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Der kleine Kuhhirt, im Dorfe nur der Bub genannt, hatte noch wenig Beachtung in seinem Leben erfahren; er nahm sein Mittagsmahl jeden Tag in einem andern Bauernhaus ein und legte seinen Löffel nie anders als mit dem Stoßseufzer weg:
»Jetzt möcht' ich gerad noch emal von vorne anfange –«
Die Schlafstätte hatte er bei einem armen Weib, der Kräuter-Rose. Diese verdiente ihren Unterhalt durch den Verkauf von Kräutern, die sie in die Apotheke nach St. Blasien trug, besaß nichts außer einem morschen Häuslein und war froh um die paar Pfennige, die ihr die Gemeinde für die Schlafstelle des Hirtenbuben zahlte; sonst kümmerte sie sich wenig um ihn, und der Bub mußte, wenn er einen besonders schwierigen Riß an seinem Kittel nicht zusammenbringen konnte, immer erst einen großen Haufen Kräuter sammeln und der Großmutter bringen.
»Ich bin nur für's Bett und die Morgensupp' bezahlt,« sagte sie, »man muß nit so dumm sein und der Gemeind' was umsonst thun –«
172 Aber gut war sie darum doch, und der Bub hing an ihr, denn über ihre Morgensuppe ging ihm nichts; die war so dick, daß der Löffel drin stecken blieb, und nach was allem sie schmeckte, hatte er noch nie ermitteln können.
»O, ich kann noch ganz andre Suppe koche,« behauptete die Alte, »aber so lang die Gemeind' so geizig ist und kein ordentliches Kostgeld für dich zahlt, mach' ich ihr gewiß nit den Narr, so gern ich dir auch was zu lieb' thät.«
Der Bub fand das in der Ordnung und fühlte sich der Großmutter für diese Worte um so mehr verpflichtet, als außer ihr noch nie ein Mensch den Wunsch gegen ihn geäußert, er möchte ihm gern etwas zu lieb thun.
Aber die Existenz des Kuhhirten sollte eines Tages ihrem dunklen Loos der Nichtbeachtung entrissen werden.
Es war im Sommer 1895, als dem kleinen Dorf an der Albstraße große Ehre wiederfuhr. Das Fürstenpaar hatte der Gemeinde ein Kirchlein bauen lassen, und nun kamen die Herrschaften selbst von St. Blasien herüber gefahren, um das Werk ihres Baumeisters in Augenschein zu nehmen. Böllerschüsse ertönten, und es war alles geschehen, den Empfang der hohen Gäste so würdig wie möglich zu gestalten.
Am andern Morgen in der Frühe blieb der Hirt, ganz gegen seine Gewohnheit, mit emporgezogenen Armen und weit aufgerissenen Augen auf seinem Strohsack sitzen, statt wie sonst, sobald es tagte, das ihm in der dunkeln Ecke der Küche angewiesene Lager zu verlassen.
173 Was ging ihm aber auch alles im Kopf herum, war doch der gestrige Tag der ereignißreichste seines Lebens gewesen.
»Bub,« hatte der Bürgermeister vor der Ankunft der Herrschaften zu ihm gesagt, »du stehst an der Brück', und wenn der Landesvater kommt, ziehst 's Hütle, bleibst aber fest an deinem Platz, denn du bist der Hirt und gehörst zum Vieh –«
Und er hatte es befolgt; dicht an der Brücke hatte er sich aufgestellt, seiner Herde zugewandt, die ihren Weidplatz neben der zwischen Steinblöcken und Geröll einherfließenden Alb hatte.
Und so, mit dem Rücken gegen die Straße, war er auch beim Herannahen des Zuges stehen geblieben, hatte den Filz vom Kopf gerissen und mit weithin schallender Stimme den Landesvater leben lassen; sodann hatte er in ein uraltes längst ausgedientes Horn hineingeblasen, das so gräßliche Töne von sich gab, daß ein paar Ziegen in hellem Schreck über die umherliegenden Steinblöcke setzten.
Der Landesfürst aber hatte dem eifrig darauflosblasenden Buben unter herzlichem Lachen auf die Schulter geklopft; dieser war jedoch von seiner Hirtenpflicht so durchdrungen, daß er es selbst in diesem Augenblicke nicht wagte, sich von seiner Herde weg und dem Fürsten zuzuwenden; erst als der Zug den kleinen Vorhügel bestieg, aus dessen Mitte das Kirchlein prangte, erlaubte er sich, dem Fürstenpaar nachzusehen.
»So, Büble, hast dein' Sach' brav gemacht,« hatte der Bürgermeister nach der Abfahrt der Herrschaften zu 174 ihm gesagt, »sollst auch eine große Schüssel Kaffee habe, heut Abend für die Ehr', die dir widerfahre ist –«
Eben an diese Ehre dachte er des Morgens beim Erwachen, die war's, die ihm zu schaffen machte. – Allein die Großmutter weckte ihn ziemlich unsanft aus seinen Betrachtungen.
»Was ist mit dir?« rief sie unter der Küchenthüre, »noch nix geschehe! – kein Feuer brennt, kein Wasser geholt – was hast denn heut', Bub?«
»Ich hab' halt jetzt an andre Sachen zu denke,« sagte er.
»Eh, um's Himmels willen, an was auch?« fragte die Alte und stopfte eine Handvoll Reisig in den Herd.
»An was? wie könne Ihr auch so dumm frage – hab' ich's Euch nit gesagt, daß mich der Landsvater auf d' Schulter 'klopft hat? jetzt weiß ich viele, mit denen ich mich nimmer g'mein mach', und Ihr könnt Gott danke, daß Ihr so was Feins im Haus habt.«
»Warum nit gar,« meinte sie, »wege selbem zahlt die Gemeind' noch kein Brösele mehr für dich –«
Der Bub erklärte: »Ihr sind halt wie der heilig' Thomas, der auch nie nix 'glaubt hat – aber wartet nur –«
Droben im Berg bei seinem Vieh dachte er über den Fall nach und kam zu der Ansicht, daß man einen wie ihn nicht länger wie einen armen Teufel herum essen lassen dürfe, und wenn die Bauern nicht selbst darauf kamen, so war's an ihm, es ihnen zu sagen.
Gleich beim nächsten Mittagessen nahm er die Gelegenheit wahr, mit seinen Ansichten herauszurücken. 175 Der Bauer, bei dem er aß, hatte sich den ganzen Teller mit Speckschnitten beladen, und der Bub' bekam das Kraut, wie immer. Der Hirt, der sich sonst nicht gemuckst bei Tisch, erhob mit einem Mal die Stimme: »Ja, ja, so geht's auf der Welt, mich hat der Landsvater auf die Schulter 'klopft, und Ihr habt den Speck, aber die Ehr' ist mehr wert und d'rum frag' ich den Dreck nach Euerm Speck.«
Dem Bauern blieb der Bissen fast im Hals stecken: »Du Bettelbub!« fuhr er auf und hob die Hand zum Schlag.
»Halte,« rief der Bub und duckte sich unter den Tisch, »mir ist mein Buckel jetzt viel zu nobel, als daß ich mir von jedem drauf 'rumtrommeln laß – ich g'spür's noch, wie mich der Landsvater tätschelt hat, und drum gebe mir lieber ein Stückle Speck, Bäuerin, denn jetzt bin ich's wert.«
»Herr Jeses, hat der Bub auf eimal ein Maul,« sagte sie und legte ihm schleunigst ein Stück Speck auf den Teller.
Am Sonntag aß der Hirt bei seinem Pfleger, dem Gemeinderat; der hatte ein süssiges Weinle neben sich stehen, dem er eifrig zusprach, und der ihm die Nase mit dem schönsten Karmin färbte. Zu unterst am Tisch saß der Bub und wartete wie immer, bis sich der Bauer und die Bäuerin, die Kinder und der Knecht satt gegessen und man ihm den Rest der Mahlzeit zuschob. Aber die alte Demut und Geduld war ihm abhanden gekommen, er fing an auf dem Tisch zu trommeln und fragte ganz keck: »He, wird's bald?«
176 »Oho, Büble, was soll denn das heiße?« fragte der Bauer, »der Nachbar hat schon Klag' geführt über dich, es sei kein Auskommen mehr mit dir, was ist dir denn auf eimal in den Kopf gestiege, he?«
»Der Wein nit,« gab der Bub zur Antwort, »aber 's thät sich gewiß schicke, wenn ich auch emal ein Gläsle auf dem Landsvater sein Wohl trinke thät, für die groß' Ehr', weil er mich auf d' Schulter 'klopft hat.«
Der Bauer lachte laut auf: »Geh' her, geh' in Gottesname her, 's soll nit heiße, daß ich mich verwehrt hab, wenn du den Landsvater lebe lasse willst; 's kommt mir auf ein Schlückle nit an.«
Er hielt dem Hirten sein volles Glas hin, der's ansetzte und austrank, eh sich's der Bauer versah.
»Großmutter,« sagte der Bub des Abends, zwischen Thür und Angel stehend, denn in die blank gescheuerte Stube durfte er nicht, »Großmutter, jetzt werdet Ihr sehe, jetzt wird's bald 'rum sein, daß ich berühmt bin –«
»O Bub,« seufzte sie, »was hilft's, wenn dir's nix eintragt, die Mittel sind die Hauptsach' in der Welt, die Ehr' kommt erst hintenach –«
Allein in der That, die bisher so unbeachtete Existenz der Gemeindewaise machte den Bauern plötzlich zu schaffen; keiner wollte den vorlauten Buben mehr am Tisch haben. Nun wußten sie längst, daß von den Behörden das Herumessen der Gemeindewaisen nicht mehr gern gesehen wurde, und es bereits da und dort eingeführt war, die Kinder bei einer Familie in Kost und Logis zu geben. Man hatte jedoch seither die Ausgabe 177 gescheut und lieber ein bischen Essen hergegeben, als die paar Mark jährlichen Kostgeldes.
So kam's, daß die Großmutter eines Tages zum Bürgermeister gerufen wurde, bei dem sie leichenblaß und an allen Gliedern zitternd eintrat. Sie war fest davon überzeugt, irgend eines schweren Verbrechens angeklagt zu sein, von dem sie zwar nichts wußte, heulte und schluchzte aber auf das jämmerlichste darauf los und beteuerte ihre Unschuld bei allen Heiligen des Himmels. Es dauerte eine geraume Zeit, bis sie endlich verstand, was der Bürgermeister von ihr wollte – nämlich, ob sie gewillt sei, für ein Monatsgeld von vier Mark den Hirten ganz bei sich zu beköstigen. Es dünkte ihr ein Vermögen, und so war ihr und dem Buben geholfen.
Er aber vergaß der Ursache seines jetzt so viel menschenwürdigeren Daseins nicht, d'rum als der Sommer 96 herankam und allerwegen im Land von nichts anderm die Rede war, als von des Landesfürsten siebenzigsten Geburtstag, da nahm sich der Bub vor, ein Freudenfeuer anzuzünden, so groß und herrlich wie nie eines im Thal gesehen worden war. Fast drei Stunden hatte er zu steigen bis zum Gipfel des felsigen Riesen, der sich kahl und spitz aus den dunkelbewaldeten Nebenbergen erhob. Das ganze Albthal ließ sich von da oben übersehen mit seinen Dörfern, hellblinkenden Bächen und spitzen Kirchtürmlein; St. Blasien's runde Domkuppel aber ragte mächtig aus dem Schwarz der Tannen und derhinter stieg der Feldberg auf.
Indeß der Bub sah von alledem nichts; ihm lag 178 nur eins im Sinn: im Schweiße seines Angesichtes schleppte er das Holz herbei für sein Freudenfeuer und brachte jeden Sonntag da oben zu, ob es regnete oder die Sonne schien.
Eines Abends berichtete er der Alten: »Jez geht mir mein Holzhaufe schon hoch über den Kopf, und wir sind erst im Juli; gebt acht, wenn der Landsvater mein Bergfeuer sieht, wird er gleich herkomme und sage: das war's allerschönst', und der Bürgermeister wird's ihm sage: 's ist im Hirt sein's. Glaubt Ihr, er kennt mich noch?«
»Eh auch, Büble,« rief die Großmutter aus, »weißt denn nit, sie bleibe ja nur den Juli in St. Bläsi, im September sind sie schon lang wieder z' Karlsruh« –
»O Ihr,« fuhr der Bub auf, »jetzt freut mich mein ganzes Bergfeuer nimmer und Ihr sind schuld –«
Sie lachte und kochte die Abendsuppe, die der Bub zum ersten Mal ohne allen Genuß verschlang.
»He, he!« fuhr die Alte ihn nach einer Weile an, soll ich vielleicht 's Sach' aufwäsche heut?«
Er nahm den Suppentopf und die zwei Zinnlöffel und ging verdrossen damit zum Brunnen. Nach einer Weile kam er wieder herein, aber mit einem ganz anderen Gesicht.
»Großmutter,« sagte er, sich dicht vor sie hinstellend, »ich hol Euch zehn Woche nacheinander alle Tag ein Körble Kräuter, wenn Ihr mir Eure Feder gebt und ein Briefle nach St. Blasien mit nehmt, daß ich keine Mark' kaufe brauch –«
»Ja, Bub, an wen willst denn du um's Gottswille schreibe?«
179 »An den Landsvater wegerm Bergfeuer; für die Bauern hab' ich das viel Holz nit zusammengetrage; wollt Ihr mein Briefle in's Kurhaus bringe oder wollt Ihr nit, Großmutter?«
Sie überlegte; alle Tage ein Körblein Kräuter, das war ihr sehr verlockend – warum sollte sie dem Buben den Wunsch abschlagen – sie konnte ja den Brief ruhig in den Bach werfen, der sagte es nicht weiter.
»Nun ja denn,« meinte sie, als der Hirt von neuem in sie drang, »so schreib' in Gottsname, ich nehm' dein Briefle mit.«
Er machte sich sofort an's Werk, indem er seinen Schulsack herbeiholte und den Tisch an's Fenster rückte. Die Alte kam mit der Feder und blieb dann hinter dem Buben stehen, die Arme in die Seiten gestemmt und mit dem ganzen Gesicht lachend, während er unverzüglich und mit dem heiligsten Eifer begann:
»Lieber Herr Großherzog von Gottesgnaden.
Ich und im Dorf ist alles Gesund, gottlob. Auch mit dem Vieh habe ich mehr Glück. Im letzten Sommer ging es mir Schlimm. Es ist ein kleines Kalb das Beste davon das kam mir zwischen zwei Baumwurzeln mit dem Fuß dazwischen und weil es wieder heraus wollte brach es sich den Fuß und zwar so Gewaltig daß in folge das Schnelle schlachten hat sein müssen. Auch bitte ich Ihnen um Verzeihung, daß ich auf eine Seite vom Schulheft schreibe, die ich herausgerissen habe und nicht mit der Bost geschrieben. Aber die Großmutter ist so gut und nimmt ihn gottlob mit.
180 Lieber Herr Großherzog, ich habe Ihnen nur sagen wollen damit Sie es gleich wissen wenn am nächsten Sonntagabends 9 ein herrliches Berg Feuer brennt. Ich bins. Es ist für den Geburtstag. Nur ein wenig zu früh. Aber das macht nichts. Ich bitte Ihnen es als eine große Freude anzusehen, die ich Ihnen habe Allein machen wollen. Nicht für die gewönigligen Leut im Thal, für die habe ich das viele Holz nicht geschlebbt. Es wird ein noch nie dagewesenes Berg Feuer sein denn es hat große Strappazien gemacht. Auch liegt mir nichts daran was der Bürgermeister sagt, wenn nur Sie wissen warum.
Lieber Herr Großherzog, ich bitte Ihnen um Verzeihung wenn ich jez Kleiner schreibe. Es ist kein Blatz mehr. Bleiben Sie Gesund. Und haben Sie keine angst ich werde auch am 9 Sebtem. ein Berg Feuer machen. Aber nicht so Groß. Ich und Alle im Dorf werde mich sehr Freuen Ihnen wieder Einmal zu sehen. In jede Kutsche werde ich schauen.
Es grüßt Ihnen Vielmal
Ihr dankschuldiger
Hirt
Es geht mir jez recht gut bei der Großmutter denn sie war Köschin in Freiburg beim bäckerschmid drum kann sie's. Noch viele Grüße an die liebe Frau Großherzogin und sie sollen alle zwei Gesund bleiben. Jez muß ich aber Schließen denn es nimmt Alles ein End auch Ich. 181