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Elftes Kapitel.

Nun erzählte Joel die ganze Geschichte von Ole Kamp. Sylvius Hog hörte tiefgerührt und mit tiefer Aufmerksamkeit zu. Jetzt wußte er alles. Er hatte nun auch den letzten Brief, in welchem Ole seine Heimkehr anzeigte, gelesen, und Ole kehrte nicht wieder! Welche Unruhe, welche Sorge, welche Angst für die ganze Familie Hansen!

»Und da dachte ich nun, Gott weiß, wie glücklich die Leutchen wären!«

Wenn er aber recht bei sich bedachte, so kam es ihm doch vor, als ob die Geschwister schon verzweifelten, wo sich noch immer hoffen ließ. Durch ihr fortwährendes Zählen dieser Mai- und Junitage war die Ziffer in ihrer Phantasie gewachsen, als wenn sie sie doppelt gezählt hätten.

Der Professor wollte ihnen seine Gründe auseinandersetzen – die ja keine Beweisgründe sein sollten – aber doch Gründe sehr ernster, sehr begreiflicher Natur waren – und wollte mit ihnen in voller Ruhe darüber sprechen, was diese Fahrtverzögerung des »Viken« im Grunde auf sich hätte, wie es sich um sie verhalten dürfte.

»Hört mir zu, Kinder,« sagte er zu ihnen; »setzt Euch zu mir! laßt uns reden!«

»Ach! was werden Sie uns sagen können, Herr Sylvius?« rief Hulda, vom Schmerz überwältigt.

»Was mir richtig erscheint, das werde ich Euch sagen können und sagen, anderes nicht,« versetzte der Professor, »und das ist Folgendes: ich habe über alles nachgesonnen, was Joel mir erzählt hat. Nun, und da scheint mir: Eure Unruhe übersteigt das richtige Maß. Ich möchte Euch ja keine trügerischen Hoffnungen machen, aber von Wichtigkeit bleibt doch, daß die Dinge auf ihren richtigen Standpunkt gesetzt und von keinem andern aus ins Auge gefaßt werden.«

»Ach, Herr Sylvius!« erwiderte Hulda; »mein armer Ole ist mit dem »Viken« untergegangen ... ich werde ihn nimmer wiedersehen!«

»Schwesterchen! ... Schwesterchen!« rief Joel; »beruhige dich, bitte, bitte! und laß Herrn Sylvius sprechen!«

»Bewahren wir unser kaltes Blut, Kinder! Rechnen wir: in der Zeit zwischen dem 15. und 20. Mai sollte Ole zurück sein ... nicht wahr?«

»Ja,« sagte Joel, »zwischen dem 15. und 20. Mai, wie es in seinem Briefe steht, und jetzt haben wir den 9. Juni.«

»Das macht also eine Verzögerung von 20 Tagen über den letzten für die Heimkehr des »Viken« festgesetzten Tag! Freilich ist das schon eine Sache, wie ich gern gelten lasse. Indessen darf man von einem Segelschiff nicht verlangen, was sich von einem Dampfschiff erwarten läßt!«

»Das habe ich der Schwester in einem fort gesagt und sage es ihr noch immer,« meinte Joel.

»Und das ist sehr recht von Euch, mein lieber Joel,« erwiderte Sylvius Hog; »außerdem kann es auch sein, daß der »Viken« ein altes Schiff ist, das wie die meisten Neufundlands-Schiffe schlechte Fahrt macht, vornehmlich wenn sie schwere Ladung haben. Auf der andern Seite haben wir schon wochenlang sehr schlimmes Wetter gehabt. Vielleicht hat Ole zu der Zeit, wie sein Brief meldet, nicht in See gehen können? In diesem Falle wäre eine Verspätung von acht Tagen nicht verwunderlich, auch nicht, daß Ihr bis heute noch keinen neuen Brief von ihm bekommen habt. Alles was ich Euch sage, glaubt mir, ist das Ergebnis ernster Erwägungen. Außerdem: wißt Ihr, ob der »Viken« vielleicht nicht Instruktionen mitgenommen hat, seine Fracht, je nach der Marktlage, unter anderer Breite, in einem andern Hafen, an Land zu schaffen?«

»Das hätte doch Ole geschrieben!« erwiderte Hulda, die sich auch an solche Hoffnung nicht klammern konnte.

»Was beweist denn, daß er nicht geschrieben hat?« versetzte der Professor: »und wenn er es getan hat, so würde die Verspätung dann nicht mehr den »Viken« treffen, sondern die Post von Amerika. Nehmt doch an, Oles Schiff hätte in irgend einem Hafen der Vereinigten Staaten anlaufen müssen, so würde das doch sattsam erklären, wieso noch keiner seiner Briefe nach Europa gelangt ist.«

»In einem Hafen Amerikas, Herr Sylvius?«

»Das passiert doch zuweilen, und dann braucht doch bloß eine Post versäumt zu werden, um die Freunde lange ohne Nachrichten zu lassen! ... Jedenfalls ist es doch eine höchst einfache Sache, Erkundigung bei den Reedern in Bergen einzuziehen! – Kennt Ihr sie?«

»Gewiß,« antwortete Joel, »die Herren Gebrüder Help!«

»Gebrüder Help? Help senior's Söhne?« rief Sylvius Hog.

»Jawohl.«

»Aber die kenne ich doch gut! Der jüngste, Help junior, wie man immer sagt, obgleich er in meinem Alter ist, ist ein guter Freund von mir. Wir haben oft zusammen in Christiania gespeist. Gebrüder Help, Kinder? Ach, von denen erfahren wir alles, was den »Viken« angeht. Noch heute will ich an sie schreiben und, falls es nötig sein sollte, bei ihnen selber vorsprechen.«

»Wie gütig, Herr Sylvius!« riefen Hulda und Joel wie aus einem Munde.

»Ach, keine Dankworte, bitte!« sagte der Professor, »das verbitte ich mir entschieden. Habe ich mich etwa bedankt für Euern Dienst dort unten? ... Ei! ich finde da Gelegenheit, Euch eine kleine Gefälligkeit zu erweisen, und da geratet Ihr gleich aus dem Häuschen!«

»Aber Sie sprachen doch davon, über Christiania zurückzukehren!« bemerkte Joel.

»Nun, dann geht's eben über Bergen zurück, wenn es sich anders nicht machen läßt.«

»Aber Sie wollten uns doch schon verlassen, Herr Sylvius?« meinte Hulda.

»Nun, dann verlasse ich Euch eben nicht, mein liebes Dirndl! Ich bin ja, denke ich, ganz mein freier Herr, und bevor ich nicht Klarheit in diese Lage gebracht habe ... vorausgesetzt, daß man mich nicht vor die Tür setzt ...«

»Aber was sprechen Sie da?«

»Na, da habe ich nun gerade Lust, solange in Dal zu bleiben, bis Ole wieder da ist! ich möchte ihn doch auch kennen lernen, den Bräutigam von meiner kleinen Hulda! muß ein wackerer Bursche sein ... so vom Schlage Joels?«

»Jawohl! ganz wie Joel!« antwortete Hulda.

»Das wußte ich doch!« rief der Professor, dessen gute Laune, zweifelsohne mit Absicht, Oberwasser bekam.

»Ole ist Ole, und kein anderer, Herr Sylvius,« sagte Joel, »und anderer Beweise dafür, daß er ein gutes Herz hat, bedarf es nicht.«

»Kann sein, lieber Joel, kann sein! und gerade dadurch wird mein Wunsch, ihn zu sehen und kennen zu lernen, noch lebhafter. O! das wird nicht lange dauern! mir sagt eine innere Stimme, daß der »Viken« bald da sein wird!«

»Gott erhöre Sie!«

»Und warum soll er mich nicht hören? Gar feine Ohren hat er ja! Also! ich will Huldas Hochzeit mitmachen, da ich nun mal dazu eingeladen bin! Das Storthing wird mir ganz gern noch ein paar Wochen länger Urlaub geben. Hätte sich ja überhaupt drein finden müssen, mich zu missen, wenn Ihr mich, wie mir ganz recht geschehen wäre, in den Rjukanfos hättet purzeln lassen!«

»Herr Sylvius!« sagte Joel, »es tut einem wohl, Sie so sprechen zu hören – und wieviel Gutes erweisen Sie uns durch Ihre Worte!«

»Lange nicht soviel, wie ich möchte, Ihr lieben Freunde, denen ich soviel schulde, daß ich gar nicht weiß ...«

»Ach, reden Sie doch nicht immer bloß von diesem Abenteuer!«

»Im Gegenteil! davon werde ich nicht aufhören zu reden! Das wäre! habe ich mich etwa aus den Klauen der Maristien befreit? Hab ich etwa mein Leben eingesetzt, um mich zu retten? Hab ich mich etwa bis zur Daler Herberge geschafft? Hab ich mich etwa gepflegt und gesund gemacht ohne Beistand und Hilfe der Fakultät? Ha! aber eigensinnig, dickköpfig bin ich, wie ein Karriolsgaul! das sage ich Euch! Und wenn ich es mir in den Kopf gesetzt habe, Huldas Hochzeit mit Ole Kamp mitzumachen, nun, beim Sankt Olaf! dann mache ich sie eben mit!«

Vertrauen wirkt ansteckend. Wie sollte man solchem Vertrauen widerstehen, wie Sylvius Hog es zeigte? Er merkte es recht gut, als ein Schatten von Lächeln das Gesicht des Mädchens aufhellte. Verlangte sie doch nach weiter nichts als einem klein wenig Hoffnung und Glauben! ... Sylvius Hog fuhr im lustigsten Tone, den er anschlagen konnte, zu plaudern fort:

»Da muß doch bedacht werden, daß die Zeit gar flinke Beine hat! machen wir uns also ohne Säumen an die Zurüstungen zu solchem Feste!«

»Es ist schon alles im vollen Gange, Herr Sylvius,« antwortete Hulda, »und zwar schon seit drei Wochen!«

»Prächtig! nun wollen wir uns bloß nicht darin stören, nicht aufhalten lassen!«

»Nicht stören lassen? nicht aufhalten lassen?« antwortete Joel; »aber es ist ja alles schon fertig!«

»Was? das Brautkleid? das Mieder mit den Filigran-Schließen? der Gürtel und die Bommeln?«

»Auch schon die Bommeln!«

»Und auch die Brautkrone, die meine kleine Hulda schmücken wird wie eine Glorie?«

»Auch die, Herr Sylvius!«

»Und die Einladungen auch alle besorgt?«

»Alle,« versetzte Joel; »sogar die, auf die wir am meisten halten, die an Sie!«

»Und die Brautjungfer auch schon ausgesucht unter den klügsten Dirndeln des Telemarken?«

»Und unter den schönsten, Herr Sylvius,« erwiderte Joel, »denn Mamsell Siegfriede Helmboe von Bamble wird es sein, die der Schwester als Brautjungfer dient.«

»In welchem Tone er das alles sagt, der brave Junge!« rief der Professor, »und wie rot er dabei wird! Ei, ei! sollte etwa gar Mamsell Siegfriede Helmboe aus Bamble bestimmt sein, die gnädige Frau Joel Hansen von Dal zu werden?«

»Jawohl, Herr Sylvius, jawohl!« erwiderte Hulda; »Siegfriede, die beste Freundin von mir, ist Joels Liebste!«

»Famos, famos!« rief Sylvius Hog, »also noch eine Hochzeit mehr! und daß ich dazu auch eingeladen werde, glaube ich doch ganz bestimmt, ebenso wie ich weiß, daß ich diese Einladung ganz unmöglich werde ausschlagen können! Es wird mir entschieden nichts weiter übrig bleiben, als auf meinen Sitz im Storthing zu verzichten, denn es bleibt mir, wie ich schon jetzt sehe, gar keine Zeit mehr, an den Sitzen teilzunehmen! Na, darüber ist nicht weiter zu reden, mein wackerer Joel! Euer Brautführer bin ich, wie ich vorher Trauzeuge von Eurem Schwesterchen sein werde, sofern es Euch beiden so recht ist! Wirklich und wahrhaftig! Ihr könnt aus mir alles machen, was Ihr wollt, oder vielmehr, alles, was Ihr von mir gemacht haben wollt, ist im voraus mein Wille auch! So, meine kleine liebe Hulda! nun komm und gib mir einen Kuß! und du, mein wackerer Herzensjunge, drücke mir die Hand! So! und nun will ich meinem Bergener Freunde, Help junior, ein paar Worte schreiben!«

Bruder und Schwester verließen das Zimmer im Erdgeschoß, von dem der Professor schon sprach, es für immer mieten zu wollen, und begaben sich mit einem bißchen besserer Hoffnung an ihre Arbeit.

Sylvius Hog war allein geblieben.

»Das arme Ding! das arme Ding!« sprach er leise vor sich hin; »ja doch! ich habe sie auf eine kleine Weile über ihren Schmerz hinweggetäuscht; habe ihr ein bißchen Ruhe wiedergegeben! ... Aber es ist doch eine sehr, sehr lange Fahrtverzögerung, und noch dazu in Meeren, die um diese Jahreszeit so äußerst schlimm zu sein pflegen! ... Wenn der »Viken« untergegangen wäre! ... wenn Ole nicht mehr wiederkommen sollte!« ...

Kurz darauf schrieb der Professor an die Bergener Reederei. Worin er in seinem Briefe bat, das waren die genauesten Angaben über alles, was den »Viken« und seine Neufundlandfahrt anging. Er wollte wissen, ob irgend ein Umstand, ob nun vorhergesehen oder nicht, das Schiff hätte zwingen können, seinen Bestimmungshafen zu wechseln; es käme ihm außerordentlich viel darauf an, schnellstens zu erfahren, wie sich die Reeder- und seemännische Welt von Bergen das Ausbleiben des »Viken« erkläre. Zum Schlusse ersuchte er seinen Freund Help jun., die eingehendsten Untersuchungen anzustellen und ihm mit nächster Post zu antworten.

In diesem dringlichen Schreiben gab er dem Freunde auch Auskunft, warum er sich für den jungen Steuermann an Bord des »Viken« so rege interessiere, für welchen großen Dienst er der Braut desselben zu danken verpflichtet sei und welche Freude es ihm bereiten würde, wenn er den Kindern von Frau Hansen ein wenig Hoffnung machen könnte.

Joel trug den Brief, als er fertig war, nach Möl hinüber aufs Postamt. Am nächsten Tage sollte er abgehen, also am 11. Juni in Bergen sein. Am 12. abends oder spätestens am 13. morgens konnte von Herrn Help junior Antwort da sein.

Beinahe drei Tage lang hieß es also auf Antwort warten! Wie lange die zu dauern schienen! Aber der Professor ließ es an beruhigenden Worten und an allerhand Gründen, danach angetan, Mut und Hoffnung zu wecken, nicht fehlen, und hierdurch gelang es ihm, der Frist, die sich nun einmal nicht umgehen ließ, viel von ihrer unangenehmen Art zu nehmen. Hatte er nicht nun, nachdem er Huldas Geheimnis kannte, ein bestimmt vorgezeichnetes Gesprächsthema? und welchen Trost schuf es sowohl Joel als seiner Schwester, fortwährend von dem Abwesenden sprechen zu können!

»Gehöre ich denn nun nicht zu Eurer Familie?« fragte Sylvius Hog des öftern; »versteht sich ... als so eine Art von Onkel aus Amerika oder anders woher, unverhofft mit dem Schiffe hinüber ins Norwegerland gekommen ...«

Von diesem Gesichtspunkte aus durfte man ihm gegenüber also Geheimnisse gar nicht mehr haben!

Nun konnte es aber nicht ausbleiben, daß ihm das Benehmen der beiden Kinder gegen die Mutter auffiel. Die Zurückhaltung, in der sich Frau Hansen zu gefallen schien, mußte seiner Meinung nach einen andern Beweggrund haben, als die Unruhe, die hinsichtlich Ole Kamps die Gemüter beherrschte. Er meinte deshalb mit Joel darüber sprechen zu sollen. Joel wußte keine Antwort auf solche Frage. Nun wollte er Frau Hansen selber hierüber ins Gebet nehmen; aber sie zeigte sich so verschlossen, daß er es aufgeben mußte, ihre Geheimnisse zu ergründen. Zweifelsohne würde die Zukunft ihm Aufklärung bringen.

So wie es Sylvius Hog vorausgesehen hatte, gelangte die Antwort von Help junior am Vormittag des 13. nach Dal. Joel war schon in aller Frühe dem Postboten entgegen gegangen; er war es, der den Brief in die große Stube hinein brachte, wo der Professor mit Frau Hansen und ihrer Tochter weilte.

Zuerst herrschte einen Augenblick lang Stille. Es wollte keiner das Wort ergreifen. Hulda war leichenblaß: sie hätte vor Erregung kein Wort über die Lippen bringen können; das Herz schlug ihr zum Zerspringen; sie hatte des Bruders Hand erfaßt.

Sylvius Hog machte den Brief auf und las mit lauter Stimme. Zu seinem Bedauern enthielt Help juniors Antwortschreiben bloß unbestimmte Andeutungen, und der Professor konnte vor den jungen Leuten, die ihm mit Tränen in den Augen zuhörten, seine Enttäuschung nicht verbergen.

Der »Viken« war wirklich an dem von Ole Kamp in seinem letzten Brief angegebenen Tage aus dem Hafen Saint-Miquelon abgefahren. Auf die genaueste Weise war diese Auskunft durch andere Fahrzeuge gegeben worden, die bereits von Neufundland her nach Bergen gekommen waren. Keins von ihnen war dem »Viken« auf der Fahrt begegnet. Aber auch sie hatten schweres Unwetter in den Gewässern von Island überstehen müssen. Warum also der »Viken« nicht auch? vielleicht hatte er Zuflucht in irgend einem Hafen gesucht! er war doch ein treffliches Schiff, standfest und fuhr unter dem Kommando des tüchtigen Kapitäns Frikel von Hammerfest, hatte auch eine kernfeste erprobte Mannschaft. Jedenfalls gäbe, so schloß das Schreiben der Reederfirma, die Fahrtverzögerung Ursache zu Besorgnis, und wenn sie sich noch weiter erstreckte, so stände allerdings zu befürchten, daß der »Viken« mit Mann und Mails untergegangen sei.

In einer Nachschrift Bedauerte Help junior, über den jungen Anverwandten der Familie Hansen keine besseren Nachrichten geben zu können; zumal sich von Ole Kamp nur sagen lasse, daß er ein äußerst tüchtiger Mensch und Seemann sei und aller Freundschaft und Sympathie würdig sei, die er seinem Freunde Sylvius Hog einflöße.

Help junior gab noch dem Professor die Versicherung freundschaftlicher Zuneigung und zwar von seiner Seite sowohl als von seilen seiner Angehörigen, versprach ihm auch, ohne Aufschub alles mitzuteilen, was ihm über den »Viken« bekannt werden sollte, gleichviel aus welchem Hafen Norwegens solche Kunde kommen möge.

Die arme Hulda war ohnmächtig auf einen Sessel gesunken, während Sylvius Hog diesen Brief vorlas. Als er damit zu Ende war, konnte sie sich vor Schluchzen nicht beruhigen.

Joel hatte mit verschränkten Armen zugehört, ohne ein Wort zu sagen, ja ohne daß er sich getraute, die Schwester anzublicken.

Frau Hansen hatte sich, als Sylvius Hog mit Lesen fertig war, in ihre Stube zurückgezogen. Es schien fast, als habe sie sich solches Unglücks ebenso wohl versehen, wie so vieles andern, auf das sie gefaßt war.

Der Professor winkte nun Hulda und ihren Bruder zu sich heran. Er fühlte das Bedürfnis, noch über Ole Kamp mit ihnen zu reden, ihnen alles zu sagen, was ihm in seiner Auffassung der Lage als mehr oder weniger wahrscheinlich vorkäme, und er gab seiner Meinung mit einer nach Help juniors Schreiben zum wenigsten seltsamen Zuversicht Ausdruck. Nein! – es überkam ihn wie eine Ahnung! – zum Verzweifeln war die Lage der Dinge nicht! – Seien denn nicht Beispiele über Beispiele bekannt von längeren Fahrtverspätungen, die auf der Route zwischen Norwegen und Neufundland in diesen immer beschwerlichen Gewässern von Schiffen erlitten worden seien? Gewiß! ganz ohne Frage! War der »Viken« denn nicht ein seetüchtiges Schiff, von seetüchtigem Kapitän gefahren, von seetüchtiger Mannschaft bedient? fuhr er also nicht unter weit besseren Bedingungen als all die anderen Schiffe, die den Heimweg in ihre Häfen gefunden hatten? Ganz entschieden!

»Hoffen wir also, liebe Kinder,« setzte er hinzu, »und warten wir ab! Hätte der »Viken« Schiffbruch zwischen Island und Neufundland gelitten, würden dann die zahlreichen auf gleicher Fahrt nach Europa begriffenen Schiffe nicht irgend welche Trümmerspuren von ihm gefunden haben? Nun! das ist doch nicht der Fall! Kein einziges Trümmerstück ist in diesen bei der Rückkehr von der Hochseefischerei so vielbefahrenen Gewässern aufgefunden worden! Das schließt natürlich nicht aus, daß wir uns regen, daß wir alles tun müssen, um verläßlichere Kunde zu erlangen. Bleiben wir in dieser Woche noch ohne Nachricht vom »Viken«, noch ohne Brief von Ole, dann will ich nach Christiania zurückkehren, will mich an das Seeamt wenden, das auf der Stelle Nachforschungen anstellen wird – die, wie ich fest überzeugt bin, zu unser aller Zufriedenheit ausfallen werden.«

So zuversichtlich auch der Professor zu sprechen sich Bemühte, so merkten Joel und Hulda doch heraus, daß er bei weitem so nicht mehr sprach, wie vor der Ankunft dieses Briefes aus Bergen, dessen ausweichende Abfassungsweise nur einen sehr geringen Grad von Hoffnung bestehen ließ. Sylvius Hog wagte jetzt keinerlei Anspielung mehr auf die baldige Hochzeit zwischen Ole Kamp und Hulda. Und doch wiederholte er mit einer Kraft des Ausdrucks, die nicht ohne Eindruck blieb:

»Nein! es kann nicht sein! es ist ja nicht möglich! Ole sollte in Frau Hansens Haus nicht wieder den Fuß setzen! Ole sollte mit Hulda nicht Hochzeit machen! An solches Unglück werde ich nun und nimmer glauben!«

Diese Ueberzeugung saß in ihm fest, entstammte seinem energievollen Charakter, seinem unerschütterlichen Temperament. Aber wie andere dieser Ueberzeugung teilhaftig machen? vornehmlich diejenigen, denen das Schicksal des »Viken« so unmittelbar nahe ging?

Indessen verstrichen noch immer einige Tage. Sylvius Hog, der nun völlig genesen war, machte in der Umgegend weite Spaziergänge. Er veranlaßte die Geschwister, sich ihm anzuschließen, um sie nicht mit ihren Gedanken allein zu lassen. An einem Tage klommen sie wieder das Westfjorddal hinauf bis halbwegs zu den Rjukan-Fällen. Am Tage darauf unternahmen sie in der Richtung nach Möl und dem Tinnsee den Rückweg. Einmal waren sie sogar 24 Stunden vom Hause fern, als sie ihren Marsch bis nach Bamble ausgedehnt hatten, wo der Professor Bekanntschaft mit dem Pächter Helmboe und dessen Tochter Siegfriede schloß. Wie herzlich Siegfriede sich ihrer Hulda annahm! wie innig sie die Freundin willkommen hieß! welche zärtlichen Worte sie fand zu ihrem Troste!

Dort machte Sylvius Hog den wackeren Menschen nochmals ein wenig Hoffnung. Er hatte an das Seeamt von Christiania geschrieben. Die Regierung befaßte sich mit dem Schicksal des »Biken«. Man würde das Schiff schon ausfindig machen; Ole würde schon wieder heimkommen. Das sei sogar täglich zu erwarten. Nein, nein! keine sechs Wochen würden mehr vergehen bis zu Huldas Hochzeit! Der treffliche Mann schien so fest überzeugt von seinen Gründen, daß man sich dieser Ueberzeugung vielleicht leichter fügte als den Gründen.

Dieser Besuch bei Helmboes in Bamble tat den Kindern der Frau Hansen äußerst wohl; sie kehrten mit weit größerer Ruhe im Herzen nach Hause zurück, als sie vom Hause weggegangen waren.

Der 15. Juni kam heran. Nun war der »Biken« schon ganze vier Wochen ausständig. Bei einer verhältnismüßig doch so kurzen Fahrtstrecke, wie zwischen Neufundland und Norwegen, war dies tatsächlich eine übergroße Frist – selbst für ein Segelschiff!

Hulda war ganz außer sich. Ihr Bruder fand keine Worte mehr, sie zu trösten. Dem Professor ging die Aufgabe, die er sich gestellt hatte, noch immer Hoffnung aufrecht zu erhalten, angesichts dieser beiden armen Geschöpfe, die keinen Fuß mehr aus dem Hause setzten, außer um Ausschau in der Richtung nach Möl zu halten oder ein Stück nach dem Rjukanfos hin zu gehen, über die Kräfte. Ole Kamp mußte nämlich von Bergen her kommen, es konnte aber auch sein, daß er von Christiania her kam, falls nämlich der »Biken« andern Kurs eingeschlagen haben sollte. Sobald unter den Bäumen ein Karriol entlang rasselte, oder ein Schrei in der Luft erschallte, oder der Schatten eines Menschen sich an der Wegbiegung zeigte, schlug ihnen das Herz. Aber immer umsonst! Die ganze Bewohnerschaft von Dal war mit auf den Beinen oder doch auf der Lauer! Den Maan hinauf und hinab dem Postboten entgegen war immer jemand unterwegs; nahmen doch alle die innigste Teilnahme an dieser in der ganzen Gegend so beliebten Familie! an dem armen Ole Kamp, der doch halb und halb ein Kind des ganzen Telemarken war! Und weder aus Bergen noch aus Christiania kam ein Brief, der irgendwelche Kunde von dem Schicksal des Verlorenen gebracht hätte!

Am 16. Juni noch immer nichts Neues! Sylvius Hog konnte keine Ruhe mehr finden. Er sah ein, daß er sich selbst ins Feld schlagen müsse. Darum teilte er den Geschwistern mit, daß er, falls auch morgen noch keinerlei Nachricht einlaufen solle, selber nach Christiania reisen und sich dort vergewissern wolle, daß die Nachforschungen auch wirklich mit Eifer betrieben würden. Freilich! leicht würde es ihm nicht fallen, Hulda und Joel allein zu lassen; aber es ginge nun doch einmal nicht anders, und sobald alle notwendigen Schritte im Gange seien, würde er ja wieder zurückkehren!

Der 17. Juni, vielleicht der traurigste Tag von allen! war schon zum größern Teil verstrichen. Seit frühem Morgen hatte es mit Regnen nicht aufgehört. Der Sturm fegte durch die Bäume, fegte mit so starken Stößen, daß alle nach dem Maan hinaus gelegenen Fensterscheiben zitterten.

Es war 7 Uhr. Man hatte sich eben zum Abendessen gesetzt, in tiefem Schweigen, wie in einem Trauerhause. Selbst Sylvius Hog hatte die Unterhaltung nicht im Flusse halten können. Mit den Gedanken gingen ihm die Worte aus. Was hätte er sagen sollen, das er nicht schon hundertmal gesagt hatte? Ward er nicht inne, daß solche verlängerte Abwesenheit die Gründe, die er ehedem ins Feld rückte, als hinfällig erscheinen ließ?

»Morgen fahre ich nach Christiania,« sagte er zu Joel, »besorgen Sie mir ein Karriol! bis nach Möl sollen Sie mich fahren, dann aber gleich nach Dal zurückgehen!«

»Jawohl, Herr Sylvius,« versetzte Joel, »Sie wollen also nicht, daß ich Sie weiter hinauf begleite?«

Der Professor schüttelte den Kopf mit einem Winke auf Hulda, die er des Bruders nicht berauben mochte.

In diesem Augenblick tönte auf der Straße von Möl herüber, noch ziemlich schwach, ein Geräusch wie Rädergerassel. Alle horchten auf. Bald ließ sich nicht mehr zweifeln: ein Karriol kam heran! kam in raschestem Tempo auf Dal zu! Sollte etwa ein Reisender Herberge in Frau Hansens Gasthofe für die Nacht suchen? Viel Wahrscheinlichkeit hatte das nicht für sich; zu solch vorgerückter Stunde kamen Touristen nur höchst selten.

Zitternd am ganzen Leibe, war Hulda aufgestanden.

Joel ging zur Türe, machte auf, blickte hinaus.

Das Geräusch wurde deutlicher: Pferdegetrappel und Rädergeknarr! kein Zweifel: ein Karriol näherte sich dem Gasthofe! Aber es stürmte so heftig draußen, daß man die Tür wieder schließen mußte.

Sylvius ging mit großen Schritten in der Stube auf und ab. Joel hielt die Schwester an sich gepreßt.

Das Karriol konnte keine 20 Schritte mehr vom Hause fern sein. Ob es halten – ob es vorbeifahren würde?

Allen schlug das Herz mit schrecklicher Gewalt!

Das Karriol hielt. Eine Stimme rief draußen ... Ole Kamps Stimme war es nicht!

Fast im selben Moment wurde an die Tür geklopft.

Joel machte auf.

Ein Mann stand auf der Schwelle.

»Herr Sylvius Hog?« fragte er.

»Das bin ich,« versetzte der Professor, einen Schritt vortretend; »wer seid Ihr, Freund?«

»Eilbote von Christiania, vom Direktor des Seeamts entsandt!« meldete der Mann.

»Ihr habt ein Schreiben für mich?«

»Ja! hier!«

Mit diesen Worten reichte der Mann ein mit Amtssiegel verschlossenes Schreiben.

Hulda besaß die Kraft nicht mehr, sich aus den Beinen zu halten. Joel hatte sie auf einen Schemel gedrückt; er selber hatte Halt am Tische gesucht. Weder der Bruder noch die Schwester wagten in Sylvius Hog zu dringen, daß er das Schreiben öffne.

Endlich erbrach er es und las das Folgende:

»Herr Professor! – In Beantwortung Ihres letzten Schreibens behändige ich Ihnen beigeschlossen ein Schriftstück, das am 5. Juni durch ein dänisches Schiff aus dem Meere gefischt worden ist. Leider läßt dies Schriftstück keinerlei Zweifel mehr am Schicksale des »Viken« ...

Sylvius Hog nahm sich die Zeit nicht, das Schreiben des Seeamts zu Ende zu lesen, sondern riß von dem Schriftstück den Umschlag ... sah es an ... drehte es nach allen Seiten ...

Es war ein Lotterielos mit der Nummer 9672.

Auf der Rückseite des Loses standen die wenigen Zeilen:

»3. Mai. – Liebste Hulda! Der »Viken« geht unter! ... außer dem Lotterielose, das ich in dieser Flasche berge, besitze ich nichts mehr ... ich vertraue Los und Flasche dem lieben Gotte an, daß er es zu dir gelangen lasse ... und da ich nicht zur Stelle sein werde, wenn es gezogen wird, bitte ich dich darum, dort nicht zu fehlen! ... Mein letzter Gedanke gehört dir! ... Vergiß mich nicht in deinen Gebeten, Hulda! ... Lebe wohl, teure Braut! lebe wohl!

Ole Kamp.«


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