Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Achtzehntes Kapitel.

Wie strömte die Menge in den großen Saal der Universität von Christiania, wo die Lotterieziehung stattfinden sollte! Selbst die Höfe waren überfüllt, da der Saal die vielen Menschen nicht zu fassen vermochte. Bis auf die angrenzenden Straßen hinaus standen Leute, denn auch die Höfe waren noch zu klein.

An diesem Sonntag, dem 15. Juli, hätte man freilich an den so seltsam aufgeregten Norwegern nichts von ihrer sonstigen Ruhe wahrnehmen können. Rührte nun diese Aufregung von der Spannung her, mit der sie der Ziehung harrten, ober war sie der hohen Temperatur zuzuschreiben, die an diesem Sommertage herrschte? Vielleicht hatten Spannung und Hitze gleichen Anteil daran.

Die Ziehung sollte pünktlich um drei Uhr beginnen. Es waren 100 Gewinne, die in drei Serien geteilt waren: erstens 90 Gewinne von 100 bis 1000 Mark im Gesamtwert von 45 000 Mark, zweitens 9 Gewinne von 1000 bis 9000 Mark gleichfalls im Gesamtwert von 45 000 Mark, drittens 1 Gewinn von 100 000 Mark.

Im Gegensatz zu der sonstigen Gepflogenheit bei derartigen Lotterien sollte das große Los zu allerletzt gezogen werden. Das große Los sollte nicht auf die erste gezogene Gewinnnummer, sondern auf die letzte, das heißt auf die hundertste, fallen. Daher mußte die Erwartung, die Aufregung, die Spannung beständig zunehmen. Selbstverständlich konnte jede Nummer, die einmal gewonnen hatte, nicht zum zweitenmale herauskommen, sondern war, wenn einmal gezogen, nichtig.

All dies war der Menge bekannt. Man brauchte nur die festgesetzte Stunde abzuwarten. Aber um über das ermüdende Warten hinwegzukommen, wurde geplaudert, und zwar bildete fast überall die rührende Lage der Hulda Hansen das Gesprächsthema. Wenn sie das Los Ole Kamps noch besessen hätte, so hätte jeder – natürlich erst nach seiner eignen Person – ihr Glück gewünscht!

Zu dieser Zeit hatten mehrere schon Kenntnis von der Depesche, die im Morgen-Blad gestanden hatte. Sie teilten sie ihren Nachbarn mit. Bald war es in der ganzen Menschenmenge bekannt, daß die Nachforschungen des Avisos erfolglos gewesen waren. Die Hoffnung, auch nur Trümmer des »Viken« wiederzufinden, mußte also ausgegeben werben. Von der Mannschaft war nicht einer aus dem Schiffbruch gerettet! Hulda würde ihren Bräutigam nie wiedersehen!

Ein Zwischenfall gab den Gesprächen eine andere Wendung. Es hatte sich nämlich das Gerücht verbreitet, Sandgoist habe beschlossen, von Strammen wegzuziehen. Einige behaupteten sogar, ihn in den Straßen von Christiania gesehen zu haben. Sollte er es doch gewagt haben, den Saal zu betreten? Wenn dies der Fall war, konnte dieses Scheusal auf eine vielleicht verhängnisvolle Kundgebung gegen seine Persönlichkeit gefaßt sein. Er sollte der Ziehung beiwohnen? Das war ebenso unwahrscheinlich wie unmöglich. Blinder Lärm war das Ganze, weiter nichts!

Gegen 2 Uhr ging Bewegung durch die Menge.

Der Professor Sylvius erschien am Tor der Universität.

Man wußte, welche Rolle er bei der ganzen Angelegenheit gespielt hatte und wie er nach seiner Rettung durch Frau Hansens Kinder bemüht gewesen war, seine Schuld abzutragen.

Sogleich öffneten sich die Reihen. Ein schmeichelhaftes Murmeln, das Sylvius Hog durch liebenswürdiges Kopfnicken beantwortete, verbreitete sich durch die Menge und wandelte sich bald zu lauten Zurufen.

Aber der Professor war nicht allein. Als die zunächst Stehenden zurücktraten, um ihm Platz zu machen, sah man, daß er ein junges Mädchen am Arm führte, während ein junger Mann ihnen beiden folgte.

Ein junger Mann – ein junges Mädchen! Wie ein elektrischer Schlag ging es durch die Menge. Der gleiche Gedanke sprang aus aller Gehirn wie ein Funke von ebensoviel Akkumulatoren.

»Hulda – Hulda Hansen!«

Dieser Name kam aus aller Munde.

Ja! Hulda Hansen war es, die sich vor Aufregung kaum zu halten vermochte. Wenn Sylvius Hogs Arm sie nicht gehalten hätte, wäre sie hingefallen. Aber er hielt sie fest, die rührende Heroine dieses Festes, bei dem nur Ole Kamp fehlte. Wieviel lieber wäre sie in ihrer kleinen Stube in Dal geblieben! Wie gern hätte sie sich all dieser Neugier entzogen, so wohl gemeint sie auch war! Aber Sylvius Hog hatte gewollt, daß sie mitkäme, und so war sie mitgekommen.

»Platz! Platz!« rief es von allen Seiten.

Vor Sylvius Hog, Hulda und Joel teilte sich die Menge. Wieviel Hände strengten sich an, um ihre Hände zu fassen! Wieviel herzliche Worte der Begrüßung wurden ihnen zuteil! Und wie gewandt Sylvius Hog für all diese Erkenntlichkeiten zu danken verstand!

»Ja, sie ist es, meine Freunde! Es ist meine kleine Hulda, die ich von Dal hergebracht habe!« sagte er.

Dann drehte er sich um.

»Und dies ist Joel, ihr wackerer Bruder!«

Und er fügte hinzu:

»Aber vor allem, drückt sie mir nicht tot!«

Und während Joels Hände jeden Händedruck erwiderten, wurden die weniger kraftvollen Hände des Professors fast zerdrückt. Dabei leuchtete aber doch sein Auge, und eine kleine Träne freudiger Erregung rann von seinen Wimpern.

Sie brauchten eine gute Viertelstunde, um durch die Universitätshöfe hindurchzukommen und in den großen Saal zu gelangen, wo für den Professor Stühle reserviert waren. Endlich war dies nach einiger Mühe erreicht, und Sylvius Hog nahm zwischen Hulda und Joel Platz.

Um einhalb drei Uhr öffnete sich eine Tür hinter dem Podium im Grunde des Saales. Der Vorsitzende erschien, würdevoll und ernst, mit jener Herrschermiene und jener Kopfhaltung, wie man sie immer an Leuten findet, die irgendwo ein Präsidium zu führen haben. Zwei Beisitzer folgten ihm, nicht minder gewichtig. Dann sah man sechs kleine mit Bändern und Blumen geschmückte Mädchen hereintreten. Sie waren blond und blauäugig und hatten rosige Händchen, in denen man deutlich jene Hände der Unschuld erkannte, die für Lotterieziehungen wie geschaffen sind.

Diesem Auftritt folgte ein allgemeines Stimmengewirr, das zunächst Kunde von der Freude gab, die die ganze Menge über den Anblick der Leiter der Lotterie von Christiania empfand, und des weitern die Ungeduld verriet, die sie verursacht hatten, indem sie nicht schon früher auf dem Podium sich gezeigt hatten.

Sechs Mädchen waren ausgesucht worden, weil sechs Urnen da waren, die auf einem Tische standen und aus denen bei jeder Ziehung sechs Nummern genommen werden sollten.

Diese sechs Urnen enthielten jede die 10 Nummern 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 0, welche die Einer, Zehner, Hunderter, Tausender, Zehntausender und Hunderttausender der Zahl Million darstellten. Wenn für die Reihe der Million keine siebente Urne da war, so erklärte sich das daher, daß nach diesen Ziehungsart vereinbartermaßen die 6 Nullen, wenn sie auf einmal herauskommen, die Zahl Million bedeuten – wodurch die Chancen auf alle Nummern gleichmäßig verteilt werden.

Außerdem war bestimmt worden, daß die Nummern nacheinander aus den Urnen gezogen werden sollten, indem man bei der zur Linken des Publikums stehenden Urne begann. Die gewinnende Nummer bildete sich auf diese Weise gewissermaßen unter den Augen der Zuschauer, zuerst durch die Ziffer der Reihe der Hunderttausender, dann der Zehntausender und sofort bis zur Reihe der Einer. Gemäß dieser Vereinbarung sah begreiflicherweise jeder seine Chancen je nach dem Erscheinen jeder Ziffer mit wachsender Erregung steigen oder fallen.

Als es 3 schlug, gab der Vorsitzende ein Zeichen mit der Hand und erklärte die Sitzung für eröffnet.

Das gedehnte Gemurmel, mit dem diese Erklärung aufgenommen wurde, dauerte einige Minuten, nach denen völlige Stille eintrat.

Der Vorsitzende erhob sich. Sehr bewegt, sprach er ein paar passende Worte, indem er sein Bedauern ausdrückte, daß es nicht für jede Nummer ein großes Los gäbe.

Dann befahl er, zur Ziehung der ersten Serie vorzuschreiten. Diese umfaßte, wie bekannt, 80 Lose, mußte daher einige Zeit in Anspruch nehmen.

Die sechs kleinen Mädchen begannen also mit automatischer Regelmäßigkeit zu arbeiten, ohne daß die Geduld des Publikums eilten Augenblick sich erschöpfte. Da die Bedeutung der Lose mit jeder Nummer wuchs, wuchs natürlich auch die Aufregung, und niemand dachte daran, seinen Platz zu verlassen, selbst die nicht, deren gezogene Nummern keine Aussichten mehr hatten.

Das währte eine Stunde, ohne daß etwas Besonderes sich ereignete. Es fiel immerhin schon auf, daß die Nummer 9672 noch nicht herausgekommen war – sodaß ihr alle Chancen blieben, den Haupttreffer von 100 000 Mark zu machen.

»Dieser Sandgoist hat gute Aussichten!« sagte einer neben dem Professor.

»Bah! Es wäre doch ein Wunder, wenn gerade er das große Los zöge,« bemerkte ein anderer, »obwohl er eine berühmte Nummer hat.«

»Berühmt in der Tat!« sagte Sylvius Hog. »Aber fragen Sie mich nicht, wodurch. Ich könnte es Ihnen nicht sagen.«

Jetzt begann die Ziehung der zweiten Serie, die neun Gewinne enthielt. Das versprach sehr interessant zu werden, der 91. Gewinn 1000 Mark, der 92. 2000 Mark und sofort bis zum 99., der 9000 Mark betrug. Die dritte Serie bestand bekanntlich einzig und allein aus dem Hauptgewinn.

Die Nummer 72 521 gewann 5000 Mark. Das Los hatte ein wackerer Hafenarbeiter, dem die ganze Menge zujubelte – was er mit großer Würde über sich ergehen ließ.

Eine andere Nummer 823 752 gewann 6000 Mark. Und wie groß war die Freude Sylvius Hogs, als Joel ihm mitteilte, daß dieses Los der reizenden Siegfriede von Bamble gehörte!

Jetzt aber geschah ein Zwischenfall, und das ganze Publikum gab eine Aufregung kund, die in lautem Murmeln sich äußerte. Als der 97. Gewinn gezogen wurde, konnte man auf einen Augenblick glauben, das Schicksal sei Sandgoist doch günstig und ließe ihm wenigstens diesen Gewinn.

Die Gewinnnummer war 9627. Es hatten nur 45 Punkte gefehlt, so wäre es die Losnummer Ole Kamps gewesen!

Die beiden folgenden Ziehungen brachten die wieder weit abliegenden Nummern 775 und 76 287 heraus.

Die zweite Serie war beendet. Es war nur noch der Gewinn von 100 000 Mark zu ziehen.

In diesem Augenblick stieg die Spannung der Zuschauer aufs höchste. Zuerst ging ein langgezogenes Murmeln vom großen Saal in die Höfe und bis auf die Straßen hinaus. Einige Minuten vergingen, ohne daß das Murmeln verstummte. Indessen hörte es doch allmählich auf, und es trat wieder tiefes Schweigen ein. Man hätte meinen mögen, die ganze Menge fei vom Scheintod befallen gewesen. Es lag in dieser Ruhe eine gewisse Erstarrung – eine Erstarrung jener Art, wie man sie in dem Augenblick empfindet, wo ein Verurteilter auf dem Richtplatz erscheint. Aber diesmal war der noch unbekannte Verurteilte nur dazu verurteilt, 100 000 Mark zu gewinnen, statt den Kopf zu verlieren – wenn er ihn nicht gerade vor Freude verlor.

Mit gekreuzten Armen blickte Joel ins Leere, er war von der ganzen Menge vielleicht am allerwenigsten erregt.

Hulda saß wie in sich selbst versunken und dachte an ihren armen Ole. Unwillkürlich suchte sie ihn mit den Blicken, wie wenn er im letzten Moment hätte erscheinen müssen.

Sylvius Hog – doch wir müssen darauf verzichten, die Gemütsverfassung des Professors zu schildern.

»Ziehung des Gewinnes von 100 000 Mark« verkündete der Vorsitzende.

Welche Stimme! Sie schien aus dem tiefsten Innern dieses feierlichen Mannes heraufzutönen. Das kam daher, weil noch mehrere Lose da waren, die noch nicht gezogen worden waren und daher Aussicht auf den Haupttreffer hatten.

Das erste kleine Mädchen zog eine Nummer aus der Urne zur linken und zeigte sie der Versammlung.

»Null!« sagte der Präsident.

Diese Null machte keinen besonderen Eindruck. Man schien auf ihr Erscheinen gefaßt gewesen zu sein.

»Null!« sagte nochmals der Vorsitzende, indem er die Ziffer verkündete, die das zweite kleine Mädchen gezogen hatte.

Zwei Nullen! Man erkannte, daß die Chancen merklich stiegen für alle Nummern zwischen 1 und 9999. Und das Los Ole Kamps war – wie alle wußten – 9672.

Seltsamerweise begann Sylvius Hog auf seinem Stuhle unruhig zu werden.

»Neun!« rief der Präsident, indem er die Ziffer verkündete, die das dritte Mädchen aus der dritten Urne gezogen hatte.

»Neun! das war die erste Ziffer des Loses Ole Kamps!

»Sechs!« sagte der Vorsitzende.

Und in der Tat zeigte das vierte kleine Mädchen allen auf sie gerichteten Blicken eine Sechs.

Die Gewinnchancen standen jetzt eins zu hundert für alle Nummern zwischen 1 und 99.

Sollte auf das Los Ole Kamps die Summe von 100 000 Mark fallen, und sollte der elende Sandgoist der glückliche Gewinner sein? Wahrhaftig, dann hätte man an Gott verzweifeln können!

Das fünfte Kind griff in die Urne und zog die fünfte Ziffer.

»Sieben!« rief der Präsident, mit so erstickter Stimme, daß man sie selbst in den ersten Reihen kaum hörte.

Aber wenn man auch nicht hörte, man sah ja, und in diesem Augenblick hielten die fünf kleinen Mädchen die folgenden Ziffern vor die Augen des Publikums:

00 967.

Die gewinnende Zahl mußte also zwischen 9670 und 9679 liegen. Die Chancen standen also jetzt 1 zu 10.

Die Erstarrung der Menge war auf ihrem Höhepunkt.

Sylvius Hog stand aufrecht da und hielt die Hand der Hulda Hansen. Aller Augen richteten sich auf das arme Mädchen. Indem sie das letzte Andenken ihres Bräutigams opferte, sollte sie auch das Vermögen geopfert haben, von dem Ole Kamp für sie und ihn geträumt hatte?

Das sechste Mädchen konnte die Hand nicht so schnell in die Urne stecken. Das arme Ding zitterte auch. Endlich erschien die Ziffer.

»Zwei!« rief der Präsident.

Und halb erstickt von der Aufregung, sank er in seinen Stuhl.

»Neuntausendsechshundertzweiundsiebzig!« rief einer der Beisitzer mit hallender Stimme.

Es war die Losnummer Ole Kamps, die jetzt Sandgoist besaß. Alle Welt wußte das, und jedermann war darüber unterrichtet, unter welchen Umständen der Wucherer sie erlangt hatte! An Stelle des donnernden Hurrageschreis, das den ganzen Universitäts-Saal erfüllt hätte, wenn das Los noch in Hulda Hansens Händen gewesen wäre, herrschte tiefes Schweigen.

Und sollte jetzt dieser Gauner Sandgoist zum Vorschein kommen, mit dem Los in der Hand, um den Gewinn einzustecken?

»Nummer 9672 gewinnt 100 000 Mark!« wiederholte der Beisitzer. »Wer erhebt Anspruch?«

»Ich!«

War es der Wucherer von Drammen, der dieses Wort gesprochen hatte?

Nein! Es war ein junger Mann – ein junger Mann mit bleichem Gesicht, der in seinen Zügen wie an seiner ganzen Person die Spuren langer Leiden trug – der aber lebte, ja lebte!

Beim Klang dieser Stimme war Hulda aufgesprungen – sie stieß einen Schrei aus, der an aller Ohr schlug – dann fiel sie in Ohnmacht.

Aber der junge Mann durchbrach die Menge und fing das bewußtlose Mädchen in seinen Armen auf.

Es war Ole Kamp.


 << zurück weiter >>