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Am Totenmaar


I.

Hoch oben in den Eifelbergen liegt ein See, dunkel, tief, kreisrund, unheimlich, wie ein Kraterschlund.

Einst tobten unterirdische Gewalten da unten, Feuer und Lavamassen wurden emporgeschleudert; jetzt füllt eine glatte Flut das Becken, wie Thränen eine Schale. Es geht hinunter in bodenlose Tiefe.

Keine Bäume, keine Blumen. Nackte vulkanische Höhen, gleich riesigen Maulwurfshügeln, stehen im Kranz, zu nichts gut als zu armseliger Viehweide. Mageres Strandgras weht, blasses Heidekorn duckt sich unter Brombeergestrüpp. Kein Vogel singt, kein Schmetterling gaukelt. Einsam ist's, zum Sterben öde!

Das ist das Weinfelder Maar, das Totenmaar, wie's die Leute heißen. Es hat keinen Abfluß, keinen Zufluß anders als die Thränen, die der Himmel drein weint. Es liegt und träumt und ist todestraurig, wie alles rings umher.

Wenn Herbstwinde über die Eifel gehen und kalte Nebel in den Thälern hocken, ist's hier oben noch kälter. Hui, pfeift das! Wind, wilder Gesell, stöhne nicht so laut! Zerre nicht die letzten braunen Blätter von den dornigen Ranken, stürze nicht die morschen Holzkreuze um, die dort um das Kirchlein stehen, das grau und düster am Seeufer trauert. Es ist das einzige Werk der Menschenhand hier oben, viel hundert Jahre alt, nicht schön, nicht häßlich, doch voll schwermütiger Poesie.

Einst lag hier das Dorf Weinfelden, seine Hütten scharten sich um das Gotteshaus wie Küchlein unter die Flügel der Glucke. Es ist lange her, das Dorf ist verschwunden – zerstört, versunken? Wer weiß! Am sichersten verhungert. Einzig das Kirchlein ist übrig geblieben und reckt seinen schwärzlichen Turm gen Himmel. Gottesdienst wird nicht viel drin gehalten, die Lebenden kommen nur herauf, ihre Toten zu begraben.

Auf dem schmalen Rain hinter der bröckligen Mauer reiht sich Kreuz an Kreuz; hier hängt ein Perlenkranz, dort eine verwitterte Schleife, der Wind zaust daran, der Regen verwäscht die Farben – es ist der Friedhof von Schalkenmehren. Der Weg herauf ist beschwerlich. Man weiß nicht, warum behalten die Schalkenmehrer ihre Toten nicht bei sich unten im Dorf? Raum hätten die auch noch da. Brauchen die Lebenden denn allen Platz am hellen freundlichen Schalkenmehrer Maar, dran Obstbäume wachsen, drin Fische schwimmen? Ei was, tot gehört zu tot; da kraxelt man lieber den steilen Berg hinan, die Ochsen oder der Ackergaul ziehen den Karren, drauf die Lade zwischen Strohschütten schwankt. Der Geistliche keucht hinterdrein und die Leidtragenden auch; man murmelt Gebete, man weint, man schluchzt, und über ein Kleines kommt man ledig wieder herunter. Die Thränen sind getrocknet, die Leidtragenden schwatzen laut und kehren vergnügt in's Trauerhaus ein zum Leichenmahl. –

Anfang November war es. Der Schäfer von Schalkenmehren, Steffen Kohlhaas, stand droben auf der kahlen Höh' und blickte über's Maar. Regungslos lag ihm sein Hund zu Füßen. Es dünkte ihn schier das letzte Mal, daß er seine Schafe hier herauf getrieben; noch fanden sie hie und da ein Hälmchen, sie schnupperten emsig suchend, die Hänge auf und nieder, aber viel war's nicht mehr – Winterkost.

Ein schneidender Wind riß dem Mann den Hut vom Kopf, daß die eisgrauen Haare in das harte braune Gesicht wehten; mit einem »Dunnerkiel!« zog er den blauen Leinenkittel fester um sich. »Et gitt Schni,« murmelte er und legte die Hand über die Augen. Er spähte in die Ferne, alles grau in grau, der Himmel wie ein Sack, von der »hohen Acht« und den anderen Bergen nichts zu sehen.

»Ech giehn häm, et es hei neist mieh ze maache!« Er sprach's und pfiff dem Hund. »Hao Stüppes!« Mit lautem Gekläff sprang der auf, fuhr zwischen die Schafe und trieb sie zusammen. Während dessen stand der Herr, die Hände auf den langen Stock gestützt und das feste, wie aus Holz geschnittene Kinn darauf gelegt.

»Hollao, wän kömmt elao?!« Der Alte zog die buschigen Brauen in die Höhe und blinzelte angestrengt in die Ferne nach der einsamen Gestalt, die weithin sichtbar mit flatterndem Rock dem Gipfel zustrebte, bis ihm die scharfe Luft die kleinen hellbraunen Augen trübte. – »E Framensch? Wat will dat hei? – Jeß Mari Jusep, ons Annmarei!« Der Alte that einen mächtigen Schritt der Kommenden entgegen; wie ein Rasender stürmte der Hund ihm vorauf, stieß ein Freudengeheul aus, sprang mit tollem Satz an der Frauengestalt empor und leckte das zu ihm geneigte Gesicht.

»Jao, jao, Stüppes – kusch dech, Stüppes!« Fast kindlich klang die Stimme, die diese Worte sprach. Jetzt kauerte das Mädchen nieder und drückte den Kopf in das ruppige Fell des Tieres. »Alder Stüppes, gelt, alder Stüppes, dau kennst dat Annemarei?« Ein freudiges Winseln war die Antwort.

Nun richtete sich das Mädchen wieder auf, rückte sich die Kleider zurecht und raffte das Bündel zusammen, das zur Erde gefallen. War sie so rot vom Bücken oder vom scharfen Wind? Der Atem flog ihr, scheu hielt sie den Blick zu Boden gesenkt. Keine Spur von Freude war auf ihrem Gesicht, als nun der Schäfer bei ihr stand und mit eisernem Griff ihre Hand schüttelte.

»Dag, Annmarei!«

»Guden Dag, Vadder!«

Kohlhaas schmunzelte, mit einem stolzen Blick überflog er sein schmuckes Kind. Fürwahr, eine hübsche Dirne! Noch hatten Arbeit und Entbehrung die Jugend nicht frühzeitig verjagt, die gebräunten Wangen waren weich gerundet, unter dem Kopftuche schimmerte eine weiße, faltenlose Stirn.

»Nao, Mädche, woa kimmste här? Hot dir dän Hähr Mathes erlobt, dein Eltern zo besuchen? Dat es recht, de Modder wird e su froh sein!«

Der Alte schlug ihr auf die Schulter, daß sie fast in den Knieen zusammenknickte, dann rieb er sich grinsend die Hände. Würden die Schalkenmehrer gucken, wenn er mit seiner Tochter in's Dorf einzog. Ja, Steffen Kohlhaas war stolz auf seine Annamarei! Sie war seine Jüngste, erst sechzehn, und diente schon ein Jahr als Magd in Daun, im Hotel zur Post. Herr Mathes, der Wirt, lobte sie. Wenn der Vater zur Kirmes in's Kreisstädtchen kam und seine Tochter besuchte, dann durfte er in der Herrenstube sitzen; der reiche Wirt schenkte ihm selber einen Schnaps ein, und die Frau Wirtin lief nach Kaffee und Kirmeskuchen. Von der Annamarei sah er dann freilich nicht viel, die hatte im Haus zu schaffen, grad' nur, daß sie ihm beim Abschied hinter der Thür die Hand drückte: »Adjes, Vadder, grüßt mer die Modder on de annern al!« Das war auch genug – die Ehre, die Ehre, das war die Hauptsache! Wenn man Steffen Kohlhaas nach seinen Kindern fragte – er hatte deren zehn, neun Buben und das jüngste, ein Mädchen – pflegte er zu nicken: »Merci, merci, se sein al e su weid ganz gud, äwer ons Annemarei, dat es ze Daun im Hodel – jao, jao!«

Und nun kam die Annamarei zu Besuch. Sehr vergnügt schien sie weiter nicht. Sie klappte mit der Spitze ihres schweren Lederschuhs unablässig auf den Boden und vermied den Blick des Vaters. Die Röte in ihrem Gesicht war verschwunden; sie schien nun sehr blaß, nur als der Alte fragte: »On wie lang därfst de derhäm bleiwen?« stieg ihr eine dunkle Glut bis unter die Wurzeln der flachsblonden Haare.

»Ech – ech –« sie stotterte, »ech sein net mieh an Mathesen, ech bleiwen erscht für der Hand derhäm!«

»Wat –? Wat – net mieh an Mathesen?!« Das Entsetzen raubte dem Schäfer schier die Sprache. – »Wat haste gemaach? – red!«

»O Vadder!« Mehr sagte sie nicht, sie schlug die Hände vor's Gesicht und weinte, daß ihr die Thränen zwischen den braunen Fingern durchliefen.

Der Alte packte sie bei der Schulter und rüttelte sie. »Wat haste gemaach, dau Schlump, dau« – über sein Gesicht zuckte es, Heftigkeit und Besorgnis stritten mit einander, dann legte sich ein weicherer Ausdruck um seinen Mund. Er schüttelte langsam den Kopf und nickte dann: »Kreisch net, Annemarei, et wird net e su schlimm sein. Jao, die Mädercher, die Mädercher – o Jeß, o Jeß –!« Und nach einer Pause: »Wän es et, Annemarei? Hän moß dech heiraoden, gräm dech äweil net e su! Schonst vill Mäderches es et e su gang, se sein als Amm' in der Stadt gewest, han en guden Groschen mitgebrach on dann ihren Schatz geheiraod! Dau biste erscht net!«

Er legte der Weinenden begütigend die Hand auf die Schulter, mit einem Ruck schüttelte die Tochter sie ab. »Et es net e su, Vadder, net e su!« Mit lautem Schluchzen kauerte sie sich plötzlich auf die Erde nieder, faßte den Hund um den Hals und drückte ihr nasses Gesicht in seine Zotteln.

»Ech – ech han ge – ge – gestohl!«

»Gestohl –?!« –

Eine Totenstille folgte dem Aufschrei. Zitternd kauerte das Mädchen am Boden. Der Alte stand wie vom Donner gerührt, der Stock war ihm entfallen, wie abwehrend streckte er beide Arme von sich. Mit trüben Augen blinzelte der Hund von einem zum andern.

»Gestohl!« – Langsam, dumpf, fast tonlos klang das furchtbare Wort wieder; der Wind kam, riß es von des Vaters Lippen und schleuderte es in alle Welt.

Die Tochter wimmerte: »Ech duhn et kees mieh, Vadder – kees mieh! – Dän Hannes hot kein Geld gehatt, kein Pfennig! Hän sät ze mir, ech kennt sei Mädchen nimmeh sein, wann ech em net en Dahler däht gäwen for danzen ze giehn – o Vadder, Ihr seid ald, Ihr wißt et net – o dän Hannes, dän Hannes, ech sein em ze gud – on de Muhsik –

Annamarei
Spann de Gei
Violenkraut,
Morgen wirste Braut!

– Vadder, ech han et gehert de ganz Nacht – Annamarei – spann de Gei –!« Sie schluchzte wild und schüttelte sich wie im Fieber, die Zähne schlugen ihr aufeinander. »Ech konnten net anners – mein Kopp es mer e su duselig gäwen – am annern Morgen legt ons Madam en Dahler op dän Disch in der Küch – ›Annamarei – spann de Gei‹ – ech dahten en eweg holen, den Dahler, on am Awend sein dän Hannes on ech danzen gangen. Vadder, Vadder, et war e su schien gewest!«

Ein Glücksschein flog über ihr Kindergesicht, sie sprang auf und hielt beide Hände an ihre glühenden Backen; ihre Lippen öffneten sich, als summten sie die Melodie des Tanzliedes.

Der Alte sagte kein Wort. Er sah sie nur immer starr an, dann faßte er plötzlich ihren Arm und stieß sie zurück, daß sie taumelte. »On dän Hähr Mathes, wat hot hän gesaot?«

Sie lugte scheu von der Seite und murmelte furchtsam: »Hän hot mech gefragt, ob ech dän Dahler geholt hätt. Ze erscht wollten ech't net saon, dao dachten ech an onsen Hähr Jesus, on ech sagt: ech hätten den Dahler geholt! Ech han e su vill gekrisch on gebitt, äwer hän hot mer de Dier gewiesen – Vadder, Vadder, schlao mech net, laoß, laoß!« Sie kreischte auf und hielt schützend die Arme vor.

Kohlhaas packte sie mit mächtiger Faust und schlug ihr mit der anderen Hand in's Gesicht, rechts und links, ohne Rücksicht, wohin die Schläge trafen. »Dau schlechtes Mensch, dau Stehlerin, dau –«

»Vadder – Vadder!«

Klatsch, klatsch, immer dichter fielen die Schläge. Der Hund richtete sich knurrend auf und zerrte seinen Herrn an der Hose, ein derber Tritt warf ihn zur Seite.

»Dau – Dau – on nau schär dech, onnerstieh dech noches zerick ze kommen – maach!« Noch einmal fiel die geballte Faust schwer auf die Schulter der Tochter, dann drehte der Alte kurz um, raffte den Stock auf, schwang ihn drohend und stieg, seinem Hund pfeifend, mit mächtigen Schritten den Hügelgrat entlang.

Stüppes stand zweifelnd; er drehte den Kopf bald rechts, bald links, dann drückte er sich winselnd an die Füße des Mädchens. »Stüpp!« Ein zweiter Pfiff, ein zorniges »Kommste hei!« und mit eingekniffenem Schwanz schlich das Tier seinem Herrn nach.

Und nun verschwanden sie alle miteinander, der Hirt, der Hund, die Herde. Annamarei stand allein. Ein Windstoß riß ihr das Tuch vom Kopf und peitschte ihr die Haarsträhnen in's Gesicht. Sie schauerte. Ringsum alles kahl, der Himmel grau mit schwarzen Wolkenballen, grau das Maar; unheimlich schweigend lag es in seinem Becken. Grau auch jenseits das Kirchlein, grau die verwitterten Kreuze. Die Ferne wie mit einem grauen Tuch verhangen; eine graue, feuchtkalte Luft legte sich schwer auf die Brust.

Das Mädchen schluchzte auf und faltete mechanisch die Hände. Sie wollte beten: »Maria, Moddergott's, Gebenedeite unter den Weibern« – warum drängten sich ihr nur die anderen Worte auf die Lippen? – »Annamarei – spann de Gei –« O Jesus, der Hannes! Was thut man nicht, wenn man einen zum Sterben lieb hat?!

Sie sieht sich wieder auf dem Tanzboden, sie fühlt sich von seinem Arm umschlungen – wie die Bratsche und die zwei Violinen in der Ecke kratzen ... nun fällt das Horn ein, – eins, zwei, drei – eins, zwei, drei – kritsch, kratsch, diedeldum – die Petroleumlampe an der Decke schaukelt, die Luft wird dick, ein heißes Atmen strömt durch den Raum – er preßt sie fester, er raunt ihr in's Ohr: »Annamarei, – Annamarei!« – – –

Huh, wie der Rabe krächzt! – Die Einsame fuhr zusammen; ein ganzer Schwarm schwarzer Vögel schwirrte vorüber und streifte sie fast mit den Flügeln. Zitternd knüpfte sie das Tuch fester um ihren Kopf – sie war erwacht!

Um sie her eine grenzenlose Öde, eine todesähnliche Einsamkeit.

Sie schlug das Kreuz, nahm ihr Bündel unter den Arm und schritt langsam, einen Fuß nach dem andern schleppend, den Berg hinunter. Unten im Thal tauchten im grauen Dunst dunkle Umrisse und bemooste Dächer auf, wie eine helle Scheibe blinkte der Spiegel des Schalkenmehrer Maares – dort, dort an der Wegbiegung die Gestalt des Vaters gleich einem schwarzen Strich, um ihn her als weiße Punkte die Schafe. Nun stand der Strich still, nun wehte der Kittel! Das Mädchen duckte sich rasch nieder. – Er sah sich um! Nun bewegte sich der Strich wieder. – Er ging weiter!

Der Vater war im Dorfe verschwunden, und die Tochter lief hinterdrein mit bebenden Knieen und keuchendem Atem.


II.

Steffen Kohlhaas lag im Bett; es war Nacht, aber er konnte nicht schlafen. Draußen heulte der Sturm und tutete langgezogene Klagetöne in den Schornstein.

Es schneite. Der erste Winterschnee, aber ein Schnee so weiß und kalt, wie einer um Weihnachten. Die Fenster waren dick beschlagen, in der Stube eine beklemmend warme Luft; es roch nach Cichorienbrühe und gequellten Kartoffeln. Wie gern lag sonst der alte Schäfer im Bett, reckte sich behaglich, wenn draußen Nacht und Graus ihr Wesen trieben, und atmete mit Behagen den warmen Dunst und Essengeruch.

Heute nichts von dem. Unruhig warf er sich auf seinem Lager, daß der Laubsack raschelte; dazwischen hörte er sein Weib schluchzen und seufzen: »O Jeß Marie Jusep – oh – oh –!«

»Hal de Maul, Fra – biste gleich still!« Das Weib schwieg. Nun war's eine Weile ganz ruhig. Im Verschlag nebenan rieb sich die Ziege an der Bretterwand, man hörte deutlich ihr Schaben. Der Wind draußen machte eine Pause – da – da – es tappte was am Hause, – nun drückte es auf die Klinke!

Der Schäfer saß aufrecht im Bett, das Hemd war ihm auf der Brust auseinander gefallen, die Zipfelmütze hing ihm im Nacken – er lauschte angestrengt – – – horch, es tappte wieder am Haus, jetzt glitt es an der Wand entlang – horch, tap-tap! Ein müder Schritt. Nun setzte der Wind ein – hui, pfiff der! Es klang wie Geheul, es ratterte an den Läden und dazwischen ein langgezogenes Wimmern: »Vadder, Vadder!«

Zitternd fuhr der Alte aus dem Bett, mit unsicherm Schritt tappte er durch den dunklen Ziegelflur und riß die Hausthür auf. »Hallao, wän gieht elao?!«

Keine Antwort.

Noch einmal dieselbe Frage, wieder keine Antwort. Und nun noch einmal – wieder nichts! Den Mann packte die Wut; unbekleidet stand er auf der Schwelle, er fror, daß die Zähne klapperten. »Donner on Doria, dau Stehlerin, vermaledeite, willste eim für en Noar halen?!« Krachend schlug er die Thür zu.

Nun wieder das Jammern: »Vadder – Vadder!« –

Er hörte nichts mehr, er war schon in der Stube und warf sich auf den Laubsack, daß die wurmstichige Bettstatt knackte. Dann lag er still, aber der Schlaf kam nicht; draußen tobte das Wetter mit Höllenlärm, als führe das Wodesheer durch die Lüfte. Er legte die Hände gefaltet an die Brust, das Herz pochte ihm ungestüm gegen die Rippen – nein, er hielt es nicht mehr aus, er stieß sein Weib in die Seite: »Fra!« – »Jao!« Die Alte antwortete sofort, auch sie hatte gewacht. »Wart, Steffen, ech fänken Licht an,« sprach sie mit zittriger Stimme.

Das Lämpchen strahlte auf, und nun saßen die beiden nebeneinander auf der wurmstichigen Bettstatt und starrten sich mit weitaufgerissenen, entsetzten Augen an.

»Maria, heil'ge Moddergotts, erbarm ech – ons Annemarei!« Die Mutter schluchzte bitterlich und rang die Hände, dann raffte sie sich auf und sank vor dem Muttergottesbild drüben an der Wand in die Kniee. Sie senkte den alten Kopf auf die Brust, das spärliche graue Zöpfchen hing ihr halb gelöst herunter; im trüben Lampenschimmer sickerten ihre Thränen, schwer wie Blei, über die welken Backen. Unablässig glitten die Perlen des Rosenkranzes durch die Finger und die Lippen murmelten halblaut dazu.

Der Mann betete nicht mit, er saß auf dem Bettrand und stierte vor sich nieder. Er mochte nicht nach jener Ecke sehen, wo einst seine Jüngste gelegen und geschlafen. Ihm war, als müsse das rotwangige Kindergesicht aus dem Dunkel auftauchen, als höre er die frischen Lippen das Abendgebet lallen:

»Dao stieht ein Baum
Daohin leg' ech mein Traum.
Daohin leg' ech mein Sünd;
Dann schlaofen ech met dem Jesuskind
Met Joseph on Maria rein,
Ganz sicher ein. Amen! – «

Steffen Kohlhaas stöhnte und stützte den Kopf schwer in die Hände.

So kam der Morgen.

Grau und trübe schaute kaum das Licht durch die moosverstopften Scheiben. Es war schon spät. Die Leute im Dorf schaufelten emsig Schnee; eine solche Last war so zeitig im Jahr kaum je gefallen. Mit einem Schlag war's Winter. Die Hände wurden steif, man zog die Mütze über's Ohr.

Gebückt stand der Schäfer vor seiner Hüttenthür und schüppte den Schnee zur Seite. Er war müde von der durchwachten Nacht, in den Gliedern lag's ihm schwer; er fühlte das Alter. Ein Nachbar trat zu ihm:

»Nao, Kohlhaas. Eier Annmarei es als widder elao? Dao hatt Ihr äwer en Freid gehatt!«

»Ons Annemarei – en Freid –« der Alte stammelte es nach.

»Jao, jao, gestern awend hat et bei onsem Trina gesäß, äwer dann es et –«

»Dann es et – wat?!« Kohlhaas packte mit krampfhaftem Griff den Nachbar bei der Schulter: »Waor, waor es et gangen, Mathes, waor?«

»Nao, bei Eich, häm!« Mathes sah den Schäfer an, als sei der verrückt geworden. »Waor anners?«

»Waor anners!« Der Alte lachte so grell und schneidend, daß es den anderen überlief, dann drehte er sich jäh um, ließ die Schüppe in den Schnee fallen und rannte davon wie besessen, die Dorfstraße hinunter. Der Nachbar kopfschüttelnd hinterdrein.


III.

»Annamarei – Annamarei!« Laut gellend tönt der Ruf über die kahlen Höhen.

Schnee, Schnee überall!

Die Berge haben ein weißes Totenhemd übergezogen, Kraut und Brombeergestrüpp sind darunter verschwunden. Unheimlich wie ein ungeheures schwarzes Loch schimmert der Spiegel des Weinfelder Maares. Die Schneeflocken sind hineingefallen und verzehrt von der dunklen Tiefe – so fallen Thränen der Menschen auf die Erde und versickern im gierigen Grund.

»Annamarei!« – – –

Der Vater rannte über die Höhe, den treuen Hund am Strick, und schrie nach seinem Kind. Wo war das? – Im Dorf war die Annemarei nicht mehr gesehen worden, seit dem gestrigen Abend. »Se es rum nach Daun gangen, gieht lao nach er kucken,« trösteten die Nachbarn. Nach Daun, ja, das wollte der Alte, drum raste er der Höhe zu; jenseits des Mäusebergs führte der kürzere Fußpfad zur Kreisstadt hinunter. Er keuchte, er schwitzte. Der Schnee war weich und ballte sich ihm unter den Sohlen. Er glitt, er sank ein; – stampfend, ächzend langte er oben an.

Nichts zu sehen! Kein Haus, kein Mensch! Nur das Maar in schweigender Majestät, ein Bild des Todes; an seinem Ufer das Kirchlein.

Der Hund stieß ein Winseln aus und drückte die Nase zu Boden.

»Annamarei!« Steffen Kohlhaas hielt die hohlen Hände an den Mund – noch einmal: – »An–na–ma–rei!« Warum schrie der Alte? Sein Kind war jetzt wohl längst in Daun, und er nur, der Narr, rannte hier auf kahler Höh' und stöberte im Schnee herum. O Gott, die Angst! Es schnürte ihm die Kehle zusammen, es hockte ihm auf der Brust wie ein Alp.

»Jesses Maria!« Der Schäfer rang die Hände in einander – hier, hier war die Stelle, wo er gestern mit den Schafen gehalten, – hier war die Annemarei vor ihn getreten, hier war sie zu Boden gesunken, hier hatte sie gejammert und geweint, hier hatte er sie am Arme gepackt und geschlagen, hier hatte sie gestanden wie ein Bild von Stein, als er noch einmal nach ihr zurückgeschaut! Gestern noch grüner Rasen, heute lauter Schnee.

»Stüppes, wat haste?« Der Hund riß am Strick und bellte heftig; er strebte mit Gewalt zur Seite, er zerrte den Herrn vom Wege ab. Nicht hin nach Daun geht's, nein, zur Rechten, immer weiter hinab, dem Kirchlein zu. Willenlos folgt Kohlhaas. Stüppes schnobert am Boden hin, den mageren Hals lang gereckt, den Schwanz eingezogen. Mit stierem Blick schreitet der Alte dahin. Nun sind sie am Ufer, nun spült die schwarze Lache des Maares gegen den weißen Schneerand, nun stoßen sie an die niedrige Friedhofsmauer, nun stolpern sie zwischen halbverwehten Kreuzen – der Hund bleibt stehen. Er hebt den Kopf zum Himmel und heult, ein furchtbares, grausiges Heulen; von den Höhen hallt es wieder, die grenzenlose Einsamkeit giebt es zurück.

Da – da – der Schäfer streckt die Hände vor, er thut einen kurzen rauhen Schrei. Auf der verwitterten Schwelle des Kirchleins hockt eine Gestalt, in die Thürnische gedrückt, den Rock über den Kopf gezogen! ... Wie ein Kind, das sich im Dunkel gefürchtet hat. Neben ihr liegt ein Bündel – alles weiß – die Füße stehen im Schnee, Schnee liegt auf dem Rock – – –

»Annmarei!« Mit zitternden Händen reißt der Vater den Rock herunter – weiß wie Schnee ist das Gesicht der Tochter, seltsam schmal und eingefallen, die Nase spitz. Auf der glatten Mädchenstirn über der Nasenwurzel hat sich eine ängstliche Falte eingegraben, gefrorene Tropfen hängen an den Wangen, aber der Mund ist im Lächeln halb geöffnet.

Die schneekalten Hände ruhn im Schoß, fest ineinander gefaltet.

»Da steht ein Baum,
Dahin leg' ich meinen Traum,
Dahin leg' ich meine Sünd.
Dann schlafe ich mit dem Jesuskind
Mit Joseph und Maria rein,
Ganz sicher ein. Amen!«


Auf den Höhen am Weinfelder Maar hütet der Schäfer Steffen Kohlhaas aus Schalkenmehren noch immer die Schafe. Er ist ein uralter Mann. Ich habe ihn oft gesehen. Wenn die Abendsonne hinter den Mäuseberg sinkt und das Heidekraut purpurn erglüht, dann hebt sich seine Gestalt, wie ein dunkler Schatten, weithin sichtbar ab vom lichtdurchglühten Firmament. Der Hund liegt zu seinen Füßen, um ihn her werdet die Herde. Er steht regungslos, die Hand über die Augen gelegt, und späht den Pfad entlang, der hinunter gen Daun führt. Ein blödes Lachen zieht um seinen verschrumpften Mund: »Jao, ons Annemarei, dat es ze Daun im Hodel – jao – jao!«


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