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Fremd geworden in der Fremde! Auch auf dem Ritt zur Station immer die Erinnerung an die Worte der alten Dorfsibylle. Sie hatten sich in des jungen Mannes Seele gebohrt, daß er den Gedanken daran wie einen Stachel empfand. Heiß war ihm, nicht etwa wegen der schon sommerlich herabbrennenden Frühlingssonne, sondern weil er es im Herzen so heiß fühlte: seine Leidenschaft zu dem liebreizenden Mädchen, dem er nach langer Trennung entgegenritt.
Die Station, auf welcher der Schnellzug München – Rosenheim – Salzburg hielt, lag in ziemlicher Entfernung von Schloß und Dorf. Hanns Wolfram spornte daher seinen Braunen so heftig, daß er sein Ziel um eine volle halbe Stunde zu früh erreichte, was seine Aufregung nicht gerade verminderte. Knappe fünf Minuten vor Ankunft des Zuges traf vom Seehof die schwerfällige Staatskarosse ein, auf dem Bock in der gräflichen Livree, auch alt und grau, der Kutscher. Die Eltern waren nicht mitgekommen, ihre Tochter zu empfangen. Vermutlich waren sie mit dem Frühstück nicht rechtzeitig fertig geworden, welche kulinarische Seßhaftigkeit dem Herrn Neffen ungemein angenehm war. Hatte er nun doch auf dem Rückweg sein liebes Mühmchen für sich allein.
Der Eilzug brauste heran. Wie sein Herz pochte! Wenn ihm nach langwierigen Mühen ein starker Gemsbock endlich zu Schuß kam, wenn er einen majestätischen Zwölfender pirschte oder den balzenden Hahn ansprang, so klopfte sein Herz weniger stark. Daß er daran denken konnte? In diesem Augenblick an Gams und Hirsch und Auerhahn. Bei Sankt Hubertus! Er war doch ein wüster Gesell. Und einen solchen sollte sein holdseliges Bäschen zum Gatten nehmen? Sie würde sich hüten.
Sein holdseliges Bäschen – War sie das? Diese hochgewachsene schlanke junge Dame in elegantem englischem Reisekostüm, die, von einer Dienerin des vornehmen Instituts begleitet, einem Abteil der ersten Wagenklasse entstieg. Herrgott, und er! Er stand und starrte das feine Fräulein an. Kaum, daß er mühsam hervorbrachte: »Bist du's wirklich? Wie du dich verändert hast! Ich hätte dich nicht wieder erkannt. Wie konntest du dich so verändern?«
»Ich bin inzwischen eben groß geworden.«
»Eine Dame!«
»Da ist ja auch Georg. Guten Tag, Georg!«
Sie reichte dem Getreuen des Hauses – er hatte anno 1870 mitgemacht und stand vor der Tochter des Hauses stramm wie einstmals vor seinem Wachtmeister – die mit silbergrauem dänischen Leder bekleidete Hand. Silbergrau waren Kleid, Hut und Schleier. In silbergrauem Leder steckten – Hanns Wolfram hatte es bei ihrem Aussteigen sehen müssen – die Füßchen. Unmöglich konnte sie mit solchen Schuhen durch die Forsten schweifen, die Almen besuchen, die Berge besteigen. Aber alles, was ihm in diesem Augenblick durch den Kopf fuhr, war offenbarer Unsinn. Das würde alles anders, ganz anders werden, wenn sie erst – Ja, wenn sie erst – Wie sein junges Herz klopfte! Und wie unbeholfen er sich der stolzen Erscheinung gegenüber vorkam, so recht als Landjunker, als Oberbayer. Dieses Bewußtsein machte ihn nur noch verlegener, noch unbeholfener. Nicht anders stand er vor ihr, wie der Schorschl, den sie vornehm »Georg« nannte, was den Alten aus der Fassung gebracht hatte; denn er machte zu dem »Georg« ein ganz kurioses Gesicht. Oder war es ihr Anblick? Der Anblick dieser schlanken jungen Dame, die das kleine Fräulein Komtesse sein sollte, das Komteßchen, die Herrin und Gebieterin über alle Herzen im Seehof, im Schloß sowohl wie im Dorf.
Nun saß des guten Hanns Wolframs zukünftiges Bräutchen, aus dem inzwischen eine wunderschöne Dame geworden, in der Staatskarosse derer von Puch-Puchstein, den alten Seppl als Kutscher, den alten Schorschl in der alten Staatslivree steif auf dem Bock, sie selbst blühend wie ein Maienröslein. Dabei so vornehm! Ach, so vornehm, daß Hanns Wolfram noch immer nicht sich selbst wiederfand. Er ritt dicht neben dem Wagen und hatte Mühe, den Schritt des Braunen der gemächlichen Gangart der wohlgenährten gräflichen Pferde anzupassen.
Hanns Wolfram begann das Gespräch mit der so wundersam veränderten Jugendgeliebten, die gedankenvoll und schwermütig in die noch winterliche Gebirgswelt hinausschaute. Es ward dem Guten schwer, Worte zu finden, und doch drückte auf ihn das Schweigen wie Gewitterschwüle: es war so unnatürlich! Nach Jahren der Trennung und Sehnsucht endlich zusammen mit dem Bäschen, er, der wie ein Schulknabe vor den Ferien, im Kalender jeden Tag bis zu ihrer Rückkehr ausgestrichen hatte. Jetzt war sie da, an seiner Seite, wunderbar schön mit der Fülle ihres goldenen Haares, den großen genzianenblauen Augen und einem Munde, ach, einem Munde – Und sie schwiegen. Was hatte er ihr gleich in erster Stunde alles sagen wollen! Und nun? Endlich sprach er: »Daß du in dem fremden Land der Heimat fremd wurdest – Denn das wurdest du! Und in welch einem fremden Land! Belgien ist womöglich noch französischer als Frankreich, Brüssel noch pariserischer als Paris. Und du, eine gute Deutsche –«
Das letztere kam ihm halb ungewollt über die Lippen. Die junge Gräfin erwiderte: »Weshalb sollte ich nicht dort gewesen sein, weil ich eine Deutsche bin? Sind wir Deutschen nicht überall? Lieben nicht gerade wir Deutschen alles Fremde? Belgien ist ein herrliches Land, Brüssel eine himmlische Stadt. Ich werde mich noch lange dorthin zurücksehnen.«
»Und wir sehnten uns volle zwei Jahre nach dir!«
»Sehr freundlich von euch.«
»Das sagst du so gelassen, so gleichgültig? Weißt du, was das heißt, zwei Jahre der Sehnsucht? Und du wirst dich noch lange nach der Fremde zurücksehnen?«
»Ich trennte mich dort von meiner liebsten, meiner einzigen Freundin, einem wundersamen Geschöpf, ganz Anmut und Liebreiz. Sie verließ zugleich mit mir das Institut und ging nach Paris. Denke doch: nach Paris! Schon in München erhielt ich von ihr einen Brief. Sie ist von Paris begeistert, hingerissen. Paris fasziniert sie. Ihre Eltern führen sie schon in nächster Zeit ein in die große Welt. Sie wird Sensation machen. Und wie sie mich liebt! Es ist seltsam, sich so geliebt zu wissen.«
Unwillkürlich sprach Hanns Wolfram ihr die Worte nach: »Es ist seltsam, sich so geliebt zu wissen ...«
Nach einem Schweigen, welches beiden unbehaglich war, fuhr das schöne Mädchen fort: »Yvonnes Eltern besitzen an der französischen Riviera ein Landhaus. Dort ist längst Frühling, ist während des ganzen Winters Frühling, ein einziges blühendes Wunder das ganze Land.«
Er erwiderte nur drei Worte: »Sieh dich um!«
Und die Heimgekehrte schwieg.
»Es ist deine Heimat, ist Deutschland! Verstehst du? Heimat, Deutschland! Wenn es für den Menschen heiliges Land gibt, so ist es Heimat und Vaterland.«
Dann nach einer kleinen Weile, da sie stumm blieb: »Das ganze Land ein einziges blühendes Wunder. Noch einmal: sieh dich um! Höre das Willkommen, mit dem die Heimat dich empfängt; höre den Donner der Lawinen. Du kannst sie sehen: dort und dort und dort! Wie mit silbernen Schleiern weht dir die Heimat ihre Grüße zu. Höre den Widerhall! keiner Königin kann ein großartigerer Empfang zuteil werden und du staunst nicht, bist nicht entzückt?«
Er war fast beredt geworden, alle Unbeholfenheit, jede Scheu war von ihm gewichen. Leuchtenden Blicks schaute er auf das Landschaftsbild: seine Heimat, sein Vaterland! Plötzlich streckte sich dem Reiter eine Hand entgegen. Da er sie nicht gleich sah, mußte Scholastika ihn anrufen. Er nahm die schlanke Hand und drückte sie, als sei es die Hand eines guten Kameraden. Ohne zu zucken hielt das Fräulein den Druck der Hand aus, die ein durchgehendes Pferd zügeln und den Pflug führen konnte.
Wäre er kein rauher Landjunker gewesen, so wäre ihm aus dem Lächeln, mit dem das schöne Mädchen ihm die Hand entgegengestreckt, ein ganzes Heer Liebesgötter zugeflogen und hätte ihn wie ein Schmetterlingsschwarm umflattert. Immerhin löste sich etwas in seinem Herzen, was ihn seit dem Wiedersehen gleich einem Alp drückte. Dabei war sein Herz voll von einer Liebe, für die es bei einem Manne seiner Art keine Worte gab.
Auch kein Ende...
Obgleich sie ihm noch immer fremd erschien, fiel er doch in seine Starrheit nicht wieder zurück und ritt dem ehrwürdigen Vehikel mit seiner schönen Insassin so nahe, daß die Beine des Braunen in Gefahr standen, unter die Räder zu kommen. Er sprach vom Seehof und von seinem waldumrauschten Bergschloß hoch über dem weiten welligen Fruchtland der Vorberge. Diese ganze gesegnete Welt war sein! Diese ganze gesegnete Welt würde außer ihm noch einer Zweiten gehören.
Da verstummte er wieder, heiße Glut im Gesicht, wie ein beim Apfeldiebstahl ertappter Schulknabe. Scholastika merkte es nicht. Kaum hatte sie hingehört, was er mit solchem Eifer berichtete. Gewiß war er ein guter Junge, überdies ihr Vetter und Jugendfreund, ein prächtiger Mensch; aber doch anders, so ganz anders, als ihre Mädchenphantasie die Gestalt sich träumte, die ihrem Leben einmal seinen Inhalt geben sollte, einen glücklichen, glanzvollen Inhalt. Jetzt schreckte sie aus ihrem Sinnen auf. Er, den sie mit jener Phantasiegestalt unwillkürlich verglichen hatte, fragte sie – Was doch gleich? Ach, ja so! Wie es ihr während der langen Zeit der Trennung ergangen sei?
»Wie es mir ergangen ist?«
»Ja, Ika. Denn mir fällt nicht ein, dich bei deinem feierlichen Namen zu nennen. Für mich warst du ›Ika‹, als du noch ein ganz kleines Kind warst, das ich in meinen Armen herumschleppte wie ein Püppchen. Jawohl, meine stolze Dame, auch an meinem Herzen hielt! Und für mich bleibst du Ika, ob es dem gestrengen Fräulein recht ist oder nicht.«
»Nenne mich, wie du willst, Vetter Hanns Wolfram.«
»Nur Wolf, wenn ich bitten darf, wie du mich sonst immer nanntest; schon damals, als wir Braut und Bräutigam spielten.«
»Braut und Bräutigam, du und ich?«
»Jawohl. Du und ich! Und zwar waren wir auch dann noch Braut und Bräutigam, wenn du später aus dem Kloster in die Ferien heimkamst. Wir küßten uns sogar, wie das Braut und Bräutigam zu tun pflegen ... Sieh mich nur unnahbar königlich an! Die beiden auf dem Bock verstehen uns nicht bei dem Gerassel der ehrwürdigen Staatskarosse, und wenn sie auch verstehen sollten – Die Alten dort oben wissen es so gut wie du und ich.«
In seiner Erregung stieß er die Worte heftig hervor. Da sagte sie, wenn auch nicht gerade unnahbar-königlich, so doch voll kühler Hoheit: »Wenn du es weißt – ich weiß es nicht. Verstehst du, Vetter Wolf? Ich wünsche nicht, es zu wissen.«
»Du wünschest nicht –«
Er konnte nicht weiter sprechen, es erstickte ihn fast. Als habe der kleine Zwischenfall nicht stattgefunden, sprach sie weiter: »Wie es mir in Brüssel ergangen ist? Siehst du das nicht? Herrlich erging es mir! Es war eine glückliche Zeit: Jugend, Freude, Freundschaft. Wir fühlten uns alle gleichsam unsterblich jung, und das Leben in dem glanzvollen, dem goldenen Brüssel war, trotz aller Abgeschlossenheit der Anstalt, doch – Leben! Und dann meine Freundin, Yvonne d'Yvray, von der ich vorhin sprach. Stelle dir vor – Aber ich kann sie dir nicht schildern. Ein lebendes Gedicht, ein verkörpertes Frühlingslied. Auch ist die Trennung noch zu frisch, um von ihr sprechen zu können. Überdies würdest du mich gar nicht verstehen. Wie solltest du auch? Überhaupt, Vetter Wolf, unser Leben war so verschieden von allem, was du kennst, daß du es unmöglich verstehen kannst. Also lassen wir das und seien wir die guten Freunde, die wir vorher waren.«
Unwillkürlich sprach er ihr auch jetzt wieder nach: »Gute Freunde...« Darauf heftig: »Was verstünde ich von deinem Leben nicht? Wenigstens darf ich fragen, da ich gern verstehen möchte und da dein Leben auf dem Seehof dem meinen in vielem sehr gleichen wird. Oder hältst du mich für zu plump und zu bäurisch, nun du eine so feine Dame geworden bist?«
»Ich wollte dich nicht kränken.«
»Du tatest es aber!«
»Ich meine, du kannst nicht verstehen, aus welcher Welt ich zurückkehre. Dieses Belgien, dieses Brüssel – das Leben dort gleicht einer Reihe von Festtagen. Wer dort lebt, glaubt nicht, daß das Leben schwer sein könnte oder gar traurig und trübselig. Man möchte immer in weißen Gewändern einhergehen und mit Rosen sich kränzen ... Siehst du wohl, wie recht ich habe, daß du mich nicht verstehen kannst. Ich werde Heimweh haben, habe es schon jetzt. Auch Heimweh nach der schönen Stadt, die ich verließ, und die mir heute als die Stadt aller Lebensfreude erscheint. Und Yvonne – Wir sind Freundinnen für das ganze Leben ... Du mußt Nachsicht mit mir haben. Das müßt ihr alle.«
»Deine Freundin für das ganze Leben ist also keine Deutsche?«
»Ich sagte dir doch, eine Deutsche kann gar nicht sein, wie sie ist. Eine Yvonne d'Yvray kann nur aus Paris sein. Wenn du sie kenntest, würdest du es verstehen.«
»Wofür?«
»Dafür, daß du mich nicht für zu dumm und zu michelhaft deutsch hältst, um zu verstehen, daß das Fräulein aus Paris unmöglich eine Deutsche sein könnte. Aber du wolltest mich ja wohl nicht kränken? Jedenfalls werde ich mir den Namen der Pariser Elfe merken: Yvonne d'Yvray. Es klingt hübsch wie der Name der Heldin eines französischen Romans. Doch das verstehst nun du wieder nicht. Du brauchst nicht zu erröten.«
Sie näherten sich dem Seehof. Die Dorfleute waren versammelt, die Eltern winkten vom Turm herab, Böllerschüsse krachten, das Echo der Alpen weckend. Jeder Schuß donnerte in die glanzvolle Frühlingswelt hinaus: »Willkommen! Willkommen! Die Tochter des Hauses kehrt zurück! Willkommen, willkommen zu Hause!«
Als die Karosse mit der feinen fremden Dame über den Brückenweg rollte und in das graue Gemäuer einfuhr, war kein Hanns Wolfram mehr zu sehen. Vor dem Schloßhof hatte er kurzerhand kehrt gemacht, war davongeritten, hatte dem Braunen die Sporen gegeben, gejagt von der Erkenntnis: »Fremd geworden in der Fremde!«