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Abseits vom Dorf liegt der Hof des Simeon Pfalzel.
Wo die Berglehne eine Waldblöße zeigt und sanft abfällt in ein schönes Thal, hängt das Haus und schaut aus niedrigen, gedrückten Scheiben in die liebliche Enge nieder, durch welche das muntere Kind der Mosel, die kleine Kyll, jetzt schäumt und rauscht wie ein Gebirgsbach, jetzt still und sittig dahinflutet.
Der Simeon Pfalzel ist kein reicher Mann. Das Dach über seinem Kopf ist nur von Stroh, die Mauer um sein Gehöft bröcklicht; im Stall brüllen nur wenige Kühe, ein dürrer Hahn kräht auf dem Misthaufen, und die zwei Ackergäule sind richtige Schindmähren. Kein Wunder, daß der Bauer mißvergnügt ist und sein Weib auch; dem hängt zu allem noch ein Kropf am Halse, eine recht überflüssige Aufgeblasenheit.
Heut wehen die ersten Frühlingswinde um den Pfalzelhof und rütteln mit jugendlichem Ungestüm an den schiefen Fensterläden, daß sie hin und her klappern und das schwere Hofthor in den verrosteten Angeln kreischt.
Es ist April.
Wie ein lachendes Kind in schneeigen Windeln liegt Ehrang, das Dorf, zwischen Blütenbäumen; mit schimmerndem Weiß sind die Gärten überschüttet. Das ist ein Glänzen und Prangen.
Vor dem Hof des Pfalzelbauern standen ihrer drei, zwei Männer und ein Weib, und lugten scheu durch eine Spalte im Thor. Die Männer hatten langes, straffes Haar, trugen runde Filzhüte, blaue Hemden, dazu allerhand Drahtwaren über der Schulter – armes Slowakengesindel – das Weib war gelb, schwarzäugig, früh verblüht und schleppte ein Kind, in eine Plane gebunden, auf dem Buckel. Sie sahen alle müde, hungrig und verkommen aus; man hatte sie aus dem Dorf gejagt, nun versuchten sie's hier an dem einsamen Gehöft.
Sie stießen das Thor auf, ein rauhhaariger Hund sprang ihnen mit wütendem Gekläff entgegen, und hinter'm Stall schlug der zweite an.
»Schnorranten! Schnorranten!« kreischte jetzt eine gellende Weiberstimme vom Fenster her, und aus dem Haus stürzte der Bauer, einen derben Knotenstock schwingend.
»Häh, ihr doa, packt eich! Ludervolk, Zigeiner! – Watt? Honger! Brud! Eloa kommen ech – han sälwst neist ze fressen – schärt eich zom Deiwel.«
Ohne ein Wort wichen die drei zurück, gewandt schlüpften sie zum Hofthor hinaus; die Männer liefen den Waldweg zur Kyll hinunter, nur das Weib folgte langsamer, schleppte müde die Füße und schaute oft verlangend um. Das kleine Geschöpf in der Plane erhub ein jämmerliches Winseln. Nun hockte die Mutter nieder am Weg, langte das Bündel vom Rücken, schlug ihren Rock um dasselbe und wiegte es sacht hin und her. Ihre Augen blickten mit einer stumpfen Gleichgiltigkeit vor sich nieder, der Wind blies ihr die dünnen Kleider durch und durch und zerrte das fahlrote Kopftuch in den Nacken.
»Pst! pst!«
Sie hörte nicht.
»Pst! Pst!«
Droben an der Mauer stand eine Gestalt und winkte. Das Weib fuhr auf und blickte sich scheu, um, dann schlich es behend näher. Am Thor die Winkende, eine große Dirne in bäuerischer Tracht, sah sich erst nach allen Seiten um, zog dann schnell ein derbes Stück Brot aus der Tasche und hielt es dem Weib entgegen.
»Dao, for Eich!«
» Diekuji, diekuji, danke,« murmelte die Fremde und grub heißhungrig ihr blitzendes Gebiß in den Kanten. Ein Windstoß wehte ihr dabei die wilden Haare zwischen die Zähne. »Hu, kalt, friert sich arme Kind, chudak!«
Mit einem unbeschreiblichen Ausdruck blieb der Blick der Dirne auf dem kleinen, elenden Gesicht haften. Sie erbleichte jäh, riß dann mit einer heftigen Gebärde das verhüllende große Tuch von ihrem Oberkörper und warf es über das Kind.
»Ah!« Die Fremde grinste und haschte nach der Hand des Mädchens. »Gute Frau, sehr gute Frau!« wies dann erst auf sich, dann auf die andere, dabei verständnisinnig mit dem Kopfe nickend. »Ah, gute Frau, so jung, wird haben auch bald kleine Kind – saplatsch pan, vergelt's Gott!«
Ein unwillkürliches Zittern überflog die Glieder der jungen Person, sie nickte stumm und schaute dann unbeweglich dem Weibe nach, das nun hastig dem Wald zulief und bald im abendlichen Dämmer hinter den Büschen verschwand. Nur das rote Kopftuch leuchtete noch einmal auf, das Wimmern der dünnen Kinderstimme klang zurück.
»Jesses Maria!« Das Mädchen am Thor schüttelte sich wie in innerem Schauer und biß die Zähne zusammen. –
Das war die Barbara Holtzer, des Pfalzelbauern Magd, die im Frühlingsbrausen am Thor stand und mit einem leeren Ausdruck in die Ferne starrte. Ihr junges Gesicht sah schmal und herb aus, keine Spur von Farbe auf den mattgebräunten Wangen, um den Mund ein Zug von Trauer und Trotz, in den tiefdunklen, gespenstisch großen Augen ein düsteres, ängstliches Fragen.
Vor einem Jahr hatte die Barbe anders ausgesehen, als sie in des Simeon Pfalzel Dienst trat. Da war sie rotbackig hinter den Hühnern dreingesprungen, hatte singend die Kühe zur Weide getrieben, war hurtig mit ihren bloßen Füßen den steilen Pfad zur Kyll hinauf und hinuntergehüpft, den schweren Wasserbottich auf dem Kopf oder die vollgepackte Hotte auf dem Rücken. Ernsthaft hatte sie zwar immer dreinschauen können für ihre zwanzig Jahre, und verstockt war sie schon als Kind; aber wenn eins nicht Vater noch Mutter mehr hat und von klein auf zwischen fremden Leuten herumgestoßen wird, kann der Ernst schon kommen. Lachen hatte sie nebenbei ja doch gekonnt.
Aber nun war's aus – alles aus!
Barbara schauderte und sah sich um – alles aus! Sie preßte die Hände gegen die Brust und seufzte tief. War's nicht am besten, sie lief hinunter und sprang in die Kyll? Die brauste und schäumte heut. – Wenn eins die Augen zumachte und warf sich auf den Grund, dann war das Wasser tief genug, um drinnen zu ertrinken mit aller Not. Aber nein, nein, das wär eine grausame Sünd'! »Du sollst nicht töten!« sagte der Herr Kaplan – und das ist gleich, ob man's selber ist oder noch was Ungeborenes. –
»Bah, wat dän spricht!«
Der trotzige Zug um Barbaras Mund trat stärker hervor, mit einer ungeduldigen Bewegung schleuderte sie die widerspenstige, schimmernd blonde Haarsträhne aus der niedern Stirn.
»Wann ech sterben wollt', däht dän mich net dran hinnern on kein Gebetbuch on kein Kirch. Wat später kömmt, dat waaß mer net, on wann ech in et ewig Fegfeuer muß, duht et lang net e su brennen als dat Quälen hei!«
Sie schlug sich mit der flachen Hand auf die Brust. »Jao, hei – hei!«
Große Thränen traten ihr in die Augen, sie starrte wieder eine Weile vor sich hin, dann rieselten die Tropfen langsam über ihre Wangen, und um ihre Lippen irrte es fast wie ein Lächeln. Sie faltete, die Hände.
»Maria, Modder Gotts! Gebenedeite unner den Weibern, verzeih mer de Sünd'! Ech duhn üwel; mitten in meiner Angst es mer't e su, als spürten ech en groß Freid; ech werden net mieh e su allein sein, e su einsam, ech werden wat Lebigs am Herz halen, wat mein es, mier zugehert – wan hän mech net heiraoden kann, net will,« – sie knirschte mit den Zähnen, und ihre Augen funkelten drohend – »soll hän et bleiwe laossen. Ech han mei Könd, dat han ech, dat kann mer keiner holen – on ech frein mich!«
Sie warf den Kopf in den Nacken, trat in's Thor zurück und schleuderte es kräftig hinter sich ins Schloß. Mit langsamem, schwerfälligem Schritt ging sie dem Hause zu. Dort war's im Flur schon dunkel, schwach tönte vom Dorf das Bimmeln des Abendglöckleins herüber. Das Mädchen bekreuzte sich und stieß die niedrige Stubenthür auf.
»Gelobt sei Jeses Christes!«
Simeon Pfalzel und sein Weib murmelten kaum hörbar den Gegengruß. Nur der junge Mensch am oberen Tischende antwortete mit klingender Stimme »In Ewigkeit Amen!« Aber er sah die Barbara dabei nicht an, und auch sie heftete den Blick unverwandt auf den Boden. Schweigend ließ sie sich nieder und tauchte den Zinnlöffel in die irdene Schüssel mit saurer Milch; sie aß mit Heißhunger, und die Schalenkartoffeln, die vor ihrem Platz, auf den blanken Tisch geschüttet, lagen, verschwanden im Umsehen.
Die vier Menschen redeten kein Wort.
Die zwei Alten schauten verdrossen drein; fast widerwillig sah der Bauer zu, wie rasch die weißen Zähne der Barbe die Bissen zermalmten, und die Bäuerin ließ mit deutlich erkennbarem Mißtrauen ihre stechenden Blicke über die Gestalt der Dienstmagd gleiten.
Der Sohn des Hauses, der schöne Lorenz, rückte bei jedem solchen Blick unruhig auf der Bank hin und her. Röte und Blässe wechselten auf seinem Gesicht. Die Hand, die den Löffel führte, zitterte, daß die Milch auf dem Weg zum Mund verschüttet ward. Er räusperte sich, und sein Löffel stieß in der Schüssel mit dem der Magd zusammen. Was fiel der Barbe ein? Sie saß hier so dreist, so – wo hatte sie nur ihr Tuch? Das that sie sonst nie ab, wegen ihrer argen Verkältung; heut fehlte es! Sein Fuß suchte unter'm Tisch den ihren, sein derber Lederschuh setzte sich mit warnendem Druck auf ihren Holzpantoffel.
Sie hob den Kopf und sah ihn starr an, ohne mit der Wimper zu zucken. Ihr bleiches Gesicht leuchtete ordentlich fahl in der Dämmerung, unter ihren Augen gruben sich blauschwarze Ringe ein.
Herr Jesses, wie sah sie aus! In der Brust des jungen Mannes pochte das Herz mit Ungestüm – wenn sie nur schwieg! Mit dem Vater war kein Spaßen, und wenn's gar die Anna, des reichen Pächters Tochter auf dem Ramstein, erfuhr – die war zu Trier bei den lieben Nönnchen in »Pennsjohn« gewesen und erst vor kurzem heimgekehrt, die war so zimperlich, die wollte dann vielleicht nichts mehr von ihm wissen – und er brauchte doch Geld, viel Geld, er war die Kujoniererei satt; wofür war er denn der schöne Lorenz? – Verflucht! Scheu glitt sein Blick zu der Mutter hinüber und von dort auf das Mädchen. Es lag ein wunderbares Gemisch von Besorgnis und Haß, Furcht und Leidenschaft in seinem hellen, begehrlichen Auge. Wenn die Barbe nur fort wäre, fort um jeden Preis – aber wohin? Geld hatte er keins, sie wegzuschaffen; hielt ihn doch der Vater so knapp, er mußte arbeiten wie ein Knecht und besaß doch keinen Pfennig. Daß mußte anders werden. Unwirsch riß sich der hübsche Mensch an dem starken Schnurrbart und wühlte mit der Linken in seinen krausen Haaren. Wär' sie nur weg! Und doch, wenn er sie so dasitzen sah, den blonden Kopf tief geneigt, die dunklen Wimpern wie ein Geheimnis auf den blassen Wangen, dann zerrte es an seinem Innern und stieg ihm verdunkelnd in den Blick. Er hätte sie in die Arme pressen mögen, bis ihr der Atem verging, ihr den festgeschlossenen, trotzigen Mund mit Küssen aufreißen, sie küssen, küssen in Lust und Pein, und dann – sie wegstoßen. »Ä!« Sie war der Stein des Anstoßes, der Fleck auf seinem Weg. Sie mußte fort.
Mit einem unwilligen »Kotz Donner« sprang der Bursche auf und warf den Löffel auf den Tisch.
»Häh,« fragte die Mutter, »woar giehste? Has de fertig gäß?«
»Woar soll dän Lorenz giehn?« lachte der alte Simeon und verzog dabei das lederfarbene Gesicht in unzählige Fältchen, »sich verlusteren uf den Ramstein, hän wird de Anna karesseren; Zeit es et, dat hän voran micht, mer brauchen Geld in de Wirtschaft – wat? – Häh? – Has de wat ze saon, Barbe?«
Das Mädchen hatte sich mit einem dumpfen Laut erhoben und schritt zur Thür; nun wendete es sich halb um.
»Ne, Bauer – de Küh brüllen, et es Fudderzeit!« Ihre Stimme klang tonlos, und doch saß ein verborgenes Grollen darin. »Et es Zeit, dat ech giehn!«
»Jao, dat glauwen ech aach.« Der Bauer lachte höhnisch und stieß sein Weib in die Seite. »Sag emaol, Mädchen, wie stieht et dann eweil met deiner Verkäldung, has jao heit kein Tuch om? Thät's besser eins omzubinnen – ech sagen der, zom ersten Mai kannste giehn, ech laaden ke lidderlich Framensch in meim Haus. Haste verstann?«
Barbara gab keine Antwort; sie stand wie gelähmt, die Arme hingen ihr schlaff zur Seite. Es war so still in der düstern Stube, daß das leise Ticken der grellbemalten Standuhr in der Ecke wie Getöse klang.
Keiner regte sich.
Der Bauer stand am Tisch, die schwielige Faust auf die Platte gestützt; das Weib saß und strich halb verlegen die faltige Schürze glatt; der Bursche zwirbelte seinen Schnurrbart und trat von einem Fuß auf den andern. Die Menschen konnten sich kaum mehr sehen; ein trauriges graues Abendlicht machte sich in dem niedern Raum breit. Nur die Gesichter tauchten wie hellere Flecken aus dem Dunkel. Von der Thür her kam ein zitternder Atemzug, dann sagte die Stimme des Mädchens ruhig:
»Ech ziehn net zom erschden, Bauer, ech ziehn zom fünfzehnden Mai, vierwöchentliche Kündigung es afgemach. Dir därft mech net vorher rausschmeißen. Ech bleiwen bis zom fünfzehnden; äwer ziehn ech ehnder, müßt dir mer Kost on Lohn gäwen; dat es mei Recht.«
»Wat, wat?« Der Bauer schlug auf den Tisch, daß die Schüssel tanzte. »Seid dir gäckig?! Sich einer dat Framensch an, et will mer Vorschriften gäwen! Halde Maul, sei du e su froh, dat ech dech net morgen erausschmeißen!«
»Versucht et!« Das Mädchen kreuzte die Arme über der Brust und trat einen Schritt näher. »Wat haon ech gedahn, dat dir mech schimpft?«
»Dau – dau –« Der Bauer schnappte nach Luft, und nun mischte sich das Weib mit gellenden Tönen ein.
»Fressen on saufen on net satt ze kriehn on neist mieh arweiten können on eim en Bankert uf den Hals setzen – e ne, e su ebbes schreiwt Sankt Paulus net; schämen muß mer sich vor de Leut, mit de Fingren weisen se uf ons Magd – e ne, e ne, dat es net anners, eraus muß se!«
»Ehrlich on unschullig sein ech ze eich kommen,« stieß das Mädchen jetzt zwischen den Zähnen hervor, »on nau, nau – waor sollen ech giehn, dreiwt dir mech in't Waasser?«
»O dau mein Heiland,« die Bäuerin kreischte laut auf und bekreuzte sich dann, »e su en frech Mensch, hör aner, e su en frech Mensch!«
Und der Mann rief mit dröhnender Stimme: »Ehrlich on unschullig? – Haha! Willste vielleicht gor saon, in onsem Haus haste dein Ehr on Unschuld verloren? Duh kriehn ech et äwer saat – wän von uns hat se der geholt, sag, wän?« Er schrie sie an, und dabei flog sein Blick wie ein scharfes Messer zu dem Sohn hinüber, der den Kopf gesenkt hielt und unverwandt auf seine Schuhspitzen starrte.
Des Burschen Wangen brannten, sein Herz klopfte ungestüm. – Wenn sie sprach, wenn – aber nein, sie fuhr sich jetzt mit dem flachen Handrücken über die Augen, als wische sie dort etwas fort und sah den Bauern fest an:
»Ech han net gesaot, dat mer jemand von eich de Ehr geholt haot.«
»No, wän dann? Red!«
»Ech sein eich dao drüwer kein Rechenschaft schullig, mein Ehr es emal weg on kemmt net widder. Bauer, dir braucht net e su ze schrein, ech ziehn am erschden Mai – guden Awend.«
Tonlos verklang ihre Stimme; die Thür fiel hinter ihr in's Schloß, fort war sie. Langsam schlorrten draußen ihre Holzpantoffeln über das Steinpflaster.
Wie ein armer Sünder schlich Lorenz Pfalzel am späten Abend desselben Tages den schmalen Pfad zu seiten der Kyll entlang. Er kehrte von Ramstein heim.
Der Ramstein ist eine alte Burgruine, die sich auf vereinzeltem Hügel, unweit Ehrang, im lieblichen Kyllthal erhebt. Neben dem verwitterten Gemäuer mit seinen hohen Fensterbogen und begrünten Zinnen liegt das weiße Haus, in dem Pächter Clässen wohnt, der Vater der hübschen Anna. Er ist ein wohlhabender Mann, hat fette Äcker und Weiden; die Gastwirtschaft, die er betreibt, bringt reichlich ein, die Städter von Trier kommen im Sommer in Scharen. Die hübsche Anna mit den Grübchen in den Wangen und den sanften Augen ist eine begehrte Partie. Der schöne Lorenz und die hübsche Anna machten ein ansehnliches Paar, wenn sie neben einander standen; warum sollten sie nicht eins für's Leben werden? Wenn der Lorenz auch kein Geld hatte, er war fleißig und stattlich, kein Mensch konnte was gegen ihn sagen; sein Ruf war goldklar, das war die Hauptsache auf dem Ramstein. Der Pächter und seine Frau waren arg fromm, und die Anna noch viel frömmer; die hielt was auf sich. Sie schlug die Augen nieder, wenn der Lorenz kam, und reichte ihm kaum die Fingerspitzen; sie trug sich städtisch und war so fein, so fein – 's war ein Mädchen wie eine Heilige. Seit ein paar Wochen schien der Lorenz Pfalzel auch gern des Heiligenscheins teilhaftig werden zu wollen; fast alle Abend stieg er zum Ramstein hinüber, saß dort in der Gaststube auf der braungebeizten Bank, schwatzte klug mit dem Pächter, machte sich bei der Mutter angenehm und sah sich die Tochter mit beredten, schwimmenden Augen an. Die hübsche Anna sagte meist nicht viel. Sie stickte, wie sie's bei den Nonnen gelernt, an einem Röckchen für unsere liebe Frau in der Kirche zu Ehrang; das war ein Gott wohlgefälliges Werk, und sie hob die Augen nur, wenn der Blick des Burschen gar so brennend auf ihr ruhte. Dann lächelte sie verschämt, und ein tiefes Rot stieg bis in ihre reine Stirn. Heut abend hatte der Lorenz sie wenig angeschaut, er hatte zerstreut vor sich hingebrütet und war bei jeder Anrede zusammengefahren. Die hübsche Kleine wunderte sich, als sie den Verehrer zur Hausthür geleitete; sonst benutzte er immer die Gelegenheit, ihr ein paar Schmeicheleien zuzuflüstern, die er so extrafein bei den Soldaten gelernt; heut nichts von alledem. Er sagte hastig »gute Nacht« und stürmte davon wie ein Besessener.
Lorenz Pfalzel rannte durch die Nacht neben der rauschenden Kyll daher, als wollte er mit der um die Wette laufen; dann stand er plötzlich wieder still oder setzte einen Fuß zögernd vor den andern. Es war sehr dunkel, am Himmel kein Stern; man konnte kaum den Weg erkennen. Feucht ging's nieder, von den Zweigen fiel es wie Thränen. Man hörte es tropfen. In den Büschen zur Seite rauschte es, der Bursche fuhr zusammen und sah sich scheu um – nichts – niemand! Wie drohende Riesen streckten sich die Bäume des Hochwaldes, die Eichen noch kahl, aber an den Buchen trieb's und schwoll in den Knospen; hie und da schon Keim und Blatt.
Hier, hier hatte er mit der Barbara gesessen – und hier bei dem Steinbruch zweigte der Pfad ab in die enge Schlucht, durch die es einsam und verborgen hinauf ging zur Genofevahöhle, wo er mit ihr geweilt in schwüler, wetterdurchleuchteter Nacht, vergessen von Gott und der Welt. Der schöne Lorenz stöhnte und schlug sich vor die Stirn. Das war heut abend wie ein Verhör beim Vater gewesen. – Jesus Maria, wenn sie nicht schwieg und im Dorf unten zeterte! – Dann war's vorbei mit der Anna und der Hochzeit und dem Geld. Der Bursche knirschte mit den Zähnen und beschleunigte seine Schritte – heut noch mußte er sie sprechen, sich ihr Schweigen sichern um jeden Preis!
Dem Marder gleich, so leise und vorsichtig, strich der Lorenz an der bröcklichten Mauer des Pfalzelhofes entlang, er schob sich durch's Thor und beschwichtigte mit geflüsterten Worten den Hund. Im Haus brannte kein Licht mehr, kein Laut zu hören; sie schliefen alle. Wie ein Dieb schlich er dem Stallgebäude zu; neben dem Kuhstall, in dem kleinen Verschlag, schlief die Barbara. Tap – tap – verstohlen hallte des Lorenz Tritt auf dem Pflaster, die Stallthür knarrte leise, er zog sie behutsam hinter sich in's Schloß; eine warm dunstige Luft schlug ihm entgegen. Die Kühe schnauften, die eine brüllte dumpf im Traum. Stockdunkel war's, durch das spinnverwebte Fensterchen fiel kein Schein zitternden Mondlichts.
Der Bursche lauschte – nebenan alles still – kein Atemzug!
Er tastete zu dem Bretterverschlag. Er stolperte, er stieß sich den Kopf, nun faßte seine Hand nach dem Griff des niedrigen Thürchens, er drückte ihn nieder – es ging nicht, drinnen ein Widerstand.
»Barbe, Barbara!« Heiser klang das Raunen durch die Dunkelheit. – »Barbe, maach uf, ech sein et!«
Keine Antwort.
Stärkeres Flüstern, Rütteln an den schwachen Brettern.
»Uf, Barbara, maach uf, ech sein et, dän Lorenz – maach –.« Kotz Donner, sie verstellte sich. – »Dau mußt mech heren, ech muß met der sprechen – gif Antwort, Barbe, Barbe – Barbara!«
Drinnen raschelte der Strohsack, die Bettstatt krachte, schwacher Lichtschein glomm auf, eine verweinte Stimme entgegnete:
»Jao, wat lärmste e su?«
»Barbe, maach uf, en einzig Word, ech giehn gleich widder – ech muß dech sprechen.«
»E su wart!«
An der Thür ward gebastelt, sie gab nach, der Bursche drängte hastig hinein. Die trüb brennende Stalllaterne auf dem Schemel neben dem Bett warf ihren Schein über die Gestalt des Mädchens, das im kurzen Unterrock mit nackten Füßen auf dem Estrich stand. Die Hand hielt den Strick, mit dem das Thürschloß festgebunden gewesen, die blonden Haare hingen zerzaust um das blasse Gesicht und fielen lang über die bloßen, schön gewölbten Schultern. Barbaras Augen starrten den Eintretenden groß und düster an:
»Wat willste von mir?«
»Barbe,« der Bursche griff nach ihrer Hand, sie riß sich los, »Barbe, et muß sein, dän Vadder merkt ebbes – du mußt weg.«
»Ech giehn jao.«
»Jao, äwer ganz weg mußte – bleiwste im Dorf, kömmt alles an den Dag, on et darf net eraus kommen, et darf net! Barbe, ech han kein ruh'ge Stund mieh, duh mer't ze lief, maach weg!«
»Waor?«
»O Jeß, waaß ech et – Jesses, Jesses!«
Der Lorenz faßte seinen Kopf in beide Hände; sie trat dicht an ihn heran und zischelte ihm in die Ohren:
»Sollen ech in't Waasser, in de Kyll?«
Er fuhr auf und starrte sie entsetzt an, er stammelte:
»Ne, e ne, net e su, net e su – dat maanen ech net.«
Sie lachte grell: »Häh, gelt? Duhste dech ferchten, ech däht der erscheinen im Schlaof on dech verfolgen in de Ewigkeit?! Sei ohne Sorg, ech giehn net in't Waasser – dem annern ze lief!« Ein unbeschreiblicher Zug von Schmerz und Hohn zitterte um ihre Lippen. »Fürcht dech net, ech maachen der kein Onverlägenhat – Dau bis dän Vadder von meim Kind, on dat liewen ech, daodrein es mer ales gäwen, wat Seligkeit haaßt – on sein ech drum verdammt! Ech giehn, Lorenz, sei ruhig!«
»O du mein Heiland!« Der Bursche stöhnte laut. »Barbe, dau duhst mer e su laad, ech sein der e su gud, äwer ech kann dech doch net heiraoden, de weißt, dän Vadder brächt' mech om – on kein Geld im Sack, neist, gaor neist – o je, o je!«
»Jao, wat ech saon wollt« – des Mädchens Augen bohrten sich plötzlich eindringlich in das Gesicht des Mannes – »dat de mech net heiraoden kanns, waaß ech, han ech gewußt, ehnder ech – äwer, wat saot dein Vadder heut? Dau karesserst met dem Anna? Laoß dat bleiwen, ech raoden der! Mech heiraodste net, dau kanns net, äwer en annere – ne!«
In wahnsinnig ausbrechenber Heftigkeit stieß sie das »Ne« fast schreiend heraus, sprang vor und krallte ihre Finger in den Rock des Burschen. Sie rüttelte ihn hin und her, daß er zitterte wie ein schwankes Rohr.
»Ales, ales han ech for dech gedahn, duhn ech; ech giehn, ech reden net, ech – äwer heiraoden en annre – ne, dat därfste net, dat därfste net, ech –« Sie schüttelte ihn wild und ballte dann die Fäuste. »Liewer sehn ech dech dud vor mer, als dat ech dech euer annern laoß – hörste, Lorenz – Lorenz!«
Die Stimme erstickte ihr, dumpf stöhnend ließ sie sich auf den Bettrand fallen und verbarg das Gesicht in dem groben Kissen.
Regungslos stand der Lorenz, er war totenbleich geworden und sah sich ängstlich um – er öffnete den Mund und schloß ihn wieder, nun kam es stammelnd über seine Lippen:
»Barbe, um Gotts willen schrei net e su, mer könnt et auswennig heren! Dat de mein Schatz bis, waaßte doch – ech – ech –«
»Stotter net, savg kurz on bünnig: ›ech heiraoden kein annre‹, sonst –«
Das Kissen war zu Boden geschleudert, wie eine zum Sprung bereite Katze stand ihm die Barbe gegenüber und starrte ihm mit den großen, wilden Augen unheimlich in's Gesicht. Der starke Bursche stand wie gebannt, ohne Regung, er wagte nicht, den Blick von ihr zu wenden.
Es grauste ihn.
Er hätte sie fortstoßen mögen, davonlaufen, wer weiß wie weit – er konnte nicht. Die Arme hingen ihm wie gelähmt am Leib, der Atem ging ihm zitternd, Schweiß trat auf seine Stirn.
»Kuck mech net e su an – kuck mech net e su an!« Er preßte die Augen krampfhaft zu und hielt sich noch schützend die Hand vor. »Ech halen et net aus, dau bis e su graulich!«
»Jao, gelt?« Sie lachte wie eine Wilde in höhnendem Triumph, sie lachte, daß das grobe Hemd von ihren Schultern glitt und das lange Haar über ihre Brust fiel. Mit einer heftigen Bewegung schlenkerte sie die Strähnen zur Seite und riß das Hemd herauf; ihre Zähne blitzten in dem graugelben Laternenschein. Sie lachte, lachte, dabei liefen ihr die Thränen über's Gesicht.
»Lorenz!«
Der Bursche fuhr zusammen. Sie ergriff seine Hand und riß ihn mit sich in die Ecke an ihr Bett, darüber ein buntes Marienbild und ein porzellanenes Weihwasserkesselchen hingen. Sie wies mit dem Finger hinauf.
»Bei der Alerheiligsten schwör mer't, dat de dat Anna net heiraods on aach kein annere net – schwör mer't!«
»Barbe, ech kann net, laoß mech!« Er suchte sich loszumachen und nach der Thür zu entweichen, sie hing sich an ihn mit ihrer ganzen Schwere, eine eiserne Gewalt schien in ihren Armen zu ruhen.
»Ech laossen dech net, schwör!«
»Barbe, laoß mech!« Der Bursche krümmte sich.
»Dau schwörst, dau saost: ›Ech schwören bei der Alerheiligsten, bei meiner ewigen Seligkat, ech heiraoden dat Anna net on aach kein annre‹ – nau saag't!« Ihre Stimme klang leise, raunend, und doch wie Erz; wie Hammerschlag fiel jedes Wort. Ihre Hand hob die des Mannes in die Höhe: »Bei der Alerheiligsten, ech schwören –«
»Barbe, Barbe!«
»Bei der Alerheiligsten, ech schwören –.« Unbeirrt, mit eiserner Festigkeit klang die Stimme der Barbara, mit verzehrendem, sich einbohrendem Feuer hingen ihre weitgeöffneten Augen an den Zügen des Burschen. »Nau, saog et! Ech schwören bei der Alerheiligsten –«
»Ech schwören bei – der Alerheiligsten – bei meiner ewigen Seligkat« – der Lorenz lallte nur so – »ech heiraoden dat –« Er stockte.
»Ech heiraoden dat Anna net on aach –«
»Ech heiraoden dat Anna net on aach –«
»Kein annre –«
»Dau has geschwor!« Dumpf fiel es von des Mädchens Lippen.
Der Mann schreckte zusammen wie ein Nachtwandler, den ein jäher Ruf erweckt; er starrte Barbara an und streckte dann plötzlich mit einem Laut, halb Wut, halb Begehren, die Arme nach ihr aus:
»Eweil es ales hin, zur Höll dermit, komm, küß mech!« Er riß sie an sich wie ein Trunkener und preßte in stammelnder Raserei die Lippen auf ihr Gesicht, ihren Hals, ihre Schultern, daß es schmerzte. – »Dau – Dau!«
Erst wehrte sie sich, stemmte die Faust gegen seine Brust und stieß ihn zurück; er umfaßte sie wieder mit wilderem Druck: »Jetz mußste!« Er bebte, sein Atem keuchte. »Ales hin!«
Klang es nicht fast wie ein Schrei? Wer ihn gethan, man wußte es nicht; mit plötzlichem Ruck warf sie die Arme um seinen Hals, sengend brannten ihre Küsse auf seinen Wangen, ihr Herz schlug heftig wogend an seine Brust. Sie umklammerte ihn, er umklammerte sie.
»Lorenz, ech haß dech!«
»Barbe, ech haß dech!«
»Ne – ne – dau – dau –«
»Et es doch ales aus – ales hin!« –
Am nächtlich dunklen Himmel jagten die Wolken, unten im Thal rauschte die Kyll. Über den einsamen Hof gingen feuchte Winde, Frühlingswinde, und drinnen in dem Bretterverschlag, in dem düstern Winkel, ein Sturm von Leidenschaft. Mit heißem Kopf, mit benommenen Sinnen taumelte der Lorenz im Morgengrauen aus der Stallthür. Horch, der Hahn krähte schon!
Der Vorabend des ersten Mai war da.
In den dunklen Büschen zur Seite der Kyll schlugen die Nachtigallen, schmelzend und lockend, fast zu laut und triumphierend für die stille Nacht. Der Wald lag unbeweglich, kein Wind rauschte in den hohen Wipfeln. Das Dorf Ehrang schlief, selten noch in einer Gasse matter Lichtschein; da wachte jemand in Krankheit oder Kümmernis. Lautlos strichen die Fledermäuse in unsicherem Geflatter um Dächer und Schlote. Hie und da im Schatten eines Hauses, in einer tiefen Thürnische, ein eng an einander geschmiegtes Paar; sie küßten sich, sie flüsterten – sonst kein Laut.
Es ging auf Mitternacht.
Der Pfalzelhof lag wie ein regungsloser schwarzer Klumpen im matten Sternenlicht, da knurrte leise der Hund an der Kette; eine flüsternde Stimme beschwichtigte ihn, er verkroch sich winselnd. Das Hofthor ward vorsichtig geöffnet, zwei Gestalten traten heraus. Der Mann trug einen Packen unter'm Arm, das Weib schleppte sich mühselig allein vorwärts. Sie schritten langsam, ohne zu sprechen, dem Dorf zu; hinter den letzten schützenden Büschen standen sie still.
»Gottlob, eraus sein mer!« klang es tief aufatmend; es war des Lorenz Stimme. »Elhei, Barbe, hol dein Packasch, ech giehn nau zerick, et könnt ons wän attraperen!«
»Gif här.« Die Barbara streckte die Hand aus und riß den Packen an sich. »Maach eweil, dat de häm kömmst, ech brauchen dech net!«
»Barbe,« der Bursche ergriff des Mädchens Hand, sie fühlte sich an wie Eis, »waaß Gott, Barbe, et duht mer e su grausam lad. Biste mer bös?«
»Ne.«
»Maach eweil, Barbe, dat de ze deiner Tant kömmst, ech sein gestern awend bei der alden Katrein gewest, se wird dech ufnehmen,« fuhr der Lorenz dringlicher fort, »on e su bal als de kanns, maach dat de ruf kommen duhst in de Genofevahöhl, dao kommen ech zu der. Ech schaffen der wat de brauchst, on e su bal ech Geld haon, bringen ech et der, dann machste nach Trier; eloa suchste for dat Kind en Unnerkonft on giehst in Dienst. Ech kommen e su oft ech kann on besuchen dech.«
»On dann?« Sie hob das totenblasse Gesicht zu ihm auf und blickte ihn fragend an.
»Noa, dann – dann – noa dat find sech jao! Gieh jetz, gieh jetz nor!« Er schaute sich ängstlich und unruhig um.
»Gieh dau nor!« Ihre Stimme klang trotzig, und ihr Fuß trat heftig auf die Erde. »Gieh!«
»Noa, dann gud Zeit!« Er ging, erst zögernd, unschlüssig, dann rannte er wie gepeitscht; bald sah sie nichts mehr von ihm, nur Dunkel ringsum.
Mit einem tiefen Seufzer ließ sie sich auf einen Meilenstein am Wege fallen; sie konnte nicht mehr, ihr war, als trüge sie Bergeslasten, ihre Kniee wankten. Sie faltete die Hände über dem Bündel in ihrem Schoß, der Kopf sank ihr darauf. So kauerte sie in der Nacht, einsam, regungslos. Wohl eine Stunde verging, plötzlich hob sie den Kopf und starrte wild um sich. Droben am Himmel wanderten die Sterne, mit unsicherem Licht gleißten sie nieder zur Erde; wie formlose Ungeheuer reckten sich Busch und Baum empor, gespenstisch fahl schimmerten die weiß getünchten Häuser von Ehrang.
Niemand da – alles still – alles leer – keine Hülfe, kein Beistand!
Mit dumpfem Stöhnen stellte sich Barbara auf die Füße, ein ungeheurer Schmerz durchfuhr sie jäh vom Kopf bis zu den Füßen und drohte ihren Leib in Stücke zu reißen. Eine namenlose Angst trieb ihr Herz zu rasendem Pochen und schnürte ihre Kehle zusammen; sie preßte die blutlosen Lippen fest auf einander, es hätte sich ihnen sonst ein Schrei der Verzweiflung und Qual entrungen. Langsam, Schritt für Schritt wankte sie weiter.
Nun war die Dorfstraße erreicht. Der Schweiß lief ihr über's Gesicht. Mit zitternder Hand tastete sie sich an den Wänden der Häuser entlang – wie endlos die Straße, wie ewig weit das Armenhaus, drin die Katrein hauste!
Der Atem der wankenden Gestalt keuchte, es klang wie ein Aechzen durch die Stille; nun blieb sie stehen – wieder dieser ungeheure jähe Schmerz und nun wieder und wieder, Barbara lehnte sich an die Mauer und stöhnte. Jetzt raffte sie die letzte Kraft zusammen – noch diese Gasse – noch diese Ecke – dort am äußersten Ende des Dorfes das kleine, halb zusammengesunkene Haus, abseits von den übrigen, das war's!
Mit einem Laut, halb Wimmern, halb Erlösung, brach sie vor den Stufen nieder, auf Händen und Füßen kroch sie hinan. Sie stieß mit der Faust gegen die Hüttenthür:
»Tant, maacht uf, Tant Katrein, um Christi willen, maacht uf!«
Bange Minuten verstrichen, dann tönte von innen eine zittrige Stimme:
»Wän es eloa, bis dau et, Barbe?«
»Jao, jao,« das Mädchen ächzte, »maacht – Jesses, maacht – rasch!«
Die Thür ward vorsichtig geöffnet, ein runzliges, gebücktes Weib mit Triefaugen und Kropf leuchtete mit einem flackernden Öllämpchen heraus.
»Jeß Marie Jusep, Jeß Marie Jusep!« Fast ließ die Alte das Lämpchen fallen. »Barbe, es et e su weid – Könner, Könner!«
»Laoßt mech rin!« Barbara schob sich über die Schwelle; halb kroch sie, halb zog die Alte sie.
Die Thür fiel in's Schloß, der Riegel ward vorgeschoben.
Aber hinter dem verhängten Fensterchen der Hütte glomm matter Lichtschein die ganze Nacht, und als das Frührot am Himmel flammte und unter Vogelgeschmetter der junge Tag über die Berge lugte, erklang drinnen in der elenden Stube der Armenhäuslerin der erste wimmernde Schrei eines Kindes.
Droben im Wald bei der Genofevahöhle spukte es. Das ganze Dorf wußte es, seit Wochen ging's dorten um. Die Kinder, die nach Kräutern und Veilchen sich tief im Dickicht verloren hatten, waren entsetzt heimgekehrt. Es war nie recht geheuer um die einsame Stätte gewesen, selten betrat ein Menschenfuß den schmalen, schwer erkennbaren Pfad, der zwischen Geröll und kaum durchdringlichen Büschen den steilen Berghang hinaufführte. Nur der zierliche Huf des Rehs drückte sich in das weiche Moos, und in den zitternden Sonnenstrahlen, die den grünen Rasenfleck vor der Höhle vergoldeten, wärmten sich schillernde Eidechsen. Heuer aber hatten die Dorfbuben, die den Wald durchstreiften, droben ein seltsames Singen gehört; dazwischen klang's wie Weinen einer Kinderstimme. Die stille Sommerluft trug die wunderbaren Laute an ihr Ohr, lauschend standen sie. Horch, wieder das Singen! Oder rauschten die Büsche nur so, oder murmelte der Quell, der den Hang hinunter plätscherte? Leise, gedämpft, wie aus der Tiefe der Erde kamen die Klänge! Mit aufgerissenen Augen, mit offenem Mund schlichen die Kinder näher, sich schieben und drängend und einander beim Jackenärmel haltend.
Was war's? – Alles still.
In den Büschen wisperte der Wind, im Kraut raschelte eine Eidechse – huh, sie fuhren zusammen. Mit dornigem Arm langte der Brombeerstrauch nach dem Kittel des vordersten, der Fuß glitschte auf dem feuchten Moos; zögernd standen sie.
Horch, horch, nun wieder Singen! Lallen eines feinen Stimmchens! – Die heilige Genofeva wiegte ihr Kind!
Zitternd vor Angst und Neugier schlichen die Buben näher – da – da – hinter dem Buschwerk, das wie ein schützender Wall den kleinen Plan umfing, an der Quelle, die dem Sandsteingeklüft entsprang, sah man sie stehen, die Genofeva! Die Heilige! Den Lauschern sträubte sich das Haar. Sie stand im Eingang der Höhle, hinter ihr gähnte das Dunkel, um ihr Haupt woben sich Sonnenstrahlen; gleich einem Mantel von gesponnenem Gold floß das Haar um ihre Schultern – und nun hob sie das Gesicht, ein überirdischer Glanz ging von ihm aus, das Gras zu Füßen neigte sich, himmlisches Wehen säuselte durch die Bäume, ein Hallen und Tönen ging durch die Luft – die Kinder sahen nichts mehr.
Gleitend, stolpernd, sich überkugelnd, stürmten sie den Hang hinunter. Dornenzweige schlugen ihnen in's Gesicht, Jacke und Hose rissen in Fetzen; bleich, atemlos, außer sich vor Entsetzen und Wichtigkeit kamen sie heim.
»Mer haon se gesiehn, mer haon se gesiehn, de heilig Genofeva! Se stand owen vor ihrer Höhl, en Heiligenschein uf em Kopp, de Hirschkuh lag er ze Füßen, on Engelcher wiegten dat Könd; mer konnt de himmlische Muhsik heren – mer haon se gesiehn!«
»Se haon se gesiehn! De heilig Genofeva gieht om!«
Wie ein Lauffeuer durchflog's das Dorf; die Kinder wurden befragt und ausgehorcht, selbst der Herr Pfarrer ließ sich herbei, die Erzählung mit anzuhören. Da war kein Haus, in dem nicht von der wunderbaren Begebenheit die Rede war; zwei, drei Leute saßen nicht bei einander, ohne sich in die Ohren zu tuscheln: »Se gieht om, se haon se gesiehn!«
Die alte Sage vom Ritter Siegfried auf Burg Ramstein ward wieder lebendig, der dem falschen Knecht sein Ohr lieh, sein unschuldiges Weib der Untreue zieh und von sich stieß, daß die arme Genofeva in der Höhle, tief im Wald, Zuflucht suchen mußte, dort ihr Kind mit Thränen herzte und mit der Milch der Hirschkuh ernährte. Sie saß viele Jahre in dem dunklen Felsenloch. Ihr Gewand zerriß, sie hatte nichts zum Mantel als ihr goldnes Haar; aber zuletzt ward sie heilig, und die Engel setzten ihr eine Strahlenkrone auf's Haupt. Und nun hatten die Kinder sie gesehen.
»Jao, jao, ech glauwen et wohl,« sprach die Katrein Holtzer, die derweilen als einzige Pfründerin im halbverfallenen Armenhaus hockte, und nickte geheimnisvoll, daß ihr Kropf wackelte, »lao haon ech se schuns mannigmaol singen heren, wann ech erum gekraucht bin nach Holz on Beeren; äwer, äwer ech haon mech dao dervon gemaach on niemand neist verzählt. Et es net wohlgedahn, et es net wohlgedahn, wann mer doadrüwer reden duht, on gaor de Heilige siehn – dat ons Gott bewaohr!« Sie schlug fromm ein Kreuz, und die Umstehenden schlugen rasch eins mit.
»Mech soll et wunnern,« die Alte blinzelte scheu herum und ihr zahnloser Mund flüsterte, »paßt uf, ech duhn net daofür kurantören, ob de Könner net verspillt haon; de Heilige läßt sech net ongestraft beluren – et es net wohlgedahn, et es net wohlgedahn!«
Die Katrein hatte so unrecht nicht. Fischer Matthes sein Pitter, der erste, der die Genofeva geschaut, der auch nachher im Dorf den größten Mund gehabt, ward wenige Tage darnach krank. Was ihm fehlte, wußte man nicht; er hatte es arg im Leib, und kein Essen war ihm bekömmlich. So sehr schlimm war es eigentlich nicht, aber der Bube hatte eine Höllenangst und schrie immer:
»Modder, Modder, et sein net de onreifen Kerschen, et es de Genofeva! Ech gänn gestroft, ech haon mit de Fingren uf er gezeigt!«
Und die Mutter heulte und rief die Gebenedeite und alle Nothelfer; nur keinen Doktor.
»Wat soll hän aach hei? Dao hilft kein Medezin einholen, ons Pittchen muß doch stärwen!«
Da war kein Mensch in ganz Ehrang, der zur Genofevahöhle gestiegen wäre. Einsam und gemieden lag sie inmitten dichten Waldes; der Kühne, der sich von Neugier getrieben ein Stück den Berghang hinaufwagte, hörte kein Singen mehr; es war verstummt. Die Kinder durchstreiften andere Gegenden, nur die alte Katrein, die Armenhäuslerin, trollte tagtäglich den Weg durch die enge Schlucht, von der es zur Höhe hinaufging. Sie brauchte sich nicht zu fürchten, sie war alt und lebensmüde, hatte nichts mehr auf dieser Welt zu verlieren. Seit ihres Bruders Sohnes Tochter, die blonde Barbara, die beim Pfalzelbauern in Dienst gestanden, sich so plötzlich und über Nacht davon gemacht, hatte sie keine verwandte Seele im Dorf. Wo die Barbara nur hin war? Man hatte freilich beim Pfalzelbauern auch nicht viel von der Magd gesehen, der Hof lag abseits, sie war nicht in's Dorf gekommen, aber wissen wollte man doch gern, wohin sie gegangen.
»Lao ronner haot se gemaach,« sagte die Katrein auf alles Fragen, hob den runzligen Steckenarm und wies nach irgend einer Himmelsrichtung. »Se haot et saat gehatt, dat Hongerlieden beim Pfalzelbauer. Wat wissen ech?! Wird schon emal schreiwe laossen, dann duhn ech et eich verzählen – o–a–ha, es dat en Läwen!«
Es ging auf die Erdbeerzeit. Am Sonntag nachmittag auf dem Ramstein war reges Treiben. Die Sonne schien strahlend hell, fast zu heiß, aber die schattigen Waldwege waren doch erquickend. Überall schaukelten sich unter Busch und Kraut die unzähligen purpurnen Perlen der Erdbeere, daneben noch die lieblichen weißen Blüten; Hoffnung und Erfüllung an einem Stengel. In Scharen strömten die Städter in's Kyllthal, sie kamen bis Ehrang mit der Eisenbahn oder zu Wagen; nun pilgerten sie zu Fuß hinüber nach dem Ramstein, erfüllten den Wald mit Gesang und Lachen und Jubelruf, warfen Kiesel in den rauschenden Bach und wichen kreischend dem Spritzen der Wellen aus, sammelten Blumen, schlangen grüne Gewinde um Hut und Haar und priesen entzückt den würzigen Duft, die Süße der Erdbeeren. Manch steifer Rücken beugte sich, um die lockende Frucht zu gewinnen; manch helle Sommerhose verunzierte ein saftiger Grasfleck; manch zarte Mädchenhand sammelte die zierlichen Stengel zum Sträußchen und steckte es lächelnd an die junge Brust. Strohköpfige Dorfkinder standen am Weg und starrten den geputzten Fremden nach; auch sie hatten ihren besten Staat an, die Kattunschürzen steif vor Stärke, die Haare mit Wasser aalglatt hinter die Ohren gestrichen.
Die hübsche Anna auf dem Ramstein prangte im hellblauen Kattunkleid und blendend weißer Schürze; die braunen, schön geflochtenen Zöpfe hielt der silberne Pfeil am Hinterkopf zusammen, eine sanfte Röte lag auf den runden, noch kindlichen Wangen. Sie hielt beharrlich die Augen gesenkt bei allen Schmeicheleien, die ihr zugerufen wurden; nur das Vertiefen der Grübchen rechts und links von dem lieblichen Mund zeigte an, daß sie einen Scherz verstanden. Eilig wie eine Bachstelze trippelte sie zwischen den Tischen hin und her, die der Vater aus rohen Brettern droben, inmittten der Ruinen der alten Burg, oder drunten auf saftig grüner Wiese, aufgeschlagen hatte. Emsig eilte sie ab und zu; bald war sie hier, bald dort.
»He, schöne Anna, mir Kaffee! Hier Milch! Hier Bier! Einen Schoppen – schöne Anna, hören Sie doch! Schöne Anna, wenden Sie mir doch auch mal einen Blick zu!« – so schallte es ununterbrochen an ihr Ohr. Nun endlich eine Pause! Aufatmend hielt sie inne und lehnte sich gegen den Tisch, der ein wenig abseits stand, und an dem ein einzelner Herr in dunklem Rock und hohem Hut Platz genommen hatte. Es war ein Mann in mittleren Jahren; aus dem klugen Gesicht blickten ein paar tiefliegende, sinnende Augen und hefteten sich freundlich auf das rosige Mädchenantlitz.
Staatsanwalt Karl Milde aus Trier kam schon seit Jahren auf den Ramstein. Er plauderte gern mit der hübschen Anna, die ihm schon als Kind im kurzen Röckchen entgegengesprungen war; manche Zuckerdüte war in die kleinen verlangenden Hände geglitten.
»Nun, Fräulein Anna,« sagte er und hielt [ihr die] Hand hin, »wie steht's?«
»O, ich danke, es geht mir gut,« sie knixte und legte ihre warmen Finger vertrauensvoll in die dargebotene Rechte, »und Ihnen, Herr Staatsanwalt?«
»Na, solch ein Junggeselle wie ich, wie soll's dem gehen?« Ein leichter Schatten flog über das ernste Männergesicht, und die Falte zwischen den Brauen vertiefte sich. »Unsereins hat viel Not unter Händen, viel Elend, viel Schuld. – 's dient nicht gerade zur Erheiterung! Wissen Sie was, Fräulein Anna, heiraten Sie keinen vom Gericht, das sind nicht umgängliche Leute.«
»Wären auch viel zu fein for mich!« Sie lachte leise, und ein tiefes Rot flog über ihre Wangen; gleich darauf schlug sie zum erstenmal die sonst beharrlich gesenkten Lider auf und sah den Herrn mit ihren klaren Augen fast zärtlich an. »Ach, Herr Staatsanwalt, wann all die Herren vom Gericht sein thäten wie Sie! Wann Sie ei'm angucken, wird's einem ganz warm hier herum« – sie wies auf's Herz – »man kriegt gleich e so en Vertrauen. Sie thut doch gar keiner anlügen, gelten Se? Ihnen gestehn die Leut gewiß gleich, was sie Böses gethan haben?«
»Das läßt sich halten.« Der Staatsanwalt lächelte und zuckte die Schultern.
»Nein – net?« Das Mädchen war ganz erstaunt. »Ne, ich muß Ihnen alles sagen, 's is ja freilich nix e so Böses, aber eigentlich verzählen sollt ich's net. Ich – ich –« sie stockte, errötete und wickelte den weißen Schürzenzipfel um die Finger, »ich will mich verändern, ich bin Braut, seit gestern!«
»Was Sie nicht sagen! Potz Tausend, kleine Anna, ich gratuliere, gratuliere von Herzen!«
»Pst, pst, net e so laut! 's is noch heimlich, mein Bräutigam will noch net, daß es unter die Leut kömmt!«
»So, und warum denn nicht? Wer ist denn der Glückliche?«
Sie hob den Arm und wies über den Wald hin.
»Drüben bei Ehrang auf dem Pfalzelhof wohnt er, 's is dem Pfalzelbauer sein Lorenz!«
»Was, der Lorenz, der schöne Bursche?! Mit dem bin ich erst neulich ein Stück Wegs gewandert – ein schmucker Bräutigam, das muß man sagen!«
»Gelten Se?« Die Anna lächelte glückselig, ein Schimmer freudigen Stolzes verklärte ihr Gesicht. »Und so brav! Sehen Se, Herr Staatsanwalt, Geld hat er keins, aber das thut nix, er is e so brav und fleißig! Die Jungfrau Maria hat mer en rechtes Glück beschert – wann ich's nur verdien'!«
»Liebes Kind,« der Mann ergriff die Hand des Mädchens und drückte sie herzhaft, »gewiß verdienen Sie's, Gott segne Sie. Ja, ja, aus Kindern werden Leute, aus Mädchen werden Bräute. Schau einer die kleine Anna an! Was werden die Leute in Ehrang sagen?«
»O je, die haben jetzt e so viel zu schwätzen, da acht keiner auf uns! Denken Se nur, Herr Staatsanwalt, was passiert is! Die Kinder, die im Wald erumgelaufen sind, die haben e so en wunderbar schönes Singen gehört, und wie sie dem nach sind, kommen sie hoch oben vor die Genofevahöhl, und da wird's ihnen e so gruselig und doch e so andächtig, und vor der Höhl is en Glanz gewesen, daß ihnen die Augen übergelaufen sind, und in dem Glanz hat eine drin gestanden, herrlich, mit langem goldnem Haar bis an die Kniee und –«
»Nun, und?«
»Das war die heilige Genofeva,« flüsterte Anna und öffnete ihre Augen weit, »das war sie!«
»Was Sie nicht sagen, kleine Anna,« dem Herrn Staatsanwalt zuckte es bedenklich um die Mundwinkel, »das ist in der That eine höchst aufregende Geschichte; wenn sie nur wahr ist!«
»Gewiß, gewiß, die is so wahr wie Amen in der Kirch,« eiferte das Mädchen. »Und denken Se nur, dem Fischer Matthes sein Jung, den is e so frech, den hat gesagt, eigentlich hätt' die heilig Genofeva akerat ausgesehn wie andere Frauensleut auch – die Sünd! Aber die Heilige hat ihn gestraft, er liegt schon lang e so krank, er wird wohl sterben. Was sagen Sie da derzu, Herr Staatsanwalt? – Aber Jeß, ich stehn und verschwätzen mich und im Haus is e so viel zu thun. – Adieu, adieu, Herr Staatsanwalt, bis gleich!«
Fort war sie, Milde sah ihr nach.
»Ein liebes, prächtiges Mädchen; wundert mich, daß sie noch so abergläubisch ist. Die heilige Genofeva – lächerlich! Ich will mich doch jetzt einmal aufmachen und zur Höhle klettern, vielleicht erscheint mir das Wunder auch.« Mit einem sarkastischen Zwinkern ergriff er Hut und Stock und schlenderte langsam dem Walde zu.
Staatsanwalt Milde war eine bekannte und beliebte Persönlichkeit, von allen Seiten wurde er gegrüßt. Auf der grünen Wiese tummelte sich die Jugend in allerlei Spielen. Bunten Schmetterlingen gleich flatterten farbige Mädchenkleider über den Rasen, heller Zuruf ertönte, Lachen, Scherzen; manch schönes Auge blickte dem Vorübergehenden verstohlen nach. Milde schob sacht die Kinder aus dem Weg, die ihm in der Lust des Spiels vor die Füße taumelten, er grüßte hier, drückte dort eine Hand, ging aber unbeirrt weiter. Bald lag der Lärm, das Getriebe hinter ihm; er trat unter die ersten hohen Stämme. Noch einmal schaute er zurück. Es war ein lieblicher Anblick. Die Ruinen des Ramstein glänzten im letzten Sonnengold, das Freudenfähnlein im obersten Fensterbogen wehte, sauber und weiß blinkten die Mauern des Pächterhauses. Drunten die Wiese glänzte wie Smaragd, übergossen von buntem Geflimmer, rote, blaue, schwarze, weiße Punkte wirbelten durch einander; das war eine Lust, ein freudiges Gewoge! Die hüpfenden jugendlichen Gestalten, das Lachen heller Kinderstimmen, darüber ein harmlos blauer Himmel, mitten hindurch das silberne Band der Kyll, rund umher sanfte, schön belaubte Berglehnen – alles verschlang sich zu einem Bild der Anmut und des Friedens.
Der Einsame seufzte. Mitten im Freudenschimmer tauchte ihm die Nachtseite des Lebens auf. Zu oft hatte ihn sein Beruf in düstere Zellen geführt, Sonnenlicht und freie Luft blieben draußen; hinter den Gitterstäben hatte er eine Welt voll Pein und Schuld gesehen. Die Daseinsfreudigkeit, der nicht reflektierende Genuß des frohen Augenblicks waren ihm verkümmert.
Hatte er seinen Beruf verfehlt? Oft hatte er sich's gefragt, wenn sein Herz so thöricht pochte, wenn sich ihm Worte der Entschuldigung statt Worten der Anklage auf die Lippen drängen wollten. Er war zu weich, viel zu weich; er sah nicht mit den Augen des Richters. Er sah mit denen des Menschenfreundes. Seine Seele krampfte sich zusammen beim Leiden der Welt, sie bäumte sich auf, sie wollte sich empören gegen das ›Schuld ist Schuld, Gesetz bleibt Gesetz.‹ Er war kein guter Staatsanwalt, er würde keine Carrière machen, und mit Recht; wie weiches Wachs darf der nicht sein, der da immer zu sprechen hat: »Ich klage an.«
Der Grübelnde fuhr zusammen, ein greller, lustiger Kinderschrei drüben von der Wiese her schreckte ihn auf. Wie sie lachten! So viel Frohsinn, so viel Heiterkeit; warum sah er, er allein, immer zuerst die düsteren Schatten, die das blumigste Thal verdunkeln?
»Ä!« Mit unmutigem Kopfschütteln trat Milde seinen Weg an. Der war einsam. Die Bäume standen wie Riesenwächter, kein Hauch flüsterte in den Blättern; es war still, kein Vogelruf, kein Käfersurren. Er schritt weiter. Der Pfad ward schmal und schmäler; nun sperrte ein Bach den Weg, schäumend und perlend sprudelte er zwischen moosigen Steinen. Der Wanderer sprang hinüber, dichtes Gebüsch umfing ihn, ein steiler Hang stieg vor ihm auf. Stamm an Stamm, so dicht wie eine Mauer; drunter üppige Farrenwedel und rankendes Brombeergestrüpp. Hier ging's hinauf zur Höhle. Milde wischte sich den Schweiß von der Stirn. Es war ein mühseliges Steigen, ein Klettern ohne Weg und Steg, ein Anklammern und Forthelfen an vorstehenden Wurzeln und überhängenden Zweigen.
Tiefatmend hielt er inne und lehnte sich an einen glatten Buchenstamm. Goldne Kringel tanzten vor ihm auf der Moosdecke, hoch oben, wo die dichten Wipfel ein Stückchen Himmel hereinschauen ließen, segelte ein leichtes Abendrot. Grünes dämmerndes Licht umfing einschläfernd die Sinne; da – horch – ein Ton, ein verirrter Klang!
Es sang jemand!
Leise, wie ein Hauch, wehte es über die Büsche – der Wanderer fuhr zusammen. Das kam von der Höhle!
Er kletterte weiter, er kroch auf Händen und Füßen – jetzt war er oben, nur dichtes Buschwerk trennte ihn noch von dem kleinen Wiesenplan. Er blieb auf den Knieen liegen und lugte mit scharfem Blick durch's Gesträuch. Die Augen waren ihm wie geblendet, sie gingen über. So golden, so grün war der Rasenfleck, wenige Fuß im Geviert, vor der düsteren Höhlenwand. Tausend Blumen blühten darauf, ein reiner Quell plätscherte, auf tiefhängenden Zweigen der umstehenden Bäume saßen Waldvögel in Scharen und bliesen die Federn auf. Süß und sanft wie im Traum klang ihre Melodie: »Tirili – tüi – tüi« und dazwischen fielen Worte, halb gesungen, halb gesummt:
»Owen uf em Berge –
Gieht e su leis dän Wind –
Dao sitzt Jongfra Maria –
On wieget ihr Kind –
Su – su – haija popaija – su – su«
Tirili – tüi – tüi –
Wer war das? Ein Mensch, die heilige Genofeva selber?
Dem Lauscher stieg das Blut zu Kopf, sein Herz pochte, er war erschrocken, verwirrt; sollte er das seltsame Wesen anrufen, das da mitten im Sonnengefunkel saß, ein Kind in den Armen? Sie wiegte es sacht hin und her, dabei glänzten ihre langen Haare wie gesponnenes Gold. Sie saß auf einem Stein, die nackten Füße standen in lauter Blumen, ihr Gesicht schwamm in geheimnisvoll schimmerndem Duft.
Nun lächelte sie, mit unbeschreiblicher Glückseligkeit neigte sie sich zu dem Kind in ihrem Schoß. – Nein, das war keine Heilige, sie öffnete den Mund, sie sprach, unverfälscht kam der Moseldialekt über ihre Lippen.
»Gelt dau, mein Jüngelche, dat Sönnche es e su schien, dat duht onsem Könd e su gud – o dau mei lief, goldig Engelche!« Sie bedeckte die kleinen Hände des Kindes mit Küssen. »Jao, wann ech dech net hätt! Kuck, ech möchten vor dech hinknieen on dech anbeten als wie en Wunner; bitt dau for mech an Gottes Thron – o dau mei Herrgöttche! – Erscht sein ech e su arm gewest, nau sein ech e su reich, kein Kenigin hat mieh – dau – dau – su su – haija popaija!«
Sie preßte das Kind lebhaft an ihre Brust, dann stand sie auf und ging mit wiegenden Schritten hin und her. Milde wagte nicht zu atmen, mit weit geöffneten Augen starrte er auf die Gestalt des jungen Weibes. Alle Märchen der Kindheit schossen ihm durch den Sinn, er kam sich selber vor wie im Märchen. Um ihn her tiefste Waldeinsamkeit. Wie verzaubert sangen die Vögel, Grillen zirpten heimlich, und mitten in der Blumenwildnis ein Wesen – nur eine Bäuerin im groben Friesrock und geflicktem Hemd – aber die Füße, die Schultern so weiß, die Haare golden, auf dem Antlitz die verklärende Seligkeit himmlischen Mutterglücks!
Langsam verblaßte das Sonnengold, ein Windhauch schauerte durch die Büsche, zusehends ward es dämmrig und dämmriger; nur ein schmaler Streifen Licht fiel noch schräg über den Wiesenplan. Milde fühlte nicht, daß ihn die Kniee schmerzten, er lugte noch immer durch's Gesträuch – nun machte er eine unvorsichtige Bewegung, ein Zweig knisterte. Gleich dem gescheuchten Reh fuhr das junge Weib zusammen. Zwei große schwarze Augen glitten über die Büsche hin, halb furchtsam, halb wild drohend – einen Augenblick nur, dann lächelte das weiße Gesicht wieder.
»Ne, ne, et es dän Wind gewest, dän Wind on de Heimelcher im Gras – ha ha!« Sie lachte gedämpft. »Se finnen mech net, mech net on dech net – o dau – dau!«
Sie hob wie im Triumph mit beiden Armen das Kind in die Höhe. Milde sah über dem Bündel armseliger Lumpen ein winziges, rosiges Gesichtchen, dann verzog sich dasselbe, ein klägliches Weinen ertönte.
»Jao, jao, mei goldig Engelche, dau has Honger, dau duhst frieren, waart!« Eilig kauerte die Mutter nieder, schlug ihren Friesrock über die Schultern und legte unter der wärmenden Hülle das kleine Geschöpf an ihre Brust.
Unhörbar zog sich der Lauscher zurück. Jetzt war's genug, ihm kam's nicht zu, weiter das Mutterglück zu belauschen; fast wollte es ihn schon wie Scham beschleichen, ein unerklärliches Gefühl durchzog sein Inneres. Wie benommen glitt er den Abhang hinunter. Das Weinen hatte aufgehört, nur »Su, su – haija popaija« klang noch schwach hinter ihm drein.
Drunten stand er tief atmend still und faßte sich an die Stirn. War's möglich? War's nicht ein Traum, war er es selber noch? Freilich, da sprang der Bach schäumend und perlend über die Steine, und dort führte der Weg zum Ramstein! Hier unten im Thal war schon tiefe Dämmerung, fast Nacht; Milde hatte kaum der Finsternis acht, seine Seele weilte noch oben auf dem sonnbeglänzten Rasenfleck. Wirre Gedanken jagten durch seinen Kopf. Da schien wohl kein Zweifel, das junge Weib in der Genofevahöhle war die verschwundene Barbara Holtzer, des Pfalzelbauern Magd; sie saß oben in der Höhle und verbarg ihre Schande vor der Welt. Ihre Schande – oder ihr Glück? Ja, da war er wieder, der böse Zwiespalt, der so oft die Seele ängstet und Recht in Unrecht kehrt, Unrecht in Recht! War es nicht die reinste, von Gott selbst erschaffene Freude, die der Mutter an ihrem Kind? Gab es etwas holdseligeres als jenes junge Weib, dessen Gesicht mitten in der Verlassenheit den Stempel schönster Verklärung trug? War hier Sünde, Schande?
»Ich weiß es nicht,« murmelte der Staatsanwalt, »fragt man die Frucht, wenn man sie genießt: woher stammst du? Die Blume: wo bist du erblüht? Erstand die Wurzel auch in Schutt und Moder, in Sumpf und Fäulnis, man kehrt sich nicht daran, die Frucht, die Blume sind da. Die Schöpfung ist eben so eingerichtet. Warum soll man hier sagen ›das Kind der Schande‹ und mit Aber und Pfui das schöne Mutterglück in den Staub treten? Warum? – Darum! Das Gesetz spricht sein ›Ungiltig‹ über die Verbindung, der das junge Menschenwesen entsprossen, es drückt mit starker Hand den Stempel des Makels auf die Stirn der Mutter und wirft das Kind zu den Namenlosen; es ist grausam, aber – Gesetz bleibt Gesetz, die Sitte muß bestehen, es sei denn, die Welt ginge aus den Fugen. Und doch –«
Der Einsame schreckte zusammen, unweit von ihm tappte etwas, unwillkürlich trat er hinter einen Stamm und hielt den Atem an. Es kam näher, aus dem Schatten wuchs eine Männergestalt auf, groß und schlank, ein Bündel unter'm Arm. Nun stand der Ankömmlung still und spähte umher – nichts zu hören, nur das Rauschen des Baches und das Wispern des Abendwindes in den Blättern. Milde rührte sich nicht, das Gebaren des Menschen war so eigentümlich scheu und ängstlich, er that wie einer, der etwas zu verbergen hat. Nun stand er dicht neben dem Baum, dessen breiter Stamm den Staatsanwalt verdeckte; ein schwacher Schein fiel durch's Gezweig mitten auf das Gesicht unter der breitkrämpigen Mütze. Ei, das war ja der Lorenz vom Pfalzelhof! Schon wollte Milde die Hand vorstrecken und auf die Schulter des Burschen fallen lassen, als dieser noch einmal den Kopf nach allen Seiten drehte, mit einem geräuschlosen Satz über den Bach sprang und gewandt den steilen Hang zur Höhle hinauf zu klimmen begann. Bald war er im Dunkel verschwunden; nur das Brechen von Ästen, das Knicken dürren Holzes tönte noch zurück.
»So, so!« Kopfschüttelnd trat der Staatsanwalt hinter dem Baum hervor. Er sah sehr ernst aus, ein Zug von Besorgnis lag auf seinem Gesicht. Der Lorenz? Was hatte der droben in der Höhle zu suchen – und so heimlich, um diese Zeit? Wenn das nur keine böse Geschichte war!
Mit gesenktem Kopf und langsam schritt Milde dem Ramstein zu. Es lag auf ihm wie ein beängstigender Druck. Immer wieder sah er das junge Weib mit dem Kind in den Armen auf dem grünen Rasenfleck sitzen, über ihre Schulter lugte das reine, freundliche Gesicht der kleinen Anna; an beiden vorüber aber, wie ein Schatten, glitt die schlanke Gestalt des Lorenz. Was ging hier vor?
Auf dem Ramstein in der Gaststube brannte die Lampe, als der einsame Spaziergänger wiederkehrte. Das laute Getriebe war zu Ende, die meisten hatten den Heimweg angetreten, müde von Sommerluft und Sommerlust; nur wenige der Seßhaften weilten noch beim Schein der Windlichter draußen in der lauen Nacht und ließen sich die Erdbeerbowle schmecken.
Auf der Thürschwelle stand die hübsche Anna mit lächelndem Gesicht und warmem Rot auf den Wangen.
»Ne, Herr Staatsanwalt,« rief sie dem Ankommenden entgegen, »sein Sie lang ausgeblieben! Wie schad, mein Lorenz war vor einer Stund hier, ich hätt'n Ihnen gar so gern vorgestellt – er is net dageblieben, er hatt gar so wichtig zu thun. Auf dem Pfalzelhof is en Kuh aufgetrieben, er mußt nach Cordel rennen und ebbes Medezin beim Viehdoktor nehme gehn; er war sehr pressiert. Um Uhrer zehn will er aber wiederkommen, ich hab' ihn ja heut noch kaum gesprochen. Sie können wohl net e so lang dableiben, Herr Staatsanwalt, es is gleich e so weit?«
Sie hob die klaren Augen bittend zu ihm auf. Milde vermied ihren Blick; es that ihm weh, in dies vertrauende Mädchengesicht zu blicken.
»Nein, nein,« sagte er hastig, »ich muß jetzt rasch fort, sonst geht der letzte Zug in Ehrang ohne mich!«
Er zahlte die Zeche, zerstreut, ohne weiter zu reden; er drückte dem Mädchen die Hand und machte sich eilig auf den Weg. Fast betroffen sah ihm die hübsche Anna nach.
»Was hat den Herr Staatsanwalt heut abend nur? Warum war er auf einmal so pressiert? – Der liebe Herr!«
Der Lorenz stand auf dem Pfalzelhof im Stall und mistete aus. Die Hemdärmel hatte er aufgestreift, daß die muskulösen Arme bis über den Ellenbogen entblößt waren; unter den bunten Hosenträgern wölbte sich die breite Brust, aber sie atmete schwer und beklommen.
Es war heiß, gewitterschwül.
Er arbeitete hart, der Schweiß troff von der Stirn und klebte ihm die braunen Ringellocken an die Schläfen. Der Lorenz war unwirsch, er schmiß den Dung nur so von der Schippe zur Thür hinaus, daß er in weitem Bogen auf den Hof flog.
»Dunnerwetter Zackerlot!«
Der Bursche fluchte laut, ein erregtes Zucken lief um seinen Mund und er kaute zornig am Schnurrbart. Sein Gesicht war verändert, die lachende Keckheit der hellen Augen einem gewissen scheuen Ausdruck gewichen. Er war still, er sah den Leuten nicht mehr gerade in's Gesicht, er lugte von der Seite. Seine Wangen waren schmäler als früher, und über der Nasenwurzel grub sich eine Falte.
»Et es de Lief, die micht hän e su duß,« sagte der Pfalzelbauer zu seinem Weib, doch ruhte sein Blick oft seltsam argwöhnisch auf dem Sohn.
Der Barbara wurde nie mehr erwähnt; die war tot für den Pfalzelhof, und fragte einer im Dorf die Bäuerin nach der verschwundenen Magd, dann zuckte die mit den Achseln: »Furt es se, jao, jao!«
Heut war es still auf dem Pfalzelhof; seit dem Abgang der Barbara hielt man weder Knecht noch Magd. Der Lorenz mußte es allein schaffen. Die Alten hielten drinnen im Haus einen Schlaf; die Mittagssonne sprühte auf die Pflastersteine, zwischen denen das Gras wucherte.
Zum Hofthor drückte sich eine Gestalt herein – ein bettelhaft aussehendes altes Weib – guckte sich erst nach allen Seiten um und schlich dann auf den Stall zu. Sie war so leise herangekommen, daß der Lorenz erst aufmerkte, als sie auf der Thürschwelle stand und ihr eingefallener Mund ein »Häh, Lorenz, guden Dag!« murmelte.
Erschrocken fuhr der Bursche zusammen, dann schoß jähe Röte in sein Gesicht.
»Katrein, wat onnerstieht dir Eich – wann Eich dän Vatter siehn däht!«
»Ech peifen druf,« machte die Alte geringschätzig, »ech sollten Eich fraogen, waorum dir dreier Däg net owen bei dem Barbara gewest seid – verhongern kennt se alleweil aach, ech han sälwer neist!«
»Jao, jao, ech giehn schuns, diesen Awend noch, seid nor zofrieden, ech holen er aach ebbes me – maant dir, bei ons wär Aegyptenland, wuh dat Fleisch zom Dippen eraus stieht?!«
Er wollte der Alten begütigend auf die Schulter klopfen, sie wich zurück und sah ihn aus den eingesunkenen rotgeränderten Augen giftig an.
»Dir brauch mech net ze kloppen, schärt Eich liewer ruf on redt der Barbe de Flausen aus; se es falsch, seit se gehert hat dat dir Eich mit dem Ramsteiner Anna verheiraoden wollt on alleweil uf em Ramstein romflankört!«
»Wat? – Wän – wän –?!« Der Bursche stotterte, während Angst und Wut sein Gesicht verzerrten. »Wao – wän hänt er gesaot?!«
Mit geballten Fäusten stürzte er auf die Katrein zu. Sie grinste und drückte sich mit ungeahnter Behendigkeit zur Seite.
»Schreit net e su, Lorenz,« sagte sie ruhig. »Dir weckt sunst Eiren Vadder – ech han't er gesaot! Maant dir villeicht, ech dähten ruhig zusiehn, wann meines Broders Sohns aletzige Dogder owen im Loch sitzt on mitsamt dem Wörmchen bal verhongert? On dir freit en reiche Braut on lacht Eich in et Fäustche – – ne, Könner, e su hammer nett gewett! Gieh ruf, dau Biwak, on duh dein Schulligkeit, sunst –«
»Hal Eier Maul!« Der Lorenz hob die Hand, doch sie blieb regungslos in der Luft; unweit der Stallthür stand der Vater, die Pfeife im Mund, die Hände in den Hosentaschen und sah unbeweglich zum Sohn herüber.
»Wat es dann dat eloa?« Der Alte rief es mit dröhnender Stimme. »En Dunnerknippchen naoch ehs, wat will de alde Schatehk von dir, Lorenz?«
»Neist, neist!« Die Katrein kicherte in sich hinein, krümmte gleich hierauf den gebogenen Rücken noch mehr und winselte mit kläglicher Stimme: »Bauer, Eier Lorenz es e su hardherzig, ech han gebät om en handvull Grumbieren (Kartoffeln), äwer hän däht mer neist gäwen. Seid dir e su gud!«
»Furt!« Der Bauer drohte mit der Faust. »Ech kennen Eich! Eweil haot dir kein Nicht mieh hei, de for Eich mitgeholt hat, wat se kriehn kunnt; maacht, dat dir runner kommt vom Hof, dir Bettelpackasch!«
»Bettelpackasch?!« Das Weib richtete sich auf wie eine Natter, die man auf den Schwanz tritt. »E su schlimm es et net, Bauer – äwer, gud Zeit, de Barbara läßt Eich schien grießen, Eich on Eiren Lorenz – adjö!«
Mit der runzligen Hand winkend und höhnisch lachend wankte sie dem Hofthor zu; wie angenagelt standen die beiden Männer und starrten ihr nach. Die Zornesader auf der Stirn des Vaters schwoll höher und höher, der Bursche wurde blaß und rot, schlug dann die Augen zu Boden wie ein ertappter Schulbube.
»Wat is dat, Lorenz?« Die Stimme des Alten klang unheimlich, er nahm die Pfeife aus dem Mund und schlug damit den Sohn auf die Backen. »Wat haste mit dem Weib zo schaffen, wat lachte se e su on redte von dem Barbara? – Jong, Jong!« Er trat dem Sohn mit zornfunkelnden Augen ganz nahe und bohrte seine Blicke in dessen Gesicht.
»Neist, Vadder, et es neist bei alden Heiligen, dir könnt Eich druf verlaoß!«
»Will't glauwen!« Der Bauer lachte mißtönend. »Ech halen dech beim Wort!« Er spuckte aus und schob die Pfeife wieder in den rechten Mundwinkel. »Wär aach e su domm von dir, e su domm, ech däht dän Lorenz Pfalzel net mieh kennen, dän sech met e su ener Vettel einlaossen däht! Heut awend giehn ech uf dän Ramstein, kannst mitgiehn, wannst de willst; will mit dem Anna sein Vadder reden, wanneh dat erschte Offgebot sein soll – met e su ener langen Zieherei es dat en onüwle Saach. Mariä Geburt brauchen mer Geld, mer haon Zinsen zo zaohlen; zaohlen mer se net, hammer kein Dach mieh üwer'm Kopp – Voran, Jong, woafor biste dann dän schienen Lorenz!«
Der Bursche antwortete keine Silbe. Er nickte nur mechanisch mit dem Kopf, als der Alte ihm mit der schweren Faust einen ermunternden Puff in die Seite gab. Wie versteinert stand er, auf seine Schippe gelehnt, und blickte vor sich hin in die glanzvolle Mittagshelle. Der Bauer ging mit festem Schritt in's Haus; der Lorenz stand allein, und seine Hände umklammerten fast krampfhaft den hölzernen Stiel.
»O, die Barbe!« Der Bursche stöhnte laut. Wie glücklich hätte er sein können, alles konnte gut und schön werden, wenn nur die Barbe nicht war, die Barbe! Eine namenlose Wut stieg in ihm auf. Wenn er sie jetzt hier gehabt, er hätte ihr in's Gesicht schlagen mögen und sie an den langen Haaren reißen. – Sie, sie allein war schuld an allem Elend, an der Angst, die ihn des Tags umjagte, des Nachts nicht schlafen ließ, sich bitter in jeden Kuß mischte, den er der schönen Anna auf die roten Lippen drückte.
»O dau, dau!« Der Lorenz ballte die Faust und biß die Zähne auf einander, daß sie knirschten. »Wärste erscht furt, meinetwegen unnen in –«
Er stockte, das dumpfe Schnaufen einer Kuh ließ ihn zusammenfahren; mit abergläubischem Entsetzen blickte er nach der Thür des kleinen Bretterverschlages, hinter der die Magd einst geschlafen. Ihm war, als hörte er dort ihre Stimme, heiser raunend und doch wie Hammerschläge: – »Ech schwören bei der Alerheiligsten, bei meiner Seelen Seligkeit –«
»Jao, still, still!« Der Bursche ließ die Schippe fallen, er fühlte, wie ihm kalter Schweiß über den Rücken rieselte; er stemmte die Hände gegen die Ohren, kniff die Augen zu und rannte davon wie ein Verfolgter.
An diesem Abend ging der Vater allein auf den Ramstein, der Sohn lag im Heu, sinnlos betrunken, und schlief seinen Rausch aus.
»Hän es onüwel gäwen,« sagte der Pfalzelbauer zu seiner zukünftigen Schwiegertochter und klopfte ihr die weichen Wangen. »Ville Grüß on morgen kömmt dän Lorenz.«
Als der Lorenz in der andern Frühe erwachte, mußte er sich lange besinnen, was eigentlich gewesen war. Bah, heut in der köstlichen Morgenfrische erschien ihm alles gar nicht mehr so verzweifelt wie am gestrigen Tag. Er saß aufrecht im Heu und guckte durch die Fensterluke hinaus auf die Waldhöhen, und weiter hinüber zu der Ehranger Chaussee, die sich obstbaumbesetzt neben der Mosel einher schlängelte.
Da weit, weit hinunter mußte sie – sie war gut zu Fuß, jung, wieder kräftig; – aber das Kind, das Kind?! Der junge Mann rieb sich die Stirn, senkte den Kopf in beide Hände und grübelte. Plötzlich sprang er auf und schlug sich auf den prallen Schenkel, daß es klatschte – hei, so mußte es gehen! – Ja – und vor der Hand waren doch immer noch ein paar Tage Zeit; gepriesen seien die sieben Nothelfer! Kommt Zeit, kommt Rat – ei, was war er doch für ein Schlaukopf!
Zu Ehrang war kein Mensch im Haus, schreckensbleich standen die Leute auf der Gasse bei einander.
Die einzige, die sich daheim hielt, war die Katrein Holzer. Die lag im Bett, hatte sich den schmierigen, laubgefüllten Sack, der ihr zur Decke diente, bis über die Ohren gezogen; unten guckten die verkrümmten Fußspitzen vor. Sie schwitzte, ächzte und winselte zum Steinerbarmen, sie hatte Schmerzen – wo denn nur? Überall, überall!
Selbst durch das kleine verhängte Fensterchen des Armenhauses drang das erregte Hinundher der Menge mit seinen jammernden Ausrufen, seinem entsetzten Aufkreischen.
Und während so in Ehrang ein dunkles, geheimnisvolles Etwas die Hütten entlang schlich, Mann und Weib mit knöchernem Finger auf die Schulter klopfte, daß sie die Arbeit verließen, um von Grausen geschüttelt bei einander zu stehen, saß zu Trier der Staatsanwalt Milde vor seinem Schreibtisch und starrte auf ein Telegramm in seiner Hand. Das Fenster war geöffnet, eine köstlich heitere Sommerluft strömte herein; es roch nach Linden, nach Rosen, nach Jasmin. Der Himmel hing über der Erde wie ein leuchtend blaues Gottesauge; von der nahen Domuhr hallten Schläge, langsam, feierlich, von hundert Glöckchen bimmelte es – Mittag!
Der Staatsanwalt fuhr auf, das Blatt in seiner Hand knisterte. Da stand es, deutlich, leserlich, mit den großen Buchstaben des Blaustifts:
»Ehrang, 20. Juli
10 Uhr 50 Minuten.
Sohn des Pfalzelbauern ermordet
Leiche heut gefunden im Ramsteiner Forst unweit Genofevahöhle am Bach
Kohlhas, Ortsvorsteher.«
»Himmel!« Milde griff sich nach der Stirn, die Buchstaben schwammen ihm vor den Augen. War's möglich, des Pfalzelbauern Sohn, der schöne Lorenz?! Noch vor wenig Wochen war der Bursche in seiner ganzen Jugendfrische des Wegs geschritten, noch nicht vierzehn Tage waren vergangen, daß ihm die Ramsteiner Anna leuchtenden Auges, mit heißen Wangen, zum erstenmal von ihrem Liebesglück erzählt! An jenem Sonntag, bei dem einsamen Spaziergang im Wald, hatte er den Lorenz mit geschmeidigem Satz über den Bach springen sehen – damals stieg er zur Höhle hinauf, und jetzt, jetzt lag er vielleicht tot und starr an demselben Platz, und sein Blut rieselte über die moosigen Steine. Dem Staatsanwalt grauste, ein häßlicher Verdacht schoß wie ein Blitz durch sein Gehirn. – »Nicht möglich, nicht möglich!« Er bewegte abwehrend die Hand. Seine Augen hefteten sich starr auf einen Punkt. Er sah nicht mehr die Stubenwände, nicht mehr das Stück Papier auf dem Tisch – vor ihm lag der sonnenbeschienene Plan, und mitten im Glanz saß die junge Mutter, wiegte ihr Kind und sang. Das lange, blonde Haar floß ihr um die Schultern, sie summte: »Su, su – heija popaija –«; aber sie lächelte nicht wie damals. Ihre dunklen Augen blickten finster drohend; wie ein unheilvoller Faden spann es sich von hier herunter zu dem Ermordeten am Weg.
»Mein Gott!« Der Staatsanwalt seufzte und richtete sich mit energischem Ruck aus seiner zusammengesunkenen Stellung empor. Er klingelte; pantoffelklappernd trat seine Magd, die alte Lisett, ein. Neugierig ließ sie die wasserblauen Äuglein von ihrem Herrn zu dem Telegramm auf dem Tisch gleiten.
»Is wat Besonners passiert, Herr Erster, soll ich en Droschk nehme gehn?« Die Lisett wußte schon, wenn der Herr so ein Gesicht machte, war die Sache pressiert.
»Lisett, laufen Sie rasch zu Herrn Strupp, er soll sofort herkommen. Dann bestellen Sie drüben bei Klepper einen Wagen, mit den Eisenbahnzügen paßt's nicht; in einer halben Stunde müssen wir fort sein. Es ist eilig!«
Lisett trabte davon; kaum war eine halbe Stunde verflossen, so saßen der Herr Staatsanwalt und Strupp, sein Sekretär, im Wagen. Die Pferde liefen, was sie konnten; im Sonnenflimmer blieb bald die Stadt dahinten, über die staubige Chaussee rollte das Gefährt. Auf der einen Seite die roten Sandsteinfelsen mit ihren überhängenden Perrücken von Grün, auf der andern die in der trockenen Sommerzeit recht schmächtig gewordene Mosel.
Der Sekretär seufzte und rückte unruhig auf seinem Sitz hin und her:
»Verdammt heiß heute, Herr Staatsanwalt – o jemmich!«
»Hm!« Weiter gab's keine Antwort. Milde lehnte scheinbar schlafend in der Wagenecke, und doch arbeiteten seine Gedanken rastlos. Wie ein Kreisel drehte es sich in seinem Kopf, immer und immer um den einen Punkt, um das blondhaarige Weib im Sonnenglanz.
Es schien neben dem Wagen herzuschweben, ihm mit den brennenden Augen wild in's Gesicht zu starren, dann drohend und klagend zugleich die Hände zu erheben. Das war eine Qual!
So ging es eine bis zwei Stunden.
»Ehrang!« Der Kutscher knallte mit der Peitsche, vor ihnen lag das liebliche Nest, silbern blinkte die Kyll, und vom Wald her schien Kühlung zu fächeln. Sie fuhren in die Dorfstraße, ein Menschenschwarm wälzte sich ihnen entgegen; in dumpfem Schweigen nahm der den Wagen in die Mitte. Langsam konnten die Pferde nur vorwärts; die Leute drängten sich dicht an die Räder, hinten hingen sich wie Kletten ein paar Buben an. In bedrückter Stille, in schauriger Spannung schob sich die Menge vorwärts. Da war nun der Herr Staatsanwalt aus Trier, was würde der sagen?!
Der Ortsvorsteher kam aus seinem Hause gestürzt, er sah bleich und bekümmert aus; so lange er im Amte, und das zählte schon eine Reihe von Jahren, war so was Schreckliches noch nicht in Ehrang passiert. Er stieg zu den Herren in den Wagen, der Kutscher fuhr nach erhaltener Weisung rascher dem Walde zu. Die Dorfhäuser blieben zurück, nur oben von der Berglehne grüßte mit bröcklichen Mauern und gedrückten Fensterscheiben der Hof des Simeon Pfalzel; auch der war von Neugierigen umlagert. Sie machten Kehrt, als sie den Wagen erblickten, und schlossen sich dem Trupp an, der in einiger Entfernung dem Gefährt folgte.
Der Weg zu seiten der Kyll ward nach und nach schmaler, die Bäume ragten höher; nun hielt der Kutscher die Pferde an. Die Herren verließen ihre Plätze und schritten seitab in die enge Schlucht hinein, die dem Aufstieg der Genofevahöhle zuführt. Milde ging voran, sein Sekretär drängte sich dicht hinter ihn, zuletzt kam der Ortsvorsteher; der brave Mann zitterte ordentlich und bekreuzte sich alle zehn Schritte heimlich. Aus dem Buschwerk trat ihnen jetzt der dicke Lippi, der Gendarm, mit einigen Männern entgegen. Sie hatten hier Wacht gehalten, den Ort der That gegen den Andrang Unberufener geschützt. Der dicke Lippi grüßte militärisch und machte Front.
»Hähr Staatsanwalt, ze Befehl, noch zwanzig Schritt hier dorch'ts Gebüsch geholt, dann rechtsum kehrt on tapper dorchgetroten – dao liegt hän!«
Schweigend drängte sich Milde durch die Büsche, ebenso, ohne Laut, die übrigen hinterdrein. Die Zweige schnellen vor und zurück auf dem verwachsenen Pfad – nun rechts eine Biegung, da fließt der Bach, leise murmelnd – da hockt eine Männergestalt auf bemoostem Stein, den tiefgeneigten Kopf in den Händen vergraben. Ihr zu Füßen am Boden ein lebloses Etwas.
Kein Vogelton, kein Blätterrauschen, kein Windeswehen, die Natur hält den Atem an; den Männern stockt das Blut, sie schauen sich in bleiche Gesichter. Der Gendarm rüttelt die zusammengesunkene Gestalt auf dem Stein.
»Pfalzelbauer, dän Hähr Staatsanwalt aus Trier!«
Der Pfalzelbauer schreckt zusammen und hebt das durchfurchte Gesicht aus den Händen, er fährt mechanisch nach dem Kopf, als wolle er die Mütze ziehen; er hat keine, barhaupt ist er davongestürzt, als die Schreckenskunde in seinen Hof gedrungen. Er scheint in wenigen Stunden um Jahre gealtert. Das wetterharte Gesicht greisenhaft welk, die Mundwinkel schlaff herunterhängend, die Augen blöde, ohne Glanz. Er ist wie ein Baum, der trotzig und stark noch im Walde gestanden, nun vom Wetterstrahl getroffen in sich zusammensinkt und, als Häuflein faulenden Holzes, dem Beschauer die innere Morschheit weist.
Der Staatsanwalt streckt ihm die Hand entgegen, ihn dauert der Mann.
»Pfalzelbauer, gebt mir die Hand; Ihr habt viel verloren!«
Der andere zuckt zusammen, er ergreift die Hand nicht. Dicht tritt er an Milde heran, ein Zug wilden Hasses fliegt über sein Gesicht, er zischelt:
»Hähr Staatsanwalt, finnen Se dän eraus, on ech – ech –« mit einem unartikulirten Laut wendet er sich plötzlich zur Seite und stürzt neben der Leiche des Sohnes in die Kniee. »Lorenz, Lorenz!« Mit markerschütternder Stimme ruft er's. »Lorenz, duh de Aogen uf – gel, dau schläfst nor e su fest? Nau gieht ales kaput, nau es ale Müh ommesunst, nau kann ech betteln giehn – Lorenz, Lorenz!«
Schrecklich hallen die rauhen Töne durch die Stille des Waldes. Der Bauer hat fast nichts Menschenähnliches mehr, sein Gesicht ist verzogen, seine Augen rollen, er schlägt sich mit den geballten Fäusten gegen die Brust und krallt dann die Hände in sein zerwühltes Haar.
»Lorenz, Lorenz!«
»Hähr Staatsanwalt,« raunt der Gendarm, »hän hat dän Lorenz immer kujenirt, nau sollten dän awer de reiche Pardie duhn on dem Vadder aus der Bredullich helfen, nau es't nix dermit, dao es dän Alten doll gäwen –«
»Sei dem, wie es wolle!« Milde schiebt den dicken Lippi zurück und legt dem Bauer die Hand auf die Schulter. »Pfalzelbauer, steht auf, geht zur Seite, wir müssen den Thatbestand aufnehmen; Ihr stört uns.«
»Hähr Staatsanwalt, finnen Se dän, finnen Se dän!« Dumpf murmelnd richtet sich der Verstörte auf, thut ein paar wankende Schritte zur Seite und sinkt auf seinem früheren Sitz zusammen, das Gesicht wie vordem in den Händen bergend.
Milde beugte sich zu dem Ermordeten nieder.
Er lag auf dem Rücken, die verglasten Augen weit aufgerissen – so hatten ihn Holzfäller am Morgen gefunden; noch hatte keine glättende Hand über die Züge gestrichen, sie waren verzerrt. Der Kopf war hintenüber gesunken, Ameisen und Spinnen rannten durch die braunen Ringellocken; rundum war das Moos aufgewühlt, Gras und Kraut zertrampelt. Bis hinauf in das bleiche Gesicht und weit im Bogen war das Blut gespritzt; der Körper lag in einer dunklen Lache, hinunter zum Bach war der klebrige Saft gelaufen, die grünmoosigen Steine mit roten Flecken besudelnd. In der Brust saß die Todeswunde, ein tiefer Stich, der bis zum Herzen gedrungen. Die Rechte hatte wohl noch mit letzter Kraft nach der Brust gegriffen und den Mordstahl herausgerissen – sie war blutüberströmt – die Linke sich krampfhaft geballt. Nebenbei, halb verborgen im Moos, ein Messer, ein altes verrostetes Küchenmesser, aber lang und spitz, die schartige Klinge rot bis zum Heft.
Es mußte eine kräftige Faust gewesen sein, die den Stoß geführt hatte – oder eine wahnsinnige Energie. Milde dachte unwillkürlich an jenen Blick des Weibes vor der Höhle; es hatte bei dem leisen Geräusch, das er verursacht, die Augen herumfahren lassen, groß, scheu und wild drohend – er dachte der Inbrunst, mit der die Mutter ihr Kind an sich gedrückt, er hörte ihre stammelnden Liebesworte – »o dau, dau – dau mei Herrgöttche –« Der Schweiß trat ihm auf die Stirn, er faßte nach der krampfhaft geballten Faust des Toten und löste die starren Finger von einander. Was hielten sie doch? Himmel! Ein Büschel blonder Frauenhaare glänzte ihm entgegen; wie ein goldiges Gespinnst hingen sie zwischen den wächsernen Fingern. Der Staatsanwalt zitterte, er wurde totenblaß, mit lähmendem Schrecken überfiel es ihn. Eine fürchterliche Gewißheit drängte sich ihm auf – ja, da hielt er sie in der Hand, lang und seidig, wie gefangene Sonnenstrahlen schimmerten die einzelnen Fäden – allbarmherziger Schöpfer, das waren die Haare jenes Weibes! Gewaltsam mit den Wurzeln aus dem Haarboden gerissen, von der Hand des Lorenz im Todeskampf gepackt – o!
War das eine Halluzination, ein entsetzliches Spiel seiner Phantasie? – Wie ein Gespenst sah er sie durch die Waldbäume gleiten, langsam – näher und näher kam sie – mit der einen Hand drückte sie ihr Kind an's Herz, in der andern hielt sie ein Messer, lang, spitz und schartig – nun war sie da – nun hob sie das Messer, es schimmerte rot bis zum Heft –
Milde fühlte seine Kniee beben, er tastete wankend um sich, gleich Nebel schwamm's ihm vor den Augen; aus weiter Ferne hörte er den Lippi flüstern: »Hän es onüwel gäwen, Wasser!«
»Kein Wasser!« Mit einer gewaltsamen Anstrengung raffte sich Milde auf. »Mir ist nichts. Schafft den Toten in's Dorf, im Spritzenhaus legt ihn nieder. Die Herren vom Amtsgericht und der Kreisphysikus werden inzwischen eintreffen und dort die Obduktion vornehmen. Voran, Leute!«
Ein paar Männer traten näher. Sie hatten inzwischen aus Stangen und Reisig eine kunstlose Bahre gefertigt. Man legt den Leichnam darauf nieder, eine Pferdedecke wird über den Körper geworfen, ein buntgewürfeltes Taschentuch verhüllt das krasse Totenantlitz. Schweigend laden die Träger die schauerliche Last auf, keiner wagt den Blick zu heben; eine bange, furchtbare Schwüle erstickt jeden Laut. Langsam schreiten sie voran, wie entsetzt schnellen die Zweige der Büsche zur Seite; mit dumpfem Stöhnen erhebt sich der Pfalzelbauer und wankt hinterdrein. Der dicke Lippi schickt sich an, mit martialischem Säbelgerassel den Zug zu eskortieren, da winkt ihm der Staatsanwalt.
Dieser hatte während der Vorbereitungen zur Wegschaffung des Toten stumm und schwer an einem Baum gelehnt. Sein Blick starrte schier teilnahmlos in die Ferne, er hatte die Hände verschlungen und preßte die Finger gegen einander, daß sie knackten; die Brust arbeitete wie bei einem, der einen rasenden Lauf gethan. Aber weit mehr noch arbeiteten die Gedanken in seinem Kopf, jagten sich und trieben ein sinnverwirrendes Spiel. Unzähligemal hatte er in seiner Amtspflicht dem Verbrechen gegenüber gestanden; wie viel Wallungen hatte sein Herz nicht schon durchgemacht! Es war aufgebraust in Zorn und Empörung, es hatte geklopft in Mitleid und Erbarmen, aber nie hatte es wie heute gepocht, so ungeberdig, so angstvoll, nie war ihm sein Beruf so schwer erschienen! Eine tiefe Bitterkeit quoll in ihm auf; was war er? Ein hilfloser Mensch, ein Nichts in der Hand des Schicksals. Griffen seine Finger auch in die Speichen der Räder, auf denen finstere Gewalten über die Erde dahinrollen, seine schwachen Hände vermochten nicht Einhalt zu thun. Unaufhaltsam, unabwendbar jagten sie näher, sie stießen um, was im Wege stand – Mitleid, Menschenliebe, Erbarmen – sie gingen darüber hinweg, sie packten die schuldige Mutter und das unschuldige Kind, sie rissen sie in den Staub und zermalmten sie – Unschuld und Schuld, alles zusammen ein unentwirrbares Chaos! – Ein grenzenloses Erbarmen mit der elenden Kreatur überkam den Mann. Er hatte sie gesehen droben auf grünem Plan, arm, verlassen und doch selig, von Sonnengold und Mutterglück wie mit einer Glorie umwoben; er hatte ihre Liebesworte gehört, dazu das Lallen des kleinen Geschöpfes an ihrer Brust – nun sollte er dazwischen treten und die Hand erheben: Im Namen des Gesetzes! – Den Staatsanwalt schauderte, wie ein Erlösungsstrahl durchschoß ihn der Gedanke – wenn sie unschuldig wäre?! Wenn! – »Ja, sie ist unschuldig, sie muß es sein!« flüsterte eine Stimme in seinem Herzen, und dann sprach eine andere dagegen: »Sie ist schuldig, sie muß es sein!« Wie giftige Schlangen ringelten sich hier die blonden Haare, sie wuchsen, sie verlängerten sich, sie wanden sich den Abhang hinauf wie ein hänfener Strick, ein Strick, mit dem man den Mörder bindet – und die – Mörderin!
Hatte er es nur gedacht, hatte er es laut gerufen?!
»Ze Befehl, Hähr Staatsanwalt.« Der dicke Lippi pflanzte sich vor ihm auf und zwirbelte unternehmend den Schnurrbart. »Wat nu, Hähr Staatsanwalt?«
»Rufen Sie noch ein paar Leute zusammen!« Fast tonlos fielen die Silben von Mildes Lippen. »Wir steigen dann hinauf zur Genofevahöhle, ich – ich –« er stockte, wie Blei wurde die Zunge in seinem Mund, fast erstickt stieß er die letzten Worte hervor: »Ich habe – einen Verdacht!«
Wie im Traum schritt Staatsanwalt Milde den Berg hinan; er achtete nicht auf Wurzeln und Geröll. Damals, als er hinaufgeklettert war in wonniger Abendkühle, von leisem Gesang angelockt, damals war sein Fuß ausgeglitten, er mußte sich an Sträucher und Zweige klammern. Jetzt ging er wie ein Trunkener, halb betäubt, jetzt kam er als Ankläger, als Henker, und doch schritt sein Fuß so sicher, als träte er auf sammetnen Wiesenrain; er strauchelte nicht. Welch ein Hohn!
Milde faltete die Hände wie zum Gebet. – »Und vergieb uns unsere Schuld« – er konnte nicht beten, nichts weiter, nur: »Vergieb uns unsere Schuld, vergieb uns unsere Schuld!« Er schritt dahin, selbst wie ein Schuldiger, den Kopf tief geneigt, das Auge umflort. Was würde kommen? Was that er?
Hinter ihm drein keuchten die Männer; sie wagten nicht zu fragen, die finster zusammengezogene Stirn, das bleiche Gesicht des Herrn schreckten sie ab. Man hörte nichts als das rasche Atmen der Steigenden, das Knicken der Äste, das Rauschen des Laubes.
Nun waren sie oben, das Buschwerk that sich von einander – da lag der grüne Plan, sonnbeglänzt, in unberührter Schönheit; die Quelle murmelte, tausend Blumen blühten, Waldvögel saßen umher, aber sie flatterten auf vor dem Nahen der Tritte. Kein Mensch zu sehen. Alles still, einsam, ein wunderbarer Friede über dem kleinen Platz. Wenn sie entflohen wäre! Ein erlösender Seufzer wollte sich über Mildes Lippen drängen – aber da ragte die Felswand empor, und mitten drin gähnte die Höhle, dunkel, geheimnisvoll, der Eingang halb verborgen von blühendem Rosengesträuch und rankendem Grün.
Der Staatsanwalt hob den Finger: »Dort hinein, Leute – sucht!«
»Aha!«
Sie stampfen durch's Gras, sie treten die Blumen nieder, sie reißen den blühenden Vorhang ungestüm zur Seite und drängen vorwärts. Niemand zu sehen; tiefe Dämmerung erfüllt den Innenraum, nach der warmen Himmelsluft draußen hier schaurige Kühle. Leise fallen Tropfen von der Decke.
Der dicke Lippi streicht ein Zündholz an und bringt einen alten Kerzenstummel zum Vorschein: »Mer müssen Licht anfänken, hän hat sech verstoch.«
Halb geblendet tappen sie umher. Der unsichere Schein fällt auf die Höhlenwände, auf den großen Stein in der Mitte, der fast die Gestalt eines Tisches hat, auf die lange Sandsteinbank an der einen Seite. Da liegen ein paar zerfetzte Decken, eine Schütte Stroh, Reisig, ein alter Kessel, ein umgestürzter Korb und wenige Kleidungsstücke. Die Suchenden fahren drauf los und reißen alles auseinander. – Horch, was ist das?!
Ein Wimmern! –
Dumpf hallt es wieder, unheimlich verlängert, ein übernatürlicher Klageton; von abergläubischem Entsetzen gepackt drängen sich die Männer auf einen Haufen. Milde steht allein, auch er bebt, und die Hand, die in den entferntesten dunkelsten Winkel weist, zittert.
Entschlossen hebt der Gendarm seine Leuchte – da – ein vielstimmiger Aufschrei, donnernd geben ihn die Felsen zurück. Dort – dort – hinter dem Vorsprung, dicht an die Wand geschmiegt, kauert eine Gestalt, eine Weibsperson, bewegungslos, starr, selbst wie Stein!
Verdutzt stehen die Männer, sie starren auf die zusammengekrümmte Gestalt; mit einem Schritt steht der Staatsanwalt neben ihr und legt die Hand auf ihre Schulter.
»Ich verhafte Sie im Namen des Gesetzes!«
Kein Laut zur Antwort, ohne Regung hockt das seltsame Wesen am Boden.
»Barbara Holtzer, stehen Sie auf, Sie sind verdächtig des Mordes an Lorenz Pfalzel, dem Sohn des Simeon Pfalzel zu Ehrang.«
»Wat – wat – de Barbe – dat Barbara Holtzer – de Magd vom Pfalzelbauer – es et menschenmielich? Jesses Maria, e su wat!« Erregtes Murmeln, das sich bis zu brausendem Getöse steigert, erfüllt den Raum. »Packt se, packt se, se es verdächtig!«
Das Weib am Boden ist wie taub. Derbe Fäuste reißen die Unglückliche empor, man zerrt sie, man stößt sie zur Höhle hinaus – da steht sie, im zerlumpten Friesrock, das grobe Hemd mit Blut bespritzt, die Haare verwildert; am Wirbel ist ihr ein Busch ausgerauft. Sie steht und hat die Augen auf den Boden geheftet, ihr Gesicht ist fahler wie das des Toten. Die Rechte hängt ihr schlaff herunter, mit der Linken hält sie ein Bündel Lumpen an sich gepreßt, drin regt sich ihr Kind und weint. Scheu weichen die Leute von ihr zurück; der Lippi knotet ein paar Halstücher zusammen, um ihr die Hände zu binden. Willenlos läßt sie es geschehen; nur einmal hat sie den Blick gehoben, ein herzzerreißender Ausdruck ist über ihr Gesicht geglitten, als man das Kind von ihrer Brust genommen. Einer der Männer trägt jetzt das Bündel. Der hat auch ein Kind daheim, ein kleines, hilfloses Wesen wie dieses; es jammert ihn, er hält das Bündel sorglich im Arm. Milde hat jenen einen verzweifelten, angstvollen Blick aufgefangen, mit dem die Mutter nach ihrem Kinde schaut; er läßt den Mann neben Barbara treten. Und nun gehen sie, die Verbrecherin in der Mitte, die Hände sind ihr auf dem Rücken zusammengeschnürt; hinterdrein marschiert der Lippi mit gezogenem Säbel.
Die Büsche schlagen wieder zusammen, weit dahinten bleibt der sonnige Rasenfleck.
Die aufgehende Morgensonne des folgenden Tages lugte durch das winzige, vergitterte Fensterchen an der Seitenwand des Ehranger Spritzenhauses. Dort lag die Kammer, in der man sonst allerlei Gerät aufbewahrte, in der man jetzt die Verbrecherin für die Nacht eingesperrt. Nebenan in dem großen Raum hatte man gestern abend noch die Obduktion des Ermordeten vorgenommen und ihn dann hinauf zum Pfalzelhof, unter das Dach seiner Eltern, geschafft.
Die Bäuerin war mit gellendem Schrei an der Bahre niedergestürzt – sie lag in Krämpfen – der Bauer saß wie ein Klotz neben der Leiche des Sohnes; er rührte sich nicht, tonlos murmelten nur seine Lippen in langen Pausen: »Alles ommesunst – ommesunst – waach uf, Lorenz! – Lorenz!«
Vor dem Spritzenhaus stand der Lippi mit gezogenem Säbel und hielt Wache. Für ein paar Stunden hatte ihn wohl der Nachtwächter abgelöst, aber nun war er selbst schon wieder da. Ja, der Lippi wußte, was ihm gebührte, er war jetzt eine wichtige Persönlichkeit! Gestern und heut, das waren Lichtmomente in seinem Dasein, die ließ er sich nicht verkürzen. Rasselnd schritt er auf und ab und drückte die Brust heraus. Was hatte er nicht zu thun gehabt, gestern beim Transport hierher und bei der Ankunft im Dorf! Die Leute waren kaum abzuwehren gewesen. Einem Lauffeuer gleich hatte sich's verbreitet, die Barbara Holtzer sei verdächtig des Mordes an Lorenz Pfalzel, nun werde sie eingebracht. Mit wütendem Geschrei, mit geballten Fäusten hatte man sie empfangen; ein Hagel von Steinen war gegen Wand und Gitterfenster des Spritzenhauses geflogen.
Jetzt war es noch still, sehr früh am Morgen. Der Lippi pfiff sich leise eins, da knarrte drüben die Thür am Hause des Gemeindevorstehers, der Herr Staatsanwalt kam über die Straße. Er hatte wohl schlecht geschlafen, gestern noch bis spät in die Nacht zu thun gehabt, und schon wieder munter?
»Gendarm, schließen Sie das Spritzenhaus auf!«
»Ze Befehl, Hähr Staatsanwalt!«
Der Lippi klirrte umständlich mit den Schlüsseln, das Thor knarrte und bewegte sich schwerfällig in den Angeln.
»Gehen Sie nur, ich schließe mir allein weiter!«
Der Herr Staatsanwalt nahm dem Lippi den Schlüsselbund aus der Hand; sehr unbefriedigt blieb dieser zurück, er hätte gar zu gern bei der Gefangnen hereingeguckt. Milde schloß das Thor hinter sich, eilte mit raschem Schritt durch den öden, scheunenähnlichen Raum, in dessen Mitte jetzt einsam die Spritze stand, und steckte den Schlüssel in die niedrige Thür zur Rechten.
»In Gottes Namen!« murmelte er, öffnete leise und trat ein.
Durch das vergitterte Fensterchen drang Licht genug; ein heller Strahl fiel auf die Strohschütte am Boden und zeigte ihm die zusammengekauerte Gestalt der Barbara Holtzer. Sie saß dort in derselben Stellung wie gestern in der Höhle, den Kopf etwas vorgestreckt, die Augen unverwandt auf einen Punkt stierend.
»Barbara Holtzer!« Milde trat näher und berührte leicht ihre Schulter; sie zuckte und drückte sich scheu noch mehr zusammen. »Barbara Holtzer, Ihr seid eines schweren Verbrechens angeklagt, habt Ihr etwas zu sagen, was Euch –«
»Mein Könd, mein Könd!« Mit jammerndem Laut fuhr die Unglückliche auf und tastete mit den Händen um sich; das Stroh war leer, sie hatten ihr gestern das Kind genommen und nicht wiedergegeben. »Mein Könd, mein Könd!«
Wie das Ächzen der gemarterten Kreatur klang der Wehruf der Mutter; Milde fühlte, wie es ihn überlief, er ließ sich auf den Schemel neben dem Strohlager fallen und sagte mild:
»Seid ohne Sorge, Barbara, Euer Kind ist gut aufgehoben, ich habe dafür gesorgt.«
»Sie – Sie?« Ein ungläubiges Staunen klang aus der Stimme des Weibes. »Sie sein e su gud gewest, e su gud?!«
»Ja, ich! Glaubt Ihr, das unschuldige Kind soll die Schuld der Mutter entgelten? – Barbara Holtzer, die Beweise für Eure Schuld häufen sich. Das Messer, mit welchem Lorenz Pfalzel die Todeswunde beigebracht wurde, ist ein Küchenmesser aus dem Pfalzelhof, seit Eurem heimlichen Abgang von dort mitverschwunden. Ich weiß alles. Es ist Eure Hand, die dem Lorenz den Todesstoß versetzt hat – sprecht, entlastet Euer Gewissen!«
Der Staatsanwalt hatte nicht hart gesprochen; ruhig, wie man einem unvernünftigen Geschöpf zuredet, klang seine Stimme.
Einen Augenblick war's still in der Kammer, ganz still, dann ein tiefer, zitternder Atemzug.
»Ech sein et gewest, jao!«
Ging die Welt nicht unter, mußte der Himmel nicht auf die Erde fallen?! Nein, die stand unverändert, der Himmel spannte seinen Bogen, Minuten gingen gleichmäßig weiter, die Sonne trübte nicht ihren Schein! In mitleidsvollem Entsetzen glitt der Blick des Mannes zu der jugendlichen Missethäterin. – Welch ein Abgrund von Elend!
Er seufzte aus Herzensgrund: »O, du Unglückliche!«
Sie hob die Augen und schaute ihn an; ihm fiel jener Hund ein, den er neulich auf der Moselbrücke gesehen. Knaben trieben da ihr Wesen, hatten dem Tier einen Strick um den Hals gebunden, daran einen schweren Stein; zitternd stand die arme Kreatur, des Stoßes gewärtig, der sie hinunter schleudern sollte in den Fluß. Er hatte das erbärmliche Geschöpf aus den Händen der Peiniger befreit, und es hatte ihn angesehen mit einem Blick – einem Blick – ja, so blickte dieses Weib auch! In den trüben, irren Augen glomm ein scheu verwunderter, dankbarer Strahl auf, dann neigte sich der blonde Kopf, ein jammervolles Stöhnen drang aus der gequälten Brust.
»Barbara Holtzer, du dauerst mich, sprich, was hat er dir gethan?«
Lange Pause – und dann ein Schluchzen, wild und heftig, als wolle es alle Bande sprengen, ein unterdrückter Schrei! Sie springt auf die Füße, sie streckt die Hände abwehrend von sich, fällt dann auf die Kniee und schlägt die Stirn dröhnend zu Boden:
»Mein Könd, mein Könd!«
Dem Mann stockt der Atem, kein Laut will über seine Lippen; vor diesem Ausbruch der Verzweiflung verstummt das Menschenwort. Eine lange Weile verstreicht, tiefe, bange Atemzüge zittern durch den Raum, in der Ecke nagt eine Maus und huscht über den Estrich; und nun legt der Richter die Hand sanft auf das blonde Haar. Sie hebt das verstörte Antlitz, sie klammert die bebenden Hände in seinen Rock.
»Hähr, Hähr, helfen Se mer – mein Könd!«
»Ich kann dir nicht helfen!« Stockend fallen die Worte von Mildes Lippen. »Dein Verbrechen schreit zum Himmel. Aber sprich offen zu mir, denke, ich sei der Beichtiger, dem du das Innerste deines Herzens offenbarst – denke, ich sei dein Vater. Ich bin traurig um dich, mein Kind. Steh auf!«
Sie erhebt sich nicht, sie bleibt auf den Knieen liegen, ihre Hände klammern sich fester an seinen Rock:
»O Hähr, guder Hähr, ech sein e su elendig gäwen, verlaossen von Gott on der Welt – äwer, Hähr, Hähr, dän Lorenz hat mech daoderzu gemaach! Hän haot üwel an mer gedahn, hän haot mei Könd hole wollen, mein Könd!« Sie springt mit blitzenden Augen auf und rüttelt ihren Zuhörer: »Verstiehn Se, Hähr, mein Könd! Einsam haon ech gesäß owen in der Genofevahöhl, dän Lorenz hat mech loa verstoch gehatt met meim Könd, ech sein e su glücklich gewest, bis –. Mein Tant, de Katrei Holtzer, es einen Dag kommen, se hat mer verzählt, dän Lorenz wullt sech verännern, dat Anna vom Ramstein heiraoden. Hähr, dat hän mech net heiraoden konnt, haon ech gewußt, äwer en annere – ne – hän haot geschwor vor der Alerheiligsten! On gekommen es hän alleweil aach net mieh.
»Ech haon owen gesäß met der Höll im Herzen, ech han em offgeluert, als hän awends vom Ramstein kommen es, ech haon gekrisch on gebitt, uf de Knieen han ech vor em gelän – hän is falsch gäwen, hän hat mech von sich gestoß: ›Laoß mech in Frieden!‹ Ech han em beschworen bei seiner Seelen Seligkeit, bei onsem Könd – ommesunst! On de ganz Nacht haon ech owen gesäß on de Gedanken sein in meim Kopp erum gejagd wie doll, immer erum, immer erum – o! –
»On am annern Awend haon ech alleweil widder uf en geluert, on dat Messer haon ech im Sack verstoch – Hähr, Hähr, ech dahte sälwer net wissen waorum – on als ech em e su ville Mal gebitt haot on hän saot, mer wollten dat Kind dem Anna uf em Ramstein for de Dihr lägen on hän wollt dat Anna on er Eltern beräden et zu behalen als en gude Fürbitt im Himmel, on nach der Hochzeid wollt hän dat Könd zu sech holen on gud behanneln, äwer ech sollten giehn – ech! – duh packt mech de Wut!
»Ech haon em dat Messer gewiesen: ›Lorenz, Lorenz! Ech giehn net von meim Könd – nimm dech in Aacht Lorenz, Lorenz!‹ Aewer dän Lorenz packt mech on schlät mech in't Gesicht: ›Vettel, schär dech! Biste still, sunst murksen ech dech af!‹ – on wie hän mech packt on dat Messer mer aus der Hand reißen will, duh – o Hähr, onsen Hähr Jeses Christ soll mer vergäwen – duh stoßen ech zu – um fällt hän ohne Muck!«
»Um Gottes Willen!« – den Zuhörer schaudert. – »Weib, was hast Du gethan!«
»Gedahn?« Sie sieht ihn starr an und nickt dann langsam mit dem Kopf, auf ihrem Gesicht liegt ein starrer Trotz: »Ech giehn net von meim Könd.«
»Und du wirst doch gehen müssen, Unglückselige,« murmelt Milde.
Sie hört ihn nicht, sie hebt die Hände und streckt sie weit von sich ab, ihre Augen haften mit starrem Entsetzen auf den eigenen gespreizten Fingern.
»Blud es dran – Blud – huh!« – Sie schüttelt sich, ihre Zähne schlagen auf einander, sie redet tonlos wie im Traum: »Ech sein gerennt, ech haon mein Könd geholt, ech haon mech verstoch tief innewennig, on eweil, eweil« – sie fährt zusammen – »sein ech gefang!« Und nun ein markerschütternder Schrei: »Hähr, helfen Se mer – mein Könd, mein Könd!«
Sie heult auf wie ein wildes Tier, sie klammert sich an ihn in Angst und Verzweiflung, sie stürzt vor ihm hin, ihre Stirn schlägt wieder und wieder auf seine Füße. Er selbst ist bleich wie die Verbrecherin am Boden, der Schweiß perlt ihm auf der Stirn; mühsam windet er seinen Rock aus ihren Händen.
»Ich kann dir nicht helfen, Barbara Holtzer; Gott erbarme sich deiner!«
Er geht, die Thür fällt hinter ihm in's Schloß; ihr trostloses Wimmern schneidet ihm durch's Herz.
Es war wenige Stunden später.
Eine aufgeregte Menge füllte wieder die Dorfstraße und umwogte das Spritzenhaus. Die Sonne schien vom wolkenlosen Himmel nieder, heiß und grell. Der Lippi stand und wischte sich den Schweiß von dem roten Gesicht, er war in Wichs; dort stand das Chais'chen mit ein paar starken Ackergäulen bespannt, das die Mörderin nach Trier bringen sollte.
»Vill ze fein for so en Luder!« meinten die Leute und ballten die Fäuste.
Die Herren vom Gericht waren schon wieder fort, nur der Herr Staatsanwalt weilte noch im Dorf, aber sein Wagen ward auch angespannt. Bald würden sie alle weg sein, nur oben im Pfalzelhof lag noch der Tote und harrte der Bestattung.
In der Putzstube des Ortsvorstehers waren die Fenster verdunkelt, trotzdem herrschte eine drückende Schwüle in dem giftgrün tapezierten Raum. Die Fliegen surrten, es roch nach getrockneten Kräutern und Käse; auf der Fensterbank pflegte die Frau Gemeindevorsteher ihre Schmantkäschen zu sonnen. Auf dem Roßhaarsofa mit der weißen gehäkelten Schutzdecke saß Staatsanwalt Milde. Er hatte den Kopf in die Hand gestützt wie in schweren Gedanken; er wartete. Da klopfte es an die Thür.
»Herein!«
Auf der Schwelle stand die Ramsteiner Anna, in tiefe Trauer gekleidet, um das verweinte Gesicht ein schwarzes Tuch geknüpft.
»Guten Tag, Fräulein Anna! Ich habe Sie rufen lassen; weil ich Sie gern sprechen wollte; ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind.«
Er schüttelte ihr die Hand, sie brachte kein Wort hervor; bei seiner Anrede schossen ihr auf's neue die Thränen in die Augen, um ihren Mund zuckte es und ihre Hand zitterte.
»Armes Kind, setzen Sie sich!«
Schluchzend ließ sich das Mädchen auf einen Stuhl fallen.
»O, Herr Staatsanwalt, Herr Staatsanwalt, es is alles e so gräßlich – ich bin wie verwirrt, da drinn in meiner Brust is alles ausgelöscht und umgedreht, ich lieg' auf den Knieen und kann net beten, ich sehn zu mei'm Muttergottesbild auf und bin wie blind – mein Gott, was is mit mir geschehn?«
Sie rang die Hände; teilnahmvoll ruhte Mildes Blick auf ihr. Sie war wie ausgetauscht. Das hübsche sonnige Gesicht schaute so vergrämt, um Jahre älter, eine fremde Leidenschaftlichkeit mischte sich in ihr Gebaren; die sonstige Schüchternheit war verschwunden, die Worte flossen ihr in hastiger Erregung:
»Herr Staatsanwalt, den Lorenz is tot, all mein Glück is hin – und e so schrecklich, e so schrecklich! Wär' er noch gestorben, daheim in sei'm Bett, versehen mit den Sterbesakramenten unsrer allein seligmachenden Kirch, ich wollt' mich trösten, aber so, so!« Sie schüttelte den Kopf und ließ die Arme fassungslos in den Schoß sinken, dann sprang sie auf und faßte wie beschwörend die Hand des Herrn: »Gelten Se, Herr Staatsanwalt, ich gehn net irr, den Lorenz hat unrecht an der Barbara Holtzer gethan? Es hat mer zwar kein Mensch ebbes davon gesagt, der Vadder antwort mer net, und die Mutter weint alleweil; aber gelten Se, die Barbara hat ein Recht an den Lorenz gehabt, er is der Vadder von ihrem Kind gewest, und weil er mich hat heiraten wollen, drum hat sie ihn umgebracht? – O, die schlechte Person! – O, ich arm Dingen! – Ich sein schuld an all dem Elend – ich kann net mehr in der Welt leben, ich gehn in ein Kloster. – Lorenz, mein Lorenz, ich bin dir e so gut gewesen, nun muß ich dir e so bös sein!«
Herzbrechendes Schluchzen erstickte ihre letzten Worte. Milde ließ sie ruhig ausweinen, hielt nur ganz still ihre Hand in der seinen und streichelte sacht darüber hin.
»Anna,« sagte er dann, »kleine Anna, ich bin verwundert, woher wissen Sie das alles?«
Sie errötete tief, für einen Augenblick schien es, als wollte die alte Schüchternheit wiederkehren; dann preßte sie die Hände auf's Herz und sagte mit einem tiefen Atemzug: »Herr Staatsanwalt, ich bin ihm so gut gewesen!« Sie sagte das ganz einfach, mit rührendem Ausdruck; dann fuhr sie wehmütig fort: »Ja, ja, wann mer einen so lieb hat, da gehn ei'm die Augen auf über Sachen, die mer vorher net geahnt hat, da is mer auf einmal kein Kind mehr! Was hab' ich denn in meiner Klosterschul von der Welt gelernt? Aber als mich den Lorenz zum erstenmal geküßt hat, da hab' ich gewußt, was unsen Herrgott will, wann er zwei Menschen zusammenführt. Mit jedem Tag hab' ich mehr gelernt, und als ich gestern den Lorenz tot gesehen hab'« – sie schauderte unwillkürlich – »und se drauf de Barbara in's Dorf gebracht haben mit ihrem Kind – da, Herr, da hab' ich alles gewußt. Der Vadder flucht dem Lorenz und flucht der Barbara – ich, ich weiß net, was ich thun soll! Die ganz Nacht hab' ich vor der Muttergottes gelegen, ich hab' sie mit blutigen Thränen angerufen, ich hab' geglaubt, sie müßt den Finger heben und den Mund aufthun. Kein Wunder is geschehen, mein Jammer is heut wie gestern! Es is so dunkel um mich, ich seh' keine Sonn' mehr – o Jesus, ich gehn in's Kloster, ich gehn zu die Klarissen, ich will kein Wort mehr sprechen und in meim Sarg schlafen – o – o –«
»Anna,« die Hand des Mannes strich über ihren gebeugten Scheitel, »hören Sie mich einmal ruhig an.«
Sie nickte stumm; und nun begann Milde zu sprechen wie von einer plötzlichen Eingebung beseelt, innig und eindringlich klangen seine Worte durch den verdunkelten Raum. Es war die Geschichte Barbara Holtzers, die er in wenigen Zügen entrollte. Er sprach einfach, dem Fassungsvermögen seiner Zuhörerin angepaßt, aber durch die schlichte Erzählung klang ein Herzenston. Über die heißen Wangen des Mädchens flossen die Thränen wie Regen, es lauschte mit vorgeneigtem Kopf, mit geöffneten Lippen. Ein düsteres Gemälde rollte sich auf; ein Buch ward aufgeschlagen, darin stand auf jeder Seite in finsteren Buchstaben etwas von Schuld, Not und Verzweiflung. Nun neigte die Erzählung sich ihrem Ende. Milde atmete rascher, seine Stimme bekam einen noch wärmeren Klang, mit festem Druck faßte er beide Hände des Mädchens und sah ihm tief in die Augen.
»Anna, können Sie verstehen, was ich von Ihnen will? Sie sagen, Sie wissen nicht, wohin mit sich, Sie wollen in ein Kloster? Das ist Verbrechen. Sie sind zu jung, es wird wieder eine Zeit kommen, in der Ihre Jugend von neuem erwacht, soll dann Ihr Kopf an unübersteigliche Mauern rennen, Ihr Herz hinter kalten Eisenstäben verbluten? Glauben Sie damit den Himmel zu erwerben? Hören Sie mich, ich weiß ein Werk, das Gott wohlgefälliger ist! Er hat ein Kind zur Erde geschickt, ein Geschöpf, rein und unschuldig, wie wir alle einst geboren wurden. Es ist jetzt verlassen. Wissen Sie, welches Kind ich meine? Das Kind jener armen Ausgestoßenen, an Gott und der Welt Verzweifelnden. Nehmen Sie sich seiner an, denken Sie, es sei übrig geblieben von dem Toten, ein Stück von ihm; bewahren Sie das hilflose Wesen vor dem Umhergestoßenwerden in einer kalten und lieblosen Welt! Sie werden nicht unbelohnt bleiben, Sie werden einen Segen empfinden, der überschwenglicher ist als jeder andere auf Erden – glauben Sie mir, Anna, Kinder sind Führer zum Paradies – Anna, verstehen Sie mich? Sprechen Sie ›Ja‹, und ich will Sie unterstützen nach besten Kräften! Nehmen Sie mir die Last vom Herzen, lassen Sie mich der unglücklichen Mutter sagen: ›Sei ruhig, dein Kind ist gut aufgehoben!‹ Anna, antworten Sie, lassen Sie mich nicht umsonst bitten!«
Er schwieg tief atmend, ein forschender Blick streifte die schwarze Mädchengestalt – kein Laut! Wie Angst stieg es in seinem Herzen auf; hatte er auch das rechte Wort gefunden, den rechten Fleck getroffen?!
Er lauschte gespannt – da – sie schüttelte den Kopf, ein dunkles Rot überzog ihr Gesicht.
»Herr Staatsanwalt, ich versteh' Sie net! Ich – ich soll das Kind aufnehmen, das Kind von der da?« Sie sprang auf, sie stieß den Stuhl zurück, fassungsloses Staunen malte sich auf ihrem Gesicht: »Es is wohl Ihr Ernst net, Herr Staatsanwalt? Doch? – Sie nicken! Ja, das thut mir leid, das kann ich net. Ich thät' Ihnen gern was zu lieb, herzlich gern, aber was denken Sie von mir? Ich fluch' dem Lorenz ja net und net der Barbara, ich zürn' net emal mehr, das haben Sie zuweg gebracht, Sie haben e so schön geredt, daß mir das Mitleid gekommen is, aber da dermit is 't auch genug – wie können Sie von mir verlangen, ich soll mich um das Kind annehmen?! Herr Staatsanwalt, grad ich! Das ist zuviel verlangt!« Die Stimme des Mädchens nahm einen beleidigten Klang an und zitterte vor Erregung, das weiche Gesicht wurde streng; so glich die Anna ihrem Vater, dem Ramsteiner Bauern. »Ich bin betrogen und hintergangen worden, ich sein e so gekränkt, und Sie, Sie denken –! Als Sie so erbaulich geredt haben, konnt ich's vor ne Weil vergessen, aber alleweil regt sich's ei'm da innen – was bin ich denn? Ich bin kein' hergelaufene Person; ich bin de Ramsteiner Anna. Meine Lieb' hab' ich an dän Lorenz gehängt, ich hab' net gefragt: Biste arm oder reich? Und jetzt, was hab' ich dervon? Daß de Leut nach mir gucken und hinter mir drein schwätzen, und daß ich auf dem Gericht zu Trier meine Aussag machen muß! Ich muß mich schämen. Von der ganzen Sach bleibt doch ebbes an mir haften – und ich, ich sollt' meine Hand noch bieten und e so en Kind nehmen, auf dem der Fluch liegt – nein! Beten will ich fleißig for das arme Wurm und for den Lorenz und die Barbe Messen lesen lassen – aber selbst, selbst –« ihre Stimme wurde wieder fest – »niemals, ich kann net – nein, nein! – Herr Staatsanwalt, Sie sind so en guter Herr« – sie trat an ihn heran und legte die Hand auf seinen Ärmel – »aber, Herr Staatsanwalt, Sie passen net for de Welt! Denken Sie an, was würd' mein Vadder und meine Mutter sagen, was würden de Leut denken? Sie würden mit Fingern auf mich zeigen! Und ich – ja, ich thät' Angst haben, das Kind von der Mörderin könnt auch emal im Zuchthaus en End nehmen. Sie sind eben anders, Herr Staatsanwalt! Ich hab' in em Buch gelesen, es gibt Leut, die alleweil nur das Gute glauben; wann's regnen thut, sagen sie: gleich wird die Sonn wieder scheinen, und wann der Himmel grau ist, sagen sie: in einer Viertelstund is er wieder blau. Ich meinen, e so einer sind Sie! Nehmen Sie es net übel, Herr Staatsanwalt, daß ich so frei bin und Ihnen das sag'! Und denken Se, wann ich net in's Kloster gehen sollt, dann muß ich später heiraten, es geht doch emal net anders, und was soll ich dann mit dem Kind? Lieber Herr, es thut mir e so leid, daß ich Ihnen net den Gefallen thun kann, aber bei allen Heiligen, gewiß und wahrhaftig, es geht net! Sind Sie mir bös?« Sie sah ihn mit thränenschwimmenden Augen an, er schüttelte nur stumm den Kopf. »No, dann adieu, Herr Staatsanwalt, ich muß jetzt gehen! Im Kapellchen is die Totenmeß for den Lorenz – horchen Se, sie bimmeln schon!«
Er ließ sich von ihr die Hand drücken.
»Adieu!«
Sie ging, das schwarze Kleid verschwand hinter der Thür.
Milde sank auf den Stuhl, wie einer, dem eine schöne Hoffnung zu nichte geworden.
Da ging sie hin, da stand das Bäumchen, das er über und über voll rosiger Blüten geglaubt, kahl und leer! Er schlug sich vor die Stirn, und sein Murmeln hatte einen bittern Klang:
»Ich Narr, ich lächerlicher Schwärmer! Ja, sie hat recht, ich kann ihr nicht zürnen. So jung und so verständig! Und ich – so alt und so unverständig!«
Draußen hält noch immer, von Neugierigen umlagert, das Chais'chen am Spritzenhaus. Die Ackergäule scharren ungeduldig und der Lippi flucht leise:
»Zapperment, dat es kein vergnügliche Saach, hei bei der vermaledeiten Hitz zu stiehn; dän Hähr Staatsanwalt wollt doch gleich kommen, on eweil dauert dat en halwe Ewigkeit – Gott sei gelobt, eloa is hän endlich!«
Milde kommt rasch näher:
»Schließt auf, bringt die Gefangene heraus!«
Mit dumpfem Gemurmel, mit halblauten Flüchen und Verwünschungen rückt die Masse der Neugierigen näher.
»Platz gemaach, hei werden net Maulaffen feil gehaalen! Dao soll doch gleich en heilig Kreizdunnerweder –« Der Lippi flucht kannibalisch.
Der Staatsanwalt ruft:
»Schämt euch, ihr Leute! Haltet euch ruhig, tretet zurück!«
Widerwillig schiebt sich die Menge zur Seite, mit wütendem Umherblicken und Säbelgerassel verschwindet der Lippi in der Spritzenhausthür; ihn begleitet der Kollege, der heute von Trier eingetroffen ist. Eine Weile verstreicht. Atemlose Stille draußen – da – alle Hälse recken sich, die Thür knarrt in den Angeln, sie geht auf.
»Ah!«
Der Herr Staatsanwalt hebt die Hand:
»Ruhe!«
Da tritt sie über die Schwelle, die Hände gefesselt; rechts und links ein Gendarm! Ihre Blicke sind stier zu Boden gesenkt, kein Muskel in dem todbleichen Antlitz regt sich; sie sieht aus wie eine Abgeschiedene. Mechanisch thut sie die wenigen Schritte vorwärts. Der Wagenschlag wird geöffnet, die Gendarmen heben sie hinein, zu jeder Seite nimmt einer Platz; der Kutscher haut auf die Pferde – sie ziehen an – Rädergerassel – eine Staubwolke.
Im blendenden Sonnengeflimmer verschwinden die Häuser des Dorfes; nun ist das letzte erreicht, noch diese Wegbiegung, dann liegt Ehrang versunken hinter Büschen und Bäumen, mit ihm alles, was –
»Mein Könd, mein Könd!« Mit einem herzzerreißenden Schrei springt die Gefangene auf, wendet sich zurück und hebt die gefesselten Hände. »Mein –« Die Gendarmen ziehen sie unsanft nieder auf den Sitz.
Die Räder rollen weiter; in Staub und Sonne verschwindet alles.