François Marie Arouet de Voltaire
Erzählungen
François Marie Arouet de Voltaire

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Der Harmlose

Eine wahre, den hinterlassenen Papieren des Pater Quesnel entnommene Geschichte.

1767

Erstes Kapitel:
Wie der Prior Unserer lieben Frau vom Berge und sein Fräulein Schwester einem Huronen begegneten.

Eines schönen Tages fuhr der fromme Dunstan, Irländer von Geburt und Heiliger von Beruf, von Irland auf einem kleinen Berge ab, welcher nach der französischen Küste hinüberschaukelte, und gelangte auf diesem Gefährt in die Bucht von Saint-Malo. Nachdem er ans Land gestiegen, erteilte er dem Berge seinen Segen; dieser verneigte sich zu wiederholten Malen tief vor ihm und schwamm dann auf demselben Wege, den er gekommen war, nach Irland zurück.

Dunstan gründete in der Gegend ein kleines Kloster und gab ihm den Namen: die Abtei vom Berge, welchen es, wie jedermann weiß, noch heute trägt.

Am Abend des 15. Juli im Jahre 1689 lustwandelte der Abt von Kerkabon, Prior Unserer lieben Frau vom Berge, mit Fräulein von Kerkabon, seiner Schwester, am Meeresufer, um frische Luft zu schöpfen. Der dem Greisenalter nahe Prior war ein vortrefflicher Geistlicher, der von seinen Nachbarn geliebt wurde, nachdem ihm ehemals so von seinen Nachbarinnen geschehen. Vor allem hatte ihm der Umstand ein großes Ansehen verschafft, daß er der einzige Pfründner des Landes war, den man nicht ins Bett tragen mußte, wenn er mit seinen Amtsbrüdern zusammen zu Nacht gespeist hatte. Er war ein wackerer Theologe, und wenn er es müde geworden, im Heiligen Augustin zu lesen, ergötzte er sich am Rabelais: so sprach denn auch jedermann gut von ihm.

Fräulein von Kerkabon, die niemals verheiratet gewesen war, obgleich sie gar große Lust dazu verspürt hatte, besaß noch im Alter von fünfundvierzig Jahren die Frische der Jugend. Sie hatte ein freundliches, weiches Gemüt, liebte das Vergnügen und war fromm.

Während der Prior auf das Meer hinausblickte, sagte er zu seiner Schwester: »Ach, hier war's, wo sich unser armer Bruder mit Frau von Kerkabon, seinem Weibe, unserer lieben Schwägerin, im Jahre 1669 auf der Fregatte »Die Schwalbe« einschiffte, um drüben in Kanada Dienste zu tun. Wäre er nicht getötet worden, dürften wir noch hoffen, ihn wiederzusehen.«

»Glaubst du,« sagte Fräulein von Kerkabon, »daß unsere Schwägerin wirklich von den Irokesen gefressen worden ist, wie man uns mitgeteilt hat?« »Wäre sie nicht gefressen worden, so würde sie doch sicherlich in die Heimat zurückgekehrt sein. Ich werde sie bis an mein Lebensende beweinen, sie war eine reizende Frau, und unser Bruder war ein so gescheiter Mann, daß er sich gewißlich ein großes Vermögen erworben haben würde.«

Während sie nun beide diesen Erinnerungen gar betrüblich nachhingen, sahen sie ein kleines Schiff von der Flut getragen in die Rencer Bucht einlaufen. Es waren Engländer, die allerlei Erzeugnisse ihres Landes verkaufen wollten; sie sprangen ans Land, ohne den Herrn Prior und sein Fräulein Schwester anzublicken, und diese fühlte sich von solch großem Mangel an Höflichkeit ihr gegenüber äußerst verletzt.

Nicht ebenso benahm sich ein junger wohlgewachsener Mann, der mit einem Sprunge über die Köpfe seiner Gefährten hinweggesetzt war und nun dem gnädigen Fräulein gegenüberstand: er nickte ihr mit dem Kopfe zu, denn der Brauch, eine Verbeugung zu machen, war ihm nicht geläufig. Sein Antlitz und seine Kleidung zogen die Blicke des Bruders und der Schwester auf sich: er ging barhäuptig, seine Beine waren nackt, seine Füße staken in dünnen Sandalen, sein Haupt schmückten lange geflochtene Haare, ein kurzes Wams schnürte seinen zarten schlanken Rumpf, seine Miene war zugleich kriegerisch und sanft, und in der einen Hand hielt er eine kleine Flasche mit Antillenwasser, in der anderen eine Art Beutel; darinnen befanden sich ein Becher und gar treffliche Schiffszwiebacke. Er sprach völlig verständlich Französisch. Er bot der Fräulein von Kerkabon und ihrem Herrn Bruder von seinem Antillenwasser an, trank einen Schluck mit ihnen und nötigte sie dann noch einmal zum Trinken, und alles das in einer schlichten und so natürlichen Weise, daß Bruder und Schwester sich herzlich angetan fühlten. Sie boten ihm ihre Dienste an und fragten ihn, wer er sei und wohin er ginge? Der junge Mann erwiderte ihnen, er wisse es nicht, er sei nur neugierig, habe die französische Küste einmal sehen wollen, sei deshalb gekommen und würde nun wieder zurückfahren.

Da der Herr Prior an seinem Tonfall hörte, daß er kein Engländer sei, nahm er sich die Freiheit, ihn zu fragen, aus welchem Lande er herstamme. »Ich bin Hurone,« erwiderte der junge Mann.

Fräulein von Kerkabon, die erstaunt und entzückt zugleich war, einen Huronen zu sehen, der sich so artig gegen sie betragen hatte, lud den jungen Mann zum Abendessen ein; er ließ sich nicht zweimal bitten, und so begaben sich denn alle drei gemeinschaftlich nach dem Kloster Unserer lieben Frau vom Berge.

Das kurze runde Fräulein besah ihn aus all ihren kleinen Augen und sagte von Zeit zu Zeit zum Prior: »Dieser große Junge hat eine Lilien- und Rosenhaut, gar zu schön für einen Huronen!« »Du hast recht, meine Schwester«, erwiderte der Prior. Sie stellte Schlag auf Schlag wohl an die hundert Fragen, und der Reisende beantwortete sie stets richtig und gut.

Bald verbreitete sich das Gerücht, daß sich ein Hurone im Kloster aufhalte. Die gute Gesellschaft des Kreises beeilte sich, sich dort zum Nachtmahle einzufinden. Der Abt von Saint-Yves erschien mit seiner Fräulein Schwester, einer sehr hübschen und trefflich erzogenen Niederbretonin. Auch der Amtmann und der Steuereinnehmer nahmen mit ihren Frauen an dem Abendessen teil. Man setzte den Fremden zwischen Fräulein von Kerkabon und Fräulein von Saint-Yves. Alle sahen ihn mit Bewunderung an, und alle sprachen zu ihm und fragten ihn zu gleicher Zeit; der Hurone ließ sich dadurch nicht verwirren, er schien den Wahlspruch des Lord Bolingbroke: »Nihil admirari« auch zu dem seinen gemacht zu haben; schließlich jedoch rief er verzweifelt über all den Lärm mit einiger Sanftmut: »Meine Herren, in meiner Heimat spricht stets einer nach dem anderen, wie soll ich es anfangen, Ihnen zu antworten, wenn Sie mich selber daran hindern, Sie zu verstehen?« Die Vernunft vermag die Menschen stets für einige Augenblicke zur Selbstbesinnung zu bringen, und so trat denn auch jetzt ein tiefes Schweigen ein. Der Herr Amtmann, welcher sich stets der Fremden bemächtigte, in welchem Hause er auch immer sein mochte, und außerdem der größte Fragesteller der Provinz war, öffnete jetzt seinen Mund einen halben Fuß weit und sprach: »Wie heißen Sie, mein Herr?« »Man hat mich stets den Harmlosen genannt,« erwiderte der Hurone, »und dieser Name ist mir in England bestätigt worden, weil ich stets gar kindlich heraussage, was ich denke, und immer tue, was ich will.«

»Wie haben Sie, mein Herr, als geborener Hurone nach England gelangen können?« »Man hat mich dorthin gebracht, ich bin in einem Kampfe von den Engländern zum Gefangenen gemacht worden, nachdem ich mich wacker verteidigt hatte, und da die Engländer Tapferkeit lieben, weil sie selber tapfer und ebenso höflich sind wie wir, machten sie mir den Vorschlag, mich entweder meinen Eltern wiederzugeben oder mich nach England mitzunehmen; da entschloß ich mich zu dem letzten, weil ich von Natur leidenschaftlich gern fremde Länder sehe.«

»Wie, mein Herr,« rief der Amtmann in seinem gewaltigen Ton, »haben Sie dergestalt Vater und Mutter verlassen können?« »Weil ich weder Vater noch Mutter gekannt habe,« erwiderte der Fremde. Die Gesellschaft war gerührt und jedermann wiederholte »Weder Vater noch Mutter!« »Wir wollen ihm beides ersetzen,« sagte die Herrin des Hauses zu ihrem Bruder, dem Prior, »dieser Herr Hurone ist so äußerst interessant!« Der Harmlose dankte ihr mit edler und stolzer Herzlichkeit und gab ihr zu verstehen, daß er keiner Sache bedürftig sei.

»Ich bemerke, Herr Harmlos,« sagte der würdige Amtmann, »daß Sie besser Französisch sprechen, als einem Huronen gegeben sein möchte!« »Ein Franzose, den wir in meiner Kindheit im Huronenlande zum Gefangenen gemacht hatten und mit dem mich eine gar herzliche Freundschaft verband, hat mich seine Sprache gelehrt. Ich lerne sehr schnell, was ich lernen will. Bei meiner Ankunft in Plymouth begegnete ich einem Ihrer geflüchteten Franzosen, die Sie, ich weiß nicht warum, Hugenotten nennen; er hat mir zu weiteren Fortschritten in der Kenntnis Ihrer Sprache verholfen, und sobald ich mich nur erst verständlich auszudrücken vermochte, bin ich in Ihr Land hinübergekommen, denn ich liebe die Franzosen von Herzen, sobald sie nicht allzuviele Fragen stellen.«

Trotz dieses kleinen Vorbehaltes fragte ihn der Abt von Saint-Yves nun, welche der drei Sprachen ihm am meisten gefalle, Huronisch, Englisch oder Französisch? »Huronisch unstreitig«, antwortete der Harmlose. »Ist es möglich,« rief Fräulein von Kerkabon, »ich hatte stets geglaubt, daß nach dem Niederbretonischen Französisch die schönste von allen Sprachen sei.«

Nun galt's den Harmlosen zu fragen, wie Tabak auf huronisch heiße, und er antwortete »taya«, und wie Essen, er antwortete »essenten«. Fräulein von Kerkabon wollte durchaus wissen, wie man die Ausübung der Liebe benenne, er antwortete »trovander«Alle diese Worte sind tatsächlich huronisch. und behauptete nicht völlig unrichtig, daß alle diese Worte die entsprechenden französischen und englischen gar wohl aufwögen. »Trovander« dünkte allen Geladenen sehr hübsch.

Der Herr Prior hatte in seiner Bibliothek eine huronische Grammatik, die ihm der ehrwürdige Pater Sagar Theodat, ein berühmter Franziskaner-Missionar, zum Geschenk gemacht, und erhob sich nun für einen Augenblick von Tisch, um sie zu befragen. Ganz außer Atem vor Liebe und Freude kehrte er zurück und erkannte den Harmlosen für einen echten Huronen. Man stritt ein wenig über die Mannigfaltigkeit der Sprachen und kam schließlich dahin überein, daß ohne den Vorfall des Turmbaues zu Babel die ganze Erde Französisch sprechen würde.

Der fragsüchtige Amtmann, welcher bis dahin einiges Mißtrauen in die Persönlichkeit des Harmlosen gesetzt hatte, gewann nun die größte Achtung für ihn und befleißigte sich ihm gegenüber in seiner Redeweise weit größerer Höflichkeit als bisher, was der Harmlose nicht beachtete.

Fräulein von Saint-Yves war äußerst begierig zu erfahren, auf welche Weise man im Lande der Huronen Liebe bezeige. »Indem man schöne Handlungen begeht, um den Frauenzimmern zu gefallen, die Ihnen ähnlich sind«, erwiderte der Harmlose. Alle Geladenen klatschten staunend Beifall. Fräulein von Saint-Yves errötete und war glücklich. Fräulein von Kerkabon errötete ebenfalls, war aber nicht ebenso zufrieden; sie fühlte sich ein wenig gekränkt, daß die Artigkeit nicht an sie gerichtet gewesen war. Bei ihrer Herzensgüte tat dieses jedoch ihrer Zuneigung zu dem Huronen keinerlei Abbruch; sie fragte ihn mit vieler Freundlichkeit, wieviele Liebchen er im Huronenlande gehabt habe? »Ein einziges nur,« erwiderte der Harmlose, »es war Fräulein Abacaba, eine nahe Freundin meiner lieben Pflegemutter. Schilf ist nicht schlanker, Hermelin nicht weißer, ein Lamm nicht sanfter, ein Adler nicht weniger stolz und die Hirsche nicht leichtfüßiger als Abacaba war. Eines Tages verfolgte sie in unserer Nachbarschaft, ungefähr fünfzig Meilen von unserer Wohnstatt entfernt, einen Hasen, und ein schlecht erzogener Algonkin, der um hundert Meilen weiter entfernt wohnte, nahm ihr ihren Hasen fort. Ich erfuhr es, eilte hinzu, schmetterte den Algonkin mit einem Keulenschlage zu Boden und schleppte ihn mit gebundenen Füßen und Fäusten vor meine Geliebte. Die Eltern Abacabas wollten ihn aufessen, aber ich habe an derlei Schmausereien niemals Geschmack finden können; so gab ich ihm denn seine Freiheit wieder und machte ihn zu meinem Freunde. Abacaba war von meinem Vorgehen so gerührt, daß sie mir vor all ihren Liebhabern den Vorzug gab: wäre sie nicht von einem Bären aufgefressen worden, würde sie mich noch immer lieben; den Bären habe ich bestraft und lange sein Fell getragen, aber das hat mich nicht getröstet.«

Bei dieser Erzählung empfand Fräulein von Saint-Yves eine heimliche Freude daran, zu erfahren, daß der Harmlose nur eine Geliebte gehabt hatte und daß Abacaba nun nicht mehr sei; die Ursache ihrer Freudigkeit erriet sie jedoch nicht. Aller Augen waren auf den Harmlosen gerichtet, und man lobte ihn von Herzen, daß er seine Gefährten verhindert hatte, einen Algonkin aufzuessen.

Der unerbittliche Amtmann, der seine Fragewut nicht zu unterdrücken vermochte, trieb die Neugierde schließlich so weit, wissen zu wollen, welche Religion der Herr Hurone bekenne, und ob er sich für die anglikanische, die gallikanische oder die hugenottische entschieden habe. »Ich bekenne meine Religion,« entgegnete er, »wie Sie die Ihre.« »Oh,« rief die Kerkabonin, »offenbar haben die unglücklichen Engländer noch nicht einmal daran gedacht, ihn zu taufen!« »Gott, mein Gott,« sagte Fräulein von Saint-Yves, »wie kann es sein, daß die Huronen keine Katholiken sind? Haben die ehrwürdigen Jesuitenväter sie denn nicht alle bekehrt?« Der Harmlose versicherte, daß sich in seiner Heimat niemand bekehren lasse, daß ein echter Hurone noch niemals seine Meinung geändert habe, ja, daß es in seiner Sprache nicht einmal einen Ausdruck für den Begriff der Unbeständigkeit gäbe. Diese letzten Worte gefielen Fräulein von Saint-Yves über die Maßen.

»Wir werden ihn taufen, wir werden ihn taufen«, sagte die Kerkabonin zu dem Herrn Prior. »Du, mein lieber Bruder, wirst alle Ehre davon haben, ich aber will unter allen Umständen seine Patin sein. Der Herr Abt von Saint-Yves soll ihn über das Taufbecken halten! Welch glänzende Feier wird das nicht werden, in der ganzen Niederbretagne wird man davon sprechen, und uns wird unendliche Ehre daraus erwachsen!« Die ganze Gesellschaft stimmte der Herrin des Hauses bei, alle Geladenen riefen: »Wir werden ihn taufen.« Der Harmlose erwiderte, daß man in England die Leute nach ihrem eigenen Gefallen leben ließe. Er gab zu erkennen, daß der Vorschlag ihm keineswegs behage, daß das göttliche Gesetz der Huronen zum mindesten ebensogut sei, wie das der Niederbretonen, und schließlich sagte er, er würde schon am nächsten Morgen wieder abreisen. Man trank nun seine Flasche mit Antillenwasser bis auf die Neige aus, und dann ging jedermann zu Bett.

Nachdem der Harmlose in sein Zimmer geführt worden war, konnten Fräulein von Kerkabon und ihre Freundin, Fräulein von Saint-Yves, es nicht unterlassen, durch ein recht großes Schlüsselloch zu schauen, um zu sehen, wie ein Hurone schlafe. Sie sahen, daß er die Decke aus dem Bett auf die Diele gebreitet hatte und in der schönsten Stellung von der Welt darauf ruhte.

 

Zweites Kapitel:
Der Hurone, genannt der Harmlose, wird von seinen Verwandten erkannt.

Seiner Gewohnheit gemäß erwachte der Harmlose mit der Sonne beim ersten Krähen des Hahns, den man in England und im Lande der Huronen die Trompete des Tages nennt. Der Harmlose war nicht wie die feinen Leute, die auf müßigem Lager dahindämmern, bis die Sonne die Hälfte ihres Weges zurückgelegt hat, und die weder schlafen noch sich erheben können und dergestalt viele kostbare Stunden in einem mittleren Zustande zwischen Leben und Tod verlieren, und sich dann noch beklagen, daß das Leben so kurz sei.

Er hatte bereits zwei oder drei Meilen zurückgelegt und schon dreißig Stück Wild mit der Kugel getötet, als er zurückkehrend den Herrn Prior Unserer lieben Frau vom Berge und seine keusche Schwester in Nachtmützen in ihrem Garten lustwandelnd antraf. Er übergab ihnen seine gesamte Jagdbeute, und darauf zog er aus seinem Hemde eine Art kleinen Talisman, den er stets am Halse trug, und bat sie, ihn als Dank für die freundliche Aufnahme anzunehmen. »Es ist das Kostbarste, was ich besitze«, sprach er; »man hat mir versichert, ich würde stets glücklich sein, solange ich dieses kleine Ding an mir trüge; ich schenke es Ihnen, auf daß Sie stets glücklich sein möchten.«

Der Prior und das gnädige Fräulein lächelten gerührt über die Kindlichkeit des Harmlosen: das Geschenk bestand aus zwei kleinen, ziemlich schlecht gemachten Bildnissen, welche von einem sehr fettigen Lederriemchen zusammengehalten wurden.

Fräulein von Kerkabon fragte ihn, ob es im Huronenlande Maler gäbe. »Nein,« sagte der Harmlose, »dieses kleine Wunderding stammt von meiner Pflegemutter, ihr Gatte hatte es sich erobert, als er etliche Franzosen aus Kanada, welche mit uns Krieg führten, ausplünderte; das ist alles, was ich darüber erfahren habe.«

Der Prior betrachtete die beiden Bildnisse aufmerksam, wechselte die Farbe und rief ergriffen und mit zitternden Händen: »Bei Unserer lieben Frau vom Berge, ich glaube, das ist das Antlitz meines Bruders, des Hauptmannes, und das seines Weibes!« Nachdem das gnädige Fräulein die Bildnisse ebenfalls betrachtet hatte, fällte sie, im Innersten bewegt, ein gleiches Urteil; beide fühlten sich von Verwunderung und einer mit Schmerz gemischten Freude ergriffen, beide überkam Rührung und beide weinten; ihre Herzen klopften, Ausruf über Ausruf drängte sich über ihre Lippen, sie nahmen sich gegenseitig die Bildnisse aus den Händen, jedes von ihnen ergriff sie und gab sie wohl an die zwanzigmal in einer Sekunde wieder zurück; sie verschlangen die Bildnisse und den Huronen mit ihren Augen und fragten ihn nacheinander und dann wieder zugleich, an welchem Orte, zu welcher Zeit und auf welche Weise diese kleinen Bilder in die Hände seiner Pflegemutter gelangt seien. Sie verglichen und berechneten die Zeit seit der Abreise des Hauptmanns und erinnerten sich, Nachricht bekommen zu haben, daß er bis zum Lande der Huronen vorgedrungen sei, seitdem hatten sie dann nie wieder etwas von ihm gehört.

Der Harmlose hatte ihnen gesagt, daß er weder Vater noch Mutter gekannt habe. Der Prior, der ein kluger Kopf war, bemerkte, daß der Harmlose einen Anflug von Bart hatte, und wußte sehr wohl, daß dies bei den Huronen nicht vorkommt, er sagte daher: »Sein Kinn ist beflaumt, er ist also der Sohn eines Europäers! Mein Bruder und meine Schwägerin tauchten nach dem Streifzuge gegen die Huronen im Jahre 1669 nicht wieder auf, mein Neffe muß damals noch ein Säugling gewesen sein! Die huronische Pflegemutter hat ihm das Leben gerettet und ihm die Mutter ersetzt.« Nach hundert Fragen und Antworten folgerten der Prior und seine Schwester endlich, daß der Hurone ihr leiblicher Neffe sei. Unter Tränen umarmten sie ihn, und der Harmlose lachte, da er sich nicht vorstellen konnte, daß ein Hurone der Neffe eines niederbretonischen Priors sei.

Unterdessen kam die ganze Gesellschaft herunter, und Herr von Saint-Yves, der ein großer Physiognomiker war, verglich die beiden Bildnisse mit dem Gesicht des Harmlosen und wies sehr geschickt nach, daß er die Augen von der Mutter, Stirn und Nase von dem verstorbenen Herrn Hauptmann von Kerkabon und die Backen von beiden habe.

Fräulein von Saint-Yves, welche weder den Vater noch die Mutter jemals gesehen, versicherte, daß der Harmlose ihnen völlig ähnlich sei. Darauf bewunderten alle die Vorsehung und die Verkettung der Ereignisse auf dieser Welt. Schließlich war man so durchdrungen, so überzeugt von der Abstammung des Harmlosen, daß er selber dareinwilligte, der Neffe des Herrn Priors zu sein, was er mit den Worten tat, er wolle ihn gerade so gern zum Onkel haben wie irgend sonst jemanden.

Man begab sich in die Kirche Unserer lieben Frau vom Berge, um Gott Dank zu sagen, der Hurone ging unterdessen völlig gleichmütig ins Haus, um einen Schluck zu trinken.

Die Engländer, die ihn hergebracht hatten und jetzt im Begriff waren, die Segel zu setzen, kamen, um ihm zu melden, daß es Zeit zur Abreise sei. »Oh,« rief er, »offenbar habt ihr hier keine Onkel und keine Tanten gefunden, ich meinerseits bleibe hier! Kehret immer nach Plymouth zurück, ich schenke euch all meine Sachen, denn ich brauche sie nicht mehr, da ich Neffe eines Priors geworden bin.« Die Engländer stachen also in See und schierten sich herzlich wenig darum, ob der Harmlose Verwandte in der Niederbretagne hatte oder nicht.

Nachdem der Onkel, die Tante und die Gäste das Tedeum gesungen, nachdem der Amtmann den Harmlosen noch einmal mit Fragen überschüttet und man alles erschöpft hatte, was Erstaunen, Freude und Zärtlichkeit auf die Lippen legen können, beschlossen der Prior vom Berge und der Abt von Saint-Yves, den Harmlosen schnellstens zu taufen. Das war jedoch bei einem großen Huronen von zweiundzwanzig Jahren nicht so leicht wie bei einem Kinde, das man wiedergebärt, ohne daß es etwas davon weiß. Der Harmlose mußte unterrichtet werden, und das erschien schwierig, denn der Abt von Saint-Yves vermutete, ein Mensch, der nicht in Frankreich geboren sei, könne unmöglich einen gesunden Verstand haben.

Der Prior wies nun die Gesellschaft darauf hin, daß, wenn der Harmlose, sein Neffe, auch nicht das Glück gehabt habe, in der Niederbretagne geboren zu werden, er darum doch nicht weniger Verstand besäße, dies könne man aus allen seinen Antworten entnehmen, sicherlich habe die Natur ihn sowohl von seiten des Vaters wie von der Mutter Seite außerordentlich begünstigt.

Man fragte ihn nun zunächst, ob er jemals irgendein Buch gelesen habe. Er erwiderte, er habe Rabelais in einer englischen Übersetzung gelesen und ein paar Stellen aus dem Shakespeare, die er auswendig wisse; diese Bücher habe er bei dem Kapitän des Schiffes gefunden, mit dem er von Amerika nach Plymouth gekommen sei, und sie hätten ihm sehr gefallen. Der Amtmann verfehlte nicht, ihn über diese Bücher eingehend zu befragen. »Ich gestehe Ihnen,« erwiderte der Harmlose, »daß ich allerlei darin zu erraten glaubte und das übrige nicht verstanden habe.«

Der Abt von Saint-Yves bedachte bei diesen Worten, daß er selber ja stets in dieser Weise gelesen habe, und daß die meisten Menschen es kaum anders täten. »Zweifellos haben Sie die Bibel gelesen?« fragte er nun den Huronen. »Keineswegs, Herr Abt, sie befand sich nicht unter den Büchern des Kapitäns, und ich habe auch niemals von ihr sprechen gehört!« »So sind diese ruchlosen Engländer,« rief Fräulein von Kerkabon, »sie machen mehr Aufhebens von einem Stück Shakespeares, von einem Plumpudding und von einer Flasche Rum als vom Pentateuch; so haben sie denn auch keine einzige Seele in Amerika bekehrt, sie sind gewißlich von Gott verflucht, und wir werden ihnen Jamaika und Virginia fortnehmen, noch ehe sie sich's versehen.«

Wie dem nun immer sein mochte, jedenfalls ließ man den geschicktesten Schneider von Saint-Malo kommen, um den Harmlosen von Kopf bis zu Fuß einzukleiden. Die Gesellschaft trennte sich: der Amtmann ging woanders seine Fragen stellen, Fräulein von Saint-Yves wandte sich scheidend zu mehreren Malen um, um den Harmlosen anzusehen, und er verneigte sich tiefer vor ihr, als er sonst jemals in seinem Leben vor irgend jemandem getan.

Ehe der Amtmann sich verabschiedete, stellte er Fräulein von Saint-Yves einen großen Tölpel von Sohn vor, der gerade die Schule hinter sich hatte, sie sah ihn jedoch kaum an, so sehr war sie mit der Höflichkeit des Huronen beschäftigt.

 

Drittes Kapitel:
Der Hurone, der Harmlose genannt, wird bekehrt.

Da der Herr Prior gewahr ward, daß ihn das Alter bereits ein wenig drückte, und Gott ihm zu seinem Troste einen Neffen gesandt, setzte er es sich in den Kopf, er könne ihm seine Pfründe abtreten, wenn es ihm gelänge, ihn zu taufen und zum Eintritt in den Orden zu bewegen.

Der Harmlose hatte ein vortreffliches Gedächtnis; die Festigkeit der Organe eines Niederbretonen, gekräftigt durch das kanadische Klima, hatte seinen Kopf so stark gemacht, daß er es kaum fühlte, wenn man heranklopfte, und daß sich nichts darin verwischte, was man einmal hineingeprägt. Er hatte noch niemals etwas vergessen, und seine Aufnahmefähigkeit war um so lebhafter und klarer, als seine Kindheit nicht wie die unsere mit unnützen Dummheiten beladen gewesen war; die Dinge wurden von seinem Gehirn frei von Dunst und Nebel aufgenommen. Schließlich entschloß sich der Prior, ihm das Neue Testament zu lesen zu geben. Der Harmlose verschlang es mit großem Vergnügen, da er jedoch weder wußte, in welcher Zeit noch in welchem Lande sich die Dinge zugetragen, von denen das Buch berichtete, so zweifelte er nicht daran, daß der Schauplatz der Ereignisse die Niederbretagne sei, und schwor, er wolle Kaiphas und Pilatus Nase und Ohren abschneiden, falls er diesen Schurken jemals begegnen sollte.

Entzückt über so treffliche Anlagen, machte sein Onkel ihn bald mit den genauen Tatsachen bekannt; er lobte zwar seinen Eifer, sagte ihm aber auch, daß dieser Eifer nutzlos sei, weil alle jene Leute nämlich vor ungefähr sechzehnhundertundneunzig Jahren gestorben seien. Bald wußte der Harmlose das ganze Buch auswendig. Bisweilen stellte er jedoch so schwierige Fragen, daß der Prior sich sehr in der Enge fühlte, gar oft sah er sich gezwungen, den Abt von Saint-Yves zu Rate zu ziehen, und dieser, der schließlich gleichfalls nicht mehr wußte, was er antworten sollte, ließ einen niederbretonischen Jesuiten kommen, auf daß er die Bekehrung des Huronen vollende.

Endlich ward die Gnade wirksam. Der Harmlose versprach, Christ zu werden, und wähnte, daß er damit beginnen müsse, sich beschneiden zu lassen. »Denn,« so sagte er sich, »in dem Buche, das man mich hat lesen lassen, sehe ich nicht eine einzige Persönlichkeit, die nicht beschnitten gewesen wäre, es erhellt daraus also deutlich, daß ich meine Vorhaut zum Opfer bringen muß, also: je eher, je besser!« Er zögerte nicht, sondern ließ den Wunddoktor des Dorfes holen und bat ihn, den Schnitt an ihm vorzunehmen, und war überzeugt, Fräulein von Kerkabon und die ganze Gesellschaft unendlich zu erfreuen, wenn die Sache nur erst einmal geschehen sein würde. Der Frater, der diese Operation noch niemals ausgeführt hatte, setzte die Familie in Kenntnis und diese brach in ein lautes Wehgeschrei aus: die gute Kerkabonin fürchtete vor allem, ihr Neffe, der entschlossen und schnell bei der Hand erschien, möchte gar die Operation selber ungeschickt ausführen und daraus dann gewisse traurige Folgen entspringen, als an welchen die Damen aus reiner Seelengüte stets den größten Anteil nehmen.

Der Prior klärte die Vorstellungen des Huronen und bewies ihm, daß die Beschneidung nicht mehr Mode, die Taufe weit sanfter und ersprießlicher und das Gesetz der Gnade nicht gleich dem Gesetz der Strenge sei. Der Harmlose, der viel gesunden Verstand und Gradsinn besaß, stritt zunächst, sah dann aber seinen Irrtum ein, was bei Leuten, die streiten, in Europa ziemlich selten ist, und versprach endlich, sich taufen zu lassen, wann immer man wolle.

Doch vorher mußte er beichten, und das war das schwierigste. Der Harmlose trug das Buch, das ihm sein Onkel gegeben, stets in seiner Tasche bei sich, und er konnte darin nicht finden, daß auch nur ein einziger Apostel gebeichtet hatte, das machte ihn sehr widerspenstig. Der Prior schloß ihm den Mund, indem er ihm in der Epistel Sankt Jakobs des Jüngeren jene Worte nachwies, welche den Ketzern so viel Mühe bereiten: »Beichtet euch eure Sünden untereinander«. Der Hurone verstummte und beichtete einem Franziskaner, und als er fertig war, zog er den Franziskaner aus dem Beichtstuhl hervor, ergriff ihn mit starker Faust, setzte sich an seinen Platz und zwang ihn vor sich in die Kniee: »Auf, mein Freund,« rief er, »es steht geschrieben: beichtet euch eure Sünden untereinander; ich habe dir meine Sünden erzählt, und nun sollst du von hier nicht früher wegkommen, als bis du mir nicht auch die deinen erzählt hast.« Und während er dieses sagte, stemmte er sein breites Knie gegen die Brust der gegnerischen Partei. Der Franziskaner brach in ein Geheul aus, das in der Kirche widerhallte; man lief auf den Lärm hin zusammen und sah den Konfirmanden, der im Namen Sankt Jakobs des Jüngeren den Mönch mit seinen Fäusten bearbeitete. Die Freude, einen niederbretonischen Huronen und Engländer zu taufen, war so groß, daß man all diese Absonderlichkeiten geduldig hinnahm, außerdem gab es ja sogar viele Theologen, welche meinten, die Beichte sei nicht unbedingt notwendig, da die Taufe ja alles ersetze.

Man verabredete einen bestimmten Tag mit dem Bischof von Saint-Malo, der über die Aussicht, einen Huronen zu taufen, wie man sich denken kann, äußerst geschmeichelt in prächtigem Aufzuge, umgeben von seiner Geistlichkeit, zur Stelle kam. Fräulein von Saint-Yves pries Gott, zog ihr schönstes Kleid an und ließ aus Saint-Malo eine Haarkräuslerin kommen, um bei der Feierlichkeit aufs schönste zu glänzen. Der fragesüchtige Amtmann eilte mit der ganzen Gegend herbei, und die Kirche war aufs prächtigste ausgeschmückt, doch als nun der Hurone ergriffen werden sollte, um ans Taufbecken geführt zu werden, war er nirgends zu finden.

Der Onkel und die Tante suchten ihn überall, man glaubte, er würde wohl seiner Gewohnheit gemäß auf der Jagd sein, und so durchstreiften denn alle Festteilnehmer die benachbarten Wälder und Dörfer, doch nirgends eine Spur von dem Huronen.

Man begann zu fürchten, er möchte nach England zurückgekehrt sein, denn man entsann sich, ihn sagen gehört zu haben, daß er dieses Land gar herzlich liebe. Der Herr Prior und seine Schwester waren schon überzeugt, daß niemand getauft werden würde und zitterten für die Seele ihres Neffen, der Bischof war bestürzt und auf dem Sprunge heimzukehren, der Prior und der Abt von Saint-Yves waren verzweifelt, der Amtmann fragte mit seiner gewöhnlichen Würdigkeit alle Vorübergehenden aus, Fräulein von Kerkabon weinte, Fräulein von Saint-Yves weinte nicht, aber sie stieß tiefe Seufzer aus, die von ihrem Gefallen an den heiligen Sakramenten Zeugnis abzulegen schienen. Die beiden Damen wandelten traurig an den Weiden und Schilfbüschen dahin, welche den kleinen Rencer Bach einfassen, als sie plötzlich in der Mitte des Baches eine hohe, ziemlich weiße Gestalt mit über der Brust gekreuzten Händen erblickten. Sie stießen einen lauten Schrei aus und wandten sich ab; ihre Neugieren überwand jedoch gar bald jede andere Überlegung, sie schlüpften vorsichtig in das Schilf, und als sie völlig sicher waren, nicht bemerkt zu werden, wollten sie sehen, was im Bache vorging.

 

Viertes Kapitel
Der Harmlose wird getauft.

Unterdessen liefen auch der Prior und der Abt herzu und fragten den Harmlosen, was er denn dort treibe? »Ei, bei Gott, ihr Herren, ich warte auf die Taufe; bereits seit einer Stunde stehe ich bis an den Hals im Wasser. Es ist wenig freundlich, mich hier vor Kälte umkommen zu lassen.«

»Mein lieber Neffe,« sprach der Prior zärtlich zu ihm, »in der Niederbretagne wird nicht auf diese Weise getauft, ziehe deine Kleider wieder an und komm mit uns.« Als Fräulein von Saint-Yves diese Worte hörte, flüsterte sie ihrer Gefährtin zu: »Oh, mein Fräulein, glauben Sie, daß er nun seine Kleider sofort wieder anziehen wird?«

Der Hurone aber entgegnete dem Prior folgendermaßen: »Dieses Mal wird es Ihnen nicht wie neulich gelingen, mir etwas weis zu machen, ich habe seither eifrig studiert und bin völlig gewiß, daß man so und nicht anders getauft wird; auch der Eunuch der Königin Kandace wurde in einem Bache getauft! Ich fordere Sie auf, mir in dem Buche, das Sie mir gegeben haben, nachzuweisen, daß man sich jemals anders dabei angelassen hat! Entweder werde ich überhaupt nicht getauft, oder es geschieht hier im Bache!« Man mochte ihm nun so viel man nur wollte vorhalten, daß sich die Gebräuche geändert hätten, es half nichts, der Harmlose war starrköpfig, denn er war Bretone und Hurone zugleich: stets kam er auf den Eunuchen der Königin Kandace zurück, und obgleich seine Fräulein Tante und Fräulein von Saint-Yves, die ihn durch die Weiden beobachtet hatten, im Recht gewesen wären, ihm vorzurücken, daß es ihm nicht anstünde, sich auf einen derartigen Mann zu berufen, so taten sie dennoch nichts dergleichen, so groß war ihre Zurückhaltung. Schließlich erschien, was viel heißen will, der Bischof selber, um mit ihm zu sprechen, aber auch dabei kam nichts heraus, denn der Hurone stritt auch wider den Bischof:

»Weisen Sie mir in dem Buche, das mir mein Onkel gegeben hat, einen einzigen Menschen nach, der nicht in einem Flusse getauft worden ist, und ich will alles tun, was Sie wollen.«

Die verzweifelte Tante hatte bemerkt, daß die erste Verbeugung, die ihr Neffe vor Fräulein von Saint-Yves gemacht, zugleich auch die tiefste gewesen war, und zwar tiefer als vor irgend jemandem anderes; selbst den Herrn Bischof hatte er nicht mit dieser herzlichen Verehrung gegrüßt, die er vor jenem schönen Fräulein bekundet. In ihrer großen Bedrängnis entschloß sie sich, diese anzugehen: sie bat sie, ihren Einfluß auf den Huronen geltend zu machen, auf daß er sich in ebenderselben Weise taufen lasse, wie alle anderen Bretonen, denn sie glaubte nicht, ihr Neffe könne jemals ein Christ werden, wenn er darauf bestünde, in fließendem Wasser getauft zu werden.

Die heimliche Freude, mit einem so wichtigen Auftrage betraut zu werden, trieb Fräulein von Saint-Yves das Blut in die Wangen; aufs züchtigste näherte sie sich dem Harmlosen, schüttelte ihm auf eine durchaus edle Weise die Hand und sprach: »Würden Sie auch mir nichts zu Gefallen tun wollen?« Und während sie diese Worte sprach, senkte und hob sie ihre Augen mit rührender Anmut. »Oh, mein Fräulein,« rief der Harmlose, »für Sie will ich alles, was Sie wollen, alles, was Sie mir befehlen, gerne tun und leiden, Wassertaufe, Feuertaufe, Bluttaufe, nichts könnte ich Ihnen abschlagen!« Fräulein von Saint-Yves ward der Ruhm, mit zwei Worten zu erreichen, was weder das Drängen des Priors, noch die wiederholten Fragen des Amtmannes, noch sogar die Darlegungen des Herrn Bischofs vermocht hatten: wohl fühlte sie ihren Triumph, aber seine ganze Größe ermaß sie noch nicht!

Die Taufe wurde mit aller nur möglichen Schicklichkeit, Pracht und Anmut erteilt und empfangen. Der Onkel und die Tante traten die Ehre, den Harmlosen über die Taufe zu halten, an den Herrn Abt von Saint-Yves und seine Schwester ab. Fräulein von Saint-Yves strahlte vor Freude über ihre Patenschaft: noch wußte sie nicht, welchem Schicksal sie dieser hohe Titel unterwarf, sie hatte diese Ehre angenommen, ohne ihre verhängnisvollen Folgen zu kennen.

Da noch niemals eine Feierlichkeit stattgefunden hat, auf die nicht eine große Gasterei gefolgt wäre, setzte man sich auch hier nach Beendigung der Taufe zu Tisch. Die niederbretonischen Witzbolde sagen, man dürfe seinen Wein nicht taufen, der Herr Prior sagte, der Wein erquicke nach Salomon das Herz des Menschen, der Herr Bischof fügte hinzu, der Patriarch Juda hätte sein Eselsfüllen an einen Weinstock binden und seinen Mantel in Traubenblut tauchen müssen, und es sei recht traurig, daß man in der Niederbretagne ein Gleiches nicht tun könne, da Gott ihr die Rebe versagt habe. Jeder suchte einen Scherz über die Taufe des Harmlosen zu machen und der Patin Artigkeiten zu sagen; der stets fragende Amtmann frug den Huronen, ob er seine Gelöbnisse auch halten würde? »Wie sollte ich ihnen wohl untreu werden können,« erwiderte der Hurone, »da ich sie ja in den Händen des Fräuleins von Saint-Yves abgelegt habe.«

Der Hurone erhitzte sich und trank gar oft auf die Gesundheit seiner Patin: »Wäre ich von ihrer Hand getauft worden, so hätte mich, dies fühle ich, das kalte Wasser, das man mir in den Nacken goß, verbrannt.« Der Amtmann fand diese Wendung zu poetisch, da er nicht wußte, wie gebräuchlich die Allegorie in Kanada ist, die Patin jedoch war äußerst glücklich über sie.

Man hatte dem Täufling den Namen Herkules gegeben, und der Bischof von Saint-Malo fragte fortwährend, wer denn eigentlich dieser Schutzpatron sei, von dem er niemals sprechen gehört hätte. Der Jesuit, der sehr gelehrt war, sagte ihm, Herkules sei ein Heiliger, der zwölf Wunder getan und noch ein dreizehntes, das die übrigen zwölf aufwöge, von dem zu sprechen sich für einen Jesuiten jedoch nicht gezieme: nämlich das Wunder, in einer einzigen Nacht fünfzig Mädchen in Frauen verwandelt zu haben. Ein anwesender Spaßvogel rühmte dieses Wunder mit aller Kraft, alle Damen senkten die Augen und schlossen aus dem Angesicht des Harmlosen, daß er des Heiligen, dessen Namen er trug, wahrhaft würdig sei.

 

Fünftes Kapitel:
Der Harmlose ist verliebt.

Es muß gestanden werden, daß Fräulein von Saint-Yves seit dieser Taufe und diesem Festmahl leidenschaftlich wünschte, der Herr Bischof möge sie noch einmal mit Herrn Herkules dem Harmlosen zur Teilnehmerin an einem recht schönen Sakramente machen; da sie jedoch sehr wohlerzogen und sehr sittsam war, wagte sie nicht, sich ihre zärtlichen Empfindungen selber völlig einzugestehen, entschlüpfte ihr jedoch ein Wort, ein Blick, eine Gebärde, ein Gedanke, so hüllte sie alles dieses in den Schleier einer unendlich lieblichen Scham: sie war zärtlich, lebhaft und keusch.

Sobald der Herr Bischof abgereist war, trafen sich der Harmlose und Fräulein von Saint-Yves, ohne gewahr zu werden, daß sie einander gesucht hatten, und sie sprachen zueinander, ohne sich vorher überlegt zu haben, was sie sich sagen würden. Der Harmlose versicherte ihr zunächst, daß er sie von ganzem Herzen liebe, und daß die schöne Abacaba, in die er in seiner Heimat so toll verliebt gewesen, ihr auch nicht im entferntesten gleichkäme. Das Fräulein erwiderte ihm in ihrer gewöhnlichen Bescheidenheit, daß er schleunigst mit dem Herrn Prior, seinem Onkel, und mit seiner Fräulein Tante darüber sprechen müsse, und daß sie ihrerseits ihrem Bruder, dem Abt von Saint-Yves, zwei Worte sagen würde, und daß sie einer allgemeinen Einwilligung gewiß sei.

Der Harmlose erwiderte ihr, er bedürfe niemandes Einwilligung, ja, es erschiene ihm außerordentlich lächerlich, bei anderen zu fragen, was man tun dürfe; wenn zwei Parteien einig seien, bedürfe es doch keines dritten mehr, um sie zu vereinigen. »Ich befrage niemanden,« rief er, »wenn ich Lust habe, zu frühstücken, zu jagen oder zu schlafen: wohl weiß ich, daß es in der Liebe nicht übel angebracht ist, sich der Einwilligung desjenigen Wesens zu versichern, auf das es uns ankommt; da ich aber weder in meinen Onkel noch in meine Tante verliebt bin, so brauche ich mich in dieser Angelegenheit auch nicht an sie zu wenden, und wenn Sie auf mich hören wollten, würden Sie es mit dem Herrn Abt von Saint-Yves ebenso halten.«

Es versteht sich von selbst, daß die schöne Bretonin alle Feinheit ihres Verstandes anwandte, um ihren Huronen auf die Gesetze des Anstandes zu verweisen, sie wurde sogar ein wenig böse . . . bald jedoch wieder gut, und so kann niemand wissen, welches Ende diese Unterredung schließlich noch genommen haben würde, hätte der Abt beim Sinken des Tages seine Schwester nicht in die Abtei zurückgeführt. Der Harmlose ließ seinen Onkel und seine Tante, die von der Feier und dem langen Mahle ein wenig müde waren, ruhig zu Bett gehen und verbrachte einen Teil der Nacht damit, Verse in huronischer Sprache an seine Angebetete zu machen, denn man muß wissen, daß es kein Land auf Erden gibt, wo die Liebe Schmachtende nicht zu Dichtern macht.

Am nächsten Morgen nach dem Frühstück sprach sein Onkel in Gegenwart der Fräulein Kerkabon, welche ganz gerührt war, folgendermaßen zu ihm: »Gelobt sei der Himmel, mein lieber Neffe, daß du die Ehre hast, ein Christ und ein Niederbretone zu sein, aber das genügt noch nicht! Das Alter drückt bereits auf meine Schultern, und mein Bruder hat nur ein kleines Landgütchen hinterlassen, das gar wenig einbringt, aber ich habe eine gute Pfründe, und wenn du, wie ich es hoffe, zum mindesten nur Subdiakon werden wolltest, würde ich dir meine Priorei abtreten, du könntest davon gemächlich leben, nachdem du der Trost meines Alters gewesen wärest.«

»Lieber Onkel, möge es Ihnen immer gut gehen und Sie so lange leben, als Sie nur irgend können, aber ich weiß weder, was Subdiakon, noch was abtreten ist, alles soll mir jedoch recht sein, vorausgesetzt, daß ich dann nur Fräulein von Saint-Yves bei mir habe!« »Oh Gott, mein lieber Neffe, was sagst du mir da, liebst du dieses schöne Fräulein gar bis zur Tollheit?« »Ja, lieber Onkel.« »Ach, lieber Neffe, es ist unmöglich, daß du sie jemals heiratest.« »Oh, das ist sehr möglich, lieber Onkel, denn sie hat mir beim Fortgehen nicht nur die Hand zärtlich gedrückt, sondern mir auch versprochen, mich zum Manne zu fordern; gewißlich werde ich sie heiraten!« »Das ist unmöglich, sage ich dir, denn sie ist deine Patin; eine Patin sündigt bereits aufs grausigste, wenn sie ihrem Patenkinde zärtlich die Hand drückt! Es ist nicht erlaubt, seine Patin zu heiraten, die göttlichen und menschlichen Satzungen verbieten es!« »Saperment, Onkel, Sie machen sich über mich lustig! Warum sollte es verboten sein, seine Patin zu heiraten, wenn sie jung und hübsch ist? In dem Buche, das Sie mir gegeben, habe ich durchaus nicht gefunden, daß es übel getan hätte, die Mädchen zu heiraten, welche den Leuten zur Taufe verhalfen! Täglich gewahre ich, daß man hier eine Unzahl von Dingen tut, die in Ihrem Buche nicht stehen, dagegen nichts tut von alledem, was es vorschreibt! Ich gestehe Ihnen, daß mich das verwundert und aufbringt! Wenn man mich unter dem Vorwande meiner Taufe der schönen Saint-Yves berauben will, so sage ich Ihnen, daß ich sie entführen und mich enttaufen lassen werde!«

Der Prior war verzweifelt, seine Schwester weinte. »Mein teurer Bruder,« sagte sie, »unser Neffe darf solche Verdammnis nicht auf sich laden, unser heiliger Vater, der Papst, kann ihm Dispens erteilen, und dann könnte er auf christliche Weise mit seiner Liebe glücklich werden!« Der Harmlose umarmte seine Tante. »Wer ist denn der liebe Mann,« rief er, »der mit solcher Güte den Buben und den Mädchen in ihrer Liebe beisteht? Ich will sofort mit ihm sprechen!«

Man setzte ihm auseinander, wer der Papst sei, und der Harmlose war nun noch verwunderter als vorher. »Kein Wort von alledem steht in eurem Buch, mein lieber Onkel! Ich bin gereist, ich kenne das Meer, wir befinden uns hier an der Küste des Ozeans, und ich sollte Fräulein von Saint-Yves verlassen, um die Erlaubnis, sie lieben zu dürfen, von einem Manne einzuholen, der vierhundert Meilen von hier entfernt am Mittelmeer lebt und dessen Sprache ich nicht einmal verstehe? Das ist doch alles ungeheuer lächerlich und unverständlich! Ich begebe mich jetzt auf der Stelle zum Herrn Abt von Saint-Yves, der ja nur eine kleine Stunde von hier entfernt wohnt, und ich bürge Ihnen dafür, daß ich meine Geliebte noch laufenden Tages heiraten werde!«

Während er noch sprach, trat der Amtmann ein und fragte ihn seiner Sucht gemäß, wohin er ginge. »Mich verheiraten«, entgegnete laufend der Harmlose, und nach Verlauf einer Viertelstunde war er bereits bei seiner lieben und schönen Niederbretonin, welche noch schlief. »Oh, lieber Bruder,« sagte Fräulein von Kerkabon zum Prior, »niemals wird's dir gelingen, aus unserem Neffen einen Subdiakonus zu machen!«

Der Amtmann war mit dieser Reise äußerst unzufrieden, denn er hatte sich's in den Kopf gesetzt, sein Sohn solle die Saint-Yves heiraten, dieser Sohn aber war noch dümmer und unerträglicher als sein Vater.

 

Sechstes Kapitel:
Der Harmlose läuft zu seiner Geliebten und wird wütend.

Kaum war der Harmlose angelangt und hatte eine alte Magd nach dem Zimmer seiner Geliebten gefragt, so stieß er auch schon mit Gewalt die schlecht verschlossene Tür auf und stürzte auf das Bett zu. Fräulein von Saint-Yves fuhr jach aus dem Schlafe empor und rief: »Wie, Sie sind es? Oh Sie! Bleiben Sie stehen! Was tun Sie?« Er antwortete: »Ich heirate Sie!« und hätte sie sich nicht mit all der Züchtigkeit gewehrt, welche einem Frauenzimmer von guter Erziehung ansteht, so würde er es in der Tat getan haben.

Der Harmlose verstand keinen Spaß, er fand all dieses Gehabe unsäglich ungehörig. »So hat sich meine erste Geliebte, Fräulein Abacaba, nicht angestellt! Ihr kennt alle keine Redlichkeit! Sie haben mir die Heirat versprochen und wollen nicht Heirat machen, das heißt doch wahrlich den obersten Gesetzen der Ehre ins Gesicht schlagen! Aber ich will Ihnen lehren, Wort zu halten, ich werde Sie schon auf den Weg der Tugend zurückbringen!«

Der Harmlose besaß gar männliche und unerschrockene Tugend und Kraft, wahrhaft würdig seines Schutzpatrons Herkules, dessen Namen man ihm in der Taufe gegeben hatte, und er schickte sich gerade an, beide in ihrer ganzen Wucht spielen zu lassen, als auf die durchdringenden Schreie des Fräuleins, die in weit zurückhaltenderer Weise tugendhaft war, der weise Abt von Saint-Yves mit seiner Haushälterin, einem alten frommen Diener und einem Priester des Kirchspiels herbeieilte. Dieser Anblick mäßigte den Mut des Stürmers. »Ei, mein Gott, lieber Nachbar, was tun Sie denn da?« rief der Abt. »Meine Pflicht!« entgegnete der junge Mann, »ich erfülle meine Versprechen, welche heilig sind!«

Fräulein von Saint-Yves brachte errötend ihr Nachtgewand in Ordnung, und der Harmlose wurde in ein anderes Zimmer geführt. Dort setzte ihm der Abt die Ungeheuerlichkeit seines Vorgehens auseinander. Der Harmlose berief sich in seiner Verteidigung auf das Naturrecht, das er von Grund auf kannte; der Abt suchte ihm zu beweisen, daß dem staatlichen Recht der Vorrang gebühre, und daß ohne solche zwischen den Menschen getroffenen Übereinkünfte das Naturgesetz fast niemals etwas anderes zeitigen würde als ein natürliches Räubertum. »Man braucht doch Notare, Priester, Zeugen, einen Kontrakt und einen Dispens!« rief der Abt. Der Harmlose stellte ihm die Überlegung entgegen, welche noch stets alle Wilden gemacht haben: »Ihr müßt doch recht unehrliche Menschen sein, da es zwischen euch so vieler Vorsichtsmaßregeln bedarf.«

Es kostete dem Abt Mühe, diesen Vorwurf zurückzuweisen. »Ich gebe gern zu,« sagte er, »daß es unter uns viele Treulose und viele Spitzbuben gibt, lebten die Huronen jedoch in großen Städten beieinander, so würden unter ihnen deren nicht weniger sein; es gibt aber auch verständige, ehrliche und einsichtige Gemüter bei uns, und gerade diese haben die Gesetze geschaffen; je wohlgesinnter ein Mensch ist, desto mehr muß er sich ihnen unterwerfen, dadurch stellt er vor den Lasterhaften ein Beispiel auf, und diese fühlen Achtung vor einem Zügel, den sich sogar die Tugend anlegt.«

Diese Antwort beeindruckte den Harmlosen. Wie man bereits gesehen, besaß er einen gesunden Verstand, jetzt besänftigte man ihn mit freundlichen Worten und machte ihm Hoffnung; das sind die beiden Fallen, in welche die Menschen beider Welten stets gehen; ja, man führte ihm sogar Fräulein von Saint-Yves zu, nachdem sie ihren Anzug vervollständigt hatte; alles dieses ging mit der größten Schicklichkeit vor sich, aber trotz dieser Zurückhaltung bewirkten die funkelnden Augen des harmlosen Herkules, daß seine Geliebte die ihren stets senkte, und daß die anderen Anwesenden erzitterten.

Es kostete ungeheure Mühe, ihn zu seinen Verwandten zurückzuschicken, ja, man mußte noch einmal den Einfluß der schönen Saint-Yves zu Hilfe rufen, und je tiefer sie sich ihrer Macht über ihn bewußt wurde, desto herzlicher liebte sie ihn auch; sie zwang ihn fortzugehen und war herzlich betrübt darüber. Als er dann endlich gegangen war, faßte der Abt, welcher nicht nur der sehr viel ältere Bruder der Fräuleins von Saint-Yves, sondern auch ihr Vormund war, den Entschluß, sein Mündel den Stürmen dieses schrecklichen Liebhabers zu entziehen; er beriet sich mit dem Amtmann und dieser, der die Schwester des Abtes noch immer seinem Sohn bestimmte, riet ihm, das arme Mädchen in ein Kloster zu bringen. Das war ein furchtbarer Schlag; schon eine Gleichmütige, die man in ein Kloster bringen wollte, würde zum Himmel schreien, und nun erst eine Liebende und gar eine so keusch und zärtlich Liebende, sie hatte wohl Grund, verzweifelt zu sein!

Beim Prior wieder angelangt, erzählte der Harmlose alles mit seiner gewöhnlichen Kindlichkeit, und ihm wurden dieselben Vorwürfe, welche zwar einigen Eindruck auf seinen Verstand, aber nicht den geringsten auf seine Sinne machten. Als er jedoch am nächsten Morgen zu seiner schönen Braut zurückkehren wollte, um sich mit ihr über das natürliche und das geschaffene Gesetz zu unterhalten, eröffnete ihm der Amtmann mit beleidigender Freude, daß sie in einem Kloster sei. »Wohlan,« sagte er, »so werden wir eben im Kloster miteinander sprechen!« »Das geht nicht«, erwiderte der Amtmann und setzte ihm lang und breit auseinander, was ein Kloster oder ein Konvent sei: dieses Wort stamme von dem lateinischen conventus her und bedeute Verein. Der Hurone vermochte nicht zu verstehen, warum er in diesen Verein nicht zugelassen werden konnte. Sobald man ihm jedoch auseinandergesetzt hatte, daß dieser Verein eine Art Gefängnis sei, in dem man die Mädchen eingesperrt hielte, – eine grauenhafte Einrichtung, welche es bei den Huronen und den Engländern nicht gab, – wurde er ebenso wütend wie einst sein Schutzpatron Herkules, als ihm Eurytus, der König von Öchalia, in nicht minder grausamer Weise als der Abt von Saint-Yves, seine schöne Tochter Jole abschlug, welche nicht weniger schön gewesen war als des Abtes Schwester. Er wollte das Kloster in Brand stecken, seine Geliebte entführen oder sich mit ihr zusammen verbrennen. Von Entsetzen gepackt, ließ Fräulein von Kerkabon mehr denn je alle Hoffnung fahren, ihren Neffen einst als Subdiakonus zu sehen, und rief weinend, seit er getauft sei, habe er den Teufel im Leib.

 

Siebentes Kapitel:
Der Harmlose schlägt die Engländer zurück.

In tiefe, düstere Schwermut versunken, wandelte der Harmlose, seine Doppelflinte auf der Schulter, seinen großen Hirschfänger an der Seite, am Meeresufer entlang, schoß von Zeit zu Zeit nach Vögeln und fühlte sich noch weit öfter versucht, auf sich selber zu schießen, aber dank der Fräulein von Saint-Yves liebte er das Leben noch. Bald verfluchte er seinen Onkel, seine Tante, die ganze Niederbretagne und seine Taufe, bald segnete er sie alle, weil er durch sie die kennen gelernt hatte, die er liebte. Er verbiß sich in seinen Entschluß, das Kloster in Brand zu stecken, und blieb dann plötzlich wieder aus Furcht, seine Geliebte mit zu verbrennen, wie gebannt stehen: die Fluten des Ärmelmeeres konnten von den Winden aus West und Ost nicht tiefer aufgewühlt werden, als sein Herz durch all diese einander widerstrebenden Regungen.

Mit großen Schritten ging er ohne Ziel dahin, als er plötzlich den Klang einer Trommel vernahm. Er sah in der Ferne eine Volksschar, deren eine Hälfte ans Ufer lief, während die andere floh.

Auf allen Seiten erfüllte tausendfältiges Geschrei die Lüfte, und augenblicklich trieben ihn Neugierde und Mut nach jener Stelle, wo das Wehgeschrei herkam; mit vier großen Sätzen war er dort. Der Hauptmann der Bürgerwehr, der mit ihm zusammen bei dem Prior gespeist hatte, erkannte ihn sogleich und lief mit geöffneten Armen auf ihn zu. »Oh,« rief er, »dort kommt der Harmlose, er wird für uns kämpfen!« Und die Bürgerwehr, welche vor Furcht fast verging, faßte wieder Mut und schrie ebenfalls: »Der Harmlose ist da, der Harmlose ist da!«

»Meine Herren,« rief dieser, »was gibt es, warum sind Sie so bestürzt, hat man Ihre Bräute in Klöster gesteckt?« Ein hundertfältiges Stimmengewirr rief ihm zu: »Sehen Sie denn nicht, daß die Engländer anlegen?« »Ei wohl,« erwiderte der Hurone, »aber das sind wackere Leute; sie haben mir niemals vorgeschlagen, Subdiakon zu werden, und haben mir auch meine Geliebte nicht entführt!«

Der Hauptmann setzte ihm nun auseinander, daß die Engländer herbeikämen, um die Abtei vom Berge zu plündern, den Wein seines Onkels auszutrinken und vielleicht Fräulein von Saint-Yves zu entführen; das kleine Schiff, mit dem er nach der Bretagne gekommen, sei nur ausgesandt gewesen, um die Küste zu untersuchen; sie eröffneten Feindseligkeiten, ohne dem Könige von Frankreich den Krieg erklärt zu haben, und so sei die ganze Provinz ihnen schutzlos ausgesetzt. »Ah, wenn die Dinge so stehen, so vergewaltigen sie das Naturrecht. Lassen Sie mich jedoch machen, ich habe lange unter ihnen gelebt, beherrsche ihre Sprache und will mit ihnen sprechen, ich kann mir nicht vorstellen, daß sie so böse Absichten hegen.«

Während dieses Gespräches kam das englische Geschwader vollends heran, der Hurone lief ihm entgegen, warf sich in ein kleines Boot, ruderte hinüber, kletterte auf das Admiralsschiff und fragte, ob es wahr sei, daß sie herankämen, um das Land zu verwüsten, ohne vorher offen und ehrlich den Krieg erklärt zu haben. Der Admiral und die ganze Besatzung brachen in lautes Gelächter aus, gaben ihm Punsch zu trinken und schickten ihn zurück.

Der gekränkte Harmlose hegte nun keinen anderen Gedanken mehr, als sich tapfer für seine Landsleute und den Herrn Prior gegen seine alten Freunde zu schlagen. Von allen Seiten eilten die Edelleute aus der Nachbarschaft herbei, und er gesellte sich zu ihnen. Es waren ein paar Kanonen vorhanden, er lud sie, stellte sie ein und schoß eine nach der anderen ab. Die Engländer sprangen ans Land, er warf sich ihnen entgegen, tötete drei mit dem Hirschfänger und verwundete jenen Admiral, der sich über ihn lustig gemacht hatte. Seine Tapferkeit beseelte die ganze Bürgerwehr mit Mut, die Engländer flohen auf ihre Schiffe zurück, und die ganze Küste hallte von Siegesgeschrei wider: »Es lebe der König, es lebe der Harmlose!« Jeder umarmte ihn, jeder drängte sich heran, um das Blut einiger leichten Wunden zu stillen, die er empfangen hatte. »Ah,« rief er, »wäre Fräulein von Saint-Yves hier, würde sie mir einen feuchten Umschlag auflegen.«

Der Amtmann, der sich während der Schlacht in seinem Keller versteckt gehalten hatte, eilte herzu, um den Harmlosen gleich allen anderen zu beglückwünschen; er war jedoch recht überrascht, als er Herkules den Harmlosen nun zu einem Dutzend junger, tatbereiter Männer, die ihn umgaben, sagen hörte: »Meine Freunde, die Abtei vom Berge befreit zu haben, ist nichts, es gilt ein Mädchen zu befreien!« Bei diesen Worten fing die kochende Jugend Feuer, und schon folgte ihm eine ganze Schar nach dem Kloster. Hätte der Amtmann nicht auf der Stelle den Hauptmann benachrichtigt und dieser hinter der fröhlichen Kämpferschar hersetzen lassen, so wäre es um das Kloster geschehen gewesen. Man brachte den Harmlosen zu seinem Onkel und seiner Tante zurück, und sie badeten ihn in Tränen der Liebe.

»Nun sehe ich wohl, daß du niemals weder Subdiakon noch Prior werden wirst,« sagte der Onkel, »du wirst ein noch tapferer Offizier und wahrscheinlich ein ebenso großer Hungerleider werden, wie mein Bruder der Hauptmann.« Und Fräulein von Kerkabon umarmte ihn unaufhörlich weinend und sagte, »er wird sich töten lassen wie mein Bruder, oh, wenn er doch nur Subdiakonus werden wollte!«

Der Harmlose hatte in der Schlacht eine große mit Guineen gefüllte Börse aufgehoben, die wahrscheinlich der Admiral verloren; mit diesem Gelde glaubte er die ganze Niederbretagne kaufen und vor allem Fräulein von Saint-Yves zu einer großen Dame machen zu können. Jedermann drängte ihn, nach Versailles zu reisen, um dort den Lohn für seine Dienste zu empfangen; der Hauptmann und die höheren Offiziere überhäuften ihn mit Beglaubigungsschreiben, und auch der Onkel und die Tante stimmten für diese Reise des Neffen: ohne jede Schwierigkeit würde er dem Könige vorgestellt werden, und das allein schon mußte ihm in der ganzen Provinz zu dem größten Ansehen verhelfen. Die beiden guten Leutchen fügten zu der englischen Börse ein beträchtliches Geschenk aus ihren Ersparnissen hinzu. Der Harmlose sagte sich in seinem Innern: »Wenn ich den König sehe, werde ich mir Fräulein von Saint-Yves von ihm zur Frau erbitten, er wird sie mir sicherlich nicht weigern.« Unter freudigen Kundgebungen des ganzen Kreises, von Umarmungen fast erstickt, von den Tränen seiner Tante gebadet, von seinem Onkel gesegnet, und sich der schönen Saint-Yves empfehlend, reiste er ab.

 

Achtes Kapitel:
Der Harmlose geht zu Hofe, unterwegs speist er mit Hugenotten zu Nacht.

Der Harmlose reiste über Saumur mit der Postkutsche, denn damals gab es noch keine andere Fahrgelegenheit. Als er in Saumur anlangte, verwunderte es ihn, die Stadt fast verödet zu finden und noch viele Familien mitten im Aufbruche anzutreffen. Man sagte ihm, Saumur sei sechs Jahre vorher von mehr als fünfzehntausend Seelen bewohnt gewesen, jetzt berge es kaum noch sechstausend. Er verfehlte nicht, darüber in seinem Gasthause zu sprechen. Mehrere Protestanten saßen bei Tisch, die einen beklagten sich bitter, andere bebten vor Zorn und wieder andere sagten weinend: »Nos dulcia linquimus arva, nos patriam fugimus.« Der Harmlose, der kein Latein verstand, ließ sich diese Worte übersetzen, sie bedeuteten: »Wir verlassen unsere süßen Fluren, wir fliehen aus unserem Vaterland.«

»Und warum fliehen Sie aus Ihrem Vaterland, meine Herren?« »Weil wir den Papst anerkennen sollen.« »Und warum wollen Sie ihn nicht anerkennen? Haben Sie denn keine Patinnen, die Sie heiraten wollen? Man hat mir gesagt, daß nur er dazu die Erlaubnis geben könne!« »Ach, mein Herr, dieser Papst behauptet, Herr über alle Länder der Könige zu sein?« »Welches Handwerk betreiben Sie denn, meine Herren?« »Wir sind zum größten Teil Tuchwirker und Fabrikanten.« »Wollte Ihr Papst behaupten, Herr über Ihr Tuch und über Ihre Fabriken zu sein, so täten sie recht daran, ihn nicht anzuerkennen; was jedoch seine Herrschaft über die Könige angeht, so ist das doch wohl deren Sache, warum mischen Sie sich also da hinein?« Darauf ergriff ein kleiner schwarzer Mann das Wort und setzte sehr gelehrt die Beschwerden der ganzen Gesellschaft auseinander, er sprach mit solchem Nachdruck von der Aufhebung des Edikts von Nantes, bejammerte so gefühlvoll das Geschick von fünfzigtausend Flüchtlingen und fünfzigtausend anderen durch die Dragoner bekehrten Familien, daß nun der Harmlose seinerseits Tränen vergoß. »Woher kommt es nur,« sagte er, »daß ein so großer König, dessen Ruhm bis zu den Huronen reicht, sich solcherweise so vieler Herzen beraubt, die ihn geliebt, und so vieler Arme, die ihm gedient hätten?«

»Weil man ihn ebenso wie alle anderen großen Könige getäuscht hat,« sprach der schwarze Mann, »man hat ihm eingeredet, sobald er nur ein Wort äußern wollte, würden alle Menschen denken wie er, und so vermöchte er auch uns unsere Religion wechseln zu lassen, wie sein Musiker Lulli im Nu die Kulissen seiner Opern auswechseln läßt. Der König hat nicht nur bereits fünf- bis sechstausend sehr nützliche Untertanen eingebüßt, sondern durch sie die Zahl seiner Feinde vergrößert, denn der König Wilhelm, welcher augenblicklich über England gebietet, hat mehrere Regimenter aus eben diesen Franzosen zusammengestellt, welche anders für ihren angestammten Fürsten gekämpft hätten!«

»Ein solches Unheil ist um so erstaunlicher, als der regierende Papst, welchem Ludwig XIV. einen Teil seines Volkes opfert, sein erklärter Feind ist. Schon an neunzehn Jahre währt nun ein heftiger Streit zwischen ihnen, der bereits so weit gediehen war, daß Frankreich hoffen durfte, endlich das Joch von sich genommen zu sehen, das es seit so vielen Jahrhunderten einem Fremden unterwirft, und vor allem, daß man aufhören würde, ihm Geld zu geben, was in allen Geschäften dieser Welt die Hauptsache ist. Offenbar muß man also den großen König sowohl über seinen Vorteil, wie über die Ausdehnung seiner Macht getäuscht und seiner edelen Hochherzigkeit Abbruch getan haben!«

Mehr und mehr ergriffen, fragte der Harmlose, wer die Franzosen seien, welche diesen den Huronen so teueren Fürsten dergestalt hintergingen? »Es sind die Jesuiten,« antwortete man ihm, »und vor allem der Pater de la Chaise, der Beichtvater Seiner Majestät. Man muß hoffen, daß Gott sie eines Tages dafür bestrafen und man sie vertreiben wird, wie sie es heute mit uns tun. Gleichet irgend ein Unglück dem unseren? Von allen Seiten hetzt Herr von Louvois Jesuiten und Dragoner auf uns!«

»Hören Sie, meine Herren,« rief der Harmlose, der nicht mehr an sich zu halten vermochte, »ich bin auf dem Wege nach Versailles, um dort die meinen Diensten geschuldete Belohnung in Empfang zu nehmen, dort will ich mit diesem Herrn von Louvois sprechen, man hat mir gesagt, daß das Kriegswesen seinem Kabinett untersteht. Ich werde auch den König sehen und will ihm die Wahrheit eröffnen: es ist unmöglich, sich ihr nicht zu unterwerfen, wenn man sie einmal erkannt hat. Bald komme ich dann zurück, um Fräulein von Saint-Yves zu heiraten, und ich lade Sie alle zu meiner Hochzeit ein!« Die guten Leute hielten ihn nun für einen hohen Herrn, der inkognito mit der Postkutsche reiste. Ein paar unter ihnen hielten ihn dagegen für den Hofnarren des Königs.

Bei Tisch hatte sich auch ein verkappter Jesuit befunden, welcher dem hochwürdigen Pater de la Chaise als Spion diente, er machte ihm von allem Mitteilung, und der Pater de la Chaise verständigte Herrn von Louvois. Der Harmlose und der Brief des Spions langten fast zu gleicher Zeit in Versailles an.

 

Neuntes Kapitel:
Ankunft des Harmlosen in Versailles. Sein Empfang bei Hofe.

Der Harmlose entstieg dem NachttopfSo ist der zwischen Paris und Versailles verkehrende Postwagen geheißen. im Küchenhofe und fragte die Sänftenträger, um welche Zeit der König zu sprechen sei. Die Träger lachten ihm ebenso ins Gesicht wie der englische Admiral es getan hatte, und er behandelte sie ebenso wie jenen, das heißt er prügelte sie. Sie wollten es ihm zurückgeben, und der Auftritt hätte wohl mit Blut geendigt, wäre nicht ein Leibgardist, ein bretonischer Edelmann, vorbeigekommen, der das Pack auseinandertrieb. »Mein Herr,« redete ihn der Reisende an, »Sie scheinen mir ein wackerer Mann zu sein, ich bin der Neffe des Herrn Priors Unserer lieben Frauen vom Berge, ich habe Engländer getötet und komme her, um den König zu sprechen, ich bitte Sie, führen Sie mich in seine Stube.« Entzückt, einem Wackeren aus seiner Heimat zu begegnen, der mit den Hofgebräuchen nicht vertraut zu sein schien, sagte ihm der Gardist, daß man auf solche Weise mit dem Könige nicht sprechen könne, sondern von Seiner Durchlaucht, dem Herrn von Louvois, vorgestellt werden müsse. »Wohlan, so bringen Sie mich also zu dieser Durchlaucht, dem Herrn von Louvois, der mich dann wohl zu Seiner Majestät führen wird.« »Es ist noch weit schwieriger,« entgegnete der Gardist, »Seine Durchlaucht den Herrn von Louvois zu sprechen als Seine Majestät. Ich will Sie jedoch zum Herrn Alexander, dem Oberkriegssekretär, bringen, das ist so gut, als ob Sie den Minister selber sprächen.« Sie begaben sich also zu dem Obersekretär Herrn Alexander, aber sie konnten nicht vorgelassen werden, er hatte Geschäfte mit einer Hofdame und daher Befehl gegeben, niemandem Eintritt zu gewähren. »Bah,« sagte der Gardist, »dadurch ist noch nichts verloren, lassen Sie uns zu dem Obersekretär des Herrn Alexander gehen, das ist so gut, als ob Sie den Herrn Alexander selber sprächen.«

Außer sich vor Erstaunen, ging der Hurone mit ihm; sie mußten eine halbe Stunde lang zusammen in einem kleinen Vorzimmer warten. »Was hat dieses alles nur zu bedeuten,« fragte der Harmlose, »ist denn hierzulande jedermann unsichtbar? Jedenfalls ist es leichter, in der Niederbretagne wider die Engländer zu kämpfen, als in Versailles die Leute zu treffen, mit denen man zu tun hat.« Er suchte sich seine Langweile dadurch zu vertreiben, daß er seinem Landsmanne seine Liebesgeschichte erzählte, aber der Schlag der Glocke rief den Leibgardisten auf seinen Posten. Sie verabredeten, sich am nächsten Tage wiederzusehen, und der Harmlose blieb noch eine halbe Stunde lang in dem Vorzimmer und sann über Fräulein von Saint-Yves und über die Schwierigkeit nach, die Könige und die Obersekretäre zu sprechen.

Endlich erschien der Beamte. »Herr,« sprach der Harmlose zu ihm, »wenn ich ebensolange gezögert hätte, die Engländer zurückzuschlagen, wie Sie mich hier haben warten lassen, so würden die Feinde jetzt in der Niederbretagne nach Herzenslust das Oberste zu unterst kehren.« Diese Worte verwunderten den Schreiber gar sehr: »Was wollen Sie?« fragte er endlich den Bretonen. »Belohnung,« erwiderte dieser, »hier sind meine Bestätigungen,« und damit breitete er alle seine Zeugnisse vor ihm aus. Der Schreiber las sie und sagte ihm dann, man würde ihm aller Wahrscheinlichkeit nach die Erlaubnis erteilen, sich eine Leutnantsstelle zu kaufen. »Wie,« rief der Harmlose, »ich soll noch Geld dafür bezahlen, daß ich die Engländer zurückgeschlagen habe? Ich soll das Recht bezahlen, mich für euch töten zu lassen, während ihr hier in aller Gemütsruhe Audienzen erteilt? Ich glaube, Sie wollen sich lustig machen! Ich will ein Regiment Kavallerie umsonst bekommen, ferner soll der König Fräulein von Saint-Yves aus dem Kloster nehmen und sie mir zur Frau geben, und dann will ich dem König noch fünfzigtausend Familien empfehlen, die ich ihm wiederzugeben beabsichtige; mit einem Wort, ich will nützlich sein, man soll mich verwenden und befördern.«

»Wie heißen Sie denn, mein Herr Großsprecher?« »Oh, oh,« rief der Harmlose, »Sie haben meine Beglaubigungsschreiben also nicht gelesen? Treibt man hier so die Dinge? Ich heiße Herkules von Kerkabon, bin getauft und wohne im Blauen Hinterviertel; ich werde mich über Sie beim König beschweren!« Wie die Leute in Saumur, so schloß auch der Schreiber, der Harmlose möchte nicht ganz richtig im Kopfe sein, und legte ihm weiter keine Bedeutung bei.

Am selben Tage hatte der hochwürdige Pater de la Chaise, der Beichtvater Ludwigs XIV., von seinem Spion den Brief erhalten, der den Bretonen Kerkabon beschuldigte, die Hugenotten zu begünstigen und das Vorgehen der Jesuiten zu verdammen. Der Herr von Louvois seinerseits hatte einen Brief von dem fragesüchtigen Amtmann bekommen, in welchem der Harmlose als ein Taugenichts geschildert wurde, der Klöster in Brand stecken und Mädchen entführen wolle.

Nachdem der Harmlose in den Gärten von Versailles spazieren gegangen war, wo er sich gar sehr langweilte, nachdem er als Hurone und als Niederbretone zu Nacht gespeist hatte, legte er sich in der süßen Hoffnung zu Bett, am nächsten Morgen den König zu sprechen, Fräulein von Saint-Yves zur Frau zu erhalten, mindestens eine Kompagnie Kavallerie zu bekommen und den Verfolgungen der Hugenotten ein Ende zu setzen. In solchen schmeichelhaften Gedanken wiegte er sich, als die Polizeiwache sein Zimmer betrat und sich zunächst seiner Doppelflinte und seines großen Säbels bemächtigte.

Man schrieb den Betrag seines flüssigen Geldes auf und brachte ihn in das Schloß, welches König Karl V., der Sohn Johanns II., neben der Sankt-Antonius-Straße am Tournellentor hat erbauen lassen.

Wie groß des Harmlosen Verwunderung unterwegs gewesen sein mag, überlasse ich jedermann, sich selber auszumalen. Anfangs glaubte er zu träumen und war wie betäubt, dann überkam ihn plötzlich eine Wut, die seine Kräfte verdoppelte; er packte zwei seiner Wächter, die mit ihm im Wagen saßen, bei der Kehle, warf sie zur Wagentür hinaus, sprang ihnen nach und riß dabei einen dritten, der ihn festhalten wollte, mit sich. Die Wucht seines Sprunges schleuderte ihn zu Boden, man überwältigte ihn, band ihn und setzte ihn wieder in den Wagen. »Das hat man davon,« rief er, »wenn man die Engländer aus der Niederbretagne verjagt! Oh, was würdest du wohl sagen, schöne Saint-Yves, könntest du mich in diesem Zustande erblicken?«

Endlich gelangte man zu der Nachtherberge, die ihm bestimmt war, und trug ihn schweigend, wie man einen Toten auf den Kirchhof trägt, in das Gemach, in das er eingesperrt werden sollte. Dieses Gemach wurde bereits von einem alten Einsiedler von Port Royal namens Gordon bewohnt, der dort schon seit zwei Jahren schmachtete. »Seht,« sagte der Oberste der Häscher, »hier bringe ich Euch Gesellschaft!« Und sofort wurden die ungeheuren Riegel wieder vor die dicke, mit Eisen beschlagene Tür geschoben. Die beiden Gefangenen standen von der ganzen Welt abgesperrt voreinander.

 

Zehntes Kapitel:
Der Harmlose ist mit einem Jansenisten zusammen in der Bastille eingekerkert.

Herr Gordon war ein frischer, munterer Greis, der sich auf zwei große Dinge verstand: Mißgeschick zu ertragen und Unglückliche zu trösten. Freimütig, voller Offenheit und Mitgefühl trat er auf seinen Gefährten zu, umarmte ihn und sagte: »Wer Sie auch immer sein mögen, der mein Grab mit mir zu teilen kommt, Sie können sicher sein, daß ich mich selber stets hintenan setzen werde, um Ihre Qualen in diesem Höllenabgrunde, der uns beide umfängt, zu lindern. Lassen Sie uns die Vorsehung verehren, die uns hierher verschlagen hat, lassen Sie uns ergeben leiden und hoffen.« Diese Worte hatten auf die Seele des Harmlosen die Wirkung englischer Tropfen, welche bekanntlich einen Sterbenden ins Leben zurückrufen und seine müden Lider von erstaunten Augen heben.

Ohne ihn zu drängen, ihm die Ursache seines Unglückes zu eröffnen, erweckte Gordon nach dem Austausch der ersten Höflichkeiten in dem Harmlosen einzig durch die Sanftheit seiner Worte und durch jene Teilnahme, welche zwei Unglückliche stets füreinander hegen, den Wunsch, ihm sein Herz zu öffnen und die Bürde abzuwerfen, die es bedrückte, aber er vermochte den Grund seines Unglückes selber nicht zu erraten, es erschien ihm wie eine Wirkung ohne Ursache, und der gute Gordon war ebenso erstaunt wie er selber.

»Gott muß wohl große Absichten mit Ihnen hegen,« sprach der Jansenist zu dem Huronen, »da er Sie vom Ontariosee nach England und Frankreich geführt, in der Niederbretagne Ihre Taufe bewirkt und Sie nun zu Ihrem Heil hierher gebracht hat.« »Meiner Treu,« entgegnete der Harmlose, »ich glaube, allein der Teufel hat sich mit meinem Geschick befaßt! Meine amerikanischen Landsleute würden mich niemals mit solcher Barbarei behandelt haben, wie ich sie hier erleide; von solchen Dingen haben sie gar keine Vorstellung, man nennt sie zwar Wilde, aber sie sind nur rechtschaffene Leute ohne Bildung, während die Menschen hierzulande tückische Schurken sind! Die Wahrheit zu gestehen, bin ich allerdings über die Maßen verwundert, daß ich aus einem anderen Weltteil herübergekommen bin, um in diesem hier zusammen mit einem Priester hinter Schloß und Riegel gesetzt zu werden; wenn ich aber die ungeheure Anzahl der Menschen bedenke, welche die eine Halbkugel der Erde verlassen, um auf der anderen getötet zu werden oder unterwegs Schiffbruch zu erleiden und von Fischen gefressen zu werden, so vermag ich im Geschick all dieser Menschen die gnadenreichen Absichten Gottes nicht zu erkennen!«

Man setzte ihnen durch einen Schieber in der Tür ihr Mittagessen herein. Das Gespräch drehte sich um die Vorsehung, um die geheimen Verhaftsbefehle und um die Kunst, dem Mißgeschick nicht zu erliegen, welchem jedermann in dieser Welt ausgesetzt ist. »Ich bin schon seit zwei Jahren hier,« sagte der Greis, »und hatte keinen anderen Trost als mich selber und meine Bücher, und dennoch bin ich noch nicht einen Augenblick lang trüber Laune gewesen.«

»Oh, Herr Gordon,« rief der Harmlose, »dann lieben Sie auch Ihre Patin nicht! Kennten Sie wie ich Fräulein von Saint-Yves, so würden Sie verzweifelt sein.« Bei diesen Worten vermochte er seine Tränen nicht länger zurückzuhalten und fühlte sich dadurch etwas weniger bedrängt. »Wie kommt es nur,« rief er, »daß die Tränen erleichtern, mich dünkt, sie müßten eigentlich eine entgegengesetzte Wirkung haben!« »Alles an uns ist körperlich, mein Sohn,« entgegnete ihm der gute Greis, »jede Ausscheidung tut dem Körper wohl, und alles, was ihn erleichtert, erleichtert auch die Seele: wir sind die Maschinen der Vorsehung.«

Der Harmlose, der, wie wir bereits mehrmals hervorgehoben haben, gar vielen natürlichen Verstand besaß, stellte über diesen Gedanken, der im Keime stets in ihm geruht zu haben schien, tiefe Betrachtungen an und fragte dann seinen Gefährten, warum seine Maschine dann schon seit zwei Jahren hinter Schloß und Riegel säße. »Kraft der wirksamen Gnade,« erwiderte Gordon, »ich gelte für einen Jansenisten und habe Arnauld und Nicole gekannt; wir werden von den Jesuiten verfolgt. Wir glauben nämlich, der Papst sei ebensogut nur ein Bischof wie jeder andere Bischof, und deshalb hat der Pater de la Chaise vom Könige, seinem Beichtkinde, die Erlaubnis erhalten, mich ohne jedes gerichtliche Urteil des köstlichsten Gutes der Menschen, der Freiheit, zu berauben! »Wie seltsam,« sagte der Harmlose, »alle Unglücklichen, denen ich bisher begegnet bin, waren unglücklich durch den Papst!«

»Was jedoch Ihre wirksame Gnade anbetrifft, so gestehe ich Ihnen, daß ich davon nichts verstehe; als eine große Gnade aber betrachte ich es, daß Gott mich in meinem Unglücke einem Menschen gleich Ihnen hat begegnen lassen, welcher in mein Herz ein Gefühl des Trostes gießt, dessen ich es nicht für fähig gehalten hätte!«

Täglich wurde ihre Unterhaltung interessanter und belehrender. Die Seelen der beiden Gefangenen schlossen sich eng aneinander an. Der Greis wußte viel, und der junge Mann wollte viel lernen. Nach Verlauf eines Monats studierte er bereits Geometrie, ja, er verschlang sie. Gordon gab ihm die Naturkunde von Rohault zu lesen, welche damals noch in Ansehen stand, aber der Harmlose besaß gesunden Verstandes genug, darin nur bloße Mutmaßungen zu erblicken.

Darauf las er den ersten Band der »Erforschung der Wahrheit«, und diese neue Erkenntnis erleuchtete ihn. »Wie,« rief er, »unsere Einbildungskraft und unsere Sinne täuschen uns in solchem Grade? Wie, die Dinge gestalten nicht unsere Vorstellungen, und wir können sie nicht selber in uns erwecken?« Als er den zweiten Band gelesen hatte, war er nicht mehr so befriedigt, und er ermaß, daß es leichter sei, zu zerstören, als aufzubauen.

Sein Mitbruder war erstaunt, daß ein junger Nichtswisser eine derartige Überlegung anzustellen vermochte, welche sonst nur erfahrenen Seelen zu eigen ist, bekam eine gar große Meinung von seinem Verstande und schloß sich ihm noch enger an.

»Ihr Malebranche,« sagte eines Tages der Harmlose zu ihm, »scheint mir die eine Hälfte seines Buches mit seiner Vernunft und die andere mit seiner Phantasie und seinen Vorurteilen geschrieben zu haben!«

Einige Tage darauf fragte ihn Gordon: »Was denken Sie wohl von unserer Seele, von der Art und Weise, in der wir unsere Vorstellungen empfangen, von unserem Willen, von der Gnade und von dem Vermögen der freien Wahl?« »Nichts,« entgegnete ihm der Harmlose, »dächte ich jedoch etwas darüber, so wäre es dies, daß wir ebenso wie die Gestirne und die Elemente der Macht des höchsten Wesens unterstehen, daß es alles in uns wirkt, daß wir kleine Räder an der ungeheuren Maschine sind, deren Seele es ist, und daß es nach allgemeinen Gesetzen und nicht nach besonderen Absichten handelt: dies allein erscheint mir verständlich, alles übrige ist für mich Abgrund und Finsternis.«

»Aber, mein Sohn, das hieße ja Gott zum Urheber der Sünde machen!?!« »Und Ihre wirksame Gnade, mein Vater, macht sie nicht auch Gott zum Urheber der Sünde? denn gewißlich müssen doch alle die, denen diese Gnade versagt wird, sündigen, und wer uns dem Bösen ausliefert, ist der nicht zugleich auch der Urheber des Bösen?«

Diese Kindlichkeit trieb den guten Mann gar sehr in die Enge; er empfand, daß alle seine Bemühungen, sich aus dieser Klemme zu ziehen, eitel waren, und er häufte so viele Worte, welche einen Sinn zu haben schienen, in Wirklichkeit jedoch nicht hatten (im Geschmack der physischen Willensbestimmung), daß der Harmlose Mitleid darob empfand. Die Frage hing ersichtlich mit dem Ursprunge des Guten und Bösen zusammen, und so mußte der arme Gordon nacheinander die Büchse der Pandora, das von Ahriman zerschlagene Ei des Oromazes, die Feindschaft zwischen Typhon und Osiris und schließlich noch die Erbsünde durchgehen, und so wankten sie denn beide in dieser tiefen Nacht umher, ohne einander jemals zu begegnen. Aber im Grunde kehrte doch dieser Roman der Seele ihre Gedanken von der Betrachtung ihres eigenen Elendes ab, und wie durch einen wunderbaren Zauber minderte die Fülle der über die Welt ausgebreiteten Leiden ihnen das Gefühl ihrer eigenen Plagen: wo alles litt, wagten sie nicht, sich zu beklagen.

In der Stille der Nacht jedoch verwischte das Bild der schönen Saint-Yves in dem Geiste ihres Geliebten alle metaphysischen und moralischen Gedanken; in Tränen gebadet wachte er auf, und der alte Jansenist vergaß seine wirksame Gnade und den Abt von Saint-Cyran und Jansenius, um einen jungen Mann zu trösten, den er in eine Todsünde verstrickt wähnte.

Nach ihren Lesestunden und gemeinsamen Betrachtungen sprachen sie immer wieder von ihren Erlebnissen, und nachdem sie das ohne jeden Nutzen getan, lasen sie wieder einzeln oder zusammen. Der Verstand des jungen Mannes festigte sich mehr und mehr: ohne die Ablenkungen, die ihm die Gedanken an Fräulein von Saint-Yves schufen, wäre er vor allem in der Mathematik sehr weit gekommen.

Er las auch Geschichte, aber sie stimmte ihn traurig, die Welt dünkte ihn zu böse und zu elend! Die Geschichte ist in der Tat auch nur ein Gemälde der Verbrechen und des Unglücks. Stets verschwindet auf dieser ungeheuren Bühne die Menge der unschuldigen und friedfertigen Menschen, die handelnden Helden sind stets nur entartete Ehrgeizige. Die Geschichte scheint nur im Sinne der Tragödie gefallen zu können, welche quälend dahinkriecht, wenn sie nicht durch Leidenschaften, Missetaten und große Verhängnisse belebt wird. Man muß so Klio wie Melpomene mit dem Dolche bewaffnen.

Obgleich die Geschichte Frankreichs ebenso wie alle anderen von Greueln erfüllt ist, erschien sie ihm jedoch in ihrem Beginne so widerwärtig, in ihrer Mitte so trocken und schließlich so klein, selbst zu Zeiten Heinrichs IV., stets so bar großer Denkmale und so unbekannt mit jenen schönen Entdeckungen, welche andere Völker geziert haben, daß er gegen Langeweile ankämpfen mußte, um alle die Einzelheiten der ruhmlosen, in einem Winkel der Welt zusammengedrängten Nöte zu Ende zu lesen.

Gordon dachte wie er. Alle beide lachten mitleidig, als von den Fürsten von Fezensac, von Fesansaguet und von Astarac die Rede war, und wirklich, diese Untersuchungen könnten allenfalls für ihre Nachkommen Reiz haben, so deren noch auf der Welt sind. Die schönen Jahrhunderte der römischen Republik stimmten den Harmlosen eine geraume Weile gleichgültig gegen die ganze übrige Welt. Das Schauspiel des siegreichen, Völkern Gesetze schaffenden Roms erfüllte seine ganze Seele. Die Betrachtung dieses Volkes, das siebenhundert Jahre lang von der Begeisterung für Freiheit und Ruhm erfüllt gewesen war, schwellte sein Herz.

So vergingen die Tage, die Wochen, die Monate, und hätte er nicht geliebt, würde er sich am Orte der Verzweiflung glücklich gefühlt haben.

Sein gutes Herz litt auch bei dem Gedanken an den Prior Unserer lieben Frau vom Berge und an die zarte Kerkabonin. »Was sollen sie nur von mir denken,« wiederholte er oft, »wenn sie keine Nachricht von mir bekommen, müssen sie mich für einen Undankbaren halten!« Dieser Gedanke quälte ihn, er beklagte die, so ihn liebten, weit mehr als sich selber.

 

Elftes Kapitel:
Wie sich der Geist des Harmlosen entfaltete.

Bücher weiten die Seele, und ein weiser Freund gereicht ihr zum Trost. Unser Gefangener erfreute sich dieser beiden Vorteile, die er vordem nicht einmal geahnt hatte. »Ich könnte mich versucht fühlen, an Metamorphose zu glauben,« sagte er, »denn ich bin aus einem Tier in einen Menschen verwandelt worden.« Von einem Teil seines Geldes, über das zu verfügen ihm erlaubt war, legte er sich eine erlesene kleine Bibliothek an. Sein Freund ermutigte ihn, seine Betrachtungen niederzuschreiben. Es folge hier, was er über die alte Geschichte schrieb:

»Ich denke mir, daß die Völker lange so gewesen sind wie ich, daß sie sich erst sehr spät gebildet und sich jahrhundertelang nur mit dem gegenwärtigen rinnenden Augenblicke, sehr wenig mit der Vergangenheit und niemals mit der Zukunft beschäftigt haben. Ich habe fünf- oder sechshundert Meilen Kanadas durchstreift und nicht ein einziges Denkmal angetroffen: niemand weiß dort etwas von dem, was sein Urgroßvater getrieben hat. Sollte dieses nicht der natürliche Zustand des Menschen sein? Die Menschengattung dieses Erdteiles hier scheint mir der des meinen überlegen zu sein: seit mehreren Jahrhunderten hat sie ihr Wesen durch Künste und Kenntnisse entwickelt. Sollte der Grund darin liegen, daß ihr ein Bart um das Kinn wächst, und Gott den Amerikanern diesen Bart versagt hat? Ich glaube es nicht, denn ich sehe, daß auch die Chinesen kaum einen Bart haben und dennoch seit mehr als fünftausend Jahren die Künste pflegen, denn wenn ihre Geschichte mehr als viertausend Jahre urkundlich zurückreicht, so muß das Volk doch in der Tat schon vor fünfzig Jahrhunderten vereinigt und blühend gewesen sein.

Eins vor allem fällt mir in der alten Geschichte Chinas auf: fast alles ist darin wahrscheinlich und natürlich, ich bewundere sie darum, daß nichts Wunderbares in ihr vorkommt.

Warum haben sich alle anderen Völker einen fabelhaften Ursprung zugeschrieben? Die alten Chronisten der Geschichte Frankreichs, die übrigens nicht sehr alt sind, lassen die Franzosen von Frankus, einem Sohne Hektors, abstammen, die Römer leiten sich von einem Phrygier her, obgleich es in ihrer Sprache nicht ein einziges Wort gibt, das mit der phrygischen Sprache die geringste Verwandtschaft besäße. In Ägypten sollen zehntausend Jahre lang die Götter gewohnt haben, und die Teufel in Skythien, und dort haben diese die Hunnen gezeugt. Vor Thukydides vermag ich nichts wie Romane gleich dem Amadis zu erblicken, doch weit weniger unterhaltende. Überall bestimmen Geistererscheinungen, Orakel, Wunder, Zaubereien, Verwandlungen und gedeutete Träume das Geschick der größten Reiche und der kleinsten Staaten: hier sprechende Tiere, dort angebetete Tiere, in Menschen verwandelte Götter und in Götter verwandelte Menschen! Oh, wenn es uns schon nach Fabeln verlangt, so sollten diese Fabeln zum mindesten ein Sinnbild der Wahrheit sein. Ich liebe die Fabeln der Philosophen, ich lache über die der Kinder und ich hasse die der großen Menschenbetrüger!«

Eines Tages fiel ihm eine Geschichte des Kaisers Justinian in die Hände. Es war darin zu lesen, daß Unwissende aus Konstantinopel in sehr schlechtem Griechisch ein Edikt wider den größten Feldherrn des Jahrhunderts erlassen hatten,[Die Pariser theologische Fakultät hatte über den »Belisar« Marmontels eine Kritik in schlechtem Latein veröffentlicht.], weil dieser Held in der Hitze des Gesprächs die folgenden Worte gesprochen: »Die Wahrheit strahlt durch ihren eigenen Glanz, und man kann die Geister nicht durch die Flammen der Scheiterhaufen erleuchten.« Die Unwissenden behaupteten, dieser Satz sei Ketzerei und der entgegengesetzte Grundsatz katholisch, allgemein gültig und griechisch: nur mit der Flamme der Scheiterhaufen werden die Geister erleuchtet, und die Wahrheit vermöchte niemals durch eigenen Glanz zu strahlen. Dergestalt verurteilten diese Linnenträger verschiedene Reden des Feldherrn und erließen ein Edikt wider ihn.

»Wie,« rief der Harmlose, »Edikte, erlassen von diesen Leuten?« »Es waren keine Edikte,« entgegnete Gordon, »sondern Gegenedikte, über die sich in Konstantinopel jedermann lustig machte, allen voran der Kaiser. Er war ein weiser Fürst, der die linnengewandeten Nichtswisser so einzuschränken vermocht hatte, daß sie nur noch Gutes tun konnten, denn er wußte, daß diese Herren und noch einige andere Pfaffen bei weit ernsterer Gelegenheit die Geduld der Kaiser seiner Vorfahren durch Gegenedikte hart auf die Probe gestellt hatten!« »Gut tat er daran,« rief der Harmlose, »man muß die Pfaffen stützen und stutzen.«

Er legte noch viele andere Betrachtungen schriftlich nieder, welche den alten Gordon in Schrecken und Staunen versetzten. »Wie,« sprach er zu sich selber, »ich habe fünfzig Jahre darauf verwandt, mich zu bilden, und dennoch muß ich fürchten, niemals an den gesunden natürlichen Sinn dieses fast wilden Kindes heranzureichen. Ich muß zittern, mit allem Fleiß nur Vorurteile befestigt zu haben, er hingegen hört allein auf die schlichte Natur!«

Der gute Mann besaß ein paar jener kritischen Hefte, jener periodischen Blätter, in denen Leute, welche unfähig sind, etwas hervorzubringen, die Erzeugnisse anderer verunglimpfen, in denen ein Visé einen Racine und ein Faydit einen Fénelon beschimpft. Der Harmlose durchlief einige dieser Hefte. »Sie kommen mir wie ein gewisses Fliegengeschmeiß vor,« sagte er, »das seine Eier in den Hintern der schönsten Pferde legt, was sie jedoch nicht am Laufen hindert!« Die beiden Philosophen geruhten kaum, diese Exkremente der Literatur mit einem Blicke zu streifen.

Darauf lasen sie zusammen die Grundlagen der Astronomie. Der Harmlose ließ eine Himmelskugel herbeischaffen, und dieses große Schauspiel entzückte ihn! »Wie hart ist es,« sagte er, »den Himmel erst jetzt kennen zu lernen, da man mich des Rechtes beraubt hat, ihn zu betrachten! Jupiter und Saturn rollen durch ungeheure Räume, Millionen von Sonnen erleuchten Milliarden von Welten, und in einem Winkel der Erde, auf der ich geboren bin, finden sich Wesen, welche mich, ein denkendes und sehendes Geschöpf, aller dieser Welten, die mein Blick erreichen könnte, und dieser Erde, auf der Gott mich hat entstehen lassen, grausam berauben! Das Licht, geschaffen für das ganze Weltenall, ist für mich verloren! Unter dem südlichen Himmel, unter dem ich meine Kindheit und meine Jugend verbracht habe, hat man mir es nicht verdeckt! Ohne Sie, mein lieber Gordon, würde ich hier im Nichts verloren sein.«

 

Zwölftes Kapitel:
Was der Harmlose über Theaterstücke denkt.

Der junge Harmlose glich einem jener kräftigen Bäume, welche, in einem unfruchtbaren Boden entstanden, in kurzer Zeit ihre Wurzeln und ihre Wipfel ausbreiten, sobald man sie in ein günstiges Erdreich verpflanzt, und es war recht erstaunlich, daß ein Gefängnis für ihn dieses Erdreich abgab.

Unter den Büchern, welche die Muße der beiden Gefangenen beschäftigten, befanden sich Dichtungen, Übersetzungen griechischer Trauerspiele und auch ein paar französische Theaterstücke. Die Verse, welche von Liebe handelten, versenkten die Seele des Harmlosen zugleich in Freude und Schmerz, denn alle sprachen ihm von seiner teuren Saint-Yves. Die Fabel von den beiden Tauben zerriß ihm das Herz, denn er war weit davon entfernt, in seinen Taubenschlag zurückkehren zu können.

Molière entzückte ihn: Er vermittelte ihm die Kenntnis der Pariser Sitten und der Sitten des Menschengeschlechts. »Welchem seiner Lustspiele geben Sie den Vorzug?« »Dem Tartüff ohne Zweifel!« »Ich denke wie Sie,« sagte Gordon, »ein Tartüff hat mich in dieses Kerkerloch gestoßen, und vielleicht haben auch Ihr Unglück Tartüffe bewirkt.«

»Wie finden Sie diese griechischen Trauerspiele?« »Gut für Griechen«, erwiderte der Harmlose. Als er jedoch die moderne Iphigenie, Phädra, Andromache und Athalie gelesen hatte, war er in Verzückung, er seufzte, vergoß Tränen und wußte sie bald auswendig, ohne es doch willens gewesen zu sein.

»Lesen Sie Rodogune,« sagte Gordon, »man hält es für das Meisterwerk der Bühne, im Vergleich mit ihm sind die anderen Stücke, die ihnen soviel Freude bereitet haben, gar wenig.« Schon nach der ersten Seite sagte der junge Mann: »Das ist nicht von demselben Verfasser!« »Woran sehen Sie das?« »Ich weiß es noch nicht, aber diese Verse hier sprechen weder zu meinem Ohr noch zu meinem Herzen.« »Oh, was hat der Vers zu besagen!« entgegnete Gordon. »Warum dann aber welche machen?« entgegnete der Harmlose.

Nachdem er darauf das Stück ohne andere Absicht, als die sich zu ergötzen, sehr aufmerksam gelesen hatte, sah er seinen Freund mit trockenen, verwunderten Augen an und wußte nicht, was er sagen sollte. Gedrängt, das, was er empfunden hatte, auseinanderzusetzen, gab er endlich folgenden Bescheid: »Den Anfang habe ich kaum verstanden, denn die Atmosphäre des Ganzen hat mich zurückgestoßen, die letzte Szene hingegen hat mich sehr ergriffen, obgleich sie mir wenig wahrscheinlich erscheint. Teilnahme habe ich für niemanden empfunden, und nicht ein Dutzend Verse sind mir gegenwärtig geblieben, während ich doch sonst alle behalte, die mir gefallen.«

»Dennoch gilt dieses Stück für das beste, das wir besitzen.« »Wenn dem so ist,« erwiderte der Harmlose, »so steht es darum vielleicht wie um viele Leute, welche ihre Stellung nicht verdienen! Schließlich ist das hier aber eine Frage des Geschmackes, und der meine ist vielleicht noch nicht ausgereift, ich mag mich täuschen. Sie wissen jedoch, daß es mir einigermaßen eigen ist, auszusprechen, was ich denke oder vielmehr was ich fühle. Ich argwöhne, daß gar oft Selbstbetrug und Mode und Laune in dem Urteil der Menschen wirksam werden, ich habe von der Natur aus geurteilt und es mag sein, daß diese bei mir noch recht unvollkommen ist, aber es kann auch sein, daß ihr bisweilen von den meisten Menschen gar wenig Rechnung getragen wird.« Darauf sagte er Verse aus der Iphigenie her, von der er ganz erfüllt war, und obgleich er nicht gut vortrug, tat er es doch mit solcher Wahrheit und Inbrunst, daß er den alten Jansenisten zum Weinen brachte. Darauf las er Cinna, und hierbei weinte er nicht, aber er bewunderte.

 

Dreizehntes Kapitel:
Die schöne Saint-Yves begibt sich nach Versailles.

Während unser Unglücklicher mehr Erleuchtung als Trost gewann, während sein so lange niedergehaltener Geist sich mit solcher Schnelligkeit und Kraft entfaltete, während die Natur, die sich in ihm vervollkommnete, ihn an den Unbilden des Schicksales rächte, was geschah derweilen mit dem Prior und seiner guten Schwester und der schönen Klausnerin Saint-Yves? Im ersten Monat war man unruhig, im dritten in heller Verzweiflung; falsche Vermutungen und schlecht gegründete Gerüchte erweckten Angst und Besorgnis, und nach Verlauf von sechs Monaten hielt man ihn für tot. Endlich erfuhren Herr und Fräulein von Kerkabon aus einem veralteten Briefe, den ein Gardist des Königs in die Bretagne gesandt, daß ein junger, dem Harmlosen ähnlicher Mann eines Abends in Versailles angelangt, in der darauffolgenden Nacht jedoch verhaftet worden sei, und daß seit jener Zeit niemand mehr von ihm sprechen gehört habe.

»Ach,« rief Fräulein von Kerkabon, »unser Neffe wird irgendeine Dummheit begangen und sich unangenehme Händel auf den Hals geladen haben! Er ist jung und ein Niederbretone, er kann nicht wissen, wie man sich bei Hofe zu betragen hat. Mein lieber Bruder, ich bin noch niemals in Versailles und in Paris gewesen, dies wäre doch eine schöne Gelegenheit! Vielleicht fänden wir dabei auch unseren armen Neffen wieder; er ist der Sohn unseres Bruders und unsere Pflicht gebietet uns, ihm zu Hilfe zu eilen. Wer weiß, ob es uns nicht vielleicht doch noch gelingt, ihn zum Subdiakonus zu machen, wann nur erst das Feuer der Jugend etwas niedergebrannt ist! Er besaß doch gar viele Anlagen für die Wissenschaften! Kannst du dich noch entsinnen, wie vernünftig er über das Alte und das Neue Testament sprach? Wir sind für seine Seele verantwortlich, denn wir haben ihn taufen lassen, und seine liebe Braut verbringt die Tage mit Weinen! Wir müssen wirklich nach Paris gehen; sicherlich steckt er in einem jener verruchten Freudenhäuser, von denen man mir so gar viel erzählt hat, aber wir wollen ihn schon herausholen!« Der Prior war von den Worten seiner Schwester gerührt. Er begab sich zu dem Bischof von Saint-Malo, der den Huronen getauft hatte, und bat ihn um seinen Schutz und um seinen Rat. Der Prälat billigte die Reise, er gab dem Prior Empfehlungsbriefe an den Pater de la Chaise, den Beichtvater des Königs, der das höchste Ansehen im Reiche genoß, und ferner an Harlay, den Erzbischof von Paris und an Bossuet, den Bischof von Meaux.

Endlich reisten Bruder und Schwester ab. Als sie jedoch in Paris angekommen waren, fühlten sie sich wie verirrt in einem ungeheuren Labyrinth ohne Weg und ohne Ausgang. Ihre Mittel waren nur beschränkt, und dennoch mußten sie für ihre Entdeckungsreisen täglich Wagen nehmen, . . . aber sie entdeckten nichts!

Der Prior begab sich zu dem hochwürdigen Pater de la Chaise, aber der war mit Fräulein du Tron zusammen und konnte daher keinen Prior empfangen. Darauf klopfte er an die Tür des Erzbischofs. Der Kirchenfürst war in Angelegenheiten der Kirche mit der schönen Frau von Lesdiguières zusammen eingeschlossen. Er eilte nun in das Landhaus des Bischofs von Meaux hinaus, dieser untersuchte mit Fräulein von Mauleon die »Mystische Liebe« der Frau Guyon. Schließlich gelang es ihm aber doch, sich bei diesen beiden Kirchenfürsten Gehör zu verschaffen; beide versicherten ihm, sie könnten sich mit den Angelegenheiten seines Neffen nicht befassen, solange er nicht Subdiakon sei.

Endlich bekam er auch den Jesuiten zu Gesicht. Dieser empfing ihn mit offenen Armen, beteuerte ihm, er habe stets eine ganz besondere Achtung für ihn gehegt, obwohl er ihn niemals gekannt, und schwur, die Gesellschaft Jesu sei den Niederbretonen stets besonders gewogen gewesen. »Sollte Ihr Neffe jedoch nicht das Unglück haben, Hugenotte zu sein?« »Sicherlich nicht, mein hochwürdiger Vater.« »Ist er nicht vielleicht Jansenist?« »Ich kann Euer Hochwürden versichern, daß er noch kaum ein Christ ist, wir haben ihn erst vor ungefähr elf Monaten getauft.« »Oh, das ist gut, das ist gut, wir wollen uns um ihn kümmern! Ist Ihre Pfründe beträchtlich?« »Oh nein, durchaus nicht, und unser Neffe kostet uns sehr viel!« »Gibt es in der Nachbarschaft wohl Jansenisten? Dann seien Sie auf Ihrer Hut, mein lieber Herr Prior, sie sind gefährlicher als die Hugenotten und die Atheisten!« – »Mein hochwürdiger Pater, bei uns gibt es deren keine, in Unserer lieben Frau vom Berge weiß man nicht einmal, was Jansenismus ist!« »Um so besser! Seien Sie jedenfalls versichert, daß ich alles für Sie tun werde!« Er verabschiedete den Prior aufs liebevollste und dachte an die ganze Sache nicht weiter. Die Zeit verstrich, und der Prior und seine gute Schwester verzweifelten.

Unterdessen betrieb der verdammte Amtmann die Heirat seines großen Tölpels von Sohn mit der schönen Saint-Yves, die man eigens dazu aus dem Kloster genommen hatte. Sie liebte ihr teures Pathenkind noch immer so sehr, als sie den Gatten verabscheute, den man ihr antrauen wollte. Der Schimpf, in ein Kloster gesteckt worden zu sein, steigerte ihre Leidenschaft, und der Befehl, den Sohn eines Amtmanns zu heiraten, ließ das Maß überlaufen: Reue, Zärtlichkeit und Angst zerfraßen ihre Seele. Die Liebe ist, wie man weiß, in einem jungen Mädchen weit erfinderischer und kühner als die Freundschaft in einem alten Prior und einer Tante im vollendeten fünfundvierzigsten Lebensjahre; dazu kam noch, daß sie sich in ihrem Kloster durch die Romane, die sie dort heimlich gelesen, gar trefflich gebildet hatte!

Die schöne Saint-Yves erinnerte sich des Briefes, den ein Leibgardist in die Niederbretagne geschrieben und von dem man in der Provinz gesprochen hatte. Sie entschloß sich, selber in Versailles Erkundigungen einzuziehen und sich den Ministern zu Füßen zu werfen, falls ihr Bräutigam wirklich, wie man sagte, im Gefängnisse war, und Gerechtigkeit für ihn zu erlangen. Ich weiß nicht, was sie im geheimen ahnen ließ, daß man bei Hofe einem hübschen Mädchen nichts verweigert, aber sie ahnte nicht, um welchen Preis es geschah.

Sobald sie ihren Entschluß gefaßt, war sie getröstet, war sie ruhig und wies den ihr bestimmten Dummkopf nicht mehr zurück. Sie empfing den abscheulichen Schwiegervater, umschmeichelte ihren Bruder und verbreitete Fröhlichkeit im ganzen Hause, und dann ging sie an dem für die Trauung bestimmten Tage mit ihren Hochzeitsgeschenken und allem, was sie sonst noch hatte zusammenbringen können, um vier Uhr des Morgens heimlich auf und davon. Sie hatte ihre Maßnahmen so gut getroffen, daß sie schon um zehn Meilen entfernt war, als man gegen Mittag ihr Zimmer betrat. Die Überraschung und Bestürzung war groß. Der fragesüchtige Amtmann stellte an diesem Tage mehr Fragen, als er die ganze Woche über getan, und der Bräutigam wurde noch dümmer, als er jemals gewesen. Der Abt von Saint-Yves faßte zornig den Entschluß, seiner Schwester nachzusetzen, und der Amtmann und sein Sohn erboten sich, ihn zu begleiten. So führte das Geschick fast diesen ganzen Bezirk der Niederbretagne nach Paris.

Die schöne Saint-Yves ahnte gar wohl, daß man sie verfolgen würde. Sie war zu Pferd und fragte unterwegs die Eilboten geschickt aus, ob sie auf dem Wege nach Paris nicht einem dicken Abt, einem ungeheuren Amtmann und einem jungen Tölpel begegnet seien. Nachdem sie am dritten Tage erfahren, daß diese nicht mehr weit hinter ihr zurück seien, schlug sie einen anderen Weg ein und hatte genug Geschick und Glück, nach Versailles zu gelangen, während man nach ihr in Paris vergeblich suchte.

Was sollte sie jedoch, jung, schön, ohne Schutz, ohne Schirm, unbekannt und jeglichem ausgesetzt, in Versailles anfangen, wie sollte sie es wagen, dort nach einem Leibgardisten zu suchen? Sie verfiel auf den Gedanken, sich an einen Gesindejesuiten zu wenden, denn es gab welche für alle Stände. So wie Gott den verschiedenen Tiergattungen verschiedene Nahrung gegeben, sagten sie, so hat er auch dem Könige seinen Beichtvater verliehen, welchen alle Pfründenbettler das Haupt der gallikanischen Kirche nannten; darauf kamen die Beichtväter der Prinzessinnen; die Minister hatten keine, denn so dumm waren sie nicht! Dann gab es noch die Jesuiten für das Hausgesinde und vor allem die Jesuiten der Kammerfrauen, durch die man die Geheimnisse der Herrinnen erfuhr, und das war wahrlich kein kleines Amt! An einen dieser letzten wandte sich die schöne Saint-Yves, er hieß der Pater Toutatous. Sie beichtete ihm, eröffnete ihm ihre Erlebnisse, ihre Lage, die Gefahr, in der sie schwebte, und beschwor ihn, sie bei irgendeiner guten, frommen Frau unterzubringen, wo sie vor allen Verführungen geschützt sei.

Der Vater Toutatous brachte sie zu der Frau eines Beamten des Mundschenken- und Obstamtes, einem seiner vertrautesten Beichtkinder. Sobald sie dort war, ließ sie es sich angelegen sein, das Vertrauen und die Freundschaft dieser Frau zu erwerben; sie erkundigte sich nach dem bretonischen Gardisten und ließ ihn zu sich bitten. Nachdem sie von ihm erfahren, daß ihr Geliebter in Haft genommen worden sei, nachdem er mit einem Oberschreiber gesprochen, lief sie zu diesem hin: der Anblick einer schönen Frau stimmte ihn milde, denn man muß zugeben, daß Gott die Frauen nur erschaffen hat, um die Männer zu bändigen.

Die gerührte Schreiberseele gestand ihr alles: »Ihr Geliebter befindet sich seit fast einem Jahre in der Bastille und würde ohne Sie vielleicht sein ganzes Leben dort verbleiben.« Die zarte Saint-Yves fiel in Ohnmacht. Als sie wieder zu sich gekommen war, sagte der Federfuchser zu ihr: »Ich habe keine Möglichkeit, Gutes zu tun, meine ganze Macht beschränkt sich darauf, bisweilen Böses zu tun. Vertrauen Sie mir jedoch und gehen Sie zum Herrn von Saint-Pouange, der Gutes und Böses tun kann, er ist der Vetter und Günstling Seiner Durchlaucht des Herrn von Louvois. Dieser Minister hat zwei Seelen, Herr von Saint-Pouange ist die eine und Frau du Fresnoi die andere, diese ist jetzt jedoch nicht in Versailles, es bleibt Ihnen also nichts anderes übrig, als den Fürsprecher zu erweichen, den ich Ihnen angegeben habe.«

Geteilt zwischen schwacher Freude und heftigem Schmerz, zwischen geringer Hoffnung und großer Angst, von ihrem Bruder verfolgt, ihren Geliebten leidenschaftlich liebend, ihre Tränen trocknend und aufs neue vergießend, zitternd, schwach und nach Mut, ringend, eilte die schöne Saint-Yves schnell zum Herrn von Saint-Pouange.

 

Vierzehntes Kapitel:
Geistige Fortschritte des Harmlosen.

Der Harmlose machte schnelle Fortschritte in den Wissenschaften und vor allem in der Wissenschaft vom Menschen. Der Grund dieser schnellen Entwicklung seines Geistes lag fast ebensosehr in seiner wilden Erziehung, wie im Wesen seiner Seele, denn da er in seiner Kindheit nichts gelernt hatte, hatte er auch keine Vorurteile annehmen müssen, und da sein Begriffsvermögen nicht unter den Irrtum gebeugt worden war, war es in seiner ganzen Unverbogenheit aufrecht geblieben: er sah die Sachen so wie sie sind, während die Begriffe, die man uns in unserer Kindheit einprägt, sie uns unser ganzes Leben lang so sehen lassen, wie sie nicht sind. »Ihre Verfolger sind abscheulich,« sprach er zu seinem Freunde Gordon, »ich bedauere Sie herzlich, daß Sie unterdrückt werden, aber noch weit mehr bedauere ich, daß Sie Jansenist sind: Jede Sekte dünkt mich ein Sammelplatz des Irrtums zu sein. Sagen Sie mir, ob es in der Geometrie Sekten gibt?« »Nein, mein liebes Kind,« antwortete ihm seufzend der gute Gordon, »über erwiesene Wahrheiten sind sich alle Menschen stets einig, über die dunklen Wahrheiten jedoch sind sie nur allzu geteilter Meinung!« »Sagen Sie ruhig über die dunklen Falschheiten, denn wäre in ihrem ganzen Haufen von Beweisgründen, die man seit so vielen Jahrhunderten zusammenträgt, auch nur eine einzige Wahrheit verborgen, so würde man sie zweifelsohne entdeckt haben, und die Welt hätte sich wenigstens über diesen einen Punkt geeinigt! Ja, wäre diese Wahrheit überhaupt notwendig, wie es die Sonne für die Erde ist, so würde sie auch wie jene strahlend sein. Es ist eine Abgeschmacktheit, eine Beschimpfung des menschlichen Geschlechts und ein Frevel wider den Schöpfer zu behaupten, es könne eine für den Menschen wesentliche Wahrheit geben, die Gott verborgen hat!«

Alles was dieser junge, allein von der Natur unterrichtete Nichtswisser vorbrachte, machte einen tiefen Eindruck auf den Geist des alten, unglücklichen Gelehrten. »Sollte es wahr sein,« rief er, »daß ich mich um Hirngespinste ins Unglück gestürzt habe? Ich bin von meinem Unglück weit überzeugter, als von der wirksamen Gnade, ich habe meine Tage damit vertan, über die Freiheit Gottes und des Menschengeschlechtes nachzudenken, und dabei habe ich die meine eingebüßt, weder Sankt Augustin noch Sankt Prosper werden mich aus dem Abgrunde erretten, in den ich gefallen bin.«

Völlig eins mit seinem Wesen geworden, sagte der Harmlose endlich: »Soll ich Ihnen mit kühnem Vertrauen offen meine Meinung sagen? Alle, die sich wegen solcher eitlen Schulstreitigkeiten Verfolgungen aussetzen, dünken mich wenig weise, die aber, so uns verfolgen, dünken mich Ungeheuer zu sein.«

Die beiden Gefangenen waren über die Ungerechtigkeit ihrer Gefangenschaft völlig einig miteinander. »Ich bin hundertmal beklagenswerter als Sie,« sagte der Harmlose; »ich bin frei geboren wie die Luft, ich kannte nur zwei Leben, die Freiheit und den Gegenstand meiner Liebe, man hat sie mir genommen, nun liegen wir beide hier in Fesseln, ohne den Grund zu wissen und ohne ihn erfragen zu können. Ich habe zwanzig Jahre als Hurone gelebt: Man sagt, dies seien Barbaren, weil sie sich an ihren Feinden rächen, niemals jedoch bedrücken sie ihre Freunde! Kaum hatte ich den Fuß auf den Boden Frankreichs gesetzt, so habe ich für Frankreich mein Blut vergossen, vielleicht habe ich eine ganze Provinz gerettet, und zur Belohnung sperrt man mich hier in dieses Grab der Lebendigen, in dem ich ohne Sie vor Wut gestorben wäre! Gibt es denn keine Gesetze in diesem Lande, verdammt man denn hier die Menschen, ohne sie zu hören? So geschieht in England nicht! Ah, niemals hätte ich gegen Engländer kämpfen sollen!« Dergestalt vermochte seine entstehende Philosophie noch nicht die in dem vornehmsten ihrer Rechte vergewaltigte Natur in ihm zu bändigen und ließ seinem gerechten Zorne freien Lauf.

Sein Gefährte widersprach ihm nicht. Die Entfernung steigert unbefriedigte Liebe stets, und Philosophie vermag sie nicht zu vermindern. So sprach er denn auch ebensooft von seiner lieben Saint-Yves, wie von Moral und Metaphysik. Je mehr seine Gefühle sich läuterten, desto mehr liebte er auch. Er las ein paar neue Romane. Aber er fand wenige darunter, die ihm den Zustand seiner eigenen Seele geschildert hätten; er fühlte, daß sein Herz stets weit über das hinausflog, was er las. »Oh,« rief er, »fast alle diese Schriftsteller besitzen nur Geist und Kunst!« Schließlich wurde der gute Jansenistenpriester unmerklich der Vertraute seiner Liebe. Gordon hatte Liebe bis dahin nur als eine Sünde gekannt, deren man sich in der Beichte zeiht, er lernte sie nun als eine so edle wie zarte Empfindung kennen, welche die Seele ebensosehr erheben wie erniedrigen und bisweilen sogar Tugenden in ihr erwecken kann. Kurz, ein letztes Wunder: Ein Hurone bekehrte einen Jansenisten.

 

Fünfzehntes Kapitel:
Die schöne Saint-Yves widersteht zarten Anträgen.

Die schöne Saint-Yves, welche noch zärtlicher als ihr Geliebter war, begab sich also mit der Freundin, bei der sie wohnte, und gleich dieser von einem Kopfschleier verhüllt, zu Herrn von Saint-Pouange. Das erste, was sie an der Tür erblickte, war der Abt von Saint-Yves, ihr Bruder, der herauskam. Sie wurde nun ängstlich, aber die fromme Freundin beruhigte sie: »Gerade weil man soeben gegen Sie gesprochen hat, ist es notwendig, daß auch Sie nun Ihrerseits sprechen! Seien Sie überzeugt, daß die Ankläger hierzulande stets recht haben, wenn man sich nicht beeilt, ihnen entgegenzutreten; außerdem müßte ich mich sehr täuschen, wenn Ihre Gegenwart nicht eine weit größere Wirkung tun sollte, als die Worte Ihres Bruders.«

Sobald man eine leidenschaftlich Liebende nur ein wenig ermutigt, wird sie auch schon kühn: die Saint-Yves ließ sich also einführen. Ihre Jugend, ihre Reize, ihre von Tränen zart verschleierten Augen zogen aller Blicke an, jede Schranze des Unterministers vergaß für einen Augenblick den Götzen Macht, um die Göttin Schönheit zu betrachten. Saint-Pouange ließ sie in sein Gemach führen. Sie sprach voller Ergriffenheit und Anmut, Saint-Pouange fühlte sich bewegt, sie wankte und er stützte sie. »Kommen Sie diesen Abend wieder,« sprach er zu ihr, »Ihr Geschäft verdient mit Muße bedacht und besprochen zu werden, jetzt sind zu viele Leute hier und drängen vorgelassen zu werden, ich muß über alles, was Sie betrifft, gründlich zu Ihnen sprechen.« Und dann, nachdem er ihr noch eine Artigkeit über ihre Schönheit und über ihre Gefühle gesagt hatte, empfahl er ihr, sich abends um sieben Uhr einzustellen.

Sie unterließ es nicht, und wiederum begleitete sie die fromme Freundin, aber diese blieb im Vorderzimmer und las den »Christlichen Wegweiser«, während Saint-Pouange und die schöne Saint-Yves sich im Hinterzimmer aufhielten. »Wollen Sie mir wohl glauben, mein Fräulein,« sagte er zunächst, »daß Ihr Bruder bei mir war, um einen geheimen Verhaftsbefehl wider Sie zu erwirken? Ich bin allerdings weit eher gesonnen, einen zu erlassen, der ihn gar schnell in die Niederbretagne zurückbefördern soll!« »Ach, mein Herr, man scheint doch in Ihren Kanzleien mit Verhaftsbefehlen recht freigebig zu sein, da man sich anläßt, aus einem Winkel des Reiches herbeizukommen und sie wie Gnadengelder zu erbitten! Ich bin weit entfernt davon, Sie nun auch um einen Haftbefehl wider meinen Bruder anzugehn. Zwar habe ich gar großen Grund, mich über ihn zu beschweren, aber ich achte die Freiheit der Menschen und erbitte die eines Mannes, den ich heiraten will, eines Mannes, dem der König die Erhaltung einer Provinz zu danken hat, der ihm nützlich dienen könnte und außerdem der Sohn eines Offiziers ist, der in seinem Dienste getötet wurde. Wessen ist er angeklagt, und wie hat man ihn so grausam behandeln dürfen, ohne ihn anzuhören?«

Darauf zeigte ihr der Unterminister den Brief des jesuitischen Spions und den des hinterlistigen Amtmannes. »Wie, derartige Ungeheuer gibt es auf Erden? Auf solche Weise will man mich zwingen, den lächerlichen Sohn eines lächerlichen und bösen Mannes zu heiraten? Und auf derlei Nachrichten hin entscheidet man hier über das Schicksal der Bürger?« Sie warf sich in die Kniee und flehte schluchzend um die Freiheit des wackeren Mannes, den sie liebte; ihre Reize erreichten in diesem Zustande ihre größte Vollkommenheit. Sie war so schön, daß Saint-Pouange alle Scham verlor und ihr zu verstehen gab, daß ihr Gewähr werden würde, falls sie ihm die ersten Blüten dessen weihe, was sie für ihren Geliebten bewahrte. Entsetzt und verwirrt tat die Saint-Yves lange so, als ob sie ihn nicht verstände, es galt also sich deutlicher zu erklären. Anfänglich zurückhaltend hervorgebrachte Worte hatten stärkere im Gefolge, und diese zogen wiederum noch deutlichere nach sich. Man stellte nicht nur die Aufhebung des Haftbefehles in Aussicht, sondern auch Belohnung, Geld, Mitgift, und je mehr man versprach, desto mehr steigerte sich auch der Wunsch, nicht abgewiesen zu werden.

Halb auf einem Sofa liegend, erstickte die Saint-Yves beinahe an ihren Tränen, und kaum vermochte sie zu glauben, was sie sah und was sie hörte. Saint-Pouange seinerseits warf sich in die Kniee. Er war nicht ohne Reiz und wohl dazu angetan, ein freieres Herz nicht zu erschrecken: Saint-Yves jedoch betete ihren Geliebten an und hielt es für ein grauenhaftes Verbrechen, ihn zu verraten, um ihm zu nützen. Saint-Pouange verdoppelte seine Bitten und Versprechungen, und schließlich verlor er seinen Kopf so vollständig, daß er vorgab, dies sei das einzige Mittel, den Mann, an dem sie so zärtlich und ungestüm hinge, aus dem Gefängnis zu befreien. Die absonderliche Unterredung dehnte sich immer länger aus. Die fromme Dame, welche im Vorzimmer noch immer in ihrem »Christlichen Wegweiser« las, sagte: »Mein Gott, was können sie nur seit zwei Stunden treiben? Noch niemals hat Seine Gnaden der Herr von Saint-Pouange eine so lange Audienz erteilt; da sie ihn jedoch noch immer bittet, muß er dem armen Mädchen wohl alles abgeschlagen haben.«

Endlich verließ ihre Gefährtin das Hinterzimmer; sie war bestürzt, sprachlos und tief versonnen über den Charakter der Großen und Halbgroßen, welche so leichten Herzens die Freiheit der Männer und die Ehre der Frauen opfern.

Auf dem ganzen Wege vermochte sie kein Wort hervorzubringen, als sie jedoch im Hause der Freundin angelangt war, brach es aus ihr heraus, und sie erzählte der Freundin alles. Die Fromme machte zu wiederholten Malen ein großes Zeichen des Kreuzes und sagte: »Liebe Freundin, Sie müssen morgen sofort den Pater Toutatous, unseren Beichtvater, um Rat fragen, er hat großen Einfluß auf Herrn von Saint-Pouange, denn er ist der Beichtiger mehrerer Dienerinnen des Hauses. Er ist ein frommer, gefälliger Mann, der auch vielen Damen von Stande als Gewissensrat dient; geben Sie sich ihm völlig anheim, ich tue es ebenso und bin noch immer gut dabei gefahren. Wir armen Frauen bedürfen stets der Führung eines Mannes!« »Wohlan, meine liebe Freundin, so will ich also morgen zu dem Pater Toutatous gehen.«

 

Sechzehntes Kapitel:
Sie befragt einen Jesuiten um Rat.

Sobald die schöne und verzweifelte Saint-Yves bei ihrem guten Beichtvater angelangt war, vertraute sie ihm an, daß ein mächtiger und wollüstiger Mann ihr in Aussicht gestellt habe, denjenigen, dem sie gesetzlich angetraut werden sollte, aus dem Gefängnisse zu befreien, und daß er für diesen Dienst einen großen Preis fordere, daß sie grausigen Abscheu vor einer solchen Untreue hege und lieber ihr eigenes Leben lassen und, wenn es anginge, es opfern wolle, als dieser Versuchung zu unterliegen.

»Welch ein abscheulicher Sünder«, sprach der Pater Toutatous. »Sie müssen mir auf jeden Fall den Namen dieses schändlichen Menschen nennen, sicherlich ist es irgendein Jansenist! Ich werde ihn Seiner Hochwürden dem Pater de la Chaise anzeigen, und der wird ihn schon in den Kerker werfen, in dem jetzt der teure Mann schmachtet, den Sie heiraten sollen.«

Nach langer Bedrängnis und großer Verlegenheit nannte das arme Mädchen endlich Saint-Pouange.

»Seine Gnaden der Herr von Saint-Pouange!« rief der Jesuit, »oh, mein Kind, das ist etwas ganz anderes, er ist der Vetter des größten Ministers, den wir jemals gehabt haben, ein Biedermann, der Beschützer der guten Sache, ein guter Christ, er kann einen solchen Gedanken nicht hegen! Sie müssen sich verhört haben.« »Oh, mein Vater, ich habe nur allzu gut gehört! Ich bin verloren, was ich auch immer tue; mir bleibt nur die Wahl zwischen Unglück und Schande, mein Geliebter muß entweder lebendig begraben bleiben, oder ich muß mich unwürdig machen, zu leben, ich kann ihn nicht verderben lassen und kann ihn nicht retten!«

Der Pater Toutatous versuchte sie durch die folgenden sanften Worte zu beschwichtigen:

»Erstens, mein Kind, dürfen Sie niemals das Wort »Mein Geliebter« gebrauchen, es liegt etwas Weltliches darin, das Gott beleidigen könnte; sagen Sie dafür »Mein Gatte«, denn wenn er es auch noch nicht ist, so gilt er Ihnen doch als solcher, und das ist durchaus ehrenwert.

Zweitens ist er doch nur Ihr Gatte in Ihren Gedanken, in Ihrer Hoffnung, aber noch nicht in Wirklichkeit, so würden Sie also auch keinen Ehebruch begehen, welcher allerdings eine erschreckliche Sünde ist, die man stets soviel wie möglich vermeiden soll.

Drittens sind Handlungen, deren Absicht rein ist, keine Sündenschuld, und nichts möchte für reiner gelten können als die Absicht, Ihren Gatten zu befreien.

Viertens finden Sie im frommen Altertum Beispiele, welche Ihrem Handeln gar wunderbar zur Richtschnur dienen können. Der heilige Augustin berichtet, daß im Jahre 340 des Heiles unter dem Prokonsulat des Septimius Acyndinus ein armer Mann lebte, der Cäsar nicht zu geben vermochte, was des Cäsar war, und daher zum Tode verurteilt wurde, wie es rechtens ist trotz des Sprichwortes: Wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren! Es handelte sich um ein Pfund Gold; der Verurteilte aber hatte ein Weib, dem Gott Schönheit und Klugheit verliehen. Ein alter reicher Kauz versprach der Dame, ein Pfund Goldes und mehr zu geben, falls sie mit ihm die unsaubere Sünde begehen wolle. Die Dame glaubte, nichts Böses zu tun, wenn sie ihrem Gatten das Leben rettete. Der heilige Augustin billigte ihre großmütige Selbstüberwindung außerordentlich. Auch betrog sie der alte reiche Kauz, und vielleicht ist ihr Gatte nichtsdestoweniger gehängt worden, sie hatte aber alles, was in ihrer Macht stand, getan, um ihm das Leben zu retten.

Sie können sicher sein, mein Kind, daß, wenn ein Jesuit Ihnen den heiligen Augustin anführt, dieser Heilige dann völlig recht hat. Ich rate Ihnen in keiner Weise, Sie sind selber verständig genug, und mutmaßlich werden Sie Ihrem Gatten nützlich sein können! Seine Gnaden der Herr von Saint-Pouange ist ein Ehrenmann und wird Sie nicht täuschen, das ist alles, was ich Ihnen sagen kann; außerdem will ich für Sie zu Gott bitten, und ich hoffe, daß alles zu seinem größten Ruhme vor sich gehen soll!«

Über die Reden des Jesuiten nicht weniger entsetzt wie über die Anträge des stellvertretenden Ministers selber, kehrte die schöne Saint-Yves fassungslos zu ihrer Freundin zurück. Sie fühlte sich versucht, sich durch den Tod von dem grausigen Bewußtsein, ihren angebeteten Geliebten in schmählicher Gefangenschaft zu lassen, und von der Schande zu befreien, seine Fesseln um den Preis dessen zu lösen, was sie an Kostbarstem besaß, und was niemandem denn diesem unglücklichen Geliebten gehören durfte.

 

Siebzehntes Kapitel:
Sie unterliegt aus Tugend.

Sie bat ihre Freundin, sie zu töten, aber dieses Weib war noch nachsichtiger gesinnt als der Jesuit und sprach noch deutlicher zu ihr. »Ach,« sagte sie,»die Geschäfte an diesem so liebenswürdigen, so artigen, so berühmten Hofe gehen nun einmal kaum anders vor sich, sowohl die kleinsten wie die bedeutendsten Ämter werden gar oft nur um den Preis vergeben, den man von Ihnen fordert. Hören Sie, Sie haben Freundschaft und Vertrauen in mir erweckt, ich will Ihnen gestehen, daß wenn ich mich ebenso angestellt hätte wie Sie, mein Mann nicht im Besitze der kleinen Stellung sein würde, durch die er das Leben erwirbt; er weiß es, und weit davon entfernt, darob zu zürnen, erblickt er in mir nur seine Wohltäterin und betrachtet sich als mein Geschöpf. Glauben Sie denn, daß alle die, welche an der Spitze der Provinzen und sogar der Heere gestanden haben, allein ihren Verdiensten Ehre und Glück zu danken hatten? Gar manche sind darunter, die sich dafür den Damen, ihren Frauen, verpflichtet halten müssen. Die Kriegswürden werden durch die Liebe erworben, und das höchste Amt bekommt der Gatte der Schönsten.

Sie befinden sich in einer weit reizvolleren Lage: es handelt sich darum, Ihren Geliebten dem Tageslicht wiederzugeben und ihn zu heiraten, das ist eine heilige Pflicht, die Sie erfüllen müssen! Man hat die schönen und großen Damen, von denen ich Ihnen gesprochen, nicht getadelt, Ihnen wird man Beifall zollen, man wird von Ihnen sagen, Sie hätten sich aus einem Übermaß an Tugend eine Schwäche gestattet!« »Oh, welche Tugend,« rief die schöne Saint-Yves, »welches Labyrinth von Verderbnis, welches Land, wie lerne ich nicht die Menschen kennen! Ein Pater de la Chaise und ein lächerlicher Amtmann bringen meinen Geliebten ins Gefängnis, meine Familie verfolgt mich, und man reicht mir in meinem Unglück nur die Hand, um mich zu entehren. Ein Jesuit hat einen wackeren Mann zugrunde gerichtet, ein anderer Jesuit will auch mich verderben, ich bin von Fallstricken umgeben und stehe dicht davor, ins tiefste Elend hinabzustürzen! Entweder muß ich mich töten, oder ich muß den König sprechen, ich will mich ihm in den Weg werfen, wenn er in die Messe oder ins Theater geht.«

»Man läßt Sie nicht in seine Nähe,« entgegnete ihr ihre gute Freundin, »und sollten Sie wirklich das Unglück haben, zu ihm sprechen zu können, so möchten Herr von Louvois und der hochwürdige Pater de la Chaise Sie für den Rest Ihrer Tage wohl tief in ein Kloster vergraben!«

Während dieses brave Frauenzimmer dergestalt die Drangsale einer verzweifelten Seele vergrößerte und ihr den Dolch ins Herz stieß, kam ein Bote von Seiten des Herrn von Saint-Pouange mit einem Brief und zwei schönen Ohrgehängen. Saint-Yves wies alles unter Tränen zurück, aber die Freundin nahm es an sich.

Sobald der Bote gegangen war, las die Vertraute den Brief, in welchem den beiden Freundinnen ein kleines Nachtmahl für den Abend in Vorschlag gebracht wurde. Saint-Yves schwur, sie würde nicht hingehen. Die Fromme wollte ihr nun die beiden Diamantgehänge anlegen, Saint-Yves vermochte es jedoch nicht zu ertragen. Den ganzen Tag über kämpfte sie mit sich, aber endlich ließ sie sich – nur ihren Geliebten in ihren Gedanken und nicht wissend, wohin man sie brachte – drängen und besiegen und zu dem verhängnisvollen Nachtmahle führen. Nichts aber hatte sie bestimmen können, sich mit den beiden Ohrgehängen zu schmücken, die Vertraute nahm sie jedoch mit und legte sie ihr wider Willen an, ehe man sich zu Tisch setzte, denn Saint-Yves war so verwirrt und verstört, daß sie dem Drängen nachgab, was der Hausherr für ein äußerst günstiges Vorzeichen nahm. Gegen das Ende des Mahles zog sich die Vertraute feinfühlig zurück, und darauf wies der Hausherr die Widerrufung des Haftbefehles, die Verfügung einer beträchtlichen Belohnung und den Befehl zur Übergabe einer Kompagnie vor und war auch mit weiteren Versprechungen nicht sparsam. »Oh,« sprach Saint-Yves zu ihm, »wie würde ich Sie lieben, wenn Sie nicht eben gar so sehr geliebt werden wollten!«

Nach langem Widerstande, langem Schluchzen, Klagen, Weinen, vom Kampfe geschwächt, verwirrt und ermattet, mußte sie sich endlich hingeben. Ihr blieb keine andere Rettung, als sich treulichst zu geloben, nur an den Harmlosen zu denken, während der Grausame unbarmherzig die Notlage ausnutzen würde, in die sie sich versetzt sah.

 

Achtzehntes Kapitel:
Sie befreit ihren Geliebten und einen Jansenisten.

Ausgerüstet mit der Verfügung des Ministers flog sie bei Tagesanbruch nach Paris. Es läßt sich schwer schildern, was während dieser Reise in ihrem Herzen vorging. Man stelle sich eine tugendhafte, edle, von ihrer Schande niedergedrückte und von Zärtlichkeit erfüllte Seele vor, die zerrissen war von der Reue, ihren Geliebten verraten zu haben, und zugleich durchglüht von der Freude, ihren Angebeteten zu befreien! Ihre Qualen, ihre Kämpfe und ihr Sieg erfüllten alle ihre Gedanken. Sie war nun nicht mehr jenes schlichte Mädchen, deren Vorstellungen durch eine ländliche Erziehung unentwickelt geblieben waren, Liebe und Unglück hatten sie gestaltet, Empfindung hatte in ihr ebenso große Fortschritte gemacht, wie die Vernunft im Geiste ihres unglücklichen Geliebten. Die Mädchen lernen leichter fühlen als die Männer denken. Ihr Abenteuer war lehrreicher für sie gewesen als vier Jahre Kloster.

Ihr Kleid war von äußerster Schlichtheit; nur mit Entsetzen konnte sie sich des Putzes erinnern, mit dem sie vor ihrem verhängnisvollen Wohltäter erschienen war, so hatte sie denn ihre Diamantgehänge ihrer Gefährtin überlassen, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen. Verwirrt und beglückt, ihren Harmlosen vergötternd und sich selber hassend, gelangte sie endlich vor das Tor

Der Schreckensburg, der Rache Schloß,
Das Unschuld oft bei Schuld umschloß.

Als es galt, aus dem Wagen zu steigen, fehlten ihr die Kräfte, man stützte sie, und mit klopfendem Herzen, feuchten Augen und bebenden Lippen trat sie ein. Man bringt sie zu dem Gefängnisvogt, sie will zu ihm sprechen, aber ihre Stimme versagt ihr, sie weist nur ihre Verfügung vor und vermag kaum einige Worte zu lallen. Der Vogt liebte seinen Gefangenen und war über seine Befreiung höchst erfreut; sein Herz war nicht verhärtet wie das einiger ehrenwerter Kerkermeister, seiner Amtsbrüder, welche – nur der mit der Hut ihrer Gefangenen verbundenen Sporteln eingedenk – ihr Einkommen auf ihre Opfer gründen, vom Unglücke anderer leben und im geheimen schändliche Freude an den Tränen der Unglücklichen empfinden.

Er ließ den Gefangenen in sein Zimmer führen. Die zwei Liebenden wurden einander ansichtig und fielen beide in Ohnmacht. Die schöne Saint-Yves blieb lange regungslos und ohne Leben, der Harmlose jedoch war bald wieder im Besitz seines Mutes. »Das ist wahrscheinlich Ihre Frau Gemahlin,« sagte der Vogt zu ihm, »Sie hatten mir nicht gesagt, daß Sie verheiratet seien! Man teilt mir mit, daß Sie ihren großmütigen Bemühungen Ihre Befreiung zu danken hätten.« »Oh, ich bin nicht würdig, seine Frau zu sein«, sagte die schöne Saint-Yves mit zitternder Stimme, und dann sank sie abermals in ihre Ohnmacht zurück.

Als sie wieder zur Besinnung gelangt war, wies sie, noch immer zitternd, die Verfügung einer Belohnung und das schriftliche Versprechen einer Kompagnie vor. Ebenso verwundert wie gerührt, erwachte der Harmlose aus einem Traum, um in einen anderen zu versinken. »Warum bin ich hier gefangen gewesen? Wie haben Sie mich befreien können? Wo sind die Ungeheuer, die mich hierhergebracht? Sie sind eine Gottheit, die zu meiner Hilfe vom Himmel herabgestiegen ist!«

Die schöne Saint-Yves senkte die Augen, sah ihren Geliebten an, errötete und wandte den Augenblick darauf ihre von Tränen geröteten Augen wieder ab. Zuletzt erzählte sie ihm alles, was sie in Erfahrung gebracht und was sie erlitten, ausgenommen das, was sie vor sich selber für ewig hätte verbergen mögen, und was ein anderer als der Harmlose, der die Welt und die Hofbräuche besser gekannt, gar leicht würde erraten haben.

»Ist es möglich, daß ein Elender wie dieser Amtmann mich meiner Freiheit hat berauben können! Oh, ich sehe nun wohl, daß es Menschen gibt, die wie die scheußlichsten Tiere sind; alle können schaden, aber ist es möglich, daß ein Mönch, ein Jesuit und Beichtvater des Königs, an meinem Unglücke ebenso großen Teil gehabt hat wie dieser Amtmann, ohne daß ich mir vorstellen könnte, unter welchem Vorwande dieser verächtliche Schurke mich verfolgt hat? Hat er mich für einen Jansenisten ausgegeben? Und wie haben Sie sich schließlich meiner erinnert, denn ich verdiente es nicht, ich war damals nur ein Wilder! Ohne Rat, ohne Beistand haben Sie diese Reise nach Versailles unternehmen können, Sie sind dort erschienen und sofort sind meine Fesseln gefallen! Liegt denn in der Schönheit und in der Tugend ein unbesieglicher Zauber, der eiserne Türen sprengt und Herzen von Erz erweicht?«

Bei dem Worte Tugend brach die schöne Saint-Yves in Schluchzen aus, denn sie wußte nicht, wie tugendhaft sie in dem Verschulden war, das sie sich vorwarf.

Ihr Geliebter fuhr folgendermaßen fort: »Engel, der Sie meine Bande gelöst haben, wenn Sie genug Einfluß besaßen (was ich noch nicht begreife), mir Gerechtigkeit zu verschaffen, so verschaffen Sie sie auch einem Greise, der mich zuerst denken gelehrt hat, wie Sie mich zu lieben lehrten. Das Unglück hat uns vereinigt, ich liebe ihn wie einen Vater, ich vermag ebensowenig ohne ihn wie ohne Sie zu leben.«

»Wie? Ich! Ich sollte denselben Mann noch einmal, denselben . . .!« »Ja, ich will alles Ihnen zu danken haben, mein ganzes Leben lang nur Ihnen! Schreiben Sie an diesen mächtigen Mann, überhäufen Sie mich mit Ihren Wohltaten, vollenden Sie, was Sie angefangen haben, vollenden Sie Ihre Wunder.« Sie fühlte, daß sie alles tun mußte, was ihr Geliebter von ihr forderte. Sie wollte schreiben, aber ihre Hand gehorchte ihr nicht, zu dreien Malen fing sie ihren Brief an, zu dreien Malen zerriß sie ihn, endlich war er geschrieben, und die beiden Liebenden gingen fort, nachdem sie den alten Märtyrer der wirksamen Gnade umarmt hatten.

Die glückliche und verzweifelte Saint-Yves wußte, in welchem Hause ihr Bruder wohnte, sie begab sich dorthin, und ihr Geliebter nahm ein Zimmer im selben Hause.

Kaum waren sie dort angelangt, so schickte ihr Beschützer ihr den Freilassungsbefehl des guten Gordon und bat sie um ein Stelldichein auf den nächsten Tag. So war für jede edle und großmütige Tat, die sie beging, ihre Schande der Preis. Mit höchstem Abscheu erkannte sie diesen Brauch, Glück und Unglück der Menschen zu verkaufen. Sie übergab den Freilassungsbefehl ihrem Geliebten und verweigerte das Stelldichein dem Wohltäter, den sie nicht mehr hätte erblicken können, ohne vor Schmerz und Schande zu vergehen. Der Harmlose vermochte sich von ihr nur zu trennen, um einen Freund zu befreien; er flog hin und erfüllte diese Pflicht unter tiefem Sinnen über die Seltsamkeit der Ereignisse in dieser Welt und in Bewunderung der mutigen Tugend eines jungen Mädchens, welchem zwei Unglückliche nun mehr als das Leben verdankten.

 

Neunzehntes Kapitel:
Der Harmlose, die schöne Saint-Yves und ihre Verwandten sind vereinigt.

Die großmütige und verehrungswürdige Ungetreue war mit ihrem Bruder, dem Abt von Saint-Yves, mit dem guten Prior vom Berge und mit der Dame von Kerkabon vereinigt, alle waren gleich verwundert, ihre Lage und Gefühle aber waren recht verschieden! Der Abt von Saint-Yves beweinte zu Füßen seiner Schwester sein Unrecht, und sie verzieh ihm, der Prior und seine zärtliche Schwester weinten ebenfalls, aber vor Freude. Der abscheuliche Amtmann und sein unerträglicher Sohn störten diesen rührenden Auftritt nicht: sie waren auf das erste Gerücht von der Befreiung ihres Feindes hin abgereist und beeilten sich, ihre Dummheit und ihre Angst in ihrer Provinz zu vergraben.

Die vier von hundert verschiedenen Regungen bewegten Menschen harrten, daß der junge Mann mit dem Freunde zurückkehren möchte, den er befreien sollte. Der Abt von Saint-Yves wagte seine Augen nicht vor seiner Schwester zu erheben, die gute Kerkabonin aber flüsterte: »Ich soll meinen lieben Neffen also wiedersehen!« »Sie werden ihn wiedersehen,« antwortete die liebliche Saint-Yves, »aber er ist nicht mehr derselbe Mensch, seine Haltung, sein Auftreten, seine Gedanken, sein Geist, alles ist verändert, er ist ebenso achtbar geworden, als er kindlich und unbekannt mit allem war: er wird die Ehre und der Trost Ihrer Familie sein! Oh, warum vermag nicht auch ich, der meinen Glück zu bringen!« »Auch Sie sind nicht mehr dieselbe,« sagte der Prior, »was ist Ihnen nur begegnet, was hat einen so großen Wandel in Ihnen hervorgerufen?«

Mitten in diesem Gespräch langte der Harmlose an und hielt seinen Jansenisten bei der Hand. Nun wurde der Auftritt noch seltsamer und reizvoller, er begann mit den zärtlichen Umarmungen des Onkels und der Tante, der Abt von Saint-Yves warf sich dem Harmlosen, der nicht mehr der Harmlose war, fast zu Füßen, und die beiden Liebenden sprachen mit Blicken zueinander, welche alle Empfindungen ausdrückten, von denen sie erfüllt waren. Auf dem Antlitz des einen sah man Befriedigung und Dankbarkeit, Verlegenheit malte sich in den zärtlichen und etwas unsicheren Blicken der anderen; man war verwundert, daß sie Schmerz in solche Freude mischte.

Der alte Gordon wurde der ganzen Familie in wenigen Augenblicken teuer: er war mit dem jungen Gefangenen zusammen unglücklich gewesen, das hieß etwas! Er selber hatte seine Befreiung den beiden Liebenden zu danken, und das allein schon söhnte ihn mit der Liebe aus; die Strenge seiner früheren Anschauungen wich aus seinem Herzen, gleich dem Huronen wurde er zum Menschen gewandelt. Vor Tisch erzählte jeder seine Erlebnisse. Die beiden Äbte und die Tante lauschten wie Kinder, welche Gespenstergeschichten anhören, und wie Menschen, welche alle gar herzlich teilnahmen an so vielem Unheil. »Ach,« sagte Gordon, »es gibt vielleicht mehr als fünfhundert tugendhafte Menschen, welche augenblicklich in solchen Fesseln schmachten, wie Fräulein von Saint-Yves sie gebrochen hat! Ihr Unglück ist unbekannt, und es finden sich stets der Hände genug, um auf die Menge der Unglücklichen herabzuschlagen, selten aber findet sich eine, die hilfreich ist!« Diese so wahre Überlegung steigerte seine Gefühle und seine Erkenntlichkeit. Alles erhöhte den Triumph der schönen Saint-Yves; man bewunderte die Größe und Festigkeit ihrer Seele, und diese Bewunderung war mit einer Achtung gemischt, als welche man ohne jegliches Zutun vor einer Persönlichkeit empfindet, die man für einflußreich bei Hofe hält; der Abt von Saint-Yves sagte jedoch von Zeit zu Zeit: »Was hat meine Schwester nur tun können, um so schnell solchen Einfluß zu erlangen?«

Man setzte sich sehr frühzeitig zu Tisch, und nun erschien plötzlich die gute Freundin aus Versailles, ohne von allem, was inzwischen vorgefallen war, etwas zu wissen. Sie war in einer mit sechs Pferden bespannten Karosse vorgefahren; und man wird sich schon denken können, wem dieser Wagen gehörte. Sie trat mit der selbstsicheren und gebieterischen Haltung einer Persönlichkeit vom Hofe ein, welche große Geschäfte hat, grüßte die Gesellschaft sehr flüchtig und zog die schöne Saint-Yves beiseite: »Warum lassen Sie so lange auf sich warten? Folgen Sie mir jetzt! Hier sind übrigens auch Ihre Diamanten, die Sie vergessen hatten!« Sie konnte diese Worte nicht so leise sprechen, als daß der Harmlose sie nicht gehört hätte, er sah auch die Diamanten – der Bruder war bestürzt, der Onkel und die Tante dagegen waren nur erstaunt, wie gute schlichte Leute, welche eine solche Pracht noch niemals geschaut hatten. Der junge Mann, der sich durch ein Jahr Nachdenkens entwickelt hatte, dachte auch jetzt nach und erschien einen Augenblick lang verstört, seine Geliebte bemerkte es, Totenblässe breitete sich über ihr schönes Antlitz, ein Schauer überflog sie, und sie vermochte sich kaum aufrecht zu erhalten. »Oh, gnädige Frau,« sprach sie zu der verhängnisvollen Freundin, »Sie haben mich zugrunde gerichtet, Sie töten mich!« Diese Worte durchbohrten dem Harmlosen das Herz, er hatte jedoch schon gelernt, sich zu beherrschen, und so nahm er sie aus Furcht, seine Geliebte vor ihrem Bruder zu bedrängen, nicht auf, aber er erbleichte wie sie.

Bestürzt über die Veränderung, die sie auf dem Antlitz ihres Geliebten gewahr geworden war, zog Saint-Yves jene Frau aus dem Zimmer in einen kleinen Durchgang hinaus, warf dort die Diamanten vor ihr zu Boden und sagte; »Oh, nicht diese Steine haben mich verführt, Sie wissen es sehr gut, aber der, so sie mir gegeben hat, wird mich niemals wieder erblicken.« Die Freundin hob das Geschmeide auf, und Saint-Yves fügte hinzu: »Mag er es zurücknehmen oder mag er es Ihnen schenken, es ist gleich, aber gehen Sie und vergrößern Sie nicht noch meine Scham über mich selbst.« Die Gesandtin ging schließlich fort, ohne die Gewissensbisse begreifen zu können, deren Zeuge sie gewesen war.

Die bedrängte schöne Saint-Yves fühlte in ihrem Körper einen Aufruhr, der sie erstickte, sie war gezwungen sich zu Bett zu legen; um jedoch niemanden zu erschrecken, äußerte sie von ihren Schmerzen nichts, sondern bat nur, Müdigkeit vorschützend, um die Erlaubnis, sich ein wenig ausruhen zu dürfen. Aber auch dies tat sie erst, nachdem sie die Gesellschaft mit freundlichen trostreichen Worten beruhigt und ihrem Geliebten Blicke zugeworfen hatte, die seine Seele in Flammen setzten.

Das Abendessen, welches sie nun nicht mehr belebte, war anfangs traurig, aber es herrschte jene anregende Traurigkeit, welche gar nützliche und verknüpfende Gespräche herbeizieht, die um so vieles wertvoller sind als jene oberflächliche Lustigkeit, nach der man gewöhnlich strebt und die fast stets nur ein lästiger Lärm ist.

Gordon gab in wenigen Worten die Geschichte sowohl des Jansenismus wie des Mollinismus, wie der Verfolgungen, mit der eine Partei die andere bedrängte, wie der Halsstarrigkeit beider; der Harmlose äußerte sich über denselben Gegenstand kritisch und beklagte die Menschen, welche noch nicht zufrieden mit der Zwietracht, die ihre Interessen entfachen, sich neue Leiden um eingebildeter Interessen und unverständlicher Albernheiten willen schaffen. Gordon berichtete, der Harmlose urteilte, die Anwesenden lauschten bewegt und wurden von neuer Einsicht erleuchtet. Man sprach über die Dauer unserer Drangsale und über die Kürze unseres Lebens, man wies nach, daß jeder Beruf ein ihm anhängendes Laster und eine gleiche Gefahr habe und daß alles, vom Fürsten hinab bis zu dem geringsten Bettler, die Natur anzuklagen scheine. »Wie können sich nur so viele Menschen finden, die sich um so gar geringes Geld zu Verfolgern, Schergen und Henkern anderer Menschen hergeben? Mit welcher unmenschlichen Gleichgültigkeit unterzeichnet ein Mann in hoher Stellung das Verderben einer ganzen Familie, und mit welcher noch barbarischeren Freude führen Mietlinge es aus!

»In meiner Jugend,« sagte der gute Gordon, »habe ich einen Verwandten des Marschalls von Marillac gekannt, der sich unter einem angenommenen Namen in Paris verborgen hielt, weil er jenes berühmten Unglücklichen wegen in seiner Provinz verfolgt worden war. Er war ein Greis von zweiundsiebenzig Jahren, und seine Gattin, die ihn begleitete, stand ungefähr in gleichem Alter. Sie hatten einen liederlichen Sohn gehabt, der im Alter von vierzehn Jahren aus dem väterlichen Hause entflohen, dann Soldat, dann fahnenflüchtig geworden war, alle Stufen der Ausschweifung und des Elends kennen gelernt hatte und endlich unter falschem Namen in die Leibwache des Kardinals von Richelieu eintrat (denn ebenso wie Mazarin hatte auch dieser Priester eine Leibwache). In dieser Schergenkompagnie bekleidete der Abenteurer die Stellung eines Polizeimeisters und wurde nun damit beauftragt, den Greis und seine Gattin zu verhaften. Er tat es mit der ganzen Härte eines Mannes, der seinem Herrn gefällig sein will. Während er sie ins Gefängnis führte, hörte er die beiden Opfer die lange Kette ihres Unglücks beklagen, das sich seit der Wiege an ihre Fersen geheftet hatte, und Vater wie Mutter nannten als den härtesten Schicksalsschlag, der sie getroffen, die Verirrungen und den Verlust ihres Sohnes. Er erkannte sie nun, brachte sie darum jedoch nicht weniger ins Gefängnis, sondern versicherte ihnen, der Dienst seiner Eminenz müsse allem anderen vorangehen. – Seine Eminenz belohnten seinen Eifer!

Ich habe einen Spion des Paters de la Chaise in der Hoffnung auf eine kleine Pfründe, die er nachher nicht bekam, seinen eigenen Bruder verraten und dann sterben sehen, und zwar nicht etwa aus Reue, sondern aus Wut, von dem Jesuiten genasführt worden zu sein.

Das Amt eines Beichtigers, das ich lange geübt, hat mich das innere Leben gar vieler Familien kennen lernen lassen, ich habe kaum welche gesehen, die sich nicht in Bitternis verzehrt hätten, während sie nach außen mit der Maske des Glückes in lauter Freude zu schwimmen schienen, und stets habe ich bemerkt, daß die größten Kümmernisse eine Frucht unserer zügellosen Begehrlichkeit sind.«

»Was mich angeht,« sagte der Harmlose, »so glaube ich, daß ein edles, dankbares und feinfühliges Gemüt glücklich leben kann, und so hoffe ich, mich mit der schönen, hochherzigen Saint-Yves fleckenloser Glückseligkeit zu erfreuen, denn,« fügte er, sich mit freundschaftlichem Lächeln an ihren Bruder wendend, hinzu, »denn ich hoffe doch, daß Sie mir nicht mehr wie im vergangenen Jahre entgegen sein wollen, auch werde ich mich dieses Mal schicklicher dabei anlassen.« Der Abt zerschmolz in Entschuldigungen über das Vergangene und in Beteuerungen ewiger Anhänglichkeit.

Der Onkel Kerkabon sagte, dies würde der schönste Tag seines Lebens sein! Außer sich vor Entzücken und vor Freude weinend, rief die gute Tante: »Habe ich Ihnen nicht stets gesagt, daß Sie niemals Subdiakon werden würden! Aber das Ehegelöbnis ist auch weit besser als jenes entgegengesetzte, hätte es Gott nur gefallen wollen, daß ich die Auserwählte gewesen wäre! Nun will ich Ihnen wenigstens eine Mutter sein!« Und sie konnten sich alle des Lobes über die zärtliche Saint-Yves gar nicht genug tun.

Das Herz ihres Geliebten war zu angefüllt von dem, was sie für ihn getan hatte, und er liebte sie zu sehr, als daß der Vorfall mit den Diamanten einen bleibenden Eindruck auf sein Gemüt hätte üben können, aber jene Worte, die er nur allzugut gehört, das Wort: »Sie geben mir den Tod«, erschreckte ihn noch immer im geheimen und verdarb ihm seine ganze Freude, während Lob und Preis seiner schönen Geliebten seine Liebe noch steigerten. Schließlich war man nur noch mit ihr beschäftigt, sprach nur noch von dem Glück, das diese beiden Liebenden verdienten, machte Vorschläge zu einem gemeinsamen Leben in Paris und schmiedete Pläne auf Reichtum und Beförderung. Während man sich allen diesen Hoffnungen, welche der geringste Glücksschimmer so leicht erweckt, bereitwillig hingab, hatte der Harmlose im Grunde seines Herzens ein geheimes Gefühl, das solchem schönen Wahn entgegen war: er las noch einmal die von Saint-Pouange und von Louvois unterzeichneten Versprechungen und Verfügungen, und man schilderte ihm diese beiden Männer, wie sie wirklich waren oder wie man glaubte, daß sie seien, und jeder sprach von den Ministern und dem Ministerium mit jener Tafelfreizüngigkeit, welche in Frankreich für die kostbarste Freiheit gehalten wird, deren man sich auf Erden erfreuen kann.

»Wäre ich König von Frankreich,« sagte der Harmlose, »so müßte der Kriegsminister, den ich mir erwählen wollte, ein Mann von höchstem Adel sein, weil er dem Adel Befehle zu erteilen hat, ferner würde ich verlangen, daß er selber Offizier gewesen wäre und alle Rangstufen durchlaufen hätte, ja, er müßte zum mindesten Generalleutnant und würdig sein, Marschall von Frankreich zu werden, denn um die Einzelheiten des Dienstes gut zu kennen, wäre es doch notwendig, daß er selber gedient hätte, und würden die Offiziere nicht hundertmal lieber einem Kriegsmanne gehorchen, der gleich ihnen seinen Mut bereits kundgetan, als einem Stubenmenschen, der die Bewegungen eines Feldzuges bestenfalls immer nur erraten könnte, so klug er auch sein möchte? Es würde mich auch nicht kränken, wenn mein Minister freigebig wäre, selbst wenn das meinen Schatzmeister gelegentlich ein wenig in Verlegenheit bringen sollte. Die Arbeit müßte ihm leicht von der Hand gehen, und er selber sich durch jene geistige Heiterkeit auszeichnen, welche einem bedeutenden Menschen in großen Angelegenheiten stets eigen ist, welche dem Volke so überaus gefällt und alle Pflichten weniger schwer macht.« Diesen Charakter sollte der Minister haben, weil der Harmlose stets wahrgenommen, daß jene heitere Wesensstimmung sich niemals mit Grausamkeit verträgt.

Herr von Louvois wäre mit den Wünschen des Harmlosen wohl kaum sehr einverstanden gewesen, denn sein Wert war von recht verschiedener Art.

Indessen, während man bei Tische saß, nahm die Krankheit des unglücklichen Mädchens einen verhängnisvollen Charakter an, ihr Blut glühte und ein zehrendes Fieber hatte sich eingestellt; sie litt und klagte dennoch nicht, um die Freude der Gäste nicht zu stören.

Da ihr Bruder wußte, daß sie nicht schlief, ging er zu ihr ans Bett und erschrak über ihren Zustand, nun liefen alle herbei, ihr Geliebter kam dicht hinter ihrem Bruder. Zweifelsohne war er der Erschrockenste und Ergriffenste von allen, aber er hatte gelernt, Selbstbeherrschung mit all den glücklichen Gaben zu verbinden, mit denen die Natur ihn überhäuft hatte, und ein lebhaftes Gefühl für Schicklichkeit fing an in ihm wirksam zu sein.

Man ließ auch sogleich einen Arzt aus der Nachbarschaft herbeirufen: er gehörte zu jenen, welche ihre Kranken im Fluge untersuchen, die Krankheit, die sie eben gesehen haben, mit der verschmelzen, die sie sehen, und ein blindes Verfahren in eine Wissenschaft tragen, welcher alle Reife einer gesunden und besonnenen Vorsicht nicht ihre Ungewißheit und ihre Gefahren zu nehmen vermag. Er verschlimmerte das Übel durch seine Hast, irgendein Modemittel zu verschreiben. Sogar in der Medizin Mode! Diese Sucht war nur allzu gewöhnlich in Paris.

Die traurige Saint-Yves trug noch mehr als ihr Arzt dazu bei, ihre Krankheit gefährlich zu machen: ihre Seele tötete ihren Körper, der Schwarm ihrer sie zernagenden Gedanken brachte ein Gift in ihre Adern, das gefährlicher war als das Gift des hitzigsten Fiebers.

 

Zwanzigstes Kapitel:
Die schöne Saint-Yves stirbt, und was daraus entsteht.

Man berief einen anderen Arzt, und anstatt die Natur zu unterstützen und frei wirken zu lassen in einem jungen Leibe, in dem alle Organe nach Leben strebten, war dieser nur beflissen, seinem Amtsbruder entgegenzuarbeiten. In zwei Tagen wurde die Krankheit tödlich, das Gehirn, welches man für den Sitz des Verstandes hält, wurde ebenso heftig erfaßt wie das Herz, das, wie man sagt, der Sitz des Gefühls ist.

Welche unbegreifliche Mechanik hat die Organe dem Fühlen und Denken unterworfen? Wie kann eine einzige schmerzvolle Vorstellung den Lauf des Blutes stören, und wie vermag das Blut seinerseits seine Störungen dem Verstande des Menschen mitzuteilen? Welches ist das unbekannte Fluidum, dessen Vorhandensein gewiß ist und das schneller und wirksamer als das Licht in einem Augenblinken alle Kanäle des Lebens durchströmt, Empfindung, Erinnerung, Traurigkeit oder Freude, Verstandesklarheit oder Schwindel hervorruft, mit Entsetzen gerade das festhält, was man vergessen möchte, und aus einem denkenden Tier entweder einen Gegenstand der Bewunderung oder einen des Mitleides und der Tränen macht?

Solches fragte sich der gute Gordon, und seine so natürliche Überlegung, welche von den Menschen jedoch gar selten angestellt wird, minderte keineswegs seine herzliche Teilnahme, denn er gehörte nicht zu den unglücklichen Philosophen, welche sich zwingen, unempfindlich zu sein. Das Schicksal des jungen Mädchens erschütterte ihn wie einen Vater, der sein geliebtes Kind langsam sterben sieht. Der Abt von Saint-Yves war verzweifelt, und der Prior und seine Schwester vergossen ganze Ströme von Tränen! Wer jedoch vermöchte den Zustand ihres Geliebten zu schildern? Keine Sprache besitzt Ausdrücke, die einem solchen Übermaß von Schmerzen entsprächen; – die Sprachen sind zu unvollkommen.

Selber fast leblos, hielt die Tante das Haupt der Sterbenden in ihren schwachen Armen, ihr Bruder kniete am Fußende des Bettes und ihr Geliebter preßte ihre Hand, benetzte sie mit Tränen und schluchzte herzzerreißend; er nannte sie seine Wohltäterin, seine Hoffnung, sein Leben, sein halbes Selbst, seine Geliebte, seine Braut. Bei diesem Worte Braut stöhnte sie, sah ihn mit unaussprechlicher Zärtlichkeit an, stieß plötzlich einen Entsetzensschrei aus und rief dann in einer jener Ruhepausen, in denen die Bedrückung und Bedrängung der Sinne und das Aussetzen der Leiden der Seele ihre Freiheit und ihre Kraft wiedergeben: »Ich, Ihre Braut! Oh, mein teurer Geliebter, dieser Name, dieses Glück, dieser Preis sind nicht mehr für mich, ich sterbe und ich verdiene es! Oh, Du Gott meines Herzens, oh, Du, den ich höllischen Dämonen geopfert habe, es ist geschehen, ich bin bestraft, lebe glücklich!« Diese liebenden und schrecklichen Worte konnten nicht verstanden werden, aber sie erweckten in aller Herzen Entsetzen und Rührung. Und Saint-Yves fand den Mut, sich näher zu erklären, jedes Wort ließ die Anwesenden vor Erstaunen, Schmerz und Mitleid erzittern, alle vereinigten sich in dem Abscheu vor dem mächtigen Manne, der eine grauenhafte Ungerechtigkeit nur durch ein Verbrechen wieder gutgemacht und die achtbarste Unschuld gezwungen hatte, seine Mitschuldige zu werden.

»Wer? Sie schuldig!« sprach ihr Geliebter zu ihr, »nein, Sie sind es nicht, die Schuld entspringt immer im Herzen, das Ihre jedoch gehört mir und der Tugend.«

Er bekräftigte dieses Gefühl noch mit Worten, welche die schöne Saint-Yves wieder zum Leben zu erwecken schienen: sie fühlte sich getröstet und war erstaunt, noch geliebt zu werden. In der Zeit, da er nur ein Jansenist gewesen, würde der alte Gordon sie verdammt haben, da er nun jedoch weise geworden war, achtete er sie und weinte.

Inmitten so vieler Tränen und Besorgnisse und während die Gefahr, in der das so aufrichtig geliebte Mädchen schwebte, aller Herzen erfüllte und alle bestürzt waren, wurde ein Bote von Hof gemeldet. Ein Bote! Und von wem? Und mit welchem Auftrag? Er war von dem Beichtvater des Königs an den Prior vom Berge entsandt: der Pater de la Chaise schrieb jedoch nicht selber, sondern der Bruder Vadbled, sein Kammerdiener, ein in jener Zeit sehr einflußreicher Mann, der den Bischöfen den Willen des hochwürdigen Paters übermittelte, Audienzen erteilte, Pfründen versprach und bisweilen geheime Verhaftsbefehle erließ. Er schrieb dem Abt vom Berge, daß Seine Hochwürden von den Erlebnissen seines Neffen unterrichtet worden sei, daß sein Gefängnis nur ein Irrtum gewesen, daß solche kleinen Schicksalstücken sich öfter ereigneten, daß man sie nicht weiter beachten dürfe; auch werde gestattet, daß der Prior ihm morgen seinen Neffen vorstelle, und er solle den guten Gordon mitbringen, er, der Bruder Vadbled, würde sie selber bei Seiner Hochwürden einführen und auch bei Herrn von Louvois, der in seinem Vorzimmer ein Wort an sie zu richten vielleicht die Gnade haben könnte.

Er fügte noch hinzu, daß die Geschichte des Harmlosen und sein Kampf wider die Engländer dem Könige erzählt worden sei; sicherlich würde der König ihn beim Durchschreiten der Galerie zu bemerken geruhen und ihm vielleicht sogar zunicken. Der Brief schloß mit der schmeichelhaften Versicherung, alle Damen des Hofes würden es sich zweifelsohne angelegen sein lassen, seinen Neffen bei ihrer Toilette zu empfangen, und etliche würden ihm wohl sogar ein »guten Tag, Herr Harmlos« zurufen, und sicherlich würde an der Abendtafel des Königs von ihm gesprochen werden. Der Brief war unterzeichnet: Ihr wohlgeneigter Vadbled, Jesuitenbruder.

Der Prior hatte den Brief laut vorgelesen, sein wütender Neffe beherrschte einen Augenblick lang seinen Zorn und sagte zu dem Überbringer nichts, aber er wandte sich an den Gefährten seines Mißgeschicks und fragte ihn, wie ihn dieser Stil dünke. Gordon erwiderte: »Man behandelt die Menschen ja wie die Affen, man schlägt sie und läßt sie tanzen!« In seinen wahren Charakter zurückfallend, als welcher sich in allen großen Regungen der Seele stets Bahn bricht, zerriß der Harmlose den Brief in Stücke und warf sie dem Boten ins Gesicht: »Das ist meine Antwort«. Sein entsetzter Onkel glaubte den Blitz und zwanzig Haftbefehle auf ihn niederfahren zu sehen, er beeilte sich, schnellstens zu schreiben und so gut er konnte, das zu entschuldigen, was er für das Ungestüm eines jungen Mannes nahm, was in Wirklichkeit jedoch der Ausbruch einer großen Seele war.

Aber schmerzvollere Sorgen wohnten in aller Herzen. Die schöne unglückliche Saint-Yves fühlte ihr Ende bereits herannahen, sie war ruhig, aber mit jener grausigen Ruhe der geschwächten Natur, welche zum Kampfe keine Kraft mehr hat. »Oh, mein teurer Geliebter,« sprach sie mit sinkender Stimme, »der Tod bestraft mich für meine Schwäche, aber ich scheide mit dem Troste, Sie frei zu wissen; ich habe Sie geliebt, während ich Sie verriet, und ich liebe Sie auch jetzt, da ich Ihnen auf ewig Lebewohl sage!«

Sie schmückte sich nicht mit eitler Festigkeit und geizte nicht nach dem erbärmlichen Ruhme, ein paar Nachbarn zu dem Worte zu zwingen: Sie ist mutig gestorben. Wer vermag mit zwanzig Jahren seinen Geliebten, sein Leben und das, was man »Ehre« nennt, ohne Schmerz und Verzweiflung zu verlieren? Sie empfand das ganze Entsetzen ihres Zustandes und verriet dies durch jene ersterbenden Worte und Blicke, welche stets mit solcher Macht sprechen, und schließlich weinte sie gleich allen anderen in den Augenblicken, da sie Kraft hatte zu weinen.

Mögen andere das prunkende Sterben derer zu preisen suchen, welche empfindungslos in das Nichts hinübergehen, es ist das Schicksal aller Tiere! Gleichgültig wie sie sterben wir nur, wenn Alter oder Siechtum uns durch die Stumpfheit unserer Organe ihnen ähnlich gemacht hat. Wer auch immer einen großen Verlust erleidet, es bringt ihm große Schmerzen, unterdrückt er sie, so heißt es nur, daß er sogar in den Armen des Todes seine Eitelkeit nicht fahren lassen kann.

Als der verhängnisvolle Augenblick herangekommen, entfuhren allen Anwesenden Tränen und Schreie, und der Harmlose verlor die Besinnung. Starke Seelen haben weit ungestümere Empfindungen als andere, wenn sie lieben. Der gute Gordon kannte den Harmlosen gut genug, um zu fürchten, er möchte sich, sobald er wieder zur Besinnung gelangt, selber den Tod geben. Man versteckte daher alle Waffen, der unglückliche junge Mann bemerkte es jedoch und sprach, ohne zu weinen, zu stöhnen und sich zu erregen, zu seinen Verwandten und zu Gordon: »Glaubt ihr denn, es möchte jemanden auf der Welt geben, der das Recht und die Macht hätte, mich daran zu hindern, meinem Leben ein Ende zu setzen?« Gordon hütete sich wohl, jene langweiligen Gemeinplätze vor ihm auszukramen, durch die man zu beweisen sucht, es sei nicht erlaubt, seine Freiheit dazu zu nutzen, zu »sein« aufzuhören, wenn man auf eine schaudervolle Weise »ist«, man dürfe sein Haus nicht verlassen, wenn man darin auch nicht mehr zu wohnen vermöge, und der Mensch stehe auf Erden wie ein Soldat auf seinem Posten, als ob dem Wesen aller Wesen daran gelegen sein könnte, daß die Verbindung einiger Teilchen Materie gerade an diesem oder an jenem Orte sich befände; wahrlich kraftlose Gründe allesamt, welche eine feste und besonnene Verzweiflung anzuhören verschmäht, und auf die Cato nur mit einem Dolchstich antwortete.

Das düstere, erschreckliche Schweigen des Harmlosen, seine finsteren Blicke, seine zitternden Lippen, sein bebender Leib erweckte in der Seele aller, die ihn anblickten, jene Mischung von Mitleid und Entsetzen, welche alle Seelenkräfte lähmt, jede Erörterung verbietet und sich nur in abgerissenen Worten Luft macht. Die Wirtin und ihre Familie waren herzugeeilt, man zitterte vor seiner Verzweiflung, ließ ihn nicht aus den Augen und beobachtete alle seine Bewegungen, Den erkalteten Körper der schönen Saint-Yves hatte man inzwischen bereits in einen unteren Saal getragen, fern von den Augen ihres Geliebten, der sie noch zu suchen schien, obgleich er nicht mehr imstande war, etwas zu sehen.

Inmitten jenes Schauspiels des Todes, während der Leichnam an der Haustür ausgestellt war, und zwei Priester zu Seiten eines Weihwasserbeckens mit zerstreuter Miene Gebete hersagten, und Vorübergehende aus langer Weile ein paar Weihwassertropfen auf den Sarg sprengten oder auch gleichgültig vorübergingen, während die Verwandten weinten und ein Liebender nahe daran war, sich das Leben zu nehmen, langte Saint-Pouange mit der Freundin aus Versailles an.

Da sein vorübergehendes Gelüst nur einmal befriedigt worden war, war es Liebe geworden, und so hatte ihn die Zurückweisung seiner Wohltaten gekränkt. Der Pater de la Chaise wäre niemals auf den Gedanken verfallen, in dieses Haus zu kommen, Saint-Pouange jedoch, vor dessen Augen täglich das Bild der schönen Saint-Yves schwebte, und der danach glühte, eine Leidenschaft zu stillen, welche durch eine einmalige Befriedigung den Stachel des Verlangens tief in sein Herz gestoßen hatte, zögerte nicht, selber diejenige aufzusuchen, die er vielleicht, wäre sie von selbst gekommen, nicht dreimal würde haben wiedersehen wollen.

Er entsteigt dem Wagen und der erste Gegenstand, der sich ihm darbietet, ist ein Sarg! Mit dem einfachen Widerwillen eines in Freuden aufgewachsenen Menschen, welcher wähnt, man müsse ihm jeglichen Anblick ersparen, der ihn zur Betrachtung des menschlichen Elends zurückführen könnte, wendet er die Augen ab und will hinaufsteigen. Die Frau aus Versailles dagegen fragt aus Neugier, wen man begraben wolle, und nun wird der Name der Fräulein von Saint-Yves ausgesprochen. Bei diesem Namen erblaßt sie und stößt einen markerschütternden Schrei aus. Saint-Pouange wendet sich um, Überraschung und Schmerz erfüllen seine Seele. Die Augen von Tränen überfüllt, stand auch der gute Gordon da, er unterbrach seine traurigen Gebete, um dem Hofmanne das ganze entsetzliche Unglück mitzuteilen, er sprach zu ihm mit jener Macht, welche Schmerz und Tugend verleihen. Saint-Pouange war keineswegs schlecht von Natur, der Strom der Geschäfte und Lustbarkeiten hatte nur seine Seele, die sich selber noch nicht erkannt hatte, fortgeschwemmt. Er war auch noch nicht dem Greisenalter nahe, welches gewöhnlich Ministerherzen verhärtet, mit niedergeschlagenen Augen hörte er Gordon an und wischte einige Tränen daraus fort, deren Fließen ihn erstaunte: er hatte die Reue kennen gelernt!

»Unter allen Umständen,« sagte er, »will ich jenen außerordentlichen Mann sehen, von dem Sie mir gesprochen haben, er rührt mich fast ebenso sehr, wie dieses unschuldige Opfer, dessen Tod ich verursacht habe.« Gordon folgte ihm bis in das Zimmer, wo der Prior, die Kerkabonin, der Abt von Saint-Yves und einige Nachbarn den jungen Mann, der noch einmal in Ohnmacht gefallen war, ins Leben zurückriefen . . .

»Ich habe Ihr Unglück verschuldet,« sprach der stellvertretende Minister zu ihm, »ich will mein Leben daran wenden, es wieder gut zu machen.« Dem Harmlosen kam zuerst der Gedanke, den stellvertretenden Minister und dann sich selber zu töten. Nichts wäre mehr am Platze gewesen, aber er war ohne Waffen und wurde sorglich überwacht. Saint-Pouange ließ sich keineswegs durch die Weigerungen abschrecken, welche begleitet waren von Vorwürfen, von der Verachtung und dem Abscheu, die er verdient hatte und mit denen man ihn überhäufte. Die Zeit milderte alles, und schließlich gelang es Herrn von Louvois, aus dem Harmlosen einen vortrefflichen Offizier zu machen, der unter einem anderen Namen unter dem Beifall aller Biedermänner in Paris und im Heere gelebt hat, und ein Krieger und ein unerschrockener Philosoph zugleich gewesen ist.

Er konnte über dieses sein Erlebnis niemals sprechen, ohne zu schluchzen, und dennoch war es sein Trost, davon zu sprechen, denn das Andenken der zärtlichen Saint-Yves blieb ihm bis zum letzten Augenblicke seines Lebens teuer. Der Abt von Saint-Yves und der Prior erhielten jeder eine gute Pfründe, die gute Kerkabonin war es zufriedener, ihren Neffen als Träger soldatischer Ehren, denn im Besitze eines Subdiakonats zu sehen. Die fromme Dame aus Versailles behielt die Diamantgehänge und bekam noch ein schönes Geschenk, der Pater Toutatous erhielt Schachteln Schokolade, Kaffee, Kandiszucker, eingemachte Zitronen und die »Betrachtungen« des hochwürdigen Paters Croiset und »Die Blumen der Heiligen«, beides in Saffian gebunden. Der gute Gordon lebte bis zu seinem Tode mit dem Harmlosen in engster Freundschaft, auch er hatte eine Pfründe bekommen und vergaß für immer die »wirksame Gnade« und »das mitwirkende Streben« und erhob zu seinem Wahlspruch: »Unglück ist zu etwas gut!« Wie viele wackere Leute haben in dieser Welt dagegen nicht sagen müssen: »Unglück ist zu nichts gut!«

 

Druck der zweiten Auflage im Bibliographischen Institut zu Leipzig

 


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