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Göthe als Naturforscher.


Am 14. Dccember 1779 herrschte in der Carlsschule zu Stuttgart die heiterste Feststimmung. Die großen Jahresprüfungen waren beendet, und die Feier des Stiftungstages sollte zugleich denjenigen Eleven, welche die besten Beweise ihres Fleißes geliefert hatten, die öffentlichen Ehren bringen. Denn Herzog Carl wußte es wohl, daß in den jugendlichen Herzen das edle Feuer des Ehrgeizes neue Stärke gewann, indem er die Preisvertheilung unter seinem eigenen Vorsitz, bei gefüllten Gallerten, wie eine wichtige Staatshandlung vor sich gehen ließ. Wenn dann aus der militärisch geschlossenen Linie der Schüler einer nach dem andern hervorgerufen ward, von dem Herzog selbst den Preis in Empfang nehmen und zum Zeichen des Dankes den Rock des Monarchen küssen durfte, so klopfte wohl das Herz rascher, und die Eltern und Freunde empfanden die Ehre, als ob sie auch ihnen widerfuhr.

Diesmal war die Reihe an Friedrich Schiller. Welche Empfindungen mochten die Brust des freiheitsdürstenden Jünglings erfüllen, als er vortrat, eingezwängt in den steifen Paradeanzug, mit Zopf und Papilloten, den Degen an der Seite, den dreieckigen Hut in der Hand! Kaum waren vier Wochen vergangen, seit er – am 10. November – sein einundzwanzigstes Lebensjahr begonnen, und doch wie leidenschaftlich war schon sein Sehnen, eine Anstalt verlassen zu dürfen, welche, wie ein Gefängniß, ihn fast sechs Jahre seines Lebens gefesselt gesehen hatte. Der Wunsch seiner Eltern, ihn zum Theologen zu machen, war an dem mächtigeren Willen des Herzogs gescheitert, der ihn zum Juristen bestimmte, und als es ihm endlich gelungen war, der Juristerei zu entfliehen, hatte er sich selbst die Medicin erwählt. Leuchtete ihm Carl Hoffmeister Schiller's Leben, Geistesentwickelung und Werke. Stuttg. 1858. I. S. 52. doch des großen Albrecht v. Haller Vorbild, der nicht nur Mediciner und Staatsmann, sondern auch Dichter war. Rüstig hatte er sich ans Werk gemacht. Schon im Jahre 1778 hatte er den ersten Preis in der Anatomie C. Hoffmeister Schiller's Leben, ergänzt und herausgegeben von Heinr. Viehoff. Stuttg. 1846. I. S. 53. erlangt, aber schon ein Jahr früher hatte er angefangen, die »Räuber« zu dichten, jenes wunderbare Stück, von dem man nicht mit Unrecht gesagt hat, daß es, in Gutem und in Bösem, nirgends den jungen Mediciner verleugne. In so getheilten Studien war die Zeit gekommen, wo er nach dem gewöhnlichen Gang der Dinge die Akademie hätte verlassen sollen. Er hatte seine Preisschrift eingereicht, welche den stolzen Titel führte: Philosophie der Physiologie, aber seine drei Richter hatten sie einstimmig verworfen. Palleske Schiller's Leben und Werke. Berlin 1858. Bd. I. S. 103. Man hatte dem Verfasser Fleiß und Talent zugestanden; der eine seiner Richter hatte erklärt, »sein alles durchsuchender Geist verspreche nach geendeten jugendlichen Gährungen einen wirklich unternehmenden und nützlichen Gelehrten«, ja der Herzog selbst hatte in seiner Ordre vom 13. November erklärt, er werde »gewiß ein recht gutes Subjectum werden.« Heinr. Wagner Geschichte der Hohen Carlsschule. Würzburg 1856. S. 634. Aber trotz aller dieser Lobsprüche ward er doch auf ein Jahr zurückgesetzt. Das war sein letztes Geburtstagsgeschenk gewesen: noch ein ganzes, langes Jahr in den Mauern einer Anstalt, die ihm so Vieles bot, aber noch weit mehr, ja das Einzige, wonach er sich sehnte, Muße und Freiheit, raubte. Die Räuber gewannen mehr bei dem Jahr, als die Heilkunde, und nicht Alle urtheilten wie der Oberchirurg Klein, daß er das Zeug zu einem Gelehrten habe. Scharffenstein wenigstens, sein damals so geliebter Mitschüler, sagte später von ihm: »Wäre Schiller kein großer Dichter geworden, so war für ihn keine Alternative, als ein großer Mensch im aktiven, öffentlichen Leben zu werden, aber leicht hätte die Festung sein unglückliches, doch gewiß ehrenvolles Loos werden können.«

Und noch waren ja die »jugendlichen Gährungen« nicht beendet, als der blasse, kränkliche, so tief erschütterte junge Mann an jenem December-Tag zu dem Herzog trat, um seine Preise zu empfangen. Ihrer drei waren ihm zugefallen, in der Arzneimittellehre, in der äußern und innern Heilkunde je einer. Aber konnte er heute an Arzneimittel, an Chirurgie und Klinik denken, wo neben dem Herzog Carl zwei fremde Gäste standen, deren Erscheinen genügen mußte, die gesammte Jugend der Akademie in Aufruhr zu bringen? War da nicht Carl August von Weimar und mit ihm Wolfgang Göthe? Göthe, dessen Werke längst von den Eleven verschlungen waren? »Nicht gering«, sagt Petersen, ein anderer Mitschüler, »war das Aufsehen, das der schöngestaltete, mit genialischer Kraft auftretende und um sich blickende Mann in der Akademie erregte.« Hoffmeister – Viehoff. I. S. 53. Aber es war nicht blos die schöne Gestalt, nicht blos das olympische Haupt, es war der Dichter des Götz, des Werther, des Clavigo, es war der jugendliche Sieger, der mit schaffender Gewalt in Sturm und Drang eine neue Aera geistigen Lebens aus ureigner Kraft begründet hatte. Da stand er, der Liebling der Götter, kaum dreißig Jahre alt, er, auf den die Augen der Nation gerichtet waren, den die Besten aus allen Stämmen Freund zu nennen sich zur Ehre rechneten, den der edelste Fürst in seinen Rath, an seinen Busen gerufen hatte. Wohl mochte die Gewalt der äußeren Erscheinung Alle fesseln an einem Manne, von dem Hufeland erzählte: »Noch nie erblickte man eine solche Vereinigung physischer und geistiger Vollkommenheit in einem Manne, als damals (1776) an Göthe« Carus Göthe. S. 48., von dem Lavater nach ihrer ersten Begegnung schrieb: »Unaussprechlich süßer, unbeschreiblicher Auftritt des Schauens « Geßner Leben Lavaters. II. S. 127., ja von dem er zu seinem Freunde Zimmermann sagte, er sei der furchtbarste und der liebenswürdigste Mensch Aus Herder's Nachlaß. Herausgegeben von Düntzer und F. G. v. Herder. Frankf. a. M. 1857. II. S. 343. Vergl. Herder's Urtheil. Ebend. III. S. 403. »Göthe liebe ich wie meine Seele« und Heinse's Sämmtl. Werke, herausgeg. von H. Laube. Leipzig 1838. Bd. VIII. S. 118 u. 120. »Ich kenne keinen Menschen aus der ganzen gelehrten Geschichte, der in solcher Jugend so rund und voll von eigenem Genie gewesen wäre wie er. Da ist kein Widerstand; er reißt Alles mit sich fort.«. Das begeisterte Auge der Jugend aber schaut ebenso viel, wenn nicht noch mehr, als der prüfende Blick des Physiognomikers, und wie es sich erhob zur bewundernden Betrachtung jener mächtigen und doch so schönen Stirn, hinter deren voller Wölbung schon damals die Entwürfe des Faust, des Egmont, des Wilhelm Meister, der Iphigenie sich ordneten, da mochte es wohl den Glanz ruhiger Hoheit ganz aufnehmen, der von da beseligend auf Alles ausstrahlte.

So standen die Zwei einander gegenüber, wie Menschen, die nie zu einander gehören könnten, und da mochte wohl keiner sein unter den vielen Zuschauenden, dem eine Ahnung durch den Kopf flog, dieser gefeierte Dichter werde von der Nachwelt der Realist, dieser arme Mediciner der Idealist genannt werden, und beide werden dereinst im Leben mit und durch einander, im Ehrentempel der Nation neben einander ihren Platz einnehmen. Sie schieden, ohne sich gesprochen zu haben. Eine Erregung war die Begegnung nur für den, der zurückblieb.

Gewiß war sie eine anhaltende, denn wenige Wochen später wurde Göthe's Clavigo zur Aufführung gebracht und Schiller selbst versuchte sich in der Titelrolle. Mußte sein Blut nicht in Wallung gerathen? In dem Geheimniß sorglich bewachter Nächte wuchs Akt um Akt jenes flammenreiche Werk heran, das er so lange vorbereitet und das bald nachher bei seinem ersten Erscheinen alle Leidenschaften des Volkes entzündete. Aber noch lag eine schwere Zeit des Zwanges dazwischen: das Fachstudium mußte vollendet werden. Es war wie eine Mauer um den Dichterjüngling herumgebaut. Ja, in der That, er empfand es wie eine Mauer, und überall brach er Löcher hinein, um der freien Luft Zutritt, um dem frischen Gewächs von draußen Eingang zu verschaffen. Man setzte ihn an das Krankenbett, aber es war ein Hypochonder, den man seiner Sorgfalt übergab, und nichts hinderte ihn, seine Tagesberichte mit Betrachtungen über das Geistesleben des »unheimreichen Mannes« zu füllen. Er grübelte über dem Problem von dem genauen Bande zwischen Körper und Seele, er stellte sich die Frage, wie der Geist sich aus der Sinnlichkeit entwickele und, seinen Ausgang verleugnend, zur Sittlichkeit fortschreite, und als er endlich dahin kam, seine Dissertation zu schreiben, da war die Medicin bei ihm schon so im Sinken, daß sich in seiner Schrift physiologisches Wissen, philosophische Speculation und dichterisches Anschauen in völlig untrennbarer Innigkeit durchdrangen. Der Humor, der darin liegt, daß jemand auf eine solche Dissertation hin, auf eine Dissertation, in der das Leben Moor's als eine englische Tragödie mit dem Anscheine des höchsten Ernstes und der größten Wahrhaftigkeit citirt wird Außer diesem Citat finden sich nur noch Ferguson's Moralphilosophie, Schlözer's Universal-Historie und Muzell's medicinische und chirurgische Wahrnehmungen aufgeführt., zum Regimentsmedicus gemacht werden konnte, wird nur durch den übertroffen, daß Schiller in seiner anonymen Selbstkritik der Räuber von dem Verfasser der letzteren aussagt: »er soll ebenso starke Dosen in Emeticis als in Aestheticis geben und ich möchte ihm lieber zehn Pferde, als meine Frau zur Cur übergeben.« Die Brodwissenschaft konnte dem Regimentsmedicus nichts bieten. Heimlich entfloh er dem wüsten Leben der Garnison. Aber schwere Tage kamen über ihn, und vier Jahre nachher, 1784, als alle Zeichen sich trügerisch erwiesen hatten, da stieg wieder der Gedanke in dem Dichter von Kabale und Liebe, von Fiesco auf, nach Heidelberg zu gehen und das Versäumte in seinem Fache nachzuholen. »Lange schon«, so schreibt er, »zog mich mein eigenes Herz zur Medicin zurück« Hoffmeister. I. S. 232.. Er täuschte sich; es war nicht sein Herz, und welches Glück für ihn, daß auch dieser Wunsch ihm fehlschlug. Er war nicht dazu angelegt, ein »großes Subjectum« in den Naturwissenschaften zu werden, und als endlich nach langen Irrfahrten auch ihm die segensreiche Hand Carl August's einen Freihafen in Jena eröffnete, da ward der ernsteste Gegenstand seines Forschens die Philosophie. –

Ob Göthe jemals an seine erste Begegnung mit Schiller erinnert worden ist, erhellt aus keiner uns erhaltenen Notiz. Für ihn mochte wohl der Eindruck ein sehr vorübergehender gewesen sein. Denn er stand an einem großen Wendepunkte seiner eigenen inneren Geschichte. Die Reise, welche er eben mit seinem Herzoge durch einen Theil von Deutschland und der Schweiz unternommen hatte, war für ihn Epoche machend. Nicht in dem Sinne, wie der große Haufe sie nahm. Denn Wieland schreibt darüber an Merck Briefe an Joh. Heinr. Merck. Herausgegeben von Wagner. Darmst. 1835. S. 179. vgl. das Urtheil der Frau von La Roche. S. 187.: »Das Publikum ist dieser an sich selbst so simpeln und natürlichen Excursion halber unglaublich intriguirt und das Odium Vatinianum fast aller hiesigen Menschen gegen unsern Mann, der im Grunde doch keiner Seele Leides gethan hat, ist, seitdem er Geh. Rath heißt, auf eine Höhe gestiegen, die nahe an die stille Wuth grenzt.« Göthe nahm bekanntlich seine Standeserhöhung sehr gleichgültig auf, aber nicht so die ernsten Pflichten, welche ihm damit zufielen. Die »so simple und natürliche Excursion« bedeutete für ihn so viel als eine Abschiedsreise aus dem Lande seiner unruhigen und ziellosen Jugend. Mit zarter Hand löste er die alten Bande. Noch einmal – zum allerletztenmal hatte er in der stillen Laube zu Sesenheim gesessen, Hand in Hand mit Friederike; das Herz, das ihm bis in den Tod treu blieb, hatte ihm verziehen. Er hatte Lili wiedergesehen als glückliche Mutter im Schooße ihrer Familie. Zum zweiten Male hatte er die Alpen durchwandert, aber nicht mehr als der übermüthige Junker Berlichingen, wie ihn Herders Braut genannt hatte Aus Herder's Nachlaß. III. S. 485 u. 489.. Das Alles war nun abgethan, und als sie endlich im Januar 1780 wieder in Weimar eintrafen, da fand ihn Wieland gänzlich verändert Briefe an Merck. S. 208. multum mutatus ab illo., ja er nahm in Göthe's öffentlichem Benehmen eine σωφροσύνην (weise Mäßigung) wahr, welche die Gemüther nach und nach beruhigte Ebendaselbst S. 235.. Die Geschäfte treten in den Vordergrund; der Herr Kammerpräsident geht ernsthafter als zuvor an Bergbau, Forstwirthschaft und andere Verwaltungszweige, welche den Wohlstand des Bürgers mehren und zugleich den Säckel des Staates füllen, aber er findet, daß man dazu Mineralogie, Botanik und viele andere Dinge verstehen müsse. Seine Briefe zeigen ihn begeistert von der Lektüre von Buffons Epochen der Natur Ebend. S. 229 (aus dem Jahre 1780). Man vergl. über diese Periode die Darstellung von Oscar Schmidt (Göthe's Verhältniß zu den organischen Naturwissenschaften. Berl. 1853. S. 4, sowie Göthe selbst (Sämmtl. Werke. 1840. Bd. 36 S. 68.). Er tritt der Natur näher und näher. Aber noch ist die Natur für ihn eine Art von Persönlichkeit. »Gedacht hat sie und sinnt beständig«, so sagt er in seinen ältesten Aphorismen über die Natur aus dem Jahre 1780 Göthe's sämmtl. Werke. 1840. Bd. 40 S. 385 folg. Carus (Göthe S. 175) erwähnt, daß ihm, wie Alex. von Humboldt, dieses Document als eines der wichtigsten erscheine., »aber nicht als ein Mensch, sondern als Natur. Sie hat sich einen eigenen allumfassenden Sinn vorbehalten, den ihr niemand abmerken kann.« Sonderbare Natur! Aber Göthe läßt uns tiefer in ihr Wesen hineinblicken. »Sie hat,« sagt er, »keine Sprache noch Rede, aber sie schafft Zungen und Herzen, durch die sie fühlt und spricht. Ihre Krone ist die Liebe. Nur durch sie kommt man ihr nahe. Sie macht Klüfte zwischen allen Wesen, und alles will sich verschlingen. Sie hat Alles isolirt, um alles zusammenzuziehen. Durch ein Paar Züge aus dem Becher der Liebe hält sie für ein Leben voll Mühe schadlos.«

O, gewiß war es eine süße Art der Naturforschung, wo Charlotte von Stein den Becher der Liebe kredenzte! Manches Jahr ging dahin in Hoffen und Sehnen, in Bringen und Empfangen, in beglücktem Genuß und düsterer Verzweiflung. Manches Jahr lang wanderten an sie alle Gedanken, richteten sich an sie alle Empfindungen. Wie von der Schweizerreise, so sammelten sich bei ihr die Briefe von der italienischen Reise. Aber es kam die Zeit, wo die Natur nicht mehr dachte und nicht mehr sann, wo sie nicht mehr durch das Herz sprach, die Zeit der Beobachtung und Forschung, der Zergliederung und Analyse. In Italien war es, wo sich diese Metamorphose vollendete, und als er heimkehrte, stolzer fast auf die Entdeckung der Urpflanze und der daran sich knüpfenden Gesetze der Morphologie überhaupt, als auf die Vollendung von Egmont und Iphigenie, da wandte sich sein frohlockender Gesang bald nicht mehr an die stolze Freifrau, sondern an das arme Mädchen, das seinem Hause endlich die Ruhe gab.

Jetzt spricht die Natur nicht durch den Mund der Liebe, sondern die Liebe erschließt sich selbst als Höchstes aus dem Entwickelungsgange, aus der Metamorphosenreihe der Natur. Der Geliebte wird der Lehrmeister der Geliebten.

Wende nun, o Geliebte, den Blick zum bunten Gewimmel,
      Das verwirrend nicht mehr sich vor dem Geiste bewegt.
Jede Pflanze verkündet dir nun die ew'gen Gesetze,
      Jede Blume, sie spricht lauter und lauter mit dir.
Wer entzifferst du hier der Göttin heilige Lettern,
      Ueberall siehst du sie dann, auch in verändertem Zug.
Kriechend zaudre die Raupe, der Schmetterling eile geschäftig,
      Bildsam ändre der Mensch selbst die bestimmte Gestalt!
O, gedenke dann auch, wie aus dem Keim der Bekanntschaft
      Nach und nach in uns holde Gewohnheit entsproß,
Freundschaft sich mit Macht in unserm Innern enthüllte,
      Und wie Amor zuletzt Blüthen und Früchte erzeugt.

Siehe da, Göthe mit allen Elementen seiner Stärke und – seiner Schwäche! Aus dem Keime der Bekanntschaft erwächst die Raupe der Gewohnheit, und aus der Puppe der Freundschaft bricht urplötzlich der schöne Schmetterling Amor hervor. Alles vereinigt sich in dem Bilde, Natur und Geist, Kunst und Alterthum, aber – es ist nur ein Bild. In der Vorstellung des Dichters vergeistigt sich die Natur; ihre Gesetze schaut der entzückte Seher wieder in dem innerlichsten Geschehen des geistigen Lebens; die materielle Substanz wird zum Symbol der Empfindung. Das ist das unveräußerliche Recht des Künstlers. Aber wird nicht auch der Naturforscher berührt werden von der Gluth des Dichters? wird das empfindende Subject in der Wärme seiner wechselnden Empfindung auch das unveräußerliche Recht des empfundenen Objectes anerkennen? wird der Schmetterling nicht davon flattern, gereizt von der Süßigkeit auch anderer Blumen, die auch für ihn Nektar kredenzen? O, wir wissen es Alle, der Dichter war und blieb – ein Dichter; er sog Nektar an mancher Blume, und er hat keine andere Rechtfertigung, als daß es eben seiner Natur gemäß war.

Diesen Gedanken spricht er selbst an einer Stelle aus, wo man es ihm nachfühlt, welche bitteren Fragen der Erinnerung er damit beantwortet. Da er als alter Mann das Gedächtniß seiner rosigen Jugend in sich erneuerte, einer Jugend, die nach so langer Zeit als Wahrheit und Dichtung vor ihm auftauchte, da trat, inmitten der wonnigen Bilder von Sesenheim, die trübe Erinnerung Es war noch in den schönen Tagen von Sesenheim selbst, wo er einmal an Salzmann schrieb: »Die Kleine fährt fort traurig krank zu sein und das giebt dem Ganzen ein schiefes Ansehen. Nicht gerechnet conscia mens und leider nicht recti, die mit mir herumgeht.« ( Stöber. Der Actuar Salzmann. S. 44.) des verlassenen Mädchens an das Herz des Greises. Sein Griffel stockt, und bevor er fortfährt, das süße Spiel ihrer Herzen zu schildern, schiebt er eine längere Betrachtung ein, scheinbar an einen ganz anderen Gegenstand geknüpft, in der er sagt: »Der Mensch mag seine höhere Bestimmung auf Erden oder im Himmel, in der Gegenwart oder in der Zukunft suchen, so bleibt er deshalb doch innerlich einem ewigen Schwanken, von außen einer immer störenden Einwirkung ausgesetzt, bis er ein für allemal den Entschluß faßt, zu erklären, das rechte sey das, was ihm gemäß istSämmtliche Werke. Bd. 22 S. 18.

Wohl ist das das Rechte, aber sowohl die sittliche Welt, als auch die Natur fordert billig, daß jeder Einzelne auch das Recht des Andern anerkenne, daß das Subject auch das Object behandele, wie es demselben gemäß ist, und daß es in der Wirklichkeit anders sei, als in der Dichtung und auch in der religiösen Dichtung, wo der mystische Chor singen darf:

Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichniß.

Der Gedanke von der fortschreitenden Metamorphose eines Unvollkommenen zu einem Vollkommeneren hat gleiche Gültigkeit für die sinnliche und für die außersinnliche Erscheinung, aber er verliert seinen objectiven Werth, er wird rein symbolisch, wenn wir ihn willkürlich, ohne genaueste Ergründung des Einzelnen, von einem zum andern übertragen.

Eines Tages war Eckermann allein mit Göthe. Der 79jährige Dichter erzählte ihm, daß er nach Beendigung der »Wanderjahre« sich wieder zur Botanik wenden werde. »Nur fürchte ich,« sagte er, »daß es mich wieder ins Weite führt, und daß es zuletzt abermals ein Alp wird. Große Geheimnisse liegen noch verborgen, manches weiß ich, von vielem habe ich eine Ahnung. Etwas will ich Ihnen vertrauen und mich wunderlich ausdrücken. Die Pflanze geht von Knoten zu Knoten, und schließt zuletzt ab mit der Blüthe und dem Samen. In der Thierwelt ist es nicht anders. Die Raupe, der Bandwurm geht von Knoten zu Knoten und bildet zuletzt einen Kopf; bei den höher stehenden Thieren und Menschen sind es die Wirbelknochen, die sich anfügen und anfügen, und mit dem Kopf abschließen, in welchem sich die Kräfte concentriren. Was so bei Einzelnen geschieht, geschieht auch bei ganzen Corporationen. Die Bienen, auch eine Reihe von Einzelheiten, die sich aneinander schließen, bringen als Gesammtheit etwas hervor, das auch den Schluß macht, und als Kopf des Ganzen anzusehen ist, die Bienen-Königin. Wie dieses geschieht, ist geheimnißvoll, schwer auszusprechen, aber ich könnte sagen, daß ich darüber meine Gedanken habe. So bringt ein Volk seine Helden hervor, die, gleich Halbgöttern, zu Schutz und Heil an der Spitze stehen Eckermann's Gespräche mit Göthe. Leipz. 1837. II. S. 65. Vgl. Riemer, Briefe an und von Göthe. 1846. S. 298.

Es war nicht mehr Amor, der die lange Reihe der Metamorphosen abschloß; der ergraute Dichter begnügte sich mit dem vielleicht ebenso heißblütigen, aber doch mit kühlerer Verehrung anzuschauenden Geschlechte der »Halbgöttern gleichen« Helden. Sie stehen an der Spitze des Volkes, wie der Kopf des Bandwurms die lange Reihe der Glieder abschließt. Ist das nicht ein Gleichniß, so kühn wie das des Vaters Homeros Odyss. lib. XX. 25-28., wenn er die unruhig umhergewälzten Gedanken des Odysseus vor der Freiertödtung mit einer Bratwurst vergleicht, die im Feuer hin und her geschoben wird? Der Kopf des Bandwurms ist eher da, als die Glieder, und er läßt sich nicht einmal mit dem Kopfe des Menschen vergleichen, viel weniger mit dem Haupte eines Volkes. Auch hat der Kopf eines Thieres nichts gemein mit der Blüthe und dem Samen der Pflanze.

Sehr richtig bemerkt daher Eckermann ein anderes Mal, wo er eine Zusammenkunft Göthe's mit d'Alton schildert: »Göthe, der in seinen Bestrebungen, die Natur zu ergründen, gern das All umfassen möchte, steht gleichwohl gegen jeden einzelnen Naturforscher von Bedeutung, der ein ganzes Leben einer speciellen Richtung widmet, im Nachtheil. Bei diesem findet sich die Beherrschung eines Reiches unendlichen Details, während Göthe mehr in der Anschauung allgemeiner großer Gesetze lebt« Eckermann's Gespräche. Magdeb. 1848. III. S. 83.. Wir wissen, daß Göthe selbst diesen Nachtheil fühlte, und daß er dankbar jede Anregung aufnahm, welche ihm von bedeutenden Naturforschern zukam.

Selbst erfinden ist schön; doch glücklich von Andren Gefundnes
Fröhlich erkannt und geschätzt, nennst du das weniger dein?

(Vier Jahreszeiten. Herbst. 46.)

Wie schön ist es, was er von Alexander von Humboldt sagt: »Wohin man rührt, er ist überall zu Hause und überschüttet uns mit geistigen Schätzen. Er gleicht einem Brunnen mit vielen Röhren, wo man überall nur Gefäße unterzuhalten braucht und wo es uns immer erquicklich und unerschöpflich entgegenströmt« Ebendas. I. S. 260.. Aber wie viel Quellen strömten auch diesem Brunnen zu! Humboldt hatte das seltene Glück erlebt, gerade in jene Zeit gesetzt zu sein, wo das große Gebiet der Natur fast an allen Orten angegriffen und erobert wurde; Göthe hatte die Hälfte seines Lebens überschritten, als die Wissenschaft von der Natur eine Wissenschaft wurde, und manche Kenntniß, die nachher auf der Straße zu finden war, hatte er als Autodidakt mühsam erworben. Er war mit unter den Angreifern und Eroberern, aber als nun der neue Staat in geregelte Verwaltung kam, da wuchsen ihm die Provincialbehörden über den Kopf. Fünfzig Jahre hatte er sich mit Mineralogie und Geologie beschäftigt, und das Zeugniß eines Mannes, wie Carl von Raumer Carl von Raumer Kreuzzüge. Stuttg. 1840. I. S. 70 (Göthe als Naturforscher)., genügt, daß er es ernsthaft damit gemeint hatte, und doch wußte er sich zuletzt so wenig in die fortschreitende Kenntniß der Erdbildung zu finden, daß er, ganz gegen seine sonstige Milde, in die unwilligen Worte ausbrach: »die Sache mag sein, wie sie will, so muß geschrieben stehen: daß ich diese vermaledeite Polterkammer der neuen Weltschöpfung verfluche« Sämmtliche Werke. Bd. 40. S. 296. Vergl. Eckermann. I. S. 336.. In der Meteorologie, welche einen Mann besonders anziehen mußte, der so viel auf Reisen war, der die Frische des jungen Morgens so gern im Freien genoß, der die künstlerische Betrachtung der Landschaft und des Himmels so vorwiegend auf wirkliche Gesetze des Naturwaltens begründete, – in der Meteorologie erlebte er den großen Umschwung der Wissenschaft nicht mehr, der auch seine Hypothesen mit zu Boden riß. In der Optik, dieser liebsten Gefährtin seiner Mußestunden, gelang es ihm nie, mit der »Gilde« in ein Einverständniß zu kommen, obwohl er unzählige Versuche und die wundervollsten Beobachtungen über die physiologische Seite des Sehens gemacht hatte; es gelang ihm nicht, weil die Behandlung der Optik seit Newton mathematisch geworden war Ebendaselbst. Bd. 37. S. XVIII. u. S. 10. Bd.39. S.454. »Mit Astronomie habe ich mich nie beschäftigt, weil man hier schon zu Instrumenten, Berechnungen und Mechanik seine Zuflucht nehmen muß, die ein eigenes Leben erfordern und nicht meine Sache waren.« Eckermann. I. S. 338. Vergl. Beilage I.. Er fühlte sich später selbst veranlaßt, sich gegen den Vorwurf zu vertheidigen, als »sei er ein Widersacher, ein Feind der Mathematik« und er versicherte, daß sie »niemand höher schätzen könne als er, da sie gerade das leiste, was ihm zu bewirken völlig versagt worden« Sämmtliche Werke. Bd. 40. S. 468.. »Ich ehre«, sagt er ein anderes Mal, »die Mathematik als die erhabenste und nützlichste Wissenschaft, so lange man sie da anwendet, wo sie am Platze ist; allein ich kann nicht loben, daß man sie bei Dingen mißbrauchen will, die gar nicht in ihrem Bereiche liegen, und wo die edle Wissenschaft sogleich als Unsinn erscheint. Und als ob etwas nur dann existirte, wenn es sich mathematisch beweisen läßt. Es wäre doch thöricht, wenn jemand nicht an die Liebe seines Mädchens glauben wollte, weil sie ihm solche nicht mathematisch beweisen kann!« Eckermann. I. S. 266. Vergl. S. 239 den Grund, warum er sich nicht mit Astronomie beschäftigt.

Amor ist sein Schild auch gegen die Mathematiker. Und mit Recht wendet er sich an ihn. Denn nur im Gebiete des Organischen, des wirklich Lebendigen ist er sicher, daß ihm Erscheinungen begegnen werden, welche der menschlichen verwandt sind. Nur hier erlebt er es, daß trotz vieler Widersacher, trotz mancher widerwärtigen Prioritätsstreitigkeit nicht bloß Laien, sondern die besten Forscher sein Verdienst anerkennen. Sämmtliche Werke. Bd. 40. S. 6. Nur hier knüpft sich die Ahnung des Göttlichen unmittelbar an die sinnliche Anschauung »Ohne meine Bemühungen in den Naturwissenschaften hätte ich die Menschen nie kennen gelernt, wie sie sind. In allen anderen Dingen kann man dem reinen Anschauen und Denken, den Irrthümern der Sinne wie des Verstandes, den Charakter-Schwächen und Stärken nicht so nachkommen; es ist alles mehr oder weniger biegsam und schwankend, und läßt alles mehr oder weniger mit sich handeln; aber die Natur versteht gar keinen Spaß, sie ist immer wahr, immer ernst, immer strenge; sie hat immer Recht, und die Fehler und Irrthümer sind immer des Menschen. Den Unzulänglichen verschmäht sie, und nur dem Zulänglichen, Wahren und Reinen ergiebt sie sich und offenbart ihm ihre Geheimnisse. Der Verstand reicht zu ihr nicht hinauf, der Mensch muß fähig sein, sich zur höchsten Vernunft erheben zu können, um an die Gottheit zu rühren, die sich in Urphänomenen, physischen wie sittlichen, offenbart, hinter denen sie sich hält und die von ihr ausgehen. Die Gottheit aber ist wirksam im Lebendigen, aber nicht im Todten; sie ist im Werdenden, aber nicht im Gewordenen und Erstarrten. Deßhalb hat auch die Vernunft in ihrer Tendenz zum Göttlichen es nur mit dem Werdenden, Lebendigen zu thun; der Verstand mit dem Gewordenen, Erstarrten, daß er es nutze.« Eckermann. II. S. 68..

Trotzdem sind die langjährigen Forschungen über Licht und Farbe, über Gewölk und Gebirge keine verlorene Arbeit Göthe selbst sagte: »Es gereut mich auch keinesweges, obgleich ich die Mühe eines halben Lebens hineingesteckt habe. Ich hätte vielleicht ein halb Dutzend Trauerspiele mehr geschrieben, das ist alles, dazu werden sich noch Leute genug nach mir finden.« Eckermann. I. S. 336.. War ihre Methode nicht vollkommen, so war sie doch eine streng beobachtende und experimentirende, und selbst da, wo ihr, wie in der Optik die allgemeine Zustimmung fehlte, gewann sie doch den entschiedensten Einfluß auf die Entwicklung der Physiologie, wie Johannes Müller Johannes Müller. Eine Gedächtnißrede von Rud. Virchow. Berlin 1858. S. 20. 9. 16; sowie Beilage I. u. II. mehr als einmal dankbarst anerkannt hat.

Aber weit größer war der Gewinn für den Dichter selbst. Denn auch für ihn kamen Zeiten, wo weder die Geschäfte des Amtes, noch die süße Gewohnheit des Dichtens seiner Stimmung entsprachen, Zeiten, wo die schöpferische Kraft gebunden war durch innere Sorge, durch zwiespältiges Streben des Gemüthes. Da bedurfte es der freien Hingabe an ein Aeußerliches, Objectives, und der Adel seines Wesens bekundet sich, da er die Beruhigung in der Hingabe an das Ewig Schöne und an das Ewig Wahre fand. »Hätte ich in der bildenden Kunst und in den Naturstudien kein Fundament gehabt, so hätte ich mich in der schlechten Zeit und deren täglichen Einwirkungen auch schwerlich oben gehalten; aber das hat mich geschützt, sowie ich auch Schillern von dieser Seite zu Hülfe kam« Eckermann. II. S. 90.. Die schlechteste Zeit aber war die Zeit der französischen Revolution und des Bruches mit Charlotte von Stein. Das Studium der Kunst und der Natur half über Alles hinweg; die Versöhnung kam von selbst, wie neue Gedanken, neue Anschauungen den Geist erfüllten, und als sie gesichert waren, da strömte auch der Quell der Dichtung wieder über. Denn leicht und gern verkündete die Lippe des Sängers, wessen das Herz voll und wessen der Geist sicher war, und was sie verkündete, das trug die Gewißheit innerer Wahrheit an sich.

»Ich habe«, sagt er, »niemals die Natur poetischer Zwecke wegen betrachtet. Aber weil mein früheres Landschaftszeichnen und dann mein späteres Naturforschen mich zu einem beständigen genauen Ansehen der natürlichen Gegenstände trieb, so habe ich die Natur bis in ihre kleinsten Details nach und nach auswendig gelernt, dergestalt, daß, wenn ich als Poet etwas brauche, es mir zu Gebote steht und ich nicht leicht gegen die Wahrheit fehle« Eckermann. I. S. 305. (Göthe fährt fort: »In Schillern lag dieses Naturbetrachten nicht« und erzählt dann die Entstehungsgeschichte des Tell.). Wer erkennt das nicht in seinen unübertroffenen Reisebriefen, schon in den schweizerischen, welche der entzückte Wieland ein wahres Poem nannte, das ihm in seiner Art so lieb sei als Xenophon's Anabasis! Merck's Briefwechsel. S. 235-36. Wer empfindet es nicht in seinen unvergleichlichen Dichtungen, daß die Natur für ihn aufgehört hatte, etwas Aeußeres zu sein; voll nahm er sie in sich auf, wie einen Theil seines Wesens, und voll, nur verklärt, vergeistigt, erstand sie wieder in seinen Liedern. Wohl mochte er von sich sagen, er habe empfangen

Aus Morgenduft gewebt und Sonnenklarheit
Der Dichtung Schleier aus der Hand der Wahrheit.

(Zueignung. Bd. 1. S. 4.)

In ihm wurde Natur und Kunst Eins; hier gab es nicht Vorbild und Nachbildung; hier löste sich der Gegensatz zwischen Welt und Geist in der höchsten ästhetischen Entwickelung des Genies. Das ästhetische Ideal verkörperte sich in dem vollkommensten Realismus.

Wohl hat der kleinliche Neid es nicht verschmäht, dem Genie seine Begabung, die Ursprünglichkeit, die Naivetät seiner Natur zum Vorwurfe zu machen. Menschliche Mißgunst begleitet den Liebling der Götter, dem nicht bloß die Pracht der Glieder, die vollendete Schönheit des Leibes, die Tiefe der Empfindung, die Allgewalt des Gedankens als ein Geburtsvorrecht geschenkt waren, sondern dem gütige Mächte auch die Sorge des gemeinen Lebens ersparten, der wie ein Gleicher unter den Großen und Fürsten der Erde wandeln durfte Vergl. Eckermann I. S. 146: »Ware ich unglücklich und elend, so würden sie (die Neider) aufhören«.. Was er war und leistete, ist es sein Verdienst gewesen? Die Thoren! Haben die Griechen geforscht, ob Schönheit, Geist und Glück darum weniger bewundernswürdig sind, weil sie geschenkt und nicht verdient sind? Hat die Nation kein Recht, stolz, keine Pflicht, dankbar zu sein, daß ihr das Vorrecht geschenkt ward, aus ihrer Mitte einen Dichter hervorgehen zu sehen, dessen Gleichen keine Zeit gekannt hat?

Aber handelt es sich hier nur um Schenkungen? Wird ein solcher Mann geboren, wie Aphrodite Anadyomene aus dem Schaum des wogenden Meeres? Ist es nur dichterische Verstellung, jenes aus dem tiefsten Grunde des Herzens quellende Lied:

Wer nie sein Brod mit Thränen aß,
Wer nie die kummervollen Nächte
Auf seinem Bette weinend saß,
Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte!

O, gewiß nicht! Harte Arbeit, ernster Kampf, sorgenvoller Fleiß zieren dieses lange, edle Leben, und wenn es uns hier nicht vergönnt sein kann, ihm durch alle die Irrsale der Jugend und der Mannheit nachzugehen, so muß es doch ausgesprochen werden, daß die erhabene Ruhe seines Alters, die bis zum Tode ungebrochene Kraft seines Wirkens ein wohl verdienter Lohn, daß der begeisterte Dankesruf seines Volkes eine nicht bloß dem Genie, sondern mindestens ebenso sehr eine dem Verdienst dargebrachte Huldigung sein müssen. Wir, die Naturforscher, sind vielleicht mehr in der Lage, scheiden zu können zwischen dem, was ein gütiges Geschick schenkte und dem, was unermüdete Anstrengung, was planmäßige, auf bestimmte Ziele unverrückt gerichtete Arbeit erwarben, aber das ganze Volk kann es sehen, wie die Vollendung des Dichters Schritt um Schritt mit dieser Arbeit sich festigt. Welches Bild der Nacheiferung, zu erkennen, wie dieser Mann, dem die schönsten Segnungen des Lebens zugefallen waren, von dem Dichterthrone herabsteigt, um als Staatsmann dem Volke neue Quellen des Wohlstandes, um als Forscher der Wissenschaft neue Wege der Untersuchung aufzudecken! Und welcher Stolz für uns Naturforscher, welche das lebende Geschlecht so leicht als die Gegner der geistigen Interessen brandmarkt, sagen zu können, daß Deutschlands größter Dichter in unserer Wissenschaft zugleich das Mittel seiner Vollendung und die unversiegbare Quelle seiner innern Beruhigung gefunden hat! 1818 schreibt er an Carus: »Das Alter kann kein höheres Glück empfinden, als daß es sich in die Jugend hineingewachsen fühlt und mit ihr nun fortwächst. Die Jahre meines Lebens, die ich, der Naturwissenschaft ergeben, einsam zubringen mußte, weil ich mit dem Augenblicke in Widerwärtigkeit stand, kommen mir nun höchlich zu Gute, da ich mich jetzt mit der Gegenwart in Einstimmung fühle, auf einer Altersstufe, wo man sonst nur die vergangene Zeit zu loben pflegt« C. G. Carus Göthe. Leipzig 1843. S. 5.. 1826 sagt er: »Wenn ich das neueste Vorschreiten der Naturwissenschaften betrachte, so komm' ich mir vor wie ein Wanderer, der in der Morgendämmerung gegen Osten ging, das heranwachsende Licht mit Freuden anschaute und die Erscheinung des großen Feuerballs mit Sehnsucht erwartete, aber doch bei dem Hervortreten desselben die Augen wegwenden mußte, welche den gewünschten gehofften Glanz nicht ertragen konnten.« Ebend. S. 33 vgl. S. 36 und Eckermann. I. S. 338. Und noch am 15. Juni 1831, kaum ein Jahr vor seinem Tode, spricht er zu Eckermann: »Es geht doch nichts über die Freude, die uns das Studium der Natur gewährt. Ihre Geheimnisse sind von einer unergründlichen Tiefe, aber es ist uns Menschen erlaubt und gegeben, immer weitere Blicke hineinzuthun. Und gerade, daß sie am Ende doch unergründlich bleibt, hat für uns einen ewigen Reiz, immer wieder heranzugehen und immer wieder neue Einblicke und neue Entdeckungen zu versuchen.« Eckermann. III. S. 356.

Aber die Geschichte des deutschen Geistes hat noch einen besonderen Grund, diese Vertiefung des Dichters in die Natur zu preisen. Ich meine die denkwürdige Vereinigung Göthe's und Schiller's, welche zunächst daraus hervorging, eine Vereinigung, welche für beide Dichter, am meisten für Schiller von dem segensreichsten Erfolge war und welche der Nation als ein leuchtendes Vorbild der Einigung nie verloren gehen möge. Denn sehr wahr sagt Palleske von dieser Vereinigung der beiden Dichter: »Ihr Bund ist der erste schüchterne Umriß einer neuen nationalen Gestaltung.« Palleske. Schiller's Leben und Werke. Berlin 1859. II. S. 229.

Als Schiller sich zuerst dem Weimarischen Kreise näherte, war Göthe auf seiner italienischen Reise abwesend. Voll von Gedanken über die organische Natur, hatte der gepriesene Dichter die Alpen überschritten, der botanische Garten zu Padua hatte alsbald seine Thätigkeit erregt Sämmtliche Werke. Bd. 36 S. 85., und nun, je weiter er in dem gebenedeiten Lande, das ihn sich selbst wiedergab, vorschritt, um so klarer enthüllte sich ihm »das Geheimniß der Pflanzenzeugung und Organisation.« »Unter diesem Himmel,« ruft er entzückt aus, »kann man die schönsten Beobachtungen machen.« Aber welcherlei Beobachtungen drängen sich da unter einander! Dienstag den 17. April 1787 schreibt er aus Palermo: »Es ist ein wahres Unglück, wenn man von vielerlei Geistern verfolgt und versucht wird! Heute früh ging ich mit dem festen ruhigen Vorsatz, meine dichterischen Träume fortzusetzen, nach dem öffentlichen Garten, allein, eh' ich mich's versah, erhaschte mich ein anderes Gespenst, das mir schon dieser Tage nachgeschlichen. Die vielen Pflanzen, die ich sonst nur hinter Glasfenstern zu sehen gewohnt war, stehen hier froh und frisch unter freiem Himmel, und indem sie ihre Bestimmung vollkommen erfüllen, werden sie uns deutlicher. Im Angesicht so vielerlei neuen und erneuten Gebildes fiel mir die alte Grille wieder ein: ob ich nicht unter dieser Schaar die Urpflanze entdecken könnte? Eine solche muß es denn doch geben! Woran würde ich sonst erkennen, daß dieses oder jenes Gebilde eine Pflanze sei, wenn sie nicht alle nach Einem Muster gebildet wären?« Ebendaselbst. S. 71 vgl. 288. Noch traute er seinen Kräften nicht recht; ja noch war er so unklar, daß er die »Urpflanze« als eine wirklich existirende, irgendwo in dem »Weltgarten« versteckte und nur aufzufindende unter den anderen Pflanzen sich dachte. Als ob die Natur ihre »Muster« ausarbeitete und zur Ansicht der Kenner aufbewahrte! Sehr bald klärten sich die Vorstellungen des Dichters und schon vier Wochen später konnte er von Neapel aus berichten, daß er den Hauptpunkt gefunden habe. Zuversichtlich fügt er schon jetzt hinzu, dasselbe Gesetz werde sich auf alles übrige Lebendige anwenden lassen. »Die Urpflanze wird das wunderlichste Geschöpf von der Welt, um welches mich die Natur selbst beneiden soll.«Sämmtliche Werke. Bd. 24 S. 5 und gleichlautend S. 71. (Neapel, den 17. Mai 1787.) Hier fühlt der Forscher sich gegenüber der Natur als schaffender Geist: die Urpflanze ist sein Geschöpf und nicht der Natur. Sie ist nur ein Bild, aber ein Bild, in welchem sich der Gedanke der Pflanzenorganisation verleiblicht, in welchem das Naturgesetz sichtbar vor das Auge des Sehers tritt. Die Beobachtung lehrt ihn, daß die Pflanze die verschiedenartigsten Gestalten durch Modificationen eines einzigen Organs, des Blattes darstelle. »Dasselbe Organ, welches am Stengel als Blatt sich ausdehnt und eine höchst mannichfaltige Gestalt angenommen hat, zieht sich nun im Kelche zusammen, dehnt sich im Blumenblatte wieder aus, zieht sich in den Geschlechtswerkzeugen zusammen, um sich als Frucht zum letztenmal auszudehnen.« Ebendaselbst. Bd. 36 S. 62. Somit ist die Blattbildung eine Fortpflanzung, welche sich nur dadurch, daß sie sich wiederholt, von der auf einmal geschehenden Fortpflanzung durch Blüthe und Frucht unterscheidet. Und indem er weiterhin folgert, daß eine Pflanze, ja ein Baum, die uns doch als Individuum erscheinen, aus lauter Einzelheiten bestehen, die sich unter einander und dem Ganzen gleich und ähnlich seien Ebendaselbst. S. 7., so tritt er unmittelbar an das Geheimniß der organischen Individualität, welches ihm zu entschleiern nicht vergönnt war, da das Mikroskop erst nach ihm die Wunder des Zellenlebens enthüllt hat.

Trotzdem erkannte er, daß diese Auflösung des scheinbaren Individuums in eine »Versammlung von mehreren Einzelheiten,« wie er sich ausdrückt, in eine gesellschaftliche Zusammenordnung organischer Elemente, wie wir sagen Virchow. Die Cellularpathologie. 2te Aufl. Berlin 1859. S. 12., nicht etwa bloß den Pflanzen zukomme, sondern auch für die Thiere, ja für den Menschen Gültigkeit habe. Kaum nach Rom zurückgekehrt, schreibt er: »Nun hat mich zuletzt das A und O der uns bekannten Dinge, die menschliche Figur, angefaßt, und ich sie, und ich sage: Herr, ich lasse dich nicht, du segnest mich denn, und sollt' ich mich lahm ringen.« Sämmtliche Werke. Bd. 24 S. 87 u. 198. Freilich vergingen Jahre über dem Ringen, aber endlich segnete ihn der Herr und sein großes Werk gelang ihm. Er lernte, wie die Natur gesetzlich zu Werke gehe, um lebendiges Gebild, als Muster alles künstlichen, hervorzubringen Ebendaselbst. Bd. 36 S. 92. Vergleiche Bd. 39 S. 442., und wie selbst das, was uns als Ausnahme erscheint, in der Regel ist Eckermann. I. S. 176..

Der Himmel Italien's war ihm glückbringend gewesen. Denn noch ehe er schied, konnte er nach Hause melden: »Ferner habe ich nebenbei Speculationen über Farben gemacht, welche mir sehr anliegen, weil das der Theil ist, von dem ich bisher am wenigsten begriff. Ich sehe, daß ich mit einiger Uebung und anhaltendem Nachdenken auch diesen schönen Genuß der Weltoberfläche mir werde zueignen können.« Sämmtliche Werke. Bd. 24 S. 261. Das war der Anfang seiner optischen Studien. Es mochte ihm schwer werden, heiteren Himmel mit düsterem zu vertauschen, und als er in der Heimath anlangte, da gerieth er fast in Verzweiflung: er vermißte jede Theilnahme, niemand verstand seine Sprache, ja sein Leiden, seine Klagen über das Verlorene schienen seine Freunde zu beleidigen Ebendaselbst. Bd. 36 S. 92.. Erschien es ihm selbst doch bald wie ein Mährchen, wenn er durch eine seltene Gunst des Himmels an jene »paradiesischen Augenblicke erinnert« wurde, welche ihm in Italien der Verkehr mit der Natur gewährt hatte Ebendaselbst. Bd. 36 S. 388.. Mit Mühe fand er einen Verleger für die Pflanzen-Metamorphose, und als sie erschienen war, da gewann er nicht nur keinen Beifall, sondern mitleidiges Bedauern, daß ein solches Talent sich so aus seinem Kreise entfernen könne. Das Werk, auf dem noch jetzt die wissenschaftliche Botanik fortbaut Alex. Braun. Betrachtungen über die Erscheinung der Verjüngung in der Natur. Leipzig 1851. S. 63., erschien den Zeitgenossen wie eine Verirrung. Ja, die Gelehrten der nächsten Nachbarschaft enthielten ihm eine Anerkennung vor, welche sie sonst mit vollen Händen ausstreutenDie Akademie der gemeinnützigen Wissenschaften in Erfurt ernannte Schiller 1791, Göthe 1811 zu ihrem Mitgliede. (Denkschrift der Akademie am Seculartage ihrer Gründung. Erfurt 1854. S. CVIII. CXIX.).

Und wie fand der verstimmte Mann den Zustand der Literatur in Deutschland bei seiner Rückkehr? Er sagt es selbst, wie er ihn fand, oder besser, wie er ihn empfand. Er, der »die reinsten Anschauungen zu nähren und mitzutheilen suchte, er fand sich zwischen Ardinghello und Franz Moor eingeklemmt!« Sämmtliche Werke. Bd. 27 S. 35. Er glaubte all' sein Bemühen völlig verloren zu sehen; die Gegenstände zu welchen, die Art und Weise wie er sich gebildet hatte, schienen ihm beseitigt zu sein. Er zog sich in sich und, wie er es nennt, in sein wissenschaftliches Beinhaus Ebendaselbst. Bd. 36 S. 251. zurück, er lehnte es ab, mit Schiller in ein näheres Verhältniß zu treten, – sein Dichtermund verstummte.

Aber auch Schiller's Muse schwieg. Mit Don Carlos schien die Dichterlaufbahn geendet. Er hatte sich der Geschichte und mehr noch der Philosophie zugewendet, theils gedrängt durch seine neue Stellung als Professor der Geschichte, theils aus dem inneren Bedürfniß, alte Zweifel seines Geistes zur Entscheidung zu bringen. Denn in der That waren sie alt. Als er seine Dissertation schrieb, da schon legte er die Probleme vor, die ihn so lange Jahre beschäftigten. Indem er die geistige Entwicklung des Kindes, des Jünglings und Mannes, ja des ganzen Menschengeschlechtes schildert, wie er sie in schönerer und vollendeter Gestalt später in den allbekannten Lehrgedichten, der Glocke, dem Spazirgang, ausführte, indem er Beispiele des täglichen Lebens, der Physiologie und der Pathologie zusammenbringt, so beweist er die Abhängigkeit des Geistes von dem Körper. Dieser ist der erste Sporn zur Thätigkeit, »Sinnlichkeit die erste Leiter zur Vollkommenheit« und »Vollkommenheit ist die Vermischung der thierischen Natur mit der geistigen.« Schiller über den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen, abgedruckt in Fr. Nasse's Zeitschrift für psychische Aerzte. 1820. S. 256 und 272. Mit dieser Vorstellung von der Duplicität der menschlichen Natur wandert er hinaus in das stürmische Leben. Die beiden Naturen kämpfen mit einander. Wie kann die Sittlichkeit neben der Sinnlichkeit bestehen? In der Theosophie des Julius glaubt er die Vermittelung gefunden zu haben. » Liebe,« schreibt er an Raphael, »ist die Leiter, worauf wir emporklimmen zur Gottähnlichkeit.« Schiller's Sämmtliche Werke. Stuttg. und Tüb. 1824. Bd. 11 S. 322. Aber Raphael bemerkt ihm, daß er mehr dem Bedürfnisse seines Herzens, mehr seiner Phantasie folge, als seinem Scharfsinn. Freiheit sei das Gepräge der göttlichen Schöpfung und die Aufgabe des edleren Menschen bestehe darin, in seiner Sphäre selbst Schöpfer zu sein. – Aber mit dieser Schöpfung, mit der Handlung an sich ist das moralische Ideal nicht gegeben, denn die Handlung setzt voraus, daß der Streit zwischen Pflicht und Neigung, zwischen Sittlichkeit und Sinnlichkeit schon entschieden ist. Was soll entscheiden? wie soll der freie Mensch sich bestimmen? wie soll die schöpferische Handlung, und diese war ja für Schiller gleichbedeutend mit Kunstschöpfung, wie soll sie ihre moralische Aufgabe lösen?

Mit dieser Frage kam Schiller an Kant. Der kategorische Imperativ des Königsberger Philosophen fordert immer und jedesmal das Opfer der Neigung, die Erfüllung der Pflicht; immer muß der moralische Gesichtspunkt dem ästhetischen untergeordnet sein. Schiller macht sich an eine Untersuchung dieser schwierigen Frage und in seinem berühmten Aufsatze über Anmuth und Würde empört er sich gegen die »Härte dieser Moralphilosophie.« Sämmtliche Werke. Bd. 17 S. 217 u. 223. Denn in einer schönen Seele, deren Ausdruck in der Erscheinung die Grazie ist, finden sich Sinnlichkeit und Vernunft, Pflicht und Neigung in Harmonie; hier besitzt die Natur zugleich Freiheit. Damit näherte sich Schiller um einen großen Schritt Göthe, aber dieser fand darin kein Mittel der Versöhnung, denn noch immer war »die große Mutter (Natur) nicht als selbständig, lebendig, vom Tiefsten bis zum Höchsten gesetzlich hervorbringend betrachtet« Göthe's Sämmtliche Werke. Bd. 27 S. 36.; noch immer bildete die »schöne Seele« den Ausnahmefall.

Endlich schrieb Schiller die Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen. Aus der Ausnahme entwickelt sich das Gesetz. Das Vorrecht der schönen Seele findet sich der Anlage nach bei jedem Menschen, und es handelt sich nur darum, diese Anlage zu einem wirklichen Vermögen zu entwickeln. Diese höchste aller Schenkungen, diese Schenkung der Menschheit ist der ästhetische Zustand, in welchem sich der sinnliche und der vernünftige Trieb gegenseitig aufheben, beide ihre Nöthigung verlieren und eine Freiheit, eine Selbstbestimmung hervorbringen, welche freilich eine Wirkung der Natur und in ihren Entschließungen an Gesetze gebunden, ist, aber doch unbeschränkt erscheint, weil diese Gesetze nicht vorgestellt werden Schiller's Sämmtliche Werke. Bd. 18 S. 102, 105 und 107.. Eine solche Harmonie der sinnlichen und geistigen Kräfte in dem gemischten Wesen des Menschen herzustellen, ist die Aufgabe der ästhetischen Erziehung, der Erziehung zum Geschmack und zur Schönheit. Und kaum hat Schiller diese Aufgabe erkannt, so wird er wieder Dichter, und Göthe schreibt ihm: »Wie uns ein köstlicher, unserer Natur analoger Trank willig herunterschleicht und auf der Zunge schon durch gute Stimmung des Nervensystems seine heilsame Wirkung zeigt, so waren mir diese Briefe angenehm und wohlthätig, und wie sollte es anders sein, da ich das, was ich für Recht seit langer Zeit erkannte, was ich theils lobte, theils zu loben wünschte, auf eine so zusammenhängende und edle Weise vorgetragen fand?« Briefwechsel zwischen Schiller und Göthe. 2te Ausgabe. Stuttgart und Augsburg 1856. I. S. 23 (am 26. October 1794). Vgl. Palleske Schiller. II. S. 230.

Meisterhaft hat Kuno Fischer diese Krise in wenig Zügen geschildert: »Die geistigen Verwandtschaften, die Schiller am Beginn und Ausgange dieses philosophischen Zeitraumes eingeht, bezeichnen den Charakter des letzteren in einer sehr bedeutsamen Weise. Er steht zuerst unter dem Einflusse eines Philosophen, des größten, den die neuere Zeit aufzuweisen hat, dem sie einen völligen Umschwung ihrer wissenschaftlichen Denkweise verdankt. Schiller wird von diesem Einflusse nicht schülerhaft abhängig, aber mächtig ergriffen und angeregt. Und zuletzt ist es nicht mehr der Philosoph, der ihn anzieht, sondern ein Dichter, der größte der Welt nach den Alten und Shakspeare. Jetzt bewundert er von ganzer Seele diesen Dichter, den er vorher lieber vermieden als gesucht hat, dem er vorher sich fremd fühlte; jetzt erst hat er gelernt, ihn zu verstehen und lieben. Zuerst wäre er beinahe der Schüler jenes Philosophen geworden; zuletzt wird er der Freund dieses Dichters. Der Philosoph ist Kant, der Dichter ist Göthe. Und zwischen diesen beiden so verschiedenartigen Größen, von denen der eine die menschliche Natur mit kritischem Scharfsinn zerlegt, während sie der andere in ihrer Lebensfülle dichtet, steht Schiller in einer beweglichen Mitte: er durchmißt den geistigen Zwischenraum, der jene beiden trennt; er geht, indem er philosophirt, von Kant zu Göthe.« Kuno Fischer. Schiller als Philosoph. Frankf, a. M 1858. S. 7.

Dieser Abschluß fällt in den Herbst des Jahres 1794, aber schon in dem Frühjahr hatten sich die beiden Dichter persönlich gewonnen und gewiß war dieses Verhältniß nicht ohne Einfluß auf das endliche Hinausphilosophiren Schillerns aus der Philosophie. Göthe selbst bezeugt es ausdrücklich, daß er es der Metamorphose der Pflanzen zu verdanken habe, daß sich auf einmal, alle seine Wünsche und Hoffnungen übertreffend, das Verhältniß zu Schiller entwickelte, das er zu den höchsten zählte, die ihm das Glück in späteren Jahren bereitete. Er war nach Jena gekommen und hatte in der dortigen naturforschenden Gesellschaft einen Vortrag des Professors der Botanik, Batsch gehört. Beim Hinausgehen führte ihn der Zufall an die Seite Schillerns, der sich über die zerstückelte Art, in welcher der Vortragende die Natur behandelte, tadelnd ausließ. Göthe erwiderte ihm, daß es in der That eine Weise gebe, die Natur nicht gesondert und vereinzelt vorzunehmen, sondern sie wirkend und lebendig, aus dem Ganzen in die Theile strebend, darzustellen. Das Gespräch wurde lebendiger, Göthe trat mit in Schiller's Haus, um ihm die Metamorphose der Pflanze zu erläutern, er entwarf ihm plastische Schemata, und der Philosoph, der einst in der Anatomie den Preis gewonnen hatte, verstand ihn besser, als die Gelehrten vom Fach. Einen Augenblick schien Alles wieder in Frage gestellt, da Schiller ausrief: »Das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee.« Wie hatte sich Göthe verändert, als er später seine Forschungen nach dem thierischen Typus schilderte: »Ich trachtete das Urthier zu finden, das heißt denn doch zuletzt: den Begriff, die Idee des Thieres.« (Sämmtl. Werke. Bd. 36 S. 14). In Göthe, der ausdrücklich behauptete, er habe für Philosophie im eigentlichen Sinne kein Organ Sämmtliche Werke. Bd. 40 S. 418., begann sich trotz seiner Anerkennung für Kant Eckermann. I. S. 353. »Die Unterscheidung des Subjects vom Objecte, und ferner die Ansicht, daß jedes Geschöpf um sein selbst willen existirt und nicht wie der Korkbaum gewachsen ist, damit wir unsere Flaschen pfropfen können, dieses hatte Kant mit mir gemein und ich freute mich, ihm hierin zu begegnen.« der alte Groll zu regen. Aber der schlimme Augenblick ging vorüber, und als sich die beiden Männer trennten, da war das Siegel von beider Munde genommen und das entzückte Vaterland durfte wieder den Gedichten seiner neu zurückgewonnenen, mit edlerer Kraft ausgerüsteten Sänger lauschen. Schiller erzeugte jetzt jene Reihe von Meisterwerken, welche ihn zum größten dramatischen Dichter unseres Volkes erhoben haben; Göthe sagt in seiner stillen und ruhigen Weise: »Für mich insbesondere war es ein neuer Frühling, in welchem alles froh neben einander keimte und aus aufgeschlossenen Samen und Zweigen hervorging.« Sämmtliche Werke. Bd. 27 S. 38.

Das ist der Antheil, den die Naturwissenschaft an der Errichtung der schönsten Säulen deutschen Dichterthums hat. Nicht nur, daß sie den beiden Dichtern jene breite Grundlage der Naturkenntniß, jene Fähigkeit der anatomischen Analyse auch der zusammengesetztesten Erscheinungen des körperlichen und geistigen Lebens gab, sondern sie brachte ihnen auch das Mittel der Einigung. Und diese Einigung ging nicht wieder verloren Sämmtliche Werke. Bd. 39 S. 459. An dieser Stelle bezeugt Göthe ausdrücklich, daß Schiller's Einfluß auch später seine Naturbeobachtungen förderte. »Wenn ich manchmal auf meinem beschaulichen Wege zögerte, nöthigte er mich durch feine reflectirende Kraft vorwärts zu eilen und riß mich gleichsam an das Ziel wohin ich strebte.« Und wie freundlich ist der Zuspruch Schiller's, wenn er 1796 schreibt (Briefwechsel I. S. 239): »Ich freue mich, wenn Sie mir Ihre neuen Entdeckungen in der Morphologie mittheilen; die poetische Stunde wird schon schlagen.« Vergl. Göthe's Werke. Bd. 27 S. 495, wo es von ihnen beiden heißt: »Selten ist es aber, daß Personen gleichsam die Hälften von einander ausmachen, sich nicht abstoßen, sondern sich anschließen und einander ergänzen.«, trotzdem daß Göthe nachher noch tiefer, als vorher, in das eigentlich anatomische Wesen eindrang. Denn es war ja das Gesetz, welches beide suchten in der Natur, wie in der Kunst, gleichweit abgewendet von der Willkür der Dichterlinge und von der Botsmäßigkeit der Frömmler.

Göthe hat die ächt humanistische Richtung, in der seine Natur angelegt war, mit Bewußtsein entwickelt. 1796 schreibt er an einen Künstler: »Gehen Sie so genau zu Werke, als es Ihre Natur erheischt, seien Sie in dem, was Sie nachbilden, so ausführlich, um sich selbst genug zu thun, wählen Sie nach eigenem Gefühle, wenden Sie die nöthige Zeit auf und denken Sie immer: daß wir nur eigentlich für uns selbst arbeiten. Kann das Jemand in der Folge gefallen oder dienen, so ist es auch gut. Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst. In diesem Sinne bereit' ich mich auch vor, und wenn wir nach Innen das Unsrige gethan haben, so wird sich das nach Außen von selbst geben.« Riemer. S. 24. Und sehr richtig schließt er: »Alle Philosophie über die Natur ist doch nur Anthropomorphismus, d. h. der Mensch, Eines mit sich selbst, theilt Allem, was er nicht ist, diese Einheit mit, zieht es in die seinige herein, macht es mit sich selbst eins.« Ebendaselbst. S. 316.

Göthe kehrte zu seinen Studien über vergleichende Anatomie zurück, als gegen Ende des Jahres 1795 die Gebrüder Humboldt in Jena erschienen. Insbesondere war es Alexander, »dessen großer Rotation in physikalischen und chemischen Dingen er nicht widerstehen konnte« Riemer. Briefe von und an Göthe. S. 50. Vergl. Briefwechsel mit Schiller. I. S. 301.; durch ihn ward er bestimmt, sowohl seine Methode der Untersuchung, als auch sein Grundschema der vergleichenden Knochenlehre zu Papier zu bringen Sämmtliche Werke. Bd. 27 S. 41, 62 u. 214. Bd. 36 S. 256.. Denn dieses sind die wichtigsten Errungenschaften, welche der Dichter der Wissenschaft vom thierischen Leben hinterlassen hat, nicht jene, freilich viel mehr bekannte, schon 1786 geschriebene Abhandlung über den Zwischenkiefer Sämmtliche Werke. Bd. 36 S. 223. Ferner Beilage III.. Es beschränken sich diese Untersuchungen wesentlich auf die Knochen der Säugethiere und einzelne Verhältnisse der Insekten. Zwar fing er 1796 an, »die Eingeweide der Thiere näher zu betrachten,« auch Fische und Würmer zu untersuchen Briefwechsel mit Schiller. I. S. 234 u. 262., jedoch kam er hier zu keinem tieferen Erfolge. Der Knochenbau des Menschen dagegen erregte anhaltend seine ganze künstlerische Theilnahme. Schon 1791 schreibt er an Heinr. Meyer: »auf einen Kanon männlicher und weiblicher Proportion loszuarbeiten, die Abweichungen zu suchen, wodurch Charaktere entstehen, das anatomische Gebäude näher zu studiren und die schönen Formen, welche die äußere Vollendung sind, zu suchen, – dazu habe ich von meiner Seite Manches vorgearbeitet« Riemer. Briefe von und an Göthe. S. 9. Derselbe Gedanke, der ihn bei der Untersuchung der Pflanzenmetamorphose geleitet hatte, war auch hier sein Führer: das Ganze aus der genauesten Erkenntniß des Einzelnen zu begreifen und das allgemeine Gesetz, den Typus aus den Beziehungen und Gestaltungen dieses Einzelnen während der Bildung des Ganzen zu erfassen. So ward er, wenn auch nicht der Erfinder, so doch der selbständige Mitbegründer jener Methode, welche man die genetische genannt hat, einer Methode, welche in ihrer Anwendung auf die Entwicklungsgeschichte schon vor ihm durch Caspar Friedrich Wolf geübt war Sämmtliche Werke. Bd. 36 S. 105., welche jedoch durch Göthe eine ungeahnte Ausdehnung und eine allgemeine Anerkennung erlangt hat Siehe Beilage IV., und welche schon durch ihn sogar auf die Deutung pathologischer Dinge angewendet wurde Sämmtliche Werke. Bd. 27 S. 69 u. 320. Bd. 26 S. 92. Bd. 37 S. 46..

Daß ein Mann, der außerhalb der Gilde stand, einen solchen Einfluß in einer Ernährungswissenschaft, in welche er »als Freiwilliger hineinkam« Sämmtliche Werke. Bd. 40. S. 15., gewinnen konnte, ein Mann, den man vielleicht als Laien oder Dilettanten bezeichnen möchte, das könnte leicht den Schein erregen, als sei es dem Genie gestattet, auch das Fernste mit sicherer Hand ohne Mühe zu erreichen. Es verlohnt sich also wohl die Frage, ob ein solcher Erfolg wirklich mühelos, gleichsam durch Scherkraft erreicht wurde; es verlohnt sich das um so mehr, als Göthe selbst über seine Anregungen zur Anatomie wenig zusammenhängenden Aufschluß gegeben hat.

Erinnern wir uns zunächst, daß eine andere Zeit in Deutschland war, als jetzt. Wie einst in Italien am Hofe der Medici, so war in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts ein offener Sinn für wissenschaftliche und künstlerische Bestrebungen an manchen Höfen und in der guten Gesellschaft. Der Kurfürst von Mainz und der Landgraf zu Cassel sammelten um sich Naturforscher ersten Ranges, unter denen Georg Forster und Sömmerring vor Allen zu nennen sind; selbst der kleine Hof zu Münster konnte der Anatomie nicht entbehren und die fromme Fürstin Galitzin wendete sich um seltene anatomische Präparate von Lymphgefäßen, vom Auge u. ,s. ,w. an berühmte Anatomen Briefe an Sömmerring in S.'s Leben und Verkehr mit seinen Zeitgenossen von Rud. Wagner. Leipz. 1844. I. S. 75.. Nirgends aber fanden solche Bestrebungen mehr Anerkennung als am Hofe von Weimar. Die Herzogin Amalie, welche selbst porträtirte, bemühte sich sorgfältig, in die Ansichten Campers über den menschlichen Kopf einzudringen Merck's Briefwechsel. S. 422.. Der Herzogin Louise, deren lebhaftestes Interesse für die Farbenlehre erwacht war Sämmtliche Werke. Bd. 39. S. 459., hat Göthe in dankbarster Erinnerung sein optisches Werk gewidmet. Carl August selbst war bis zu seinem Tode ein Freund der Naturwissenschaften und gewiß giebt es Weniges, was rührender ist, als die Schilderung, welche Humboldt von seinen letzten Tagen gegeben hat. Als er schon sehr schwach war, bedrängte Carl August den vielerfahrenen Mann mit den schwierigsten Fragen über Physik, Astronomie, Meteorologie und Geognosie, über Durchsichtigkeit der Kometenkerne u. ,s. ,f. Dann wendeten sich seine Gedanken auf religiöse Dinge. »Er klagte über den einreißenden Pietismus und den Zusammenhang dieser Schwärmerei mit politischen Tendenzen nach Absolutismus und Niederschlagen aller freien Geistesregungen. Dazu sind es unwahre Bursche, rief er aus, die sich dadurch den Fürsten angenehm zu machen glauben, um Stellen und Bänder zu erhalten! Mit der poetischen Vorliebe zum Mittelalter haben sie sich eingeschlichen« Eckermann. III. S. 260..

Ein Fürst, der dem Tode nahe so sprechen konnte, mußte wohl eine starke Stütze im kräftigen Jugend- und Mannesalter sein. Aber so offenen Blickes waren nicht bloß die Fürsten und die Großen, sondern die gebildete Welt im Großen nahm an allen Vorgängen der Wissenschaft Antheil. Der Umstand, daß große Aerzte, wie Tissot, Haller, Unger, Zimmermann durch populäre Schriften auf die allgemeine Bildung bestimmenden Einfluß gewannen Sämmtliche Werke. Bd. 21. S. 75; vergl. S. 225., war von großer Bedeutung. Göthe selbst hatte in seiner Vaterstadt eines der glänzendsten Beispiele in Senkenberg, der das noch jetzt blühende Institut mit Hospital, Museen, botanischem Garten und anatomischer Anstalt gründete Sämmtliche Werke. Bd. 20. S. 90. Bd. 26. S. 287.. Auf der Universität in Leipzig gerieth Göthe sofort in medicinische Umgebungen. In dem Schönkopfischen Kreise fand er den jüngeren Kapp, einen später berühmten Arzt O. Jahn Göthe's Briefe an Leipziger Freunde. 'Leipzig 1849. S: 33.. Seinen Mittagstisch hatte er bei Hofrath Ludwig Sämmtliche Werke. Bd.21. S.50. Jahn a.a.O. S.26., einem Medicinischen und botanischen Polyhistor, und »die Gesellschaft bestand in lauter angehenden oder der Vollendung näheren Aerzten,« so daß er in diesen Stunden gar kein ander Gespräch, als von Medicin oder Naturhistorie hörte. Die Namen Haller, Linne, Buffon wurden mit großer Verehrung häufig genannt. Auch die Physik ließ er sich (bei Winckler) »wie ein anderer vortragen und die Experimente vorzeigen« Ebendaselbst. Bd. 39. S. 445.. Nach Frankfurt krank zurückgekehrt, führte ihn eine wunderliche Neigung zur Chemie, oder besser gesagt, zur Alchymie, er ließ sich insbesondere mit dem Compendium des großen Holländers Boerhaave, der Haller's Lehrer gewesen war, ein und kam so auch auf die medicinischen Aphorismen desselben Ebendaselbst. Bd. 21. S. 159., dasjenige Buch, welches noch lange nachher die Grundlage des medicinischen Unterrichts in ganz Deutschland gebildet hat und welches durch die Commentarien eines Mitschülers von Haller, van Swieten's, zugleich der Mittelpunkt für das gesammte praktisch-medicinische Wissen der Zeit geworden ist.

So vorbereitet kam Göthe im Frühjahr 1770 nach Straßburg. Die alte Reichsstadt, obwohl damals fast schon seit einem Jahrhundert durch wälschen Verrath und habsburgische Schwäche von Deutschland losgerissen, hatte ihren-deutschen Charakter noch ganz bewahrt, ja der Elsaß bot dem jungen Dichter einen solchen Schatz treu gehegter Volkslieder, daß ihre Sammlung mit den Grund gelegt hat zu dem neuen Aufschwung, welchen diese Art der Dichtung durch Göthe und seine Freunde, insbesondere bei der durch ihn hervorgerufenen Eckermann. II. S. 203. romantischen Schule gefunden hat.

Straßburg war von jeher ein Hauptsitz deutscher Bildung. Denn gerade hier näherte sich ja schon zur Zeit des weströmischen Reiches alte klassische Cultur dem neu aufgeschlossenen Land der Alemannen und hier ward frühe ein fester Heerd für das Christenthum geschaffen. Schon im zehnten Jahrhundert wird ein Hospital erwähnt Ferd. Walter Corp. Juris germanici antiqui. Berol. 1824. T. III. p. 793. Vergl. mein Archiv für pathol. Anatomie und Physiol. 1860. Bd. 19. S. 46.. Nach und nach wächst die Zahl der Krankenanstalten und unmittelbar nach der Reformation finden wir hier die ersten wissenschaftlichen Chirurgen Deutschlands, deren Handbücher in zahlreichen Auflagen und Uebersetzungen durch ganz Europa verbreitet wurden. Der Chirurg bedarf aber nothwendig der genauesten Kenntniß der Anatomie und so findet sich seit 1566 eine immer sorgfältiger geleitete anatomische Schule Michel Essai sur la Chirurgie de Strasbourg. Strasb. 1855. p. 4., welche bald so berühmt wurde, daß noch nach der Zeit, von der wir hier reden, die Anatomen in Deutschland von Straßburg verschrieben wurden 1779 schreibt Forster an Sömmerring aus Cassel: »Der Landgraf habe sich sagen lassen, in Straßburg und Frankreich würden die besten Zergliederer gebildet, zu dem Ende habe man sich den Dr. Petri (den niemand in der literarischen Welt kenne) verschrieben.« Später sagt er: »Petri oder ein ähnlicher armer Schinder.« (Sömmerrings Leben von Wagner. I. S. 122.). Es begreift sich daher leicht, daß auch Göthe's Gesellschaft sich stark aus jungen Medicinern zusammensetzte. Man kennt die Tischgesellschaft aus Dichtung und Wahrheit Sämmtliche Werke. Bd. 21. S. 178.. Der würdige Actuarius Salzmann, unter dessen Vorsitz man tagte und der durch seine praktisch-religiöse Richtung einen so nachhaltigen sittlichen Einfluß auf Göthe geübt hat, stammte aus einer alten medicinischen Familie, welche der Facultät drei Professoren geliefert hatte Aug. Stöber Der Actuar Salzmann. Frankf, a. M. 1855. S. 12. Michel p. 19., und in der von ihm gestifteten gelehrten Uebungsgesellschaft fehlte es nie an Medicinern Stöber gedenkt aus dem Jahre 1763-64 des nachher so berühmten O. Fr. Müller und aus 1776 des späteren Marburger Professors Michaelis (S. 22. 86).. Gerade zu Göthe's Zeit bildeten diese unter den Tischgenossen die Mehrzahl. »Diese sind«, sagt er, »die einzigen Studirenden, die sich von ihrer Wissenschaft, ihrem Metier, auch außer den Lehrstunden mit Lebhaftigkeit unterhalten. Es liegt dieses in der Natur der Sache. Die Gegenstände ihrer Bemühungen sind die sinnlichsten und zugleich die höchsten, die einfachsten und die complicirtesten. Die Medicin beschäftigt den ganzen Menschen, weil sie sich mit dem ganzen Menschen beschäftigt. Alles, was der Jüngling lernt, deutet sogleich auf eine wichtige, zwar gefährliche, aber doch in manchem Sinn belohnende Praxis« Sämmtliche Werke. Bd. 21. S. 180.. An Göthe's Tische saßen Meyer von Lindau (später Arzt in London), der bei Tische die Vorträge der Professoren in komischer Weise wiederholte, ferner der spöttische Waldberg von Wien und der Elsäßer Melzer, und bald langte der Sonderling Jung Stilling in Gesellschaft eines älteren Chirurgus an, der seine Kenntnisse wieder auffrischen wollte Joh. Heinr. Jung's genannt Stilling Lebensgeschichte. Stuttgart 1835. S. 270.. Ein wunderbares Gemisch von Charakteren und eine sonderbare Unterhaltung muß es gewesen sein. Göthe saß gegen Stilling über, und »er hatte«, wie letzterer sagt, »die Regierung am Tische, ohne daß er sie suchte.«

Aber so bunt die Tischgesellschaft, so mannichfaltig waren auch die Interessen, welche in Göthe wachgerufen wurden. »Die Jurisprudenz«, schreibt er, »fangt an, mir sehr zu gefallen. So ist's doch mit allem, wie mit dem Merseburger Bier, das erstemal schauert man, und hat man's eine Woche getrunken, so kann man's nicht mehr lassen. Und die Chymie ist noch immer meine heimliche Geliebte« Brief an Fräulein von Klettenberg 26. Aug. 1770 bei Schöll Briefe und Aufsätze von Göthe aus den Jahren 1766–86. Weimar 1846. S. 46.. Von Jung wird berichtet, daß er vorzüglich Göthe veranlaßt habe, die medicinischen und naturwissenschaftlichen Vorlesungen zu besuchen Stöber a. a. O. S. 122.. Mit dem zweiten Semester hörte er Chemie bei Spielmann, Anatomie bei Lobstein Sämmtliche Werke. Bd. 21. S. 181., unter dessen Anleitung er später auch die Klinik besuchte und dessen »schöne hippokratische Verfahrungsart« ihm endlich auch seinen Abscheu gegen die Kranken ganz überwinden half Ebendaselbst. Bd. 22. S. 4. Vergl. das Urtheil über Zimmermann Sämmtliche Werke. Bd. 22. S. 257.. Später ging er auch in das Klinikum von Ehrmann dem Vater und in die geburtshülflichen Vorlesungen seines Sohnes Ebendaselbst. Bd. 21. S. 197.. Am meisten aber wirkte auf ihn Joh. Friedr. Lobstein, einer der ersten Anatomen und Chirurgen der Zeit, dessen Ruhm viele Fremde heranlockte. So erschien auch Herder, um sich von dem Manne, der ein eignes geschätztes Instrument zur Operation der Thränenfistel erfunden hatte Michel. p. 46., heilen zu lassen. Die Cur zog sich lange hin, aber sie gab Göthe die Gelegenheit zu einer innigen Bekanntschaft mit Herder, dessen milde theologische Anschauung und dessen weitgreifende Gedanken über die Entwickelung der Menschheit ihn noch lange Jahre hindurch vielfach leiteten und bestimmten Sämmtliche Werke. Bd. 21. S. 234. 240. Bd. 36. S. 14. Bd. 27. S. 37.. Das von Schöll herausgegebene Tage- oder Notizbuch Göthe's aus dieser Zeit giebt uns einen Einblick in die mannichfaltigen Anregungen und Beschäftigungen, die ihm hier zukamen S. Beilage V. und die bis in seine späteste Zeit nachwirkten. Die Erzählung von den anatomischen Studien Wilhelms, welche sich in dem Schlusse der Wanderjahre findet, und die Beziehung, in welche diese Studien zu der Chirurgie gesetzt werdenSämmtliche Werke. Bd. 19. S. 18. Die weitere Entwickelung der an dieser Stelle ausgesprochenen Gedanken findet sich in einem Schreiben an Beuth über plastische Anatomie. Sämmtliche Werke. Bd. 32. S. 321., hat ganz deutlich die Straßburger Erinnerungen zur Grundlage. Nirgends freilich ist die Beziehung so unmittelbar, als im Faust, der nachweisbar aus der Anschauung des Puppenspiels in Straßburg hervorging Schöll a. a. O. S. 131. Stöber S. 11. und der uns den jungen Dichter zeigt, wie er, nachdem er alle Facultäten durchwandert, wieder zu seiner mystischen Geliebten, der Alchymie zurückkehrt, um die »Wahlverwandtschaften« der Körper, die Symbole, vielleicht die Träger der Wahlverwandschaften der Geister, zu schauen Wegen der Elsässer Beziehungen der Wahlverwandtschaften. Vgl. Stöber. S. 12..

Drum hab' ich mich der Magie ergeben.

Man muß diese schönen Tage des Studentenlebens im Elsaß kennen, wenn man die ganze Innigkeit der Zueignung verstehen will, welche dem Faust vorangestellt ist.

Gleich einer alten halbverklungnen Sage,
Kommt erste Lieb' und Freundschaft mit herauf.

Vorüber! vorüber! Aber aus dem Schmerz der Trennung rang sich die wahrhaft physiologische Erkenntniß los, das Rechte sei das, was uns, unserer Natur, dem Gesetze unseres Wesens gemäß ist »Jeder geht in der aufsteigenden Linie seiner Ausbildung fort, so wie er angefangen.« Eckermann. I. S. 220.. Aus den Banden der Mystik hob sich frei der Realist, der Humanist empor, und als er 1775 die berühmte Rheinreise mit Basedow und Lavater machte,

Prophete rechts, Prophete links,
Das Weltkind in der Mitte,

da war in ihm der ästhetische Zustand für immer gefunden. Der mystische Züricher Diakonus hat das Verdienst, ihm, wie später Gall Riemer. Briefe an und von Göthe. S. 300. Die Anwesenheit des berühmten Phrenologen in Weimar fällt in 1806., eine nächste Brücke zur Fortsetzung seiner Naturstudien geboten zu haben, denn Göthe ward der eifrigste Mitarbeiter an dem großen physiognomischen Werke Lavater's, zu dem er zahlreiche Zeichnungen, besonders von Thierköpfen, Gedicht und Text geliefert hat Sammtliche Werke. Bd. 25 S. 195. Vergl. Bd. 22 S. 372. Eckermann. II. S. 70.. Die Physiognomik führte zur Knochenlehre Siehe Beilage VI., nicht bloß zum Zwischenkiefer, sondern auch zur Wirbeltheorie des Schädels, und wenn es mir gelungen ist, durch die genauere Darlegung des Einflusses, welchen die Wirbelkörper des Schädelgrundes auf die Bildung und Anordnung der Knochen nicht bloß des Schädels, sondern auch des Gesichts ausüben, die Ahnungen Lavater's von der Bedeutung der starren architektonischen Grundlagen des Knochenbaues für die künstlerische und physiognomische Auffassung zur Klarheit zu entwickeln, so verdanke ich es wesentlich der Anwendung jener genetischen Methode und der weiteren Entwickelung jener Wirbeltheorie, die Göthe geschaffen hat Siehe Beilage VII..

Ich sage geschaffen, denn ich halte die Bedenken, welche der sonst so gerechte Lewes in diesem Punkte gegen die Prioritäts-Ansprüche Göthe's zugelassen hat G. H. Lewes The life and works of Goethe. Leipz. 1858. II. p. 135 sq., und welche die meisten Naturforscher in dieser oder jener Weise theilen, nicht für gerechtfertigt. Weder Peter Frank, noch Oken können das Recht in Anspruch nehmen, die Entdeckung der Wirbeltheorie des Schädels gemacht zu haben Siehe Beilage VIII.. Die Zeit der Entdeckung ist durch den, erst in der neuesten Zeit bekannt gewordenen Briefwechsel Göthe's mit der Familie Herder sicher festgestellt, und alle Anschuldigungen, besonders Oken's, sind dadurch endgültig widerlegt. Unter dem 4, Mai 1790 schreibt Göthe aus Venedig an Herder's Gattin: »Durch einen sonderbar glücklichen Zufall, daß Götze (sein Diener) zum Scherz auf dem Judenkirchhofe ein Stück Thierschädel aufhebt und ein Späßchen macht, als wenn er mir einen Judenkopf präsentirte, bin ich einen großen Schritt in der Erklärung der Thierbildung vorwärts gekommen.« Aus Herder's Nachlaß. I. S. 121. Dies war der zerschlagene Schöpsenkopf, an dem sich augenblicklich der Ursprung des Schädels aus Wirbelknochen offenbarte und damit das Geheimniß der knöchernen Grundlage des nachmals sogenannten »Wirbelthieres« erschloß Sämmtliche Werke. Bd. 40 S. 447 u. 527..

Pouchet hat geglaubt, diese Epoche machende Entdeckung auf jene wunderbare Faustfigur des 13. Jahrhunderts, Albertus Magnus, der eine Zeit lang Bischof in Regensburg war, zurückführen zu können Siehe Beilage IX.. Bei der genauesten Durchsicht des Thierbuches, welches uns der große Predigermönch hinterlassen hat, habe ich keine Stelle der Art aufgefunden. Göthe hat das wichtige Gesetz erkannt, nicht auf fremde Anregung, sondern aus eigenem Drange des Forschens. Wie er schon bei seiner ersten italienischen Reise von der Physiognomik zur Kunst fortschritt, so ist er nachher von da zur Wissenschaft gegangen, um den geheimnißvollen Bau des menschlichen Kopfes zu ergründen. In Rom stand er in künstlerischer Bewunderung vor dem Schädel Raphael's in der Akademie Luca Sämmtliche Werke. Bd. 24 S. 261 u. 290.; in Weimar fiel ihm die schwerere Ausgabe zu, den Schädel Schillerns, der mit anderen zusammen in einer Gruft gefunden ward Palleske. II. S. 415., wieder zu bestimmen und so noch über das Grab hinaus den geliebten Freund zu schützen, den er so lange überlebte. Wie rührend ist der Gesang des Greifes, als er das todte Gebein ergreift:

Geheim Gefäß! Orakelsprüche spendend,
Wie bin ich werth dich in der Hand zu halten?

Das war im Jahre 1826. Noch stand der 77jährige Mann ungebeugt da. Aber auch seine Sonne neigte sich zum Niedergang. Längst waren die Tage vorüber, wo er mitten im Winter zu Pferd den Harz durchstreifte, von süßer Frauen Lieb' geleitet. Damals sang er:

Umgieb mit Wintergrün,
Bis die Rose wieder heranreift,
Die feuchten Haare,
O Liebe, deines Dichters!

Jetzt deckte des Lorbeers ewiger Schmuck das kühlere Haupt. Die Geschicke dieser Welt erschütterten ihn wenig mehr. Die Julirevolution hatte eine alte Dynastie auf immer von dem Throne geworfen. Eckermann besuchte ihn am Tage, wo diese Nachricht in Weimar anlangte. »Nun!« rief Göthe ihm beim Eintritte entgegen, »was denken Sie von dieser großen Begebenheit? Der Vulkan ist zum Ausbruch gekommen; Alles steht in Flammen, und es ist nicht ferner eine Verhandlung bei geschlossenen Thüren!« Und als sich Eckermann unwillig über das französische Ministerium, das an Allem Schuld sei, äußerte, da sagte der alte Naturforscher: »Wir scheinen uns nicht zu verstehen. Ich rede gar nicht von jenen Leuten; es handelt sich bei mir um ganz andere Dinge! Ich rede von dem in der Akademie zum öffentlichen Ausbruch gekommenen, für die Wissenschaft so höchst bedeutenden Streit zwischen Cuvier und Geoffroy-St. Hilaire.« Eckermann. III. S. 339. Vgl. 353.

Geoffroy's Streit war Göthe's Streit. Denn der berühmte Verfasser der Philosophie anatomique hatte es übernommen, die Methode des deutschen Dichters in Frankreich zur Geltung zu bringen. Ihm gegenüber stand der größte lebende Kenner des Thierreiches, Georges Cuvier, ein alter Eleve der Carlsschule zu Stuttgart, der den wissenschaftlichen Ernst von Kielmeyer gelernt hatte. Und dieser wieder war ein junger, wenig beachteter Mensch gewesen, als sein Mitschüler Schiller die Akademie verließ. Geoffroy und Cuvier – beide kämpften mit Waffen, in deutschem Feuer gehärtet Siehe Beilage X..

Da hielt es den alten Helden nicht länger. Noch einmal faßte er den Griffel und schrieb mit sicherer Hand das Urthell über die Prinzipien der Philosophie des Thierlebens. Galt es doch, den philosophischen Denker gegen die herbe Kritik des strengen Forschers zu schirmen. Und noch ein zweites Mal – es vergingen dazwischen zwei Jahre – setzte er an und entrollte ein Gemälde von dem Entwickelungsgange der wissenschaftlichen Zoologie, wie er selbst ihn mitgemacht hatte. Seine großen Zeitgenossen, die nun alle dahingegangen waren, die Führer in Anatomie und Zoologie ließ er, wie ein Feldherr, vor dem Auge seines Geistes vorüberziehen. Da kam der edle Graf Buffon, dessen Naturgeschichte in demselben Jahre erschienen war, da Göthe geboren ward. Da kam Daubenton, dessen Forscherblick zuerst die Verbindung des Schädels mit der Wirbelsäule schärfer erfaßte. Da Petrus Camper, der würdige Holländer, der den Gesichtswinkel entdeckt. Da erschienen die Freunde, Thomas Sömmerring und Merck, die treuesten Helfer in den Tagen der Jugend.

Die Heerschau ging zu Ende. Der lorbeergeschmückte Feldherr durfte sich den hohen Verblichenen ebenbürtig erachten. Und so schrieb er das Datum unter die Schrift:

Weimar, im März 1832.

Darnach schrieb er nichts mehr. Am 22. März schaute sein Auge dieses Licht zum letztenmal. Und sein letztes Wort war:

Mehr Licht!

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