel. Du glaubst nicht, wie es auf mir lastet. Ich erschrecke selbst über mich. Dort war alles Heiterkeit, und hier ist es – Tröstlich ist hier nur unser guter geistlicher Herr und jeden Morgen das heilige Meßamt. Es ist doch etwas Wundersames um unsre Kirche. Sie schlingt um alle, die zu ihr gehören, ein Band über Länder und Meere. Da du ein Sankt Georgsritter bist, wirst du das gewiß besonders stark empfinden?«
Der Befragte entgegnete gelassen: »Ich bin ein guter Katholik. Vielmehr, ein guter Christ. Wenigstens strebe ich danach, es zu sein. ›Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.‹ Mir ist, als läge in der möglichen Erfüllung dieses Dichterworts eine Weltreligion. Mehr, als mit allen Kräften sich bemühen, edel, hilfreich und gut zu sein, kann der Mensch nicht. Der Spruch sollte von Christen und Heiden jeden Morgen und Abend als Gebet gesprochen werden, die Menschheit wäre alsdann gewiß eine andre und bessere. Ich kenne deine Franzosen viel zu wenig, weiß daher nicht, ob einer ihrer großen Dichter ein ähnlich heiliges Wort gesprochen hat wie Goethe. Du mußt es wissen.«
»Ein heiliges Wort? Aber Vetter!«
»Ein hehres, heiliges Wort.«
»Und die Sakramente? Du beichtest doch regelmäßig und empfängst die heilige Kommunion?«
Der Freiherr zögerte mit der Antwort. Aber nur einen Augenblick. Dann sagte er mit dem ihm natürlichen Freimut: »Siehst du, liebe Ika, mit mir ist es so: wenn ich mich mühselig und beladen fühle oder wenn ich glaube, ein Unrecht begangen zu haben, so beichte ich meinem Herrgott unmittelbar. Ich beichte ihm nicht im Kämmerlein, sondern in seiner Gotteswelt. Ich streife durch die tiefsten Wälder und versuche das Leid in mir in der Einsamkeit zu bekämpfen; ich steige auf die höchsten Gipfel der Berge und ringe mit dem, was in mir von Übel ist; ringe es dort oben in Sonnennähe nieder, so gut es mir schwachem Menschen gelingt. Bei Sturm und Regen, bei Schnee und Frost – Mir ist die Natur immer ein Tempel, in dem ich anbete und die Gottheit demütig verehre. Im übrigen, da du danach fragst, erfülle ich die Pflichten unsrer Kirche, wie es mir geziemt, als guter Katholik sowohl, wie als Beispiel für meine Gemeinde. Aber die Natur bleibt darum doch für mich der Gottheit Allerheiligstes. Möchtest du das verstehen!« Schweigend ging sie mit ihm ins Haus, welches ihr Elternhaus war, und das sie als dunkel und dumpfig empfand: sie, die nach Licht und Lebensfreude sich sehnte.