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Beilagen.


I.
Farbenlehre.

(Zu S. 21 u. 24.)

Bei der leidenschaftlichen Heftigkeit, mit der noch jetzt Göthe's Verdienste um die Farbenlehre von einzelnen seiner Anhänger discutirt werden, mag es wohl gerathen sein, auf die Urtheile unseres großen Physiologen hinzuweisen. Der verstorbene Johannes Müller hatte nach seiner eigenen Erklärung gerade durch das Studium der Göthe'schen Schriften die stärkste Anregung zu seinen Untersuchungen über das Sehen empfangen. Aber es konnte ihm nicht entgehen, daß die Erklärung, wonach die Farbe nur ein »Schattiges,« aus einer Vermischung von weißem Licht mit Dunkel hervorgegangen, sein sollte, keine Erklärung ist, insofern weder der Schatten, noch das Dunkel etwas positives ist. »Dunkel ist physiologisch, worauf doch Alles in dieser Frage zuletzt zurückkommt, nur derjenige Theil des Auges, wo die Nervenhaut im Zustande der Ruhe empfunden wird.« Joh. Müller Handbuch der Physiologie des Menschen. Coblenz 1840. II. S. 300. Müller besprach daher offen jenen Grundirrthum der Lehre und faßte schließlich sein gewiß sehr gerechtes und wohl erwogenes Urtheil dahin zusammen: »Göthe's große Verdienste um die Farbenlehre betreffen nicht die Hauptfrage von den Ursachen der prismatischen Farben. Es ist hier nicht der Ort, seine erfolgreichen Bemühungen in Hinsicht der physiologischen Farben, der moralischen Wirkungen der Farben und der Geschichte der Farbenlehre auseinanderzusetzen.« Indeß kommt er später wiederholt auf Göthe zurück, so bei der Untersuchung der Nachbilder, der farbigen Schatten, der Contraste und der Phantasmen. Joh. Müller Handbuch der Physiologie des Menschen. II. S. 367, 373. 375.

Die neuere physiologische Optik hat aber gelehrt, daß auch noch in einem anderen wichtigen Punkte, nämlich in der Lehre von den Complementärfarben Göthe sich zu sehr durch Erfahrungen bestimmen ließ, welche die Technik der Maler ihm darbot. Bei der Mischung der Malerfarben giebt Blau und Gelb allerdings Grün, aber nicht bei der Mischung der Spectralfarben, und zwar aus dem Grunde, weil die Aetherwellen im ersten Fall nicht wirklich gemischt, sondern vielmehr ausgesondert werden Ludwig Physiologie. Leipz. u. Heidelb. 1858. I. S.304.. Daher lautet allerdings das Urtheil der Gegenwart eher strenger, als milder. »Es sind,« sagt Helmholtz, »die Göthe'schen Darstellungen eben nicht als physikalische Erklärungen, sondern nur als bildliche Versinnlichungen des Vorganges aufzufassen. Er geht überhaupt in seinen naturwissenschaftlichen Arbeiten darauf aus, das Gebiet der sinnlichen Anschauung nicht zu verlassen; jede physikalische Erklärung muß aber zu den Kräften aufsteigen und die können natürlich nie Objecte der sinnlichen Anschauung werden, sondern nur Objecte des begreifenden Verstandes. Die Versuche, welche Göthe in seiner Farbenlehre angiebt, sind genau beobachtet und lebhaft beschrieben, über ihre Richtigkeit ist kein Streit. Die entscheidenden Versuche mit möglichst gereinigtem, einfachem Lichte, auf welche Newton's Theorie gegründet ist, scheint er nie nachgemacht oder gesehen zu haben. Seine übermäßig heftige Polemik gegen Newton gründet sich mehr darauf, daß dessen Fundamentalhypothesen ihm absurd erscheinen, als daß er etwas Erhebliches gegen seine Versuche oder Schlußfolgerungen einzuwenden hätte. Der Grund aber, weßhalb ihm Newton's Annahme, das weiße Licht sei aus vielfarbigem zusammengesetzt, so absurd erschien, liegt wieder in seinem künstlerischen Standpunkte, der ihn nöthigte, alle Schönheit und Wahrheit unmittelbar in der sinnlichen Anschauung ausgedrückt zu suchen. Die Physiologie der Sinnesempfindungen war damals noch unentwickelt, die Zusammensetzung des Weiß, welche Newton behauptete, war der erste empirische Schritt zu der Erkenntniß der nur subjektiven Bedeutung der Sinnesempfindungen. Und Göthe hatte daher ein richtiges Vorgefühl, wenn er diesem ersten Schritt heftig opponirte, welcher den »schönen Schein« der Sinnesempfindungen zu zerstören drohte.« Helmholtz Physiol. Optik (Encyclop. der Physik IX). S. 267. (416)

Dieses Urtheil klingt allerdings hart, aber man darf auch nicht übersehen, wie sehr Göthe selbst während des Studiums die mehr subjective Bedeutung seiner Erfahrungen erkannte. 1796 schreibt er an Schiller: »Die Naturbetrachtungen freuen mich sehr. Es scheint eigen, und doch ist es erfreulich, daß zuletzt eine Art von subjectivem Ganzen herauskommen muß. Es wird, wenn Sie wollen, eigentlich die Welt des Auges, die durch Gestalt und Farbe erschöpft wird. Denn wenn ich recht Acht gebe, so brauche ich die Hülfsmittel anderer Sinne nur sparsam, und alles Raisonnement verwandelt sich in eine Art von Darstellung.« Briefwechsel I. S. 242. Und noch mehr bezeichnend ist vielleicht die folgende Stelle: »Und so war ich, ohne es beinahe selbst bemerkt zu haben, in ein fremdes Feld gelangt, indem ich van der Poesie zur bildenden Kunst, von dieser zur Naturforschung überging, und dasjenige, was nur Hülfsmittel sein sollte, mich nunmehr als Zweck anreizte. Aber als ich lange genug in diesen fremden Regionen verweilt hatte, fand ich den glücklichen Rückweg zur Kunst durch die physiologischen Farben und durch die sittliche und ästhetische Wirkung derselben überhaupt.« Sämmtliche Werke Bd. 39. S. 457.

Schließlich möge hier noch auf das persönliche Zusammentreffen Johannes Müllers mit Göthe im Jahre 1828 hingewiesen sein, von welchem ersterer Mittheilung macht Joh. Müller Handbuch der Physios. II. S. 567. Die Unterhaltung betraf hauptsächlich den Punkt der willkürlichen Erzeugung phantastischer Gesichtserscheinungen, welche Göthe in einem so hohen Maße besaß, daß Müller schon früher wiederholt mit Bewunderung dabei verweilte Joh. Müller Ueber die phantastischen Gesichtserscheinungen. Coblenz 1826. S. 48. 83.


II.
Der Dichter als Naturforscher.

(Zu S. 24.)

So nahe liegt die Frage, was dem Dichter das Naturforschen genutzt habe, daß die meisten nur sie aufwerfen. Denn sie glauben daraus zunächst ersehen zu können, weßhalb er sich der Naturforschung in einem so ungewöhnlichen Grade und so dauerhaft hingegeben habe. Aber es giebt noch eine andere Frage, deren Beantwortung zugleich, vielleicht mehr noch als jene, das Bedürfniß des Dichters zur Naturbetrachtung erkennen ließe: das ist die Frage, in wie weit der Dichter gerade in seiner poetischen Begabung die Kraft gefühlt habe, auch der Natur Herr zu werden. Denn mit dem Bewußtsein, solche Kraft zu besitzen, mußte ja auch sofort das Streben, sie zu benutzen, gegeben sein, und der Erfolg konnte wieder den Grund des Fortschreitens auf der betretenen Bahn enthalten. Möge man in diesem Sinne nachstehendes Urtheil von Johannes Müller prüfen.

An einer Stelle, wo er entwickelt, daß die Phantasie von der Idee bestimmt werde und nur in der Sphäre des von der Idee beigebrachten Begriffs der Form wirke, sagt der berühmte Physiolog Folgendes: »Wer davon sich einen deutlichen Begriff machen will, lese Göthe's meisterhafte Schilderung des Nagethieres und seiner geselligen Beziehungen zu anderen Thieren in der Morphologie. Nichts Aehnliches ist aufzuweisen, was dieser aus dem Mittelpunkte der Organisation entworfenen Projection gleich käme. Irre ich nicht, so liegt in dieser Andeutung die Ahndung eines fernen Ideals der Naturgeschichte. So siehst du den Wirbel auch zum Schädel sich ausbilden, das Blatt zum Blumenblatte werden, das Athemorgan als Lunge, als Kreme unter den mannichfaltigsten Formen einer nach außen oder nach innen sich im kleinsten Raume vermehrenden Fläche dasselbe bleiben.« J. Müller, lieber phantastische Gesichtserscheinungen. S. 104. Und weiterhin: »In dem Künstler und dem vergleichenden Naturforscher bewegt sich das plastische Phantasieleben nur innerhalb der Sphäre des Begriffs. Der Naturforscher spricht das Gesetz der Formenbildung und Verwandlung aus, er sieht es nur in dem Wirklichen und Natürlichen verwirklicht. Die Phantasie des Künstlers ist auch nur in diesem Gesetze thätig, aber sie verläßt seine Verwirklichung im Wirklichen und Natürlichen, und erhebt sich, in denselben Gesetzen sich bewegend und fortschreitend, ohne den Begriff zu verlassen, über das Wirkliche zur idealen Form, die Selbstzweck und nicht mehr ein Ausdruck innerer Functionen und als solcher immerhin durch diese beschränkt ist. Wundern wir uns darum nicht, wenn einer und derselbe das Größte in beiden Richtungen erreicht hat. Nur durch eine nach der erkannten Idee des lebendigen Wechsels wirkende plastische Imagination entdeckte Göthe die Metamorphose der Pflanzen, eben darauf beruhen seine Fortschritte in der vergleichenden Anatomie und seine höchst geistige, ja künstlerische Auffassung dieser Wissenschaft

Möge man damit Lavater's Urtheil über Göthe, welches uns dieser selbst mittheilt Sämmtliche Werke. Bd. 22 S. 340., vergleichen: »Dein Bestreben, Deine unablenkbare Richtung ist, dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben; die Andern suchen das sogenannte Poetische, das Imaginative zu verwirklichen und das giebt nichts wie dummes Zeug.«


III.
Zwischenkiefer.

(Zu S. 47.)

Die Frage von dem Zwischenkiefer ( os intermaxillare), einem kleinen, zwischen die zwei Hälften des Oberkiefers eingeschobenen und die oberen Schneidezähne tragenden Knochen, ist schon sehr alt, wurde aber zu Göthe's Zeit insbesondere durch Camper, einen holländischen Anatomen, wieder angeregt. In dem Briefwechsel zwischen den Freunden spielt sie eine große Rolle. Die ersten, genauer eingehenden Bemerkungen darüber finde ich in Briefen Blumenbach's an Sömmerring Sömmerring's Briefwechsel von R. Wagner. I S. 297 u. 298. von 1781, und sie sind insofern literarhistorisch von besonderem Interesse, als sich die betreffenden Stellen daraus fast wörtlich, und zwar ohne Angabe des Verfassers, in Göthe's Epcerpten Sämmtliche Werke. Bd. 36 S. 237 unten bis 239. finden. Indeß folgt daraus nichts in Beziehung auf die Originalität der Entdeckung Göthe's. Denn erst 1785, als er schon seine Abhandlung geschrieben und durch Merck Sömmerring's Briefwechsel. S. 3. an Camper und Sömmerring mitgetheilt hatte, schickte ihm dieser die Briefe Blumenbach's Ebendaselbst. S. 8.. Die Hauptanregung ist an Göthe wohl durch Merck gekommen Carus Göthe. S. 36., der schon 1782 sich der Osteologie zugewendet hatte und gerade über den Zwischenkiefer von Sömmerring specielle Belehrung einholte. Allein so wenig Gewicht legte dieser letztere auf die ihm doch schon ein Jahr früher zugekommenen brieflichen Bemerkungen Blumenbach's, daß er sagt, das os intermaxillare sei » caeteris paribus der einzige Knochen, den alle Thiere vom Affen an, selbst der Orang-Utang eingeschlossen, haben, der sich hingegen nie beim Menschen findet; wenn Sie diesen Knochen abrechnen, so fehlt Ihnen Nichts, um nicht Alles vom Menschen auf die Thiere transferiren zu können.« Merck's Briefwechsel. S. 354 vgl. S. 364. Die ersten Spuren von Göthe's Theilnahme an diesem »Knochenwesen« zeigen sich in seinen Briefen an Charlotte von Stein und Herder, die, wie es scheint, am 27. März 1784, von Jena aus geschrieben sind. An die Geliebte schreibt er: »Es ist mir ein köstliches Vergnügen geworden, ich habe eine anatomische Entdeckung gemacht, die wichtig und schön ist. Du sollst auch dein Theil dran haben. Sage aber niemand ein Wort. Herdern kündigets auch ein Brief unter dem Siegel der Verschwiegenheit an. Ich habe eine solche Freude, daß sich mir alle Eingeweide bewegen.« Göthe's Briefe an Frau von Stein, herausgeg. von Schöll. Weimar 1851. III. 31. Und dem Freund berichtet er: »Nach Anleitung des Evangelii muß ich dich auf das eiligste mit einem Glücke bekannt machen, das mir zugestoßen ist. Ich habe gefunden – weder Gold, noch Silber, aber was mir unsägliche Freude macht,

das os intermaxillare am Menschen!

Ich verglich mit Lodern Menschen- und Thierschädel, kam auf die Spur, und siehe da ist es. Nun bitt' ich Dich, laß dich nichts merken; denn es muß geheim behandelt werden. Es soll dich auch recht herzlich freuen; denn es ist wie der Schlußstein zum Menschen, fehlt nicht, ist auch da! Aber wie! Ich habe mirs auch in Verbindung mit Deinem Ganzen gedacht, wie schön es da wird.« Aus Herder's Nachlaß. I. 75. Welche herzliche, welche lebendige Freude! Bald nachher (13. oder 14. April?) schreibt er wieder an Charlotte: »Mir geht es gut und freudig in der weiteren Ausarbeitung des Knöchleins. Wir haben Löwen und Wallrosse gefunden und mehr interessantes. Es wird aber nicht so auf Einen Ruck gehen, wie ich dachte, und uns weiter führen.« Und wieder später (Jena, 7. Mai?):. »Ich habe mich in die Stille begeben, um dir zu schreiben, nun wird bald Loder kommen und es werden Anatomica zur Erholung und Ergötzung der Seele vorgenommen.« Am 23. April 1784 meldet er die Entdeckung an Merck und schon am 6. August spricht er von seiner »Inauguraldissertation, durch welche, ich mich bei Eurem docto corpore zu legitimiren gesonnen bin.« Merck's Briefwechsel. S. 421 u. 430 vgl. 440 Note. Und mit welchem Eifer treibt er von allen Seiten das Material zusammen. Von Sömmerring ließ er sich aus Cassel einen Elephantenschädel schicken, der ihm »für seine Untersuchung unschätzbar« war und dessen fast in allen Briefen aus dieser Periode (Juni 1784) gedacht wird. In Braunschweig befand sich ein Elephantenfötus. Er will dahin, um »ihm ins Maul zu sehen«; er »weiß nicht, wozu ein solches Monstrum in Spiritus taugt, wenn man es nicht zergliedert und den innern Bau aufklärt.« Endlich schickt er die Abhandlung. Aber die Freunde wollen von der »Inaugural-Dissertation« nicht viel wissen. Sömmerring nennt sie einen »in manchem Betracht sehr artigen Aufsatz,« aber er erkannte ihre Haupsätze nicht an und wollte die Sache Göthe ausreden Ebendaselbst. S. 438 u. 440.. Auch Merck schien von der »Wahrheit des Asserti« nicht durchdrungen zu sein und Gothe schickte ihm daher Knochenpräparate Ebendaselbst. S. 439., um ihn und Sömmerring zu überzeugen. Indeß bemerkt er von letzterem: »Ich glaube noch nicht, daß er sich ergiebt. Einem Gelehrten von Profession traue ich zu, daß er seine fünf Sinne abläugnet. Es ist ihnen selten um den lebendigen Begriff der Sache zu thun, sondern um das, was man davon gesagt hat.« Ebendaselbst. S. 445. Aber auch Merck stellt sich noch manchen Monat später sehr erstaunt, daß Vicq d'Azyr (was übrigens nicht der Fall war Ebendaselbst. S. 493. »sogar Göthe's sogenannte Entdeckung in sein Werk ausgenommen habe.« Sömmerring's Briefwechsel. S. 293.

An Camper wurde das Manuscript durch Merck 1785 ohne Angabe des Namens des Verfassers geschickt Merck's Briefwechsel. S. 449.. Die Antwort dieses vortrefflichen Gelehrten verdient im Original Ebendaselbst. S. 467. nachgelesen zu werden. La vue de ce beau manuscrit m'a frappé, j'attendais un livre imprimé, une lettre indicative, je rencontre un manuscrit très elégant, admirablement bien ecrit, c'est-à-dire d'une main admirable! sans nom de l'auteur! Er bespricht die Sauberkeit der Tafeln, erkennt aber nicht an, daß sie »nach der Camper'schen Methode« gezeichnet seien; er kritisirt das unklare und ungenaue Latein, erkennt die Sorgfalt der Untersuchung an, aber leugnet das Vorkommen des Knochens beim Menschen. Jedoch als ernsthafter Naturforscher setzt er hinzu: Je dois réexaminer tout cela. Auch machte er sich sofort ans Werk, und nachdem er inzwischen erfahren, daß Göthe der Verfasser sei, schrieb er zurück, er habe sich überzeugt, daß der Zwischenkiefer beim Menschen nicht existire Ebendaselbst. S. 481.. An Göthe selbst scheint er mit mehr Zurückhaltung geschrieben zu haben; dieser bemerkt darüber, der Brief sei sehr interessant Sommerring's Briefwechsel. S. 10. Vgl. Sämmtliche Werke. Bd. 36 S. 245. und Camper habe »allen billigen Antheil an der Sache genommen,« aber seine Art der Ablehnung kränkte ihn tief, und noch in seiner letzten Schrift vom März 1832 nannte er es eine »unbesonnene Gutmüthigkeit,« die Abhandlung an Camper übersendet zu haben Sämmtliche Werke. Bd. 40 S. 509..

Camper war ein Naturforscher von Geist und Herz Göthe. Sämmtliche Werke. Bd. 40 S. 505.. Wie er bei der Sache war, das zeigt folgende Stelle in einem Briefe an Georg Forster: Je ne vivrai pas assez longtemps pour voir tous mes désirs satisfaits; mais savoir est quelque chose, et contempler les choses en général, quelle volupté! Joh. Georg Forster's Briefwechsel. Herausgegeben von Th. H. geb. H. Leipzig 1829. II. S. 769. Und dazu war Camper ein wahrer Kunstverständiger. Aber welcher Unterschied von Göthe, wenn er in demselben Briefe sagt: La Providence n'a jamais eu la beauté pour but dans la création des animaux, mais elle a sue arranger de mille façons les dispositions des Organes des animaux pour les faire servir à son but destiné. L'homme, le singe, le cheval, l'élan sont tous également parfaits, aucun est beau, et si nous y trouvons de la beauté, c'est par habitude et convenance. Und so sagt auch Merck: »Indem ich die Thierköpfe mehr mit einander vergleiche, leuchtet mir immer der Unsinn von Schönheit der Form mehr in die Augen. Alles nur dünkt mich nothwendig, und nichts ist schön, sondern bloß auf die Nahrung des Thieres, eingerichtet« Sömmerring's Briefwechsel. S. 290.- Und so begriffen sie auch nicht, woran Göthe keinen Augenblick zweifelte, daß der Mensch einen Zwischenkiefer haben müsse und daß das allgemeine Gesetz hier nicht ausfallen könne.

Ganz selbständig, ohne von Göthe etwas zu wissen, kam wenige Jahre nachher Autenrieth zu derselben Entdeckung J. H. F. Autenrieth. Supplementa ad historiam embryonis humani. Tubing. 1797. p. 67.. Dieser sorgsame Forscher bemerkt, daß Nesbitt Rob. Nesbitt Osteologia. p. 195. Osteogenie, aus dem Engl. Altenburg 1753. S. 58. der Einzige gewesen sei, der früher eine Andeutung von dieser allgemeinen Erscheinung gegeben habe. Nachher ist die Thatsache allmählich überall anerkannt worden und namentlich hat M. I. (Moritz Ignatz) Weber durch eine zweckmäßige Behandlung der Knochen (mit verdünnter Salpetersäure) das Mittel gefunden, die Trennung derselben vollständiger zu bewerkstelligen Frorieps Notizen. 1828. Bd. 19 S. 282.. Freilich hat auch in der neuesten Zeit die Opposition sich nicht ganz beschwichtigt Vgl. die Streitigkeiten zwischen Emm. Rousseau und Larcher. Gaz. hebdom. de méd. et Chirurgie. 1858. p. 907. 1859. p. 23, 59 et 91., indeß kann man im Ganzen sagen, daß schon zur Zeit, als endlich Göthe's Originalzeichnungen in würdiger Gestalt veröffentlicht wurden, die große Mehrzahl der Osteologen ihre Zustimmung erklärt hatten. Die Leopoldinische Akademie hat das Verdienst, diese Publikation bewerkstelligt zu haben. 1824 erschien in ihren Abhandlungen die Abbildung des Elephanten-Schädels Nova Acta Acad. Carol. Leopold. Nat. Curios XII. 1. p. 324.; 1831 folgte die Darstellung des Zwischenkiefers mit den ursprünglichen Abbildungen Ibidem XV. 1. pag. 1., von denen nachher ein Theil in den Atlas übergegangen ist, welcher die französische Uebersetzung von Göthe's naturhistorischen Arbeiten durch Martins begleitet.

In ähnlicher Weise, wie mit dem Zwischenkiefer, beschäftigte sich Göthe späterhin im genauesten Einzelnen mit mehreren anderen Knochen. Wiederholt kommt er auf die Besprechung der Gehörknochen zurück Sämmtliche Werke. Bd. 36 S. 355 u. 296.; namentlich aber, und selbst in der letzten Zeit seines Lebens, waren es die Röhrenknochen des Armes und Beines, welche er sowohl vom einfachen vergleichend-anatomischen, als auch vom physiologisch-teleologischen Standpunkte auf das Genaueste betrachtete Ebendaselbst. S. 359 u. 361.. Selbst die Vergleichung der Knochen der Ober- und Unterextremität mit einander deutet er an, von der er übrigens zugesteht, daß sie schon vor ihm angestellt sei. Sämmtliche Werke. Bd. 36. S. 328. Göthe's Uebersetzer, Martins, hat diese Frage später wieder aufgenommen und sorgfältig durchgeführt Ch. Martins Nouvelle comparaison des membres pelviens et thoraciques chez l'homme et chez les mammifères, déduite de la torsion de l'humérus (Mém. de l'Acad. des sciences de Montpellier. T. III. p. 471). Montpellier 1857., wobei ich bemerke, daß in Deutschland schon früher eine sehr sorgfältige Arbeit darüber von Falguerolles aus Bremen veröffentlicht ist Falguerolles Diss. inaug. med. de extremitatum analogia. Erlang. 1785..


IV.
Göthe's Naturauffassung.

(Zu S. 48.)

Ueber sein Verhältniß zur Natur hat sich Göthe so gern und vielfach ausgesprochen, daß ich der Erinnerung an ihn nicht besser genügen zu können glaube, als indem ich hier noch einige seiner schönen Sätze zusammenstelle. Wenige Bemerkungen mögen hinzugefügt sein.

Am 18. October 1827 war Hegel bei Göthe zum Thee und das Gespräch hatte sich längere Zeit um das Wesen und die Vorzüge der Dialektik gedreht. Gegen die Angriffe des Dichters hatte der Philosoph bemerkt, daß nur von Geistig-Kranken die Kunst der Dialektik dazu mißbraucht werde, um das Falsche wahr und das Wahre falsch zu machen. Hiergegen sagte Göthe: »Da lobe ich mir das Studium der Natur, das eine solche Krankheit nicht aufkommen läßt. Denn hier haben wir es mit dem unendlich und ewig Wahren zu thun, das Jeden, der nicht durchaus rein und ehrlich bei Beobachtung und Behandlung seines Gegenstandes verfährt, sogleich als unzulänglich verwirft. Auch bin ich gewiß, daß mancher dialektisch Kranke im Studium der Natur eine wohlthätige Heilung finden könnte.« Eckermann. III. S. 222.

Wenige Monate zuvor hatte er sich so geäußert: »Wenn nur die Menschen das Rechte, nachdem es gefunden, nicht wieder umkehrten und verdüsterten, so wäre ich zufrieden; denn es thäte der Menschheit ein Positives noth, das man ihr von Generation zu Generation überlieferte, und es wäre doch gut, wenn das Positive zugleich das Rechte und Wahre wäre. In dieser Hinsicht sollte es mich freuen, wenn man in der Naturwissenschaft aufs Reine käme, und sodann im Rechten beharrte und nicht wieder transscendirte, nachdem im Faßlichen Alles gethan worden. Aber die Menschen können keine Ruhe halten und ehe man es sich versieht, ist die Verwirrung wieder oben auf.« Ebendaselbst. I. S. 339.

Ueber seine Methode sagt er Folgendes: »Ich besaß die entwickelnde, entfaltende Methode, keinesweges die zusammenstellende, ordnende; mit den Erscheinungen neben einander wußt' ich nichts zu machen, hingegen mit ihrer Filiation mich eher zu benehmen.« Sämmtliche Werke. Bd. 27. S. 495. »Ich hielt an dem Gedanken fest: man solle die Bestimmung jedes Theils für sich und sein Verhältniß zum Ganzen zu erforschen trachten, das eigene Recht jedes einzelnen anerkennen und die Einwirkung aufs Uebrige zugleich im Auge behalten, wodurch denn zuletzt Nothwendiges, Nützliches und Zweckmäßiges am lebendigen Wesen müßte zum Vorschein kommen.« Sämmtliche Werke. Bd. 36. S. 254. Vergl. in den Gedichten die Urworte (Orphisch).

Hieraus begreift man, wie innig sich das Verständniß des Dichters den Erscheinungen der Natur und Kunst anpaßte, und wie es ihn ergriff, als der Arzt Heinroth in seiner Anthropologie, indem er Göthe's Denkvermögen als ein gegenständlich thätiges bezeichnete, mit dem Einen Worte sein Wesen ausdrückte Ebendaselbst. Bd. 40. S. 444.. In Beziehung auf die Kunst hatte Göthe lange vorher dies selbst klar ausgesprochen, als er von Rom schrieb: »In der Kunst muß ich es so weit bringen, daß alles anschauende Kenntniß werde, nichts Tradition und Namen bleibeEbendaselbst. Bd. 24. S. 90.

Mit einer solchen anschauenden Kenntniß, einem solchen gegenständlichen Wissen mußte Göthe's Vorstellung von der Allgemeinheit allerdings weit auseinandergehen mit jenen schwächlichen Richtungen empfindsamer Rationalität, welche damals so viele beherrschten. Ueber seinen Hylozoismus, wie er es nannte, hat er sich sehr früh ausgesprochen Ebendaselbst. Bd. 25. S. 159. Vergl. Göthe's Briefe an Lavater, herausgeg. von Hirzel. Leipzig 1833. S. 4. 44. 152. und es mag genügen, auf diese Stellen hinzuweisen. Dagegen kann ich es mir nicht versagen, einen beherzigungswerthen Passus aus späterer Zeit hier ganz anzufügen:

»Es ist dem Menschen natürlich, sich als das Ziel der Schöpfung zu betrachten und alle übrigen Dinge nur in Bezug auf sich und insofern sie ihm dienen und nützen. Er bemächtigt sich der vegetabilischen und animalischen Welt, und indem er andere Geschöpfe als passende Nahrung verschlingt, erkennt er seinen Gott und preiset dessen Güte, die so väterlich für ihn gesorget. Der Kuh nimmt er die Milch, der Biene den Honig, dem Schaf die Wolle, und indem er den Dingen einen ihm nützlichen Zweck giebt, glaubt er auch, daß sie dazu sind geschaffen worden. Ja, er kann sich nicht auch denken, daß nicht auch das kleinste Kraut für ihn da sei, und wenn er dessen Nutzen noch gegenwärtig nicht erkannt hat, so glaubt er doch, daß solcher sich künftig ihm entdecken werde. – Und wie der Mensch nun im Allgemeinen denkt, so denkt er auch im Besonderen, und er unterläßt nicht, seine gewohnte Ansicht aus dem Leben auch in die Wissenschaft zu tragen und auch bei den einzelnen Theilen eines organischen Wesens nach deren Zweck und Nutzen zu fragen. Dies mag auch eine Weile gehen und er mag auch in der Wissenschaft eine Weile damit durchkommen; allein gar bald wird er auf Erscheinungen stoßen, wo er mit einer so kleinen Ansicht nicht ausreicht, und wo er, ohne höheren Halt, sich in lauter Widersprüchen verwickelt. Solche Nützlichkeitslehrer sagen wohl: der Ochse habe Hörner, um sich damit zu wehren. Nun frage ich aber, warum das Schaf keine? und, wenn es welche hat, warum sind sie ihm um die Ohren gewickelt, so daß sie ihm zu nichts dienen? Etwas Anderes aber ist es, wenn ich sage: der Ochse wehrt sich mit seinen Hörnern, weil er sie hat. Die Frage nach dem Zweck, die Frage warum? ist durchaus nicht wissenschaftlich. Etwas weiter aber kommt man mit der Frage Wie? Denn wenn ich frage: wie hat der Ochse Hörner? so führt mich das auf die Betrachtung seiner Organisation und belehrt mich zugleich, warum der Löwe keine Hörner hat und haben kann. – Die Nützlichkeitslehrer würden glauben, ihren Gott zu verlieren, wenn sie nicht den anbeten sollten, der dem Ochsen die Hörner gab, damit er sich vertheidige. Mir aber möge man erlauben, daß ich den verehre, der in dem Reichthum seiner Schöpfung so groß war, nach tausendfältigen Pflanzen noch eine zu machen, worin alle übrigen enthalten, und nach tausendfältigen Thieren ein Wesen, das sie alle enthält: den Menschen. Man verehre ferner den, der dem Vieh sein Futter giebt und dem Menschen Speise und Trank, so viel er genießen mag. Ich aber bete den an, der eine solche Productionskraft in die Welt gelegt hat, daß, wenn nur der millionteste Theil davon ins Leben tritt, die Welt von Geschöpfen wimmelt, so daß Krieg, Pest, Wasser und Brand ihr nichts anzuhaben vermögen. Das ist mein Gott.« Eckermann. II. S. 176. vergl. Sämmtliche Werke. Bd. 36. S. 281.

Jene Frage nach dem Wie der Organisation ist es, welche Göthe sowohl durch seine botanischen, als durch seine zoologischen Studien hindurch immerfort im Auge behalten und welche ihn schließlich zu der genetischen Methode geführt hat. Sie brachte ihn ganz natürlich zu der Vorstellung von einem bestimmten Haushalte (Oekonomie) in der Gestaltung jedes einzelnen Wesens, innerhalb dessen die einzelnen Theile bestimmend auf einander wirken und die besondere Entwickelung des einen Theils nicht ohne Rückwirkungen auf die der andern bleiben könne. Sämmtliche Werke. Bd. 36. S. 281. Es war dies besonders ein Punkt, wo er mit Geoffroy Geoffroy-St.-Hilaire Philosophie anatomique. Paris 1822. p. 244. in dem von diesem formulirten Gleichgewichtsgesetze ( loi de balancement) zusammentraf, und noch in der letzten Zeit seines Lebens beschäftigte ihn die Betrachtung anhaltend, wie die Natur, an einen gewissen Etat gebunden, starke Ausgaben durch Einnahmen compensire und so in sich selbst eine weise Mäßigung vorbestimmt enthalte. Sämmtliche Werke. Bd.40. S. 518. Riemer. S. 299.

So konnte er denn mit Bewußtsein sagen, was über seine Gesammtanschauung ein helles Licht verbreitet: »Wir denken uns das abgeschlossene Thier als eine kleine Welt, die um ihrer selbst willen und durch sich selbst da ist. So ist auch jedes Geschöpf Zweck seiner selbst, und weil alle seine Theile in der unmittelbarsten Wechselwirkung stehen, ein Verhältniß gegen einander haben und dadurch den Kreis des Lebens immer erneuern, so ist auch jedes Thier als physiologisch vollkommen anzusehen. Kein Theil desselben ist, von innen betrachtet, unnütz, oder wie man sich manchmal vorstellt, durch den Bildungstrieb gleichsam willkürlich hervorgebracht; obgleich Theile nach außen zu unnütz erscheinen können, weil der innere Zusammenhang der thierischen Natur sie so gestaltete, ohne sich um die äußeren Verhältnisse zu bekümmern.« Ebendaselbst. Bd. 36. S. 280.


V.
Straßburger Lektüre.

(Zu S. 58.)

Schöll giebt unter dem Titel Ephemerides eine Reihe von Excerpten, die Göthe in Straßburg 1770 sammelte. Es wird nicht ohne Interesse sein, das Naturwissenschaftliche, speciell das Medicinische kurz zusammenzustellen.

Es sind hauptsächlich zwei Autoren, aus deren Schriften sich Aufzeichnungen finden. Zuerst Boerhaave, dessen Beziehungen wir schon im Text erwähnten, und der hier benutzt ist, um ein Paar Stellen über den Verlauf der Pockenepidemien und über die frühzeitige Geistesentwickelung bei Rachitischen auszuziehen. Sodann der berühmte und berüchtigte Paracelsus, von dem sich in der Faust-Dichtung zahlreiche Erinnerungen finden. Allerlei Sentenzen und alchymistische Vorschriften sind ausgeschrieben, an welche sich Citate aus alten Aerzten über die Siebenzahl und aus Autoren über Arzneimittellehre anschließen. Von letzteren finden sich insbesondere Schulzii Theses ad Mat. med. Halae 46 und Geofroy de Mat. med. Dazu gehört ein Recept, das an die Stelle von dem Curiren aus einem Punkte Hierbei ist es vielleicht von Interesse, eine Stelle (Sämmtliche Werke. Bd. 36 S. 284) zu erwähnen, wo sich Göthe über die physiologische Bedeutung des Uterus genauer ausspricht. erinnert:

 

Hemenagogum. Rec. Arist. rot. 3 ıj
    Tart. calyb. 3 j
Aq. font. 3 ıj   Aq. font. 3 ıj
  fiat infus.  

 

sowie die treffliche Bemerkung: »Hebammen werden zu den geistlichen Personen des Orts gerechnet. Leyser über den Schilter. S. 76.«

Weiterhin notirt er Peuschel's Abhandlung der Phisiognomie, Metoskopie und Chiromantie, Leipzig 1769, unmittelbar hinter Paracelsus von »Schülern in einer weichen Schaale.«

Aus der Naturlehre zahlreiche Werke und Einzelcitate über Electricität, Farbenlehre, Meteorologie und Zoologie.

Ich will noch hinzufügen, daß die eine Inschrift im Straßburger Münster von 1776 den Namen Göthe's neben denen von Lavater, Lauth, Röderer und Ehrmann nennt. (Stöber a. a. O. S. 40.) Letztere sind fast sämmtlich Mediciner oder Anatomen geworden.


VI.
Lavater und die Physiognomik.

(Zu S. 60.)

Göthe selbst hat sich an einer Stelle sehr bestimmt über das Verhältniß seiner Knochenstudien zu Lavater's Anregungen ausgesprochen. Nach der Campagne in Frankreich (1792) besuchte er auch den kleinen Hof in Münster und hier nöthigte man ihn, von seinen Naturbetrachtungen einige Rechenschaft zu geben. Er sagt: »Von Fürstenberg brachte zur Sprache, daß er mit Verwunderung, welche beinahe wie Befremden aussah, hie und da gehört habe, wie ich der Physiognomik wegen die allgemeine Knochenlehre studire, wovon sich doch schwerlich irgend eine Beihülfe zu Beurtheilung der Gesichtszüge des Menschen hoffen lasse. Nun mocht' ich wohl bei einigen Freunden, das für einen Dichter ganz unschicklich gehaltene Studium der Osteologie zu entschuldigen und einigermaßen einzuleiten, geäußert haben, ich sey, wie es denn wirklich auch an dem war, durch Lavaters Physiognomik in dieses Fach wieder eingeführt worden, da ich in meinen akademischen Jahren darin die erste Bekanntschaft gesucht hatte. Lavater selbst, der glücklichste Beschauer organisirter Oberflächen, sah sich, in Anerkennung daß Muskel- und Hautgestalt und ihre Wirkung von dem entschiedenen inneren Knochengebilde durchaus abhängen müsse, getrieben, mehrere Thierschädel in sein Werk abbilden zu lassen, und selbige mir zu einem flüchtigen Commentar darüber zu empfehlen. Was ich aber gegenwärtig hievon wiederholen oder in demselben Sinne zu Gunsten meines Verfahrens aufbringen wollte, konnte mir wenig helfen, indem zu jener Zeit ein solcher wissenschaftlicher Grund allzuweit ablag und man, im augenblicklichen gesellschaftlichen Leben befangen, nur den beweglichen Gesichtszügen, und vielleicht gar nur in leidenschaftlichen Momenten, eine gewisse Bedeutung zugestand, ohne zu bedenken, daß hier nicht etwa bloß ein regelloser Schein wirken könne, sondern daß das Aeußere, Bewegliche, Veränderliche als ein wichtiges bedeutendes Resultat eines innern entschiedenen Lebens betrachtet werden müsse.« Sämmtliche Werke. Bd. 25 S. 195.

Der große Eindruck, den Lavater auf das so schnell entzündbare Gemüth des jungen Göthe gemacht hatte, geht außerdem auf das Klarste aus der überaus sorgfältigen und weitläuftigen Darstellung hervor, welche dem sonderbaren Manne an verschiedenen Stellen in Dichtung und Wahrheit geworden ist Sämmtliche Werke. Bd. 22 S. 194-224, 348-53, 371-86.. Auch bei vielen anderen Gelegenheiten kommt er auf ihn zu sprechen Ebendaselbst. Bd. 27 S. 501. Bd. 36 S. 12. Eckermann. II. S. 70. III. S. 279., und wenn sein Urtheil über den »Propheten« allmählich immer schroffer wird, ja endlich sein Widerwillen zu einer völligen Trennung treibt, so erkennt er doch den fördernden Einfluß des wunderlichen Heiligen stets dankbar an. Lavater seinerseits war dem Jünglinge mit hellstem Enthusiasmus entgegen getreten. »Bist's?« rief er ihm bei der ersten Begegnung zu. »Ich bin's,« war die Antwort. Da war es, wo Lavater schrieb: »Unaussprechlich süßer, unbeschreiblicher Auftritt des Schauens – sehr ähnlich und unähnlich der Erwartung.« Gessner Leben Lavater's. II. S. 127. Auch Göthe erzählt, daß Lavater im ersten Augenblick durch einige sonderbare Ausrufungen verrathen habe, wie er ihn anders erwartet habe. Aber gewiß war dies Gefühl sehr vorübergehend, denn auf der Rheinreise, dieser glückseligen Fahrt, herrschte die größte Herzlichkeit zwischen ihnen. Wie charakteristisch lautet der Brief, den Lavater aus Ems am 18. Juli nach Hause schrieb! Darin heißt es: »Unterdeß,« diktirt mir Göthe aus seinem Bett herüber, »unterdeß geht's immer so grade in die Welt 'nein. Es schläft sich, ißt sich, trinkt sich und liebt sich auch wohl an jedem Orte Gottes wie am andern, folglich also – itzo schreib' er weiter!« Ebendaselbst. S. 135.

Die rege Theilnahme, die Göthe an der Herausgabe und Vervollständigung des großen physiognomischen Werkes von Lavater nahm, hat er mannichfach geschildert. Das Manuscript mit den zum Text eingeschobenen Plattenabdrücken ging an ihn nach Frankfurt und Weimar. Er hatte das Recht, alles zu tilgen, was ihm mißfiel, wovon er freilich sehr mäßig Gebrauch machte. Nur einmal ließ er eine leidenschaftliche Controverse weg und legte dafür ein heiteres Naturgedicht ein Sämmtliche Werke. Bd. 22 S. 349.. Leider ist der positive Antheil, den der Dichter an dem Werke des Geistlichen genommen hat, nirgends in dem Werke selbst unmittelbar angedeutet, und nur aus dem Briefwechsel mit Lavater Briefe von Göthe an Lavater aus den Jahren 1774-83, herausgegeben von Hirzel. Leipzig 1833. S. 7 ff. und dessen Verleger Reich Ebendaselbst. S. 168 folgende. O. Jahn a. a. O. S. 218 folg. lassen sich einzelne Einblicke gewinnen. Einmal, zu Eckermann Eckermann. II. S. 70., sagte Göthe selbst, was mit der früher erwähnten Aeußerung in Münster übereinstimmt: »Was in Lavater's Physiognomik über Thierschädel vorkommt, ist von mir,« und an Herder schreibt er im Mai 1775: »Ich fördere mit innigem Shandysmus mit an Lavater's Physiognomik.« Aus Herder's Nachlaß. I. S. 53. Man kann daher wohl annehmen, daß die Anregung eine tiefe und für die späteren Thier- und namentlich Knochenstudien entscheidende war.

Das große Werk von Lavater erschien in den Jahren 1775-78. In demselben finden sich an mehreren Orten Abbildungen und Betrachtungen über Thierköpfe und Thierschädel Lavater. Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Leipzig und Winterthur. II. S. 139, 174, 192, 199, 205, 210, 218, 252, 260, 280. III. S. 63. IV. S. 56.. Die meisten derselben sind in dem zweiten Bande enthalten, wo in höchst sonderbarer Weise Capitel um Capitel das einemal wilde oder zahme Thiere, das anderemal Krieger, Admirale, Fürsten, Künstler, Seher behandelt werden. An keiner Stelle ist der Text so charakteristisch, daß man ohne Weiteres den Antheil von Göthe ausscheiden könnte, indeß müssen sich seine Bemerkungen doch wohl hauptsächlich auf die ersten Bände beziehen, da deren Erscheinen (1775-76) der Zeit nach am meisten zutrifft. Am Schlusse des ersten Bandes steht das »Lied eines physiognomischen Zeichners« mit dem Datum vom 19. April 1775 Ebendaselbst. I. S. 272., welches auch Hirzel Göthe's Briefe an Lavater. S. 29. wieder hat abdrucken lassen und welches sich unter der Ueberschrift »Künstlers Abendlied« mit geringen Textänderungen in den gesammelten Werken Sämmtliche Werke. Bd. 2. S. 178. (Das handschriftliche Original ist noch erhalten und jetzt auf der Göthe-Ausstellung in Berlin. Katalog 1861. S. 16 sub II. 14.) wieder findet. Auf dieses Lied bezieht sich offenbar die oben erwähnte Bemerkung Göthe's.

In dem Briefwechsel mit dem Verleger finden sich manche Stellen Briefe an Lavater. S. 168. Briefe an Leipziger Freunde. S. 218., welche darauf hindeuten, daß sowohl manche Zugaben, als auch ein Theil des Textes der Fragmente von Göthe's Hand sind. Einige Lavater Fragmente. I. S. 15, 21 u. 140. derselben unterscheiden sich nicht blos dem Geiste und der Auffassung, sondern auch dem Styl und der Interpunction nach so wesentlich von Lavater's Schriften, daß ich kaum Bedenken trage, sie für unseren Dichter in Anspruch zu nehmen. Weiterhin scheint mir ein Abschnitt im 3. Bande (1777) auf ihn bezogen werden zu können. Dort sind Ebendaselbst. III. S. 98. unter der Überschrift »Vermischte Beobachtungen eines bekannten Dichters« sechs verschiedene physiognomische Bemerkungen zusammengestellt, von denen ich die letzte, als besonders charakteristisch, hier anführe: »Die Eröffnung des Mundes kann nie genug studiert werden. In ihr, deucht mich, steckt die höchste Charakteristik des ganzen Menschen. Alles Naive, Zärtliche, Männliche der ganzen Seele drückt sich da aus. Von diesem verschiedenen Ausdrucke ließen sich Folianten schreiben, und ist das etwas, das dem unmittelbaren Gefühle des, der einen Menschen studiert, überlassen werden muß. – Die Muskeln um den Mund herum sind, deucht mich, dem Sitze der Seele am nächsten, da kann sich der Mensch am wenigsten verstellen. Daher das häßlichste Gesicht angenehm wird, wenn es noch gute Züge am Munde übrig behalten hat, und einem wohl organisirten Menschen nichts in der Natur so widrige Empfindungen erregen kann, als ein verzogenes Maul.«

In diesem selben Bande Ebendaselbst. III. S. 218. Vergl. Göthe's Sämmtliche Werke. Bd. 22. S. 195. ist es auch, wo Lavater hinter einander 5 verschiedene Bilder von Göthe, theils nach Zeichnungen, theils nach Medaillons, giebt. Nur eines von diesen, das vierte, stimmt mit dem bekannten May'schen überein und dieses wird auch vor den andern gerühmt. In dem Texte dazu finden sich manche interessante physiognomische Schilderungen Göthe's, insbesondere die lebhaftesten Bemerkungen über das Auge des jungen Dichters. Bei dem ersten Bilde heißt es: »Auch ohne das blitzende Auge; auch ohne die geistlebendige Lippe, auch ohne die blaßgelblichte Farbe – auch ohne den Anblick der leichten, bestimmten, und alltreffenden, allanziehenden, und sanftwegdrängenden Bewegung – ohn' alles das, welche Einfachheit und Großheit in diesem Gesicht!« Später spricht Lavater von »Göthe's rollendem Feuerrad – so fähig, von Empfindungsglut jeder Art geschmelzt zu werden«; er schildert »das mit Einem fortgehenden Schnellblicke durchdringende, verliebte – sanft geschweifte, nicht sehr tief liegende, helle, leicht bewegliche Auge.« Für solche, die eine besondere Aufmerksamkeit auf diese schöne Entwickelungszeit des Dichters richten, sind die berührten Blätter von großer Bedeutung und es ist gewiß sehr dankenswerth, daß der sammelnde Physiognomiker bei dieser Gelegenheit auch das Bild von Göthe's Vater hat stechen lassen Lavater. III. S. 221. Gegen die Aufnahme des Bildes seiner Mutter protestirte Göthe auf das entschiedenste (Briefe an Lavater. S. 35).. Er nennt ihn den »vortrefflich geschickreichen, alles wohl ordnenden, bedächtlich – und klug – anstellenden – aber auf keinen Funken dichterischen Genies Anspruch machenden Vater des großen Mannes.«

So sind auch in dieser Beziehung die »physiognomischen Fragmente« ein redendes Zeugniß der Zeit, in der sie entstanden. Damals erregten sie die Theilnahme der deutschen gebildeten Welt in allen Kreisen; ja ihr Umfang, ihre Ausstattung, ihre Kostbarkeit schienen sie zu einem Handbuche gerade der höchsten und vornehmsten Kreise zu bestimmen, welche sonst nur spät und langsam den Fortschritten der Wissenschaft folgen. Das Interesse knüpfte sich auch an die Person. So läßt die Herzogin Louise 1779 durch Herder ihre Entbindung an Lavater melden, und ersterer schreibt dabei von dem Kinde, einer Prinzessin: »Göthe versichert, daß es gerade die Geniesnase mit breitem Sattel nach deiner Angabe habe.« (Aus Herder's Nachlaß. II. S. 178). Aber diese Kreise lieben den Wechsel und sehr bald verdrängte die Phrenologie das kaum geweckte Interesse an der Physiognomik. Unzweifelhaft lag die Schuld mit an der Art, wie Lavater die Physiognomik behandelt hatte. Er war weder Künstler noch Forscher genug, um die für eine wirkliche Dauer nöthige Tiefe der Anschauung erreichen zu können, und Göthe hat ganz Recht, wenn er, am Schlusse seines Lebens auf diese Erlebnisse seiner Jugend zurückblickend, sein Urtheil dahin zusammenfaßt: »Es ist zu bedauern, daß ein schwacher Mysticismus dem Aufflug seines Genies so bald Grenzen setzte« Eckermann. III. S. 279. (18. Januar 1830). Man vergleiche das überaus ungünstige Urtheil, das Heinse schon 1780 fällte ( Heinse's sämmtliche Werke. Leipzig 1838. IX. S. 81.) Sollte die Zugabe auf S. 21 der Physiognomischen Fragmente Thl. I. von Göthe herrühren, so könnte man versucht sein, in dem »moralischen Zigeuner« schon damals ein leise Ironie zu spüren.. Die undankbare Nachwelt hat es nur zu schnell vergessen, daß hier ein wirklicher Aufflug mit Anstrengung aller Kräfte versucht wurde und daß das Ziel, auf welches er gerichtet war, das rechte war. Dieses darlegen zu können, hat mir Virchow. Entw. des Schädelgrundes. S. 118. eine nicht geringe Befriedigung gewährt und ich mag es mir nicht versagen, hier der Zustimmung eines der Zeitgenossen jener denkwürdigen Entwickelungsperiode zu gedenken. In einem Briefe vom 29. März 1857, worin er sich über die betreffende Schrift ausspricht, schrieb Alexander von Humboldt mir unter Anderem: »Die Rechtfertigung des alten Lavater, den man gern beschuldigt, nur auf die weichen Theile geachtet zu haben, hat mich besonders gefreut.« In der That kann nichts ungerechter sein, als eine solche Beschuldigung, welche sich offenbar mehr auf ein laienhaftes Vorurtheil, als auf eine Kenntniß der Werke Lavater's stützt. Dieser selbst sprach sich, als ihm Kaiser Joseph II. in Waldshut mit demselben Vorurtheil entgegen trat, ganz klar dahin aus, daß »sein Augenmerk mehr auf das Feste und Bestimmbare der menschlichen Physiognomie, als auf das Bewegliche, Augenblickliche, Zufällige, daher mehr auf die Anlage, die Grundfähigkeit gerichtet sei« Geßner Lavater's Leben. II. S. 186.. Am besten scheint mir aber der Lavater, der unsern Dichter fesselte, in folgender Stelle sich selbst zu schildern: »Ueber den bloßen Schädel des Menschen – wie viel kann der Zergliederer sagen? wie viel mehr der Physiognomist? wie viel mehr der Zergliederer, der Physiognomist ist? – Ich darf kaum aufsehen, wenn ich denke, was ich nicht weiß, und wissen sollte, um würdig über einen Theil des menschlichen Körpers, des Menschen, zu schreiben, – der über alle Erkenntniß, allen Glauben, alle Vermuthung wichtig ist. – Man kann es schon bemerkt haben, daß ich das Knochensystem für die Grundzeichnung des Menschen – den Schädel für das Fundament des Knochensystems und alles Fleisch beynahe nur für das Colorit dieser Zeichnung halte – daß ich auf die Beschaffenheit, die Form und Wölbung des Schädels, so viel mir bewußt ist, mehr achte als meine Vorgänger alle; daß ich diesen weit festeren, weniger veränderlichen – leichter bestimmbaren Theil des menschlichen Körpers für die Grundlage der Physiognomik angesehen wissen möchte.« Lavater a. a. O. II. S. 143.

Göthe hat denselben Gedanken in dichterischer Form ungleich schöner und kürzer wieder gegeben, in dem kleinen Gedicht, das »Typus« überschrieben ist:

Es ist nichts in der Haut,
Was nicht im Knochen ist.
Vor schlechtem Gebilde jedem graut,
Das ein Augenschmerz ihm ist.

Was freut denn jeden? Blühen zu sehn,
Das von innen schon gut gestaltet;
Außen mag's in Glätte, mag in Farben gehn,
Es ist ihm schon voran gewaltet.

Aber einem Geiste, wie dem Göthe's, genügte es nicht, den Typus dichterisch zu feiern; ihm war es eine Nothwendigkeit, ihn auch gestaltlich darzustellen. Dazu scheint zuerst die in Weimar eingerichtete Zeichnungsakademie beigetragen zu haben. Vorher finden sich nur zerstreute Bemerkungen über physiognomische und osteologische Arbeiten in den Briefen an Lavater. 1778 schreibt er: »Der Herzog hat mir sechs Schädel kommen lassen, habe herrliche Bemerkungen gemacht, die Ew. Hochwürden zu Diensten stehen, wenn dieselben sie nicht ohne mich fanden« Briefe an Lavater. S. 35.. 1780 in dem prächtigen Briefe, wo er die Liebe Charlottens eingesteht, sagt er: »Im Phisiognomischen sind mir einige Hauptpunkte deutlich geworden, die dir wohl längst nichts neues sind, mir aber von Wichtigkeit wegen der Folgen.« Und er setzt hinzu: »Hab ich dir das Wort Individuum est ineffabile, woraus ich eine Welt ableite, schon geschrieben?« Ebendaselbst. S. 104. Endlich am 14. November 1781 berichtet er: »Auf unserer Zeichnungsakademie habe ich mir diesen Winter vorgenommen, mit den Lehrern und Schülern den Knochenbau des menschlichen Körpers durchzugehen, sowohl um ihnen als mir zu nuzen, sie auf das merkwürdige dieser einzigen Gestalt zu führen und sie dadurch auf die erste Stufe zu stellen, das bedeutende in der Nachahmung sichtlicher Dinge zu erkennen und zu suchen. Zugleich behandle ich die Knochen als einen Text, woran sich alles Leben und alles menschliche anhängen läßt, habe dabey den Vortheil, zweimal die Woche öffentlich zu reden, und mich über Dinge, die mir werth sind, mit aufmerksamen Menschen zu unterhalten. Ein Vergnügen, welchem man in unserm gewöhnlichen Welt-, Geschäfts- und Hofleben gänzlich entsagen muß.« Ebendaselbst. S. 136.

So war dieser viel geschmähte »Minister«. Nachdem er erst Forscher und dann Lehrer geworden war, wollte er auch selbst Künstler sein. Und so sehen wir ihn, kaum in Rom angelangt, alsbald zum Modelliren übergehen. »Mein hartnäckig Studium der Natur, meine Sorgfalt, mit der ich in der comparirenden Anatomie zu Werke gegangen bin, setzen mich nunmehr in den Stand, in der Natur und den Antiken manches im Ganzen zu sehen, was den Künstlern im Einzelnen aufzusuchen schwer wird, und das sie, wenn sie es endlich erlangen, nur für sich besitzen und andern nicht mittheilen können. Ich habe«, setzt er hinzu, »alle meine physiognomischen Kunststückchen, die ich aus Pik auf den Propheten (Lavater) in den Winkel geworfen, wieder hervorgesucht, und sie kommen mir gut zu passen. Ein Herkuleskopf ist angefangen« Sämmtliche Werke. Bd. 24. S. 87. vergl. S. 264. 282.. Die inzwischen bekannt gewordenen Ideen Camper's über das Gesichtsprofil erregten ihn lebhaft und brachten die Erinnerung an Lavater noch mehr in den Vordergrund Ebendaselbst. S. 127-28.. Sehr bald schreibt er von Rom: »Das Interesse an der menschlichen Gestalt hebt nun alles andere auf. Ich fühlte es wohl und wendete mich immer davon weg, wie man sich von der blendenden Sonne wegwendet, auch ist alles vergebens, was man außer Rom studiren will. Ohne einen Faden, den man nur hier spinnen lernt, kann man sich aus diesem Labyrinthe nicht herausfinden.« Ebendaselbst. S. 199. »Jetzt seh' ich, jetzt genieß' ich erst das Höchste, was uns vom Alterthum übrig blieb, die Statuen« Ebendaselbst. S. 201.. »In solcher Gegenwart wird man mehr als man ist; man fühlt, das Würdigste, womit man sich beschäftigen sollte, sey die menschliche Gestalt, die man hier in aller mannichfaltigen Herrlichkeit gewahr wird. Doch wer fühlt bey einem solchen Anblick nicht alsobald, wie unzulänglich er sey; selbst vorbereitet steht man wie vernichtet. Hatte ich doch Proportion, Anatomie, Regelmäßigkeit der Bewegung mir einigermaßen zu verdeutlichen gesucht, hier aber fiel mir nur zu sehr auf, daß die Form zuletzt alles einschließe, der Glieder Zweckmäßigkeit, Verhältniß, Charakter und Schönheit.« Sämmtliche Werke. Bd. 24. S. 282.

Freilich war der endliche Gewinn ein idealer, denn der Dichter sah ein, daß er nicht auch zugleich Bildner sein könne. Aber das einmal gewonnene Verständniß erhielt auch die Theilnahme rege, und so finden wir in einem seiner Briefe nach der Rückkehr aus Italien (Weimar, den 17. December 1788) die Bemerkung: »In physiognomischen Entdeckungen, die sich auf die Bildung idealer Charaktere beziehen, bin ich sehr glücklich gewesen.« Aus Herder's Nachlaß. I. S. 102.. Worauf sich das bezieht, ist nicht ganz klar, denn in seiner gewohnten Weise setzt er unmittelbar hinzu: »ich bin noch immer gegen Jedermann darüber geheimnißvoll.« Wir wissen nur, daß von dieser Zeit an seine Fähigkeit, in das Gesetzmäßige der Naturerscheinungen einzudringen, sich immer freier entfaltete und daß in ähnlicher Weise, wie der physiognomische Anfang zum Studium der Natur geführt hatte, so auch das Verständniß der Kunst, welches sich daraus ergeben hatte, nun wieder zur tieferen Ergründung der Natur zurückdrängte. 1789 (?) schreibt er an Herder: »Ich habe eine neuentdeckte Harmoniam naturae vorzutragen« Ebendaselbst. I. S. 110. und gleich hinterher: »Ich habe mich diese zwei Tage mit dem Profil eines Jupiters beschäftigt. Bei der Gelegenheit habe ich sehr sonderbare Gedanken über den Anthropomorphismus gehabt, der allen Religionen zum Grunde liegt.« Offenbar arbeitete während dieser Epoche in ihm der Gedanke des Wirbeltypus, denn als er im nächsten Jahre (1790) den entscheidenden Fund auf dem Lido in Venedig that, da war er schon dahin gelangt, die Existenz von 3 Schädelwirbeln zu statuiren und der vielbesprochene Schöpsenkopf gab ihm nur Veranlassung, noch 3 weitere Wirbel für die Gesichtsknochen hinzuzufügen. Denn ausdrücklich sagt er: »Die drei hintersten (Schädelwirbel) erkannt' ich bald, aber erst im Jahre 1790, als ich aus dem Sande des dünenhaften Judenkirchhofs von Venedig einen zerschlagenen Schöpsenkopf aufhob, gewahrt' ich augenblicklich, daß die Gesichtsknochen gleichfalls aus Wirbeln abzuleiten seyen, indem ich den Uebergang vom ersten Flügelbein zum Siebbein und den Muscheln ganz deutlich vor Augen sah; da hatt' ich denn das Ganze im Allgemeinsten beisammen.« Sämmtliche Werke. Bd. 40. S. 447. Der Gedanke von der Anwendung des Wirbeltypus auf die Deutung der Schädelknochen muß also in die Jahre vor 1790 fallen. Aber von da an wurde seine Kenntniß der Osteologie und der Anatomie immer ausgedehnter, zunächst durch Loder's Vorträge und Umgang Ebendaselbst. Bd. 27. S. 27. 53. 116. Bd. 35. S. 12., dann insbesondere durch Sömmerring Ebendaselbst. Bd. 27. S. 53. 214., d'Alton und Carus Ebendaselbst. Bd. 27 S. 408.. Wie sich aber auch in der nachrömischen Periode Kunst und Natur in ihm verschmolzen, das erhellt wohl am besten, wenn man seine Betrachtungen über die Elgin'schen und venetianischen Pferdeköpfe, den Urstier u. dgl. vergleicht Sämmtliche Werke. Bd. 40 S. 456. Bd. 36 S. 338. oder wenn man die unmittelbare Anwendung aller dieser Erfahrungen für die ausübende Kunst selbst in der »Einleitung in die Propyläen« Ebendaselbst. Bd. 30 S. 287. ins Auge faßt.


VII.
Die Wirbeltheorie des Schädels.

(Zu S. 60.)

Die Wirbeltheorie des Schädels geht im Wesentlichen darauf hinaus, daß die knöcherne Capsel, welche das Gehirn umschließt, nach demselben Grundtypus zusammengesetzt und aufgebaut ist, wie die knöcherne Röhre, welche das Rückenmark umlagert, so daß jene Capsel, der Schädel, eine höhere Entfaltung dieser Röhre, des Rückgrathes oder der Wirbelsäule darstellt, gleichwie das Gehirn selbst als eine höhere und vollkommnere Entfaltung des Rückenmarkes zu betrachten ist. Freilich gilt dieser Satz nicht für alle jene Theile, welche den Schädel im gewöhnlichen Sinne des Wortes zusammensetzen, sondern nur für jenen Theil, welcher wesentlich als feste Umhüllung des Gehirns dient. An diesen Schädel im engeren Sinne des Wortes schließen sich die Gesichtsknochen als eine fernere, der Wirbelsäule beigegebene Ausstattung an, und sie müssen demnach sofort die Vermuthung erregen, daß sie mehr den Rippen oder den eigentlichen Gliedern (Extremitäten) vergleichbare Theile darstellen.

Wie weit diese Vergleichung auszudehnen ist, wie viel von den Gesichtsknochen etwa noch zu der Kopf-Wirbelsäule als wesentlicher Bestandtheil hinzuzurechnen ist, darüber ist man noch jetzt nicht einig. Göthe ging offenbar zu weit, indem er sechs Schädelwirbel annahm, von denen drei ganz oder theilweise in den Bereich des Gesichtsskelets fallen. Mit Sicherheit kann man nur jene drei Schädelwirbel aufstellen, welche Göthe, wie es scheint, bis 1790 der Hauptsache nach erkannt hatte; sehr zweifelhaft ist es schon, ob man noch einen vierten, rudimentären Wirbel zulasten darf, der in die Nasenbildung mit eingeht.

Am folgerichtigsten hat in neuester Zeit Owen Rich. Owen. On the architype and homologies of the vertebrate skeleton. London 1848. – Holmes Coote. The homologies of the human skeleton. London 1849. diese Doctrin entwickelt, indem er zu ihrer Begründung die gesammte vergleichende Osteologie in Bewegung setzte; am entschiedensten hat sie Huxley Thom. H. Huxley. On the theory of the vertebrate skull. The Croonian lecture. Proc. Royal Soc. 1858. Nov. bekämpft, indem er gleichfalls die Kopfbildung aller Wirbelthierklassen zu Rathe zog. Indeß bekämpft auch er doch nur den Satz, daß die Kopfknochen wirkliche Wirbel seien, während er zugesteht, daß sie die vollständigste Analogie mit Wirbeln haben. Im Sinne Göthe's genügt dies Zugeständniß vollständig.

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Fig. 1.

Zum besseren Verständniß für die Einrichtung beim Menschen habe ich aus meiner größeren Arbeit Virchow. Entwickl. des Schädelgrundes. Taf I. Fig. 1. den Längsdurchschnitt des Kopfes eines neugeborenen Kindes wiedergeben lassen, welcher die wichtigsten Verhältnisse deutlicher darstellt, als sie sich am Kopfe des Erwachsenen übersehen lassen, wo viele, ursprünglich getrennte Knochen zu gemeinschaftlichen Massen verwachsen und in dieser Verschmelzung sich nicht mehr deutlich erkennen lassen.

Betrachtet man an dem Holzschnitt den unteren und hinteren Theil, so sieht man zunächst bei R den Längsdurchschnitt des Rückenmarkes, welches sich bei V in die sogenannte Varols-Brücke fortsetzt und von hier einerseits in das Kleinhirn K, andererseits in das Großhirn G entfaltet. Letzteres besteht aus zwei Seitenhälften (Hemisphären), welche mit zahlreichen Windungen besetzt sind und in der Mitte durch den Balken B zusammenhängen. Zwischen beide Hälften schiebt sich eine häutige Scheidewand S ein.

Das Rückenmark ist umschlossen von der Wirbelsäule, welche aus einer großen Zahl einzelner knöcherner Wirbel besteht. Letztere sind durch Knorpel (die sogenannten Zwischenwirbelknorpel) tritt einander beweglich verbunden. An jedem Wirbelknochen unterscheidet man einen vorn gelegenen Körper, von dem seitlich Bogenstücke ausgehen, die um das Rückenmark herum greifen und hinten zu den Dornfortsätzen aneinandertreten. In der Zeichnung sind die drei obersten Wirbel zu sehen, indem 1, 2 und 3 die vordern Theile, die Wirbelkörper, und 1 a, 2 a und 3 a die hintern Theile, die Dornfortsätze, bezeichnen.

Ganz ähnliche Verhältnisse finden wir auch am Schädel, wo die Wirbelkörper am Grunde liegen, ursprünglich gleichfalls durch Zwischenknorpel verbunden oder, vielleicht deutlicher gesagt, getrennt. Hier bezeichnet a den Körper des Hinterhauptswirbels, das Hinterhauptsbein; b den Körper des Mittelhauptswirbels, das hintere Keil- oder Flügelbein; c den Körper des Vorderhauptswirbels, das vordere Keilbein.

An diese Körper schließen sich seitlich Bogenstücke an, welche auf der Zeichnung nicht zu sehen sind. Diese vereinigen sich nach oben, am Schädeldache, zu Dornfortsätzen, welche sich von denen der eigentlichen Wirbelsäule dadurch unterscheiden, daß sie platte, große, ursprünglich und auch zum Theil noch späterhin paarige Knochenstücke darstellen, a', die Hinterhauptsschuppe, stellt den Dornfortsatz des Hinterhauptswirbels dar; b', das Scheitelbein, den Dornfortsatz des Mittelhauptswirbels, und c', das Stirnbein, den Dornfortsatz des Vorderhauptswirbels. Zwischen ihnen, bei f und f', liegen ursprünglich häutige Zwischenbänder, die sogenannten Fontanellen.

Nach vorn schließen sich daran die dem Gesicht zuzurechnenden Theile. Nur der in der Zeichnung knorplig gezeichnete Theil n, welcher die Nasenscheidewand und nach oben das Siebbein bildet, ist in seiner Deutung zweifelhaft, während der Oberkiefer o und der Unterkiefer u offenbar nur äußere Zuthat der Wirbelgebilde sind.

Man wird hier sofort ersehen, daß die Voraussetzungen der Phrenologie, insofern sie sich fast nur auf das Schädeldach beziehen, sehr ungenügend sind. Denn selbst zugegeben, was nicht richtig ist, daß jeder Hervorragung, jeder Windung der Gehirnoberfläche auch eine Hervorragung des Schädels entspreche, so würde doch auf diesen! Wege nur derjenige Theil des Gehirns unserer Erkenntniß zugänglich werden, der dem Schädeldache, also den Dornfortsätzen anliegt. In meiner oben erwähnten Schrift habe ich darzuthun versucht, daß eine der wichtigsten Ergänzungen die Betrachtung des Gesichtes, also die Physiognomik ist, insofern die Gesichtsknochen sich unmittelbar an die Wirbelkörper des Schädelgrundes anfügen und in ihrer Stellung so sehr durch die Form, Große und Stellung dieser Wirbel bestimmt werden, daß man wiederum rückwärts aus dem Gesichte, und namentlich aus dem Gesichtsprofil Schlüsse auf die Bildung der Schädelgrundfläche, welche sonst der Betrachtung ganz entzogen ist, machen kann. Damit habe ich die Gedanken Lavater's und Camper's nicht nur wieder ausgenommen, sondern um ein Gewisses weiter geführt; insbesondere habe ich den schwarzen Raum der Silhouette, auf deren Betrachtung der Züricher Diakonus so großes Gewicht legte, mit einem realen Inhalte ausgefüllt und diesen Inhalt in eine Reihe wirklich zu greifender Theile zerlegt, welche nicht mehr bloß der Vermuthung und der willkürlichen Deutung, sondern der unmittelbaren Messung zugänglich sind. Die hier zu erlangenden Maaße aber stützen sich auf eine bewußte Kenntniß der organischen Entwickelung, nicht mehr, wie der Gesichtswinkel Campers, auf eine bloß künstlerische Gesammt-Anschauung, welche auf dem Wege des Probirens vorwärts schreitet.

Natürlich liegt es nahe, jeden auf wissenschaftlichem Wege gefundenen Werth auch künstlerisch, zu prüfen und darnach anzuwenden. Das war Göthes Streben in Rom. Manchem mag es nun freilich wunderbar vorkommen, wenn Göthe wiederholt in seinen Briefen hervorhebt, wie sehr ihm das Studium der vergleichenden Anatomie das Verständniß der Antike erleichtert habe. Man wird vielleicht eher glauben, daß die Erforschung der Tierköpfe dem Verständniß der idealen Köpfe griechischer Götter und Herren schade. Aber schon Camper hat gezeigt, wie beide Reihen sich demselben Maaß fügen, und ich selbst habe gelegentlich angedeutet, auf welche Weise die alten Künstler den Eindruck der Erhabenheit zu erzeugen wußten, der ihre Götterköpfe in so wunderbarer Weise auszeichnet Virchow. Entwickelung des Schädelgrundes. S. 77.. Woher sie aber ihre Vorbilder zu einer theilweise ganz außerhalb der natürlichen Bildungsgrenzen liegenden, also rein idealen Vergrößerung mancher Schädel- und Gesichtsmaaße genommen haben, dürfte schwieriger zu ergründen sein. Ich für meinen Theil halte es für ganz möglich, daß hier Thierstudien maaßgebend gewesen sind. Man sehe sich nur den Kopf eines Löwen an und man vergleiche damit den typischen Kopf eines Zeus, und wenn man dadurch nicht überzeugt wird, so lese man die Physiognomik des Aristoteles. Quibus quadrata et commensurata frons est, magnanimi; refertur ad leones. Quibus crines sublati a fronte ad caput usque, liberales; refertur ad leones Physiognomica Aristotelis latina facta a Jodoco Willichio Reselliano. Viteberg. 1538. p. E et E 3.. Und so mag es denn wohl begreiflich sein, daß auch Göthe mit seinen Thierstudien einen tieferen Einblick in das Wesen der alten Kunst gewann, als mancher Bildner.

Außer den Antiken in Marmor war es aber ein wirklicher Schädel, der ihn in Rom besonders anzog. »Ich sah,« schreibt er, »die Sammlung der Akademie S. Luca, wo Raphaelas Schädel ist. Diese Reliquie scheint mir ungezweifelt. Ein trefflicher Knochenbau, in welchem eine schöne Seele bequem spazieren konnte.« Sämmtliche Werke. Bd. 24. S. 261. Und später: »Ein wahrhaft wundersamer Anblick! Eine so schön als nur denkbar zusammengefaßte und abgerundete Schaale, ohne eine Spur von jenen Erhöhungen, Beulen und Buckeln, welche, später an andern Schädeln bemerkt, in der Gallischen Lehre zu so mannichfaltiger Bedeutung geworden sind. Ich konnte mich von dem Anblicke nicht losreißen.« Ebendaselbst. S. 290. Welche Gedanken mochte ihm dieser Anblick erregen! Und doch scheint es, daß der Zufall ihn irreleitete. Denn in einem 1853 erschienenen Werke behauptet Carus, daß der ächte Schädel Raphaels »erst vor ein Paar Decennien« in dem Grabe des Pantheon aufgefunden sei, und er setzt in einer Anmerkung hinzu, daß bisher in den phrenologischen Sammlungen ein falscher raphaelischer Schädelabguß »von sehr gemeinem Ausdruck« existirt habe Carl Gust. Carus. Symbolik der menschlichen Gestalt. Leipzig 1853. S. 139..

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Fig. 2.

Ich füge hier eine Copie des von Carus als ächt bezeichneten und als verhältnißmäßig klein geschilderten Schädels bei (Fig. 2.), und schließe daran zur Vergleichung einen, nach den Vorbildern desselben Forschers Carus. Ebendaselbst. S. 149. Desselben Atlas der Cranioskopie. Leipzig 1843. Heft I. Taf. I. gezeichneten Schnitt von dem Schädel Schiller's (Fig. 3.).

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Fig. 3.

Carus bemerkt dazu, daß jeder der drei Hauptwirbel Zur Ergänzung der Fig. 1. sieht man hier die Seitenansicht der Schädelknochen: a Hinterhauptsschuppe, b Scheitelbein, c Stirnbein, d. ,h. die Dornfortsätze der 3 Schädelwirbel; b' der Flügel des hintern Keilbeins oder das Bogenstück des zweiten Schädelwirbels. voll und schön entwickelt war. »Besonders groß, schön gerundet und fein modellirt erscheint das Mittelhaupt. Die Stirn ist wesentlich mehr in die Breite ausgebildet, als bei Göthe, bei welchem sie dagegen in der Mitte vorspringender war.« In letzterer Beziehung bemerkt er an einem andern Orte Carus. Göthe. S. 72., daß bei Göthe die Entfernung der Ohröffnung von der größten Stirnwölbung 5'' 6-8''' betrug, wie sie sonst nur bei Napoleon von ihm gefunden wurde, da sie gewöhnlich nur 5''erreiche. Wer erinnert sich hier nicht des Ausspruches von Gall, Göthe sei eigentlich zum Volksredner geboren? Göthe. Sämmtliche Werke. Bd. 27. S. 174. Bd. 21. S. 288.. Der große Dichter lehnte scherzend diese Deutung, für welche der bekannte, wenigstens halb mißlungene Versuch einer öffentlichen Rede bei der Eröffnung des Bergbaues in Ilmenau nicht sehr spricht, ab und hielt sich lieber an die Naturforschung, wo ihm gerade Gall's Darstellung eine neue Anregung und zu erneuter Anerkennung der Fundaments Lavater's Veranlassung gab Sämmtliche Werke. Bd. 27. S. 124..


VIII.
Die Priorität der Entdeckung der Wirbeltheorie.

(Zu S. 61.)

Es scheint, daß zuerst Ulrich Ulrich. Annotationes quaedam de sensu et significatione ossium capitis. Diss. inaug. Berol. 1816. die Aufmerksamkeit auf eine Stelle des berühmten Klinikers Peter Frank gelenkt hat, welche den Schädel mit der Wirbelsäule vergleicht. Schon Johannes Müller Joh. Müller. Vergleichende Anatomie der Myxinoiden. Berlin 1835. S. 121. ging einen Schritt weiter, indem er sagte, Frank habe »zuerst die Idee von der Aehnlichkeit dieser Theile hingeworfen.« Später Joh. Müller. Gedächtnißrede auf Rudolphi. Berlin 1837. S. 15. wiederholt er dasselbe noch bestimmter mit dem besonderen Zusatze, daß weder Göthe, noch Oken, noch Duméril die Priorität hätten. Bei dieser Gelegenheit citirt er die schon von Ulrich angeführte Stelle aus Frank's großem klinischen Werke, und wahrscheinlich auf dieses Citat hin haben mehrere neuere Autoren, z. ,B. Gegenbaur Gegenbaur. Grundzüge der vergleichenden Anatomie. Leipzig 1859. S. 442., sich in demselben Sinne ausgesprochen. Es verlohnt sich daher wohl, die Stelle etwas genauer anzusehen. Sie lautet: Pars maxima nascentis magnaeque apud adultos extensionis caput cum vertebrali columna est. Sed quod hac in consimili calvariae vertebrarumque specu delitescit viscus, cerebrum, cerebellum spinalisque medulla Joann. Petr. Frank. De curandis hominum morbis Epitome. Mannh. 1792. Lib. II. p. 42.. Hier ist also nichts weiter gesagt, als daß die Schädelhöhle dem Wirbelkanal ähnlich sei.

Bertholds Arn. Ad. Berthold. Ueber Göthe's Anatomia comparata, am 28. August des Jahres 100 nach seiner Geburt vorgetragen. Göttingen 1849. S. 22. bezieht sich freilich auf eine andere Stelle desselben Frank, welche etwas mehr besagt. Hier heißt es: In ea semper opinione versatus sum quamcunque spinalis columnae vertebram pro parvo eodemque transverso cranio esse considerandam: quod ad instar majoris et in perpendiculum sequentibus vertebris superimpositae calvariae, determinatis corporis regionibus prospiciens, cerebellum amplectitur suum: et in quo cerebello spinali iidem prorsus morbi ac in ipso majori cerebro nascantur: quod scilicet extrema et ex omnibus maxime conspicua mobilissimaque vertebra, quam calvariam appellamus, custoditum, primatum a natura obtinuit. Quo propius caetera ab hac ipsa distant, eo nobilior est caudati cerebri indoles, eoque certior est, nota nimis infanticidis, momentanea violentiae lethalitas Jo. Pet. Frank. De vertebralis columnae in morbis dignitate oratio academica. Delectus opusculorum medicorum antehac in Germaniae diversis academiis editorum. Ticini 1792. Vol. XI. p. 8.. In diesen, bei Gelegenheit der Promotion seines Sohnes 1792 in Göttingen gesprochenen Worten ist allerdings der Schädel als der letzte und höchste Wirbel, jeder einzelne Wirbel als ein kleiner Schädel angesprochen, und insofern ist gewiß Frank das Verdienst nicht abzusprechen, auf den richtigen Weg hingewiesen zu haben. Indeß ist dies nicht die Wirbeltheorie, welche Göthe und Oken entwickelten, denn dabei handelt es sich nicht darum, daß der Schädel ein Wirbel oder jeder Wirbel ein kleiner Schädel sei, sondern vielmehr um die' Zusammensetzung des Schädels aus einer Reihe einzelner, erst durch genaue Vergleichung festzustellender Wirbel. Nebenbei berührt diese Stelle Göthe's Priorität nicht, da diese mindestens zwei Jahre älter ist, höchstens die von Oken, wie sich sofort ergeben wird.

Oken veröffentlichte sein berühmtes Programm Oken, lieber Bedeutung der SchLdelknochen. Jena 1807. S. 3. beim Antritt seiner Jenaer Professur 1807, unmittelbar nachdem er das »tiefgelehrte, weltumfassende Göttingen« verlassen hatte. Er gedenkt darin ebenso wenig Frank's, als Göthe's. Die Prioritätsfrage kam erst 11 Jahre später zur Verhandlung. 1818, nämlich besprach Bojanus die Deutung der Knochen im Kopfe und bemerkte bei dieser Gelegenheit: »Was gehört nun an dieser ganzen Darstellung dem allseitigen, überschwenglich sinnvollen Forscher Göthe – der, so viel ich weiß, zuerst die Wirbelbildung im Schädel erkannt? Was ist davon Okens, der sich vor allen darüber aussprach und die Ansicht in das wissenschaftliche Gebiet einführte? Was gebührt Meckel, Spix und anderen, die sie verschiedentlich weiter entwickelten und anwandten?« u. ,s. ,w. Bojanus in Okens Isis. 1818. S. 510. Darauf bemerkt Oken: »Diese Apostrophe ist sehr gelegen.« Er erzählt nun, wie er 1802 ein Büchlein über die Bedeutung der Sinne, worin er sie als eine Wiederholung niederer Organe darstellte, geschrieben habe, jedoch noch nicht zu dem, freilich nahe liegenden Schlusse gekommen sei, daß auch die Schädelknochen »Wiederholungen der Rumpfknochen« seien. Auch als er 1803 die Biologie drucken ließ, sei er noch nicht der Schädelknochen Meister gewesen, nur daß er, geleitet durch die Insektenkiefer, die Kiefer als Arme und Füße im Kopfe deutete. Im August 1806, wo er mit zwei Studenten eine Harzreise machte, passirte es ihm, daß er auf dem Wege nach dem Brocken auf den Ilsenstein kletterte; er rutschte nachher auf der Südseite den alten Weg zurück – »und sieh' da, es lag der schönste gebleichte Schädel einer Hirschkuh vor meinen Füßen. Aufgehoben, umgekehrt, angesehen, und es war geschehen. Es ist eine Wirbelsäule! fuhr es mir wie ein Blitz durch Mark und Bein – und seit dieser Zeit ist der Schädel eine Wirbelsäule.« Diese Erzählung war Geoffroy-St. Hilaire unbekannt, als er sechs Jahre später auf eine mündliche Mittheilung von Albers hin die Sache so darstellte, als sei Oken die Idee bei Gelegenheit einer Durchmusterung der Sammlung von Albers in Bremen aufgegangen. (Ann. des Sciences natur. 1824. III. 178.)

Gewiß ist es sehr sonderbar, daß Oken eben so zufällig am Ilsenstein einen gebleichten Hirschschädel auffand, der ihm das Geheimniß enthüllte, als daß Göthe auf dem Judenkirchhofe in Venedig dasselbe an einem Schafsschädel erlebte. Indeß ist das Eine so wahrscheinlich, als das Andere, und daß beide Männer so plötzlich die Wahrheit eines an sich schwierigen Satzes erkennen konnten, das beweist doch höchstens, daß sie beide diesem Satze nahe waren, daß sie ihn gewissermaßen gesucht hatten. Denn Göthe hatte ja nicht blos in seinen physiognomischen Studien, sondern auch in ernsthaften osteologischen Arbeiten sich genügend vorbereitet, rlnd es dauerte gar nicht lange, so kam er im Verfolg seiner Metamorphofen-Untersuchungen auch auf die Insecten. Sein Briefwechsel mit Schiller aus den Jahren 1796–1802 giebt darüber vielfach Zeugniß Briefwechsel zwischen Schiller und Göthe. I. S. 200, 206 u. 278. II. S. 391. Vgl. Göthe Sämmtliche Werke. Bd. 27 S. 58, 62 u. 117., und wenn Oken eher auf die Insecten, als auf die Säugethiere gerieth, während dies bei Göthe umgekehrt war, so sind doch selbst in diesem Punkte des letzteren Arbeiten um ein Lustrum älter. Der einzige scheinbar erhebliche Grund, der gegen ihn beigebracht werden konnte, war der, daß er seine Beobachtungen nicht sofort veröffentlichte.

Diesen Grund hat Oken lange nachher, als der große Dichter und Forscher schon 15 Jahre begraben lag, in nicht edler Weise zum Mittelpunkte seiner Vertheidigung und – seines Angriffes gemacht. Aufgereizt durch eine Bemerkung in der Naturphilosophie Hegels, worin dieser angab, Göthe habe Oken seine Abhandlung mitgetheilt und dieser die Sache als sein Eigenthum ausgekramt Hegel's Werke. Bd. VI. (Naturphilosophie, herausg. von Michelet 1842.) S. 567., vielleicht auch erregt durch die überaus mißgünstige Note Riemer's Riemer. Briefe von und an Göthe. Leipzig 1846. S. 300., erinnerte Oken daran, daß er sich schon 1836 darüber vertheidigt habe und daß auf der Naturforscher-Versammlung zu Jena sowohl Kieser, als Lichtenstein sich zu seinen Gunsten ausgesprochen hätten. Er erzählte ferner, daß er 1807 an Göthe, der damals Curator der Universität gewesen, ein Exemplar seines Programmes gesendet habe, worauf ihn dieser eingeladen, in den Osterferien 1808 zu ihm nach Weimar zu kommen, was er auch gethan habe. Erst in der Morphologie 1820 I. 2 S. 250 habe Göthe erwähnt, daß er seit dreißig Jahren derartige Beobachtungen fortgesetzt, und erst 1824 Morphologie II. 2 S. 122 sei er deutlicher herausgetreten und habe ihn des Plagiats beschuldigt. Da Göthe ihn jedoch »in dem hämischen Angriff nicht benannt, im Grunde auch nicht beschuldigt habe, so schwieg er, zumal da er in Jena wohnte.« Okens Isis. 1847. S. 557.

Gegenwärtig, wo uns der im Text citirte Brief an Herders Gattin vorliegt, ist die Prioritätsfrage zu Gunsten Göthe's wohl als erledigt anzusehen. Dagegen erfordert es allerdings die Gerechtigkeit, anzuerkennen, daß keine Thatsache bekannt ist, welche dafür zeugt, daß Oken den Gedanken zuerst von Göthe bekommen habe, während es unzweifelhaft feststeht, daß Oken der erste war, welcher den Gedanken in wissenschaftlicher Form, wenngleich, wie Göthe in seinem Unmuthe sagt Sämmtliche Werke. Bd. 35 S. 271., »tumultuarisch« öffentlich entwickelte. Denn es war freilich tumultarisch, als Oken in seinem Programme 1807 gleich im Eingänge ausrief: »Der ganze Mensch ist nur ein Wirbelbein.« Oken. Bedeutung der Schädelknochen. S. 5. Aber noch im Jahre 1806 hatte auch Göthe eine offenbar ganz falsche Vorstellung von dem Verhältniß der Pflanzen und Thier-Metamorphose zu einander. »Man kann,« sagt er bei Riemer A. a. O. S. 299., »die Phalangen (Wirbel im Rücken und sonst) als Knoten ansehen bei den Pflanzen. Wie die Pflanze von Knoten zu Knoten wächst, so die Organisation der Thiere. Die Knochen der Arme und Beine sind auch nichts anderes als größere Knoten oder Phalangen.« Eine solche Vergleichung widerstreitet der Entwickelungsgeschichte und hält sich ganz am Aeußerlichen, was Oken nirgend gethan hat.

Uebrigens muß der Gedanke, die Bildung des Schädels in Vergleichung zu der Zusammensetzung der Wirbelsäule zubringen, damals so sehr »in der Luft gelegen« haben, daß es nicht zu verwundern ist, wenn verschiedene Männer unabhängig von einander darauf geführt wurden Göthe sagt einmal sehr schön: »Und doch ziehen gewisse Gesinnungen und Gedanken schon in der Luft umher, so daß mehrere sie erfassen können. Immanet aër sicut anima communis quae omnibus praesto est et qua omnes communicant invicem. Quapropter multi sagaces spiritus ardentes subito ex aëre persentiscunt quod cogitat alter homo. Oder, um weniger mystisch zu reden, gewisse Vorstellungen werden reif durch eine Zeitreihe. Auch in verschiedenen Gärten fallen Früchte zu gleicher Zeit vom Baume.« (Sämmtliche Werke. Bd. 40 S. 460.). So erwähnt Ulrich, daß sein Lehrer Kielmeyer den ganzen Kopf als einen Wirbel ( caput integrum tanquam vertebram) betrachtet habe und er citirt aus einem Werke von Burdin, einem Schüler Duméril's, vom Jahre 1803 eine ganz ähnliche Stelle Burdin Cours d'études médicales. Paris 1803. p. 16: la tête est elle-même une espèce de vertèbre trèsdeveloppée.. Duméril hielt diese Vorstellung auch noch späterhin fest, denn am 15. u. 22. Febr. 1808 entwickelte er dieselbe in einer durchaus wissenschaftlichen Weise in einem Vortrage über die zwischen allen Knochen und Muskeln des Stammes der Thiere stattfindende Analogie Magasin encyclopédique par Millin. 1808. III. Reil und Autenrieth. Archiv für die Physiologie. 1809. IX. S. 467. Allein diese Betrachtung erregte, wie Geoffroy-St. Hilaire erzählt Annales des sciences naturelles. 1824. III. p. 173., den Spott der Akademiker, welche sich zuraunten, der Kopf werde nun der Denkwirbel ( vertèbre pensahte) sein. Cuvier, obwohl er am Schädel drei Knochengürtel unterschied Cuvier Regne animal. 1817. I. p. 73., wehrte sich lange gegen die neue Theorie, auf welche Blainville Bulletin des sciences. 1816. p. 108. 1817. p. 111. und Geoffroy-St. Hilaire Annales des sciences nat. 1824. III. p. 173. genauer eingingen. Jeder einzelne dieser Forscher hat sein besonderes Verdienst in der Sache« Vgl. Ch. Fr. Martins. Oeuvres d'histoire naturelle de Goethe, comprenant divers mémoires d'anatomie comparée, de botanique et de géologie. Paris et Génève. p. 437., und wenn noch gegenwärtig die Frage über die Zahl der Schädelwirbel nicht ganz entschieden ist, so wird man den ersten Urhebern der Theorie wohl keinen Vorwurf daraus machen können, wenn jeder von ihnen in dem einen oder anderen Punkte geirrt hat.


IX.
Albertus Magnus.

(Zu S. 62.)

Der Gedanke Pouchet's' Pouchet Histoire des Sciences natur, au moyen age ou Albert le Grand et son époque. Paris 1853. pag. 269 sq., daß Albert der Große die Wirbeltheorie schon gekannt habe, – ein Gedanke, den auch Lewes, freilich ohne das Original nachgesehen zu haben, zuläßt Lewes II. pag. 37. Note., – scheint mir ungegründet zu sein. Allerdings ist es richtig, daß der gelehrte Mönch der Wirbelsäule eine große Bedeutung beilegt, aber nirgends identificirt er sie mit dem Schädelgerüst, und namentlich die von Lewes so betonte Bezeichnung der »Kopfglieder« hat bei ihm eine ganz andere Bedeutung, als bei den heutigen Naturforschern. Ich stelle in Nachstehendem die betreffenden Stellen zusammen, welche sich sämmtlich in dem Thierbuch Beati Alberti Magni Ratisb. Episc. Ord. Praedic de animalibus Lib. XXVI. (Operum T. VI.) Lugd. 1651. finden:

Lib. 1 Tract 2 cap. 11. Et est digressio declarans formam et numerum et utilitatem spondilium colli et dorsi.

pag. 40. Est igitur dorsum via principii nervorum motiuorum, custodia nobilium, fundamentum mollium ossium, et inclinationis et erectionis et Status adiutorium.

Spina dorsi est scilicet medium lignum longum in naui cui omnia alia ligna affiguntur: omnia enim ossa corporis aliquo modo mediate vel immediate spinae dorsi affiguntur.

Lib. 1 Tract. 2 cap. 14. Et est digressio declarans de musculis in communi et de musculis capitis et membrorum quae sunt in capite et collo et gutture.

(p. 45.) Videmus moueri in facie septem membra universaliter ab omnibus et a quibusdam 8:. quae sunt frons, oculi, palpebrae superiores et maxilla in communitate labiorum et labia sine maxillis et duae inferiores narium extremitates, Mouetur autem et mandibula inferior forti motu.

(p. 96.) Lib. II. Tract. 1 cap. 1. Natura non facit distantia genera, nisi faciat aliquid medium inter ea: quia natura non transit ab extreme in extremum nisi per medium.

Est autem quoddam genus in quo plurima communicant et hoc est animal quadrupes generans animal sibi simile: et quaecunque in hoc genere conueniunt, ex membris quae proportionantur membris animalium habent caput et collum. – In bis membris quae sunt in dicto genere, proportionem habent ad capitis membra quae sunt in homine.

(p. 132.) Lib. III. Tract. 2 cap. 1. Spondilia quae sunt fundamenta omnium ossium – et initium eorum est a parte capitis, vbi caput et os capitis cum primo spondili colli coniunguntur. Os autem quod cranium siue testa capitis vocatur, non in omnibus animalibus secundum vnam et eandem est dispositionem.

Letzterer Absatz zeigt ganz deutlich, daß, so großes Gewicht auch Albert der Wirbelsäule beilegte, er sie doch ganz bestimmt von den Schädelknochen scheidet, und was die Kopfglieder anlangt, so wird wohl jede Analogie mit den Extremitäten verwischt sein, wenn man erfährt, daß der gelehrte Bischof die Stirn, die Augen, die Lippen, die Nasenflügel u. ,s. ,f. als membra capitis bezeichnet. Ueberdies will ich noch erwähnen, daß an einer anderen Stelle ( Lib. I. Tr. 1 cap. 2 p. 3) die Glieder, membra definirt und in ähnliche und unähnliche eingetheilt werden; zu letzteren rechnet Albert Hand, Fuß, Kopf, Rücken, Brust; zu ersteren Fleisch, Knochen, Mark, Nerven, Venen, Chorda, Knorpel. Dies ist also ganz etwas anderes, als wenn man heut zu Tage die Gesichtsknochen in ihrem Verhältnisse zum Schädel Kopfglieder nennt, indem man sie den Extremitäten in ihrem Verhältnisse zur Wirbelsäule vergleicht, – eine Vergleichung, welche Göthe in Beziehung auf den Unterkiefer wirklich anstellt Sämmtliche Werke. Bd. 36 S. 255., in Beziehung auf Oberkiefer und sonstige Gesichtsknochen aber ablehnt.

Wunderbar klar dagegen ist bei Albert der Satz, daß die Natur nichts ohne Uebergänge, ohne Vermittelung thue und daß die Säugethiere als die Mittler zwischen dem Menschen und der übrigen Thierwelt erscheinen.

Ich bemerke, daß Albert, ein geborner Graf von Bollstadt (in Schwaben), zuerst Provincial der – deutschen Dominikaner war und in Paris und Cöln lehrte, daß er 1260 Bischof in Regensburg wurde, aber nach drei Jahren sein Amt niederlegte und nach Cöln zurückkehrte, wo er 1289 starb. Er war der Lehrer von Thomas von Aquino und der berühmte Tritheim sagt von ihm in den Annales Hirsaugienses: magnus in magia naturali, major in philosophia, maximus in theologia. Daß jene Zeit einen Mann, der 21 Foliobände über alle Zweige des Wissens von menschlichen und göttlichen Dingen hinterließ, für einen Zauberer hielt, darf wohl nicht in Erstaunen setzen. Doctor Faust hat keine größeren Ansprüche auf solchen Ruhm gehabt.


X.
Kielmeyer und Cuvier.

(Zu S. 64.)

In der Geschichte der Wissenschaften stoßen wir zuweilen auf Gebiete, welche, so nahe sie unserer Zeit liegen, doch so schwierig aufzuklären sind, wie wenn es sich um die frühesten Perioden der Cultur handelte. Die Gelehrten pflegt man nach ihren Werken zu beurtheilen, die sie geschrieben und in den Druck gegeben haben, und bekanntlich wird mancher für einen Gelehrten gehalten, weil viel von ihm Geschriebenes gedruckt worden ist. Aber selbst in unserer schreibefertigen Zeit giebt es immer noch Gelehrte, welche keine Handbücher, ja sogar, welche keine Monographien schreiben, Männer, deren Schüchternheit oder Bescheidenheit oder Zurückhaltung höchstens bei Gelegenheit einer öffentlichen Feierlichkeit oder eines akademischen Ereignisses gebrochen wird, und welche doch, gleich den Weisen des Alterthums, einen bestimmenden Einfluß auf die Anschauungen ihrer Zeit ausüben. Zuweilen sind gerade sie die Lehrer, deren Einfluß so allgemein ist, daß keiner der Jüngeren sich demselben zu entziehen vermag. Die Literaturgeschichte aber hat hier jedesmal eine Lücke, denn erst die Schriften der Schüler entwickeln die Gedanken des Meisters, der gleichsam aus der Verborgenheit wirkt. Nur die Briefe und Aufzeichnungen der Zeitgenossen lasten erkennen, wes Geistes der Mann war, und die Geschichte der Wissenschaft, welche die Entwicklung des menschlichen Geistes in der Gesetzmäßigkeit und Continuität seines Fortschreitens zu zeigen hat, muß die Lücken ergänzen, welche die Literatur-Geschichte nicht zu füllen vermag.

Solch' ein Lehrer war Carl Friedrich Kielmeyer, und der Jünger, dessen unsterbliche Werke den Ruhm dieses Meisters preisen, war Georges Cuvier. Göthe hat sich über beide und ihr Verhältniß zu einander wiederholt ausgesprochen. Schon in einem Briefe an Herder von 1793 oder 1794 spricht er Aus Herder's Nachlaß. Bd. I. S. 145. von Kielmeyer's Rede über die Verhältnisse der organischen Kräfte unter einander in der Reihe der verschiedenen Organisationen, die Gesetze und Folgen dieser Verhältnisse. (Gedruckt Tübingen 1793.) Im Jahre 1797 sah er ihn selbst in Tübingen. Göthe's Tagebuch enthält folgende Notiz: »Früh mit Professor Kielmeyer, der mich besuchte, verschiedenes über Anatomie und Physiologie organischer Naturen durchgesprochen. Sein Programm zum Behuf seiner Vorlesungen wird ehestens gedruckt werden. Er trug mir seine Gedanken vor, wie er die Gesetze der organischen Natur an allgemeine physische Gesetze anzuknüpfen geneigt sey, z. ,B. der Polarität, der wechselseitigen Stimmung und Correlation der Extreme, der Ausdehnungskraft expansibler Flüssigkeiten. Er zeigte mir meisterhafte naturhistorische und anatomische Zeichnungen, die nur des leichteren Verständnisses halber in Briefe eingezeichnet waren, von George Cuvier, von Mümpelgard, der gegenwärtig Professor der vergleichenden Anatomie am National-Institut in Paris ist. Wir sprachen verschiedenes über seine Studien, Lebensweise und Arbeiten. Er scheint durch seine Gemüthsart und seine Lage nicht der völligen Freiheit zu genießen, die einem Manne von seinen Talenten zu wünschen wäre. – Ueber die Idee, daß die höheren organischen Naturen in ihrer Entwicklung einige Stufen vorwärts machen, auf denen die anderen hinter ihnen zurückbleiben. Ueber die wichtige Betrachtung der Häutung, der Anastomosen, des Systems der blinden Därme, der simultanen und successiven Entwicklung.« Sämmtliche Werke. Bd. 26 S. 97.

Wie viele Gedanken sind hier angeregt, welche Göthe's schöpferischer Geist später entwickelte! und wie sonderbar, daß es Göthe war, der sie aufnahm, und nicht Schiller, der doch viel leichter dazu hätte gelangen können! Denn Kielmeyer, obwohl sechs Jahre jünger als Schiller, war doch in demselben Jahre mit ihm, 1773, in die Carls-Akademie, die damals noch auf der Solitude war, ausgenommen; auch er war Mediciner geworden, und hatte dieselben Lehrer gehabt, wie Schiller, aber er blieb der einmal gewählten Wissenschaft treu und 1806 widmete ihm, »dem ersten Physiologen Deutschlands«, Alexander von Humboldt seine Beobachtungen aus der Zoologie und vergleichenden Anatomie A. Moll. Die medicinische Facultät der Carlsakademie in Stuttgart. (Aus dem Würtemb. Medic. Correspondenzbl.) Stuttg. 1859. S. 17. Vergl. R. Wagner in Sömmerring's Leben S. 164. und G. Jäger in den Acta acad. Caes. Leop. Carol. Vol. XXI. p. 11.. Noch zur Zeit, als ich studirte, wurden Kielmeyer's Lehrsätze, obwohl sie fast nur traditionell von Mund zu Mund fortgepflanzt waren, in den Vorlösungen über Physiologie angeführt; so tief und nachhaltig war sein Einfluß.

»Georg Leopold Cuvier, geboren 1769 in dem damals noch würtembergischen Mömpelgard; er gewinnt hiebei genauere Kenntniß der deutschen Sprache und Literatur; seine entschiedene Neigung zur Naturgeschichte giebt ihm ein Verhältniß zu dem trefflichen Kielmeyer, welches auch nachher aus der Ferne fortgesetzt wird. Wir erinnern uns im Jahre 1797 frühere Briefe Cuvier's an den genannten Naturforscher gesehen zu haben, merkwürdig durch die in den Text charakteristisch und meisterhaft eingezeichneten Anatomien von durchforschten niederen Organisationen.«

So schrieb Göthe Sämmtliche Werke. Bd. 40. S. 496. im September 1830. Ich füge zur weiteren Erläuterung bei, daß Cuvier, 14 Jahre alt, 1784 in die Carlsakademie aufgenommen wurde und daselbst bis 1788 blieb, also noch zum Theil Kielmeyer's Mitschüler war. Auch hat er nicht unmittelbar bei diesem Vorlesungen gehört, was jedoch nicht hinderte, daß er selbst erklärte: er werde Kielmeyer immer als seinen Lehrer betrachten und sein Genie bewundern wie kein anderer. In der Vorrede zu seiner vergleichenden Anatomie sagt er: Kielmeyer habe ihm die Daten an die Hand gegeben, von welchen er ausgegangen sei Moll a. a. O. S. 18. 38.. Und so spricht sich auch Johannes Müller aus: »Die Deutschen dürfen es sich stolz sagen, daß Kielmeyer es war, der die vergleichende Anatomie von dieser ihrer innerlichen Seite zuerst erkannte. Er, der sie ins Leben gerufen, hat ihr auch diese geistige Bestimmung mitgegeben. Darauf hat Cuvier die Organe durch die Thierreihe in ihrer leiblichen Metamorphose verfolgt« Müller. Zur vergleichenden Physiologie des'Gesichtssinnes. Leipzig 1826. S: 29. Vergl. meine Gedächtnißrede auf Joh. Müller. S. 6..


Druck von Trowitzsch und Sohn
Berlin.

 


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