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Von der Gruppe der Falklands waren die »Tuba« und die »Lively« unter dem Befehl des Kapitän Biscoë am 27. September 1830 abgefahren, worauf sie die Sandwich-Gruppe (nicht zu verwechseln mit den Sandwich-Inseln oder Hawaii) anliefen und deren nördliche Spitze am 1. Januar umschifften. Sechs Wochen später freilich ging die »Lively«, wieder an den Falklands, verloren, doch hegen wir die Hoffnung, daß unserer Goëlette nicht ein gleiches Schicksal beschieden sei.
Der Kapitän Len Guy ging also von demselben Punkte wie Biscoë aus, der bis zu den Sandwichs sechsunddreißig Tage gebraucht hatte. Schon in den ersten Tagen aber vom Treibeis jenseits des Polarkreises stark belästigt, hatte der englische Seefahrer bis zum fünfundvierzigsten Grade östlicher Länge nach Südosten hin zurückweichen müssen. Diesem Umstande verdankt man übrigens die Entdeckung des Enderbylandes.
Der Kapitän Len Guy zeigte Jem West und mir diese Route auf der Karte und sagte dazu:
»Den Spuren Biscoë's dürfen wir nicht nachgehen, sondern nur denen Weddell's, der seine Reise nach dem Süden 1822 mit der ›Beaufoy‹ und der ›Jane‹ unternahm . . . der ›Jane‹, ein vorbildlicher Name, Herr Jeorling! Doch diese ›Jane‹ Biscoë's war glücklicher als die meines Bruders und verscholl nicht jenseits des Packeises.Die Falklands waren es auch, die Dumont d'Urville, der Führer der »Astrolabe«, mit seinem Begleitschiffe der »Zélée« 1838 als Ort des Zusammentreffens ausmachte. Genauer war hierzu die Soledad-Bai bestimmt, für den Fall, daß beide Schiffe durch schlechtes Wetter oder Eishindernisse getrennt werden sollten. Dieser Expedition von 1837 bis 1840 glückte es, bei allerdings sehr gefährlicher Fahrt, hundertzwanzig Seemeilen unbekannter Küste zwischen vierundsechzigstem und dreiundsiebzigstem Grade südlicher Breite und zwischen achtundfünfzigstem und zweiundsechzigstem Grade westlicher Länge von Paris aufzunehmen, Küstenstrecken, die als Louis Philipps- und als Joinvilleland bezeichnet wurden. Der Expedition von 1840, die im Januar bis zur entgegengesetzten Spitze des polaren Festlandes – wenn es ein solches überhaupt giebt – ausgedehnt wurde, gelang zwischen 63°3' südlicher Breite und 132°2' westlicher Länge die Entdeckung des Adelienlandes, dann zwischen 64°3' südlicher Breite und 129°54' östlicher Länge die der Clarieküste. Zur Zeit als Jeorling die Falklands verließ, konnte er von diesen wichtigen Bereicherungen der Geographie natürlich keine Kenntniß haben. Seit jener Zeit sind auch noch mehrere Versuche gemacht worden, die höheren Breiten des Antarktischen Meeres zu erreichen. Außer James Roß ist hier vorzüglich ein junger norwegischer Seemann zu erwähnen, ein gewisser Borchgrevinch, der noch weiter als der englische Kapitän hinaufdrang; ferner die Fahrt des Kapitän Larsen mit dem norwegischen Walfänger »Jason«, der 1893 südlich vom Joinville- und Louis Philippslande ein offnes Meer entdeckte und bis jenseits des achtundsechzigsten Breitengrades hinauf gelangte. – J. V.
»Nun, wir gehen vorwärts, Herr Kapitän,« hab' ich darauf geantwortet, »und wenn nicht Biscoë's, so folgen wir Weddell's Fährte. Ein einfacher Robbenjäger, hat dieser kühne Seemann bis näherhin zum Pole, als alle seine Vorgänger zu dringen vermocht, und er zeigt uns die einzuschlagende Richtung . . .«
»Die wir auch einhalten werden, Herr Jeorling. Erleiden wir aber keine Verspätung und träfe die ›Halbrane‹ schon gegen Mitte December auf das Packeis, so wäre das etwas zu frühzeitig. Als Weddell an den zweiundsiebzigsten Breitengrad kam, war es nach den ersten Tagen des Februar, und da zeigte sich dort, wie er berichtet, nicht ein Stückchen Eis. Am 20. Februar machte er dann bei vierundsiebzig Grad sechsunddreißig Minuten, dem äußersten, im Süden erreichten Punkte, mit seinem Schiffe Halt. Kein Schiff ist darüber hinaus vorgedrungen . . . keines außer der ›Jane‹, die aber nicht zurückgekehrt ist. An dieser Seite muß sich also an den antarktischen Landmassen zwischen dreißigstem und vierzigstem Längengrad ein tiefer Einschnitt befinden, da William Guy hier, nach Weddell, bis auf zehn Grad vom Pole vordringen konnte.«
Seiner Gewohnheit entsprechend, hörte Jem West schweigend zu. Er maß mit dem Blicke die Räume, die der Kapitän Len Guy zwischen den Spitzen seines Zirkels einschloß. Wie immer der Mann, der einen Befehl entgegennimmt, ihn ausführt, doch nicht darüber verhandelt, würde er einfach dahin gehen, wohin man ihm zu gehen befahl.
»Ihre Absicht, Herr Kapitän,« nahm ich wieder das Wort, »ist doch wohl, sich an den von der ›Jane‹ gesteuerten Curs zu halten.«
»So genau wie möglich.«
»Nun, Ihr Bruder William hat sich von Tristan d'Acunha aus nach Süden gewendet, um die Lage der Auroras zu bestimmen, die er aber ebenso wenig fand, wie die dieser Inseln, den der Ex-Corporal Gouverneur Glaß so stolz war, seinen Namen beizulegen. Damals hatte er den Plan durchführen wollen, von dem ihm Arthur Pym häufig genug gesprochen haben mochte, und er hat dabei den Polarkreis am 1. Januar unter dem ein- und dem zweiundvierzigsten Längengrade überschritten . . .«
»Das weiß ich,« fiel der Kapitän Len Guy ein, »und das wird auch die »Halbrane« thun, ehe sie die kleine Insel Bennet und die Insel Tsalal erreicht – und der Himmel gebe seinen Segen, daß sie, wie die ›Jane‹ und die Schiffe Weddell's, dann ein eisfreies Meer vorfindet!«
»Wenn sich zur Zeit, wo wir dahingelangen, an der Grenze des Packeises noch zu viel Eis angehäuft hat,« sagte ich, »können wir ja davor in offenem Wasser warten.«
»Das wollen wir auch, Herr Jeorling, denn es ist rathsam, gleich segelfertig an Ort und Stelle zu sein. Das Packeis ist eine Mauer, worin sich eine Pforte oft ganz plötzlich öffnet und ebenso schnell wieder schließt. Da heißt es wachsam sein . . . sofort eindringen . . . ohne sich wegen der Rückkehr zu beunruhigen.«
Wegen der Rückkehr! daran dachte an Bord der »Halbrane« jetzt niemand.
»Forward!« Vorwärts! wäre jetzt der einzige Ruf aller Betheiligten gewesen.
Da machte Jem West folgende Bemerkung:
»Dank den Angaben in dem Berichte Arthur Pym's werden wir die Nichtanwesenheit seines Gefährten Dirk Peters nicht zu beklagen haben.«
»Das ist auch ein Glück,« meinte der Kapitän Len Guy, »denn ich habe den aus Illinois verschwundenen Mestizen nicht auffinden können. Die im Tagebuche Arthur Pym's enthaltenen Angaben über die Lage der Insel Tsalal müssen und werden uns schon genügen . . .«
»Wenn wir unsere Nachsuchungen nicht bis über den vierundachtzigsten Grad hinauf ausdehnen müssen,« wendete ich ein.
»Warum sollte das nöthig werden, Herr Jeorling, da die Schiffbrüchigen die Insel Tsalal ja nicht verlassen haben? . . . Ist das nicht deutlich aus den Aufzeichnungen Patterson's zu lesen? . . .«
Kurz, obwohl Dirk Peters nicht an Bord war – woran niemand zweifelte – würde die »Halbrane« ihr Ziel schon zu erreichen wissen, sobald nur nicht die drei Cardinaltugenden des Seemanns, Achtsamkeit, Unerschrockenheit und Ausdauer, außer Acht gelassen wurden.
Hier sah ich mich also in ein Abenteuer verstrickt, das meine früheren Reisen an Ueberraschungen weit zu überbieten versprach. Gewiß hätte das niemand von mir erwartet. Ich war hier aber von einer neuen Macht gefesselt, die mich dem Unbekannten entgegentrieb, dem Unbekannten in den Polargebieten, dem Unbekannten, dessen Geheimnisse so viele kühne Forscher vergeblich zu entschleiern versucht hatten! Doch wer konnte wissen, ob die Sphinx der antarktischen Gebiete jetzt nicht zum ersten Male zu menschlichen Ohren sprechen würde!
Ich vergaß jedoch nicht, daß es sich hier einzig um eine That der Menschenliebe handelte. Die Aufgabe, die sich die »Halbrane« stellte, ging ja dahin, den Kapitän William Guy und seine fünf Genossen zu erlösen, und um sie zu finden, folgte unsere Goëlette dem von der »Jane« eingeschlagenen Wege. Nachher konnte die »Halbrane« sofort nach den Meeren des alten Festlandes zurückkehren, da sie nach Arthur Pym und Dirk Peters nicht zu suchen brauchte, die ja – man weiß nur nicht wie – von ihrer außergewöhnlichen Fahrt heimgekehrt waren.
Im Laufe der ersten Tage mußten sich die neuen Mannschaften mit der Dienstordnung bekannt machen, und die alten – wirklich braven Leute – erleichterten ihnen das nach Kräften. Trotz der dem Kapitän Len Guy zur Verfügung stehenden nur beschränkten Auswahl, schien er doch eine glückliche Hand gehabt zu haben. Diese Matrosen von verschiedner Nationalität zeigten gleich viel Eifer wie guten Willen. Sie wußten übrigens, daß der Lieutenant nicht scherzte. Hurliguerly hatte ihnen zu verstehen gegeben, daß Jem West jedem, der vom rechten Weg abwich, den Schädel zertrümmern würde. Sein Vorgesetzter ließ ihm in dieser Beziehung volle Freiheit.
»Er ist gleich bei der Hand, die Höhe mit der Faust vor den Augen des andern zu messen!«
An dieser Art einer Mittheilung erkannte ich leicht meinen Hochbootsmann.
Die Neuen ließen sich das gesagt sein, und es machte sich auch keine Bestrafung nöthig. Hunt, der bei seinen Arbeiten die Gelehrigkeit des echten Seemanns an den Tag legte, hielt sich immer abgesondert, sprach mit niemand und schlief sogar in einer Ecke auf dem Verdeck, ohne seinen Platz im Volkslogis einnehmen zu wollen.
Die Temperatur war noch ziemlich niedrig. Die Leute trugen ihre dicken Jacken und wollene Hemden, nebst Hosen aus demselben Material und den undurchdringlichen Südwester aus getheertem Stoffe, der gegen Wind, Schnee und Regen so vortrefflich schützt.
Der Kapitän Len Guy beabsichtigte die Sandwich-Inseln als Ausgangspunkt nach dem Süden zu nehmen, nachdem er das achthundert Seemeilen von den Falklands gelegene Neu-Georgien angelaufen hatte. Die Goëlette befand sich dann, dem Längengrade nach, auf dem Wege der »Jane« und sie hatte diesen nur hinauf, das heißt, nach dem Südpole zu, zu fahren, um bis zum vierundachtzigsten Breitengrade vorzudringen.
Diese Fahrtrichtung brachte uns am 2. November nach der Stelle, wohin verschiedene Seefahrer unter 53°15' südlicher Breite und 47°33' westlicher Länge, die Auroras-Inseln verlegt hatten.
Nun, trotz der meiner Ansicht nach verdächtigen Versicherungen der Kapitäne der »Aurora« (1762), des »San Miguel«(1769), der »Pearle« (1779), des »Prinicus« und der »Dolores« (1790) und der »Atrevida« (1794), die eine Aufnahme der drei Inseln der Gruppe gemacht haben wollten – wir sahen keine Spur von Land auf der ganzen durchfahrenen Strecke. Ganz ebenso war es Weddell 1827 und William Guy 1827 ergangen.
Wir fügen hinzu, daß es sich mit den angeblichen Inseln des eiteln Glaß nicht anders verhielt. Wir haben an der bezeichneten Stelle auch nicht das kleinste Eiland entdecken können, obgleich der Ausguck nie vernachlässigt wurde. Es ist also zu befürchten, daß seine Excellenz der Gouverneur von Tristan d'Acunha nie die Freude haben wird, seinen Namen unter der geographischen Nomenklatur glänzen zu sehen.
Wir waren jetzt am 6. November. Das Wetter blieb günstig. Die Ueberfahrt schien schneller von statten zu gehen als die der »Jane«. Uebrigens brauchten wir nicht zu eilen. Wie ich schon gesagt habe, würde unsere Goëlette am Packeisrande voraussichtlich eher eintreffen, ehe sich darin eine Pforte öffnete.
In den nächsten Tagen wurde die »Halbrane« wiederholt von Windstößen getroffen, die Jem West veranlaßten, die obern Segel und die Jager einziehen zu lassen. Danach hielt sich das Schiff stetig sehr im Wasser und tauchte kaum merklich aus und ein, sondern hob und senkte sich gleichmäßig mit den Wellen. Bei diesen Segelmanövern gab die neue Mannschaft Proben von Gewandtheit, die ihr das warme Lob des Hochbootsmanns einbrachten. Hurliguerly erkannte dabei, daß Hunt, so täppisch er auch aussah, allein drei Mann werth sei.
»Eine vorzügliche Erwerbung!« sagte er zu mir.
»Ja,« antwortete ich, »und noch dazu eine, die sich zur rechten Zeit in letzter Stunde anbot.«
»Ganz recht, Herr Jeorling! . . . Doch welch' dicken Kopf er hat, dieser Hunt!«
»Draußen im fernen Westen hab' ich häufiger Amerikaner dieses Schlags getroffen,« erwiderte ich, »und es sollte mich gar nicht wundern, wenn dieser hier Indianerblut in den Adern hätte.«
»Na,« meinte der Hochbootsmann, »bei uns in Lancashire und in der Grafschaft Kent giebt's so manche, die sich mit ihm messen könnten.«
»Das glaub' ich Ihnen, Hurliguerly . . . so unter Anderm . . . Sie selbst!«
»O . . . vielleicht! . . . Man gilt eben was man werth ist, Herr Jeorling!«
»Plaudern Sie zuweilen mit Hunt?« fragte ich.
»Sehr wenig, Herr Jeorling. Was sollte man auch aus einem Seeigel herausbringen, der sich abseits hält und gegen niemand ein Wort spricht? . . . Am Munde dazu fehlt's ihm wahrlich nicht, der fast von Backbord bis Steuerbord hinüberreicht. Und mit so einem Werkzeuge sollte Hunt keine zusammenhängenden Sätze drechseln können? . . . Und dann . . . seine Hände! . . . Haben Sie seine Hände schon gesehen, Herr Jeorling? Nehmen Sie sich in Acht, wenn er damit die Ihrigen drücken wollte! . . . Ich glaube die Hälfte aller Finger würden Sie dabei los!«
»Nun, Hochbootsmann, der Hunt scheint mir zum Glück kein Streithengst zu sein. Alles weist darauf hin, daß er ein ruhiger Mann ist, der seine Körperkraft nicht zu mißbrauchen sucht.«
»Nein . . . außer wenn er sich vor ein Hißtau legt. Herr Gott, da fürcht' ich immer, die ganze Blockrolle kommt mit herunter und die Raa hinterdrein.«
Genannter Hunt war, wenn man ihn ordentlich betrachtete, ein recht sonderbarer Kauz, der wohl eine gewisse Aufmerksamkeit verdiente. Wenn er sich gegen die Drehbalken des Spills stemmte oder, am Hintertheile stehend, die mächtige Hand auf die Griffe des Steuerrades legte, beobachtete ich ihn öfters nicht ohne eine gewisse Neugier.
Andererseits schien es mir, als ob auch seine Blicke mit deutlicher Zähigkeit an mir hafteten. Er mußte ja wissen, daß ich als – einziger – Passagier an Bord der Goëlette war und unter welchen Verhältnissen ich mich entschlossen hatte, die Gefahren dieser Reise zu theilen. Die Vermuthung, daß er, vielleicht jenseits der Insel Tsalal und nachdem wir die Schiffbrüchigen von der »Jane« gerettet hätten, noch ein anderes Ziel verfolgte, als wir, war doch kaum zulässig. Der Kapitän Len Guy wiederholte auch immer und immer:
»Unsere Aufgabe besteht darin, unsere Landsleute zu retten. Die Insel Tsalal ist der einzige Punkt, der uns anlockt, und Gott gebe, daß wir nicht noch tiefer in die öden Polargebiete einzudringen brauchen!«
Am 10. November gegen zwei Uhr nachmittags meldete ein Ruf des Wachpostens:
»Land voran an Steuerbord!«
Eine gut ausgeführte Beobachtung hatte 55°7' der Breite und 41°13' östlicher Länge ergeben.
Das Land konnte kein anderes sein, als die Insel Saint Pierre – nach britischer Bezeichnung Süd-Georgia, Neu-Georgia oder Insel des Königs Georg – die ihrer Lage nach zu den circumpolaren Gebieten gehört.
Schon vor Cook wurde sie 1675 von dem Franzosen Barbe entdeckt; doch ohne Rücksicht darauf, daß er der Zeit nach nur der Zweite war, gab ihr der berühmte englische Seefahrer die Reihe von Namen, die sie noch heute führt.
Die Goëlette steuerte nun auf diese Insel zu, deren schneebedeckte Höhen – gewaltige Massen von Urgebirge, wie Gneis und Thonschiefer – durch den gelblichen Nebel des Luftraumes bis zwölfhundert Toisen (2340 Meter) aufsteigen.
Der Kapitän Len Guy wollte hier in der Bai Royale vierundzwanzig Stunden lang liegen bleiben, um frisches Wasser zu fassen, denn die Behälter im Laderaum erwärmten sich leicht zu sehr. Später, wenn die »Halbrane« im Treibeise segelte, war ja frisches, klares Süßwasser genug vorhanden.
Im Laufe des Nachmittags umschiffte die Goëlette das Cap Buller im Norden der Insel, ließ die Possessions- und die Cumberland-Bai an Steuerbord und drang nun in die Bai Royale ein, wo sie sich durch die vom Roß-Gletscher herabgestürzten Trümmer winden mußte. Um sechs Uhr sank der Anker bei sechs Faden Tiefe auf den Grund, und da es schon dunkel wurde, verschob man alles weitere bis zum nächsten Tage.
Neu-Georgia mißt in der Länge gegen vierzig Lieues (210 Kilometer) auf zwanzig Lieues in der Breite. Gegen fünfhundert Lieues von der Magellanstraße gelegen, gehört es mit zum Verwaltungsbezirk der Falklands-Inseln. Die britische Regierung wird hier übrigens von niemand vertreten, da die Insel ganz unbewohnt ist, obgleich sie, mindestens im Sommer, recht gut bewohnbar wäre.
Am folgenden Tage, als unsere Leute zur Aufsuchung einer Quelle auszogen, lustwandelte ich allein längs des Ufers der Bai Royale. Die Gegend war verlassen, denn wir befanden uns noch nicht in der Periode, wo manche Fischer hier den Robbenschlag betreiben; daran fehlte noch gut ein Monat. Der Einwirkung des südlichen Polarstromes völlig offen liegend, halten sich bei Neu-Georgia zu gewissen Zeiten große Mengen von Seesäugethieren auf. Ich sah schon mehrere Heerden auf dem Strande längs der Felsen bis tief in die Ufergrotten hinein gelagert. Lange Reihen von Pinguinen, die bewegungslos umherstanden, erhoben durch ihr Geschrei Einspruch gegen die Störung eines Eindringlings, das heißt meiner Person.
Von der Oberfläche des Wassers und vom Strande flatterten ganze Völker von Lerchen in die Höhe, deren Gesang in mir die Erinnerung an entfernte, von der Natur mehr begünstigte Länder wachrief. Es ist ein Glück, daß diese Thierchen keine Zweige zum Nisten brauchen, denn auf ganz Neu-Georgia giebt es keinen einzigen Baum. Da und dort vegetieren einzelne Phanerogamen, halb entfärbte Moose und vor allem die so üppig gedeihende Grasart, der Tuffock, die die Bergabhänge bis zu fünfhundert Toisen aufwärts bekleidet und die hinreichende Ernten liefern würde, zahlreiche Heerden zu ernähren.
Am 12. November ging die »Halbrane« mit ihren untern Segeln wieder in See. Nach Umschiffung der Charlotten-Spitze am Ende der Bai Royale steuerte sie in südsüdöstlicher Richtung auf die vierhundert Seemeilen von hier gelegenen Sandwich-Inseln zu.
Bisher waren wir noch keiner Eisscholle begegnet; die Sommersonne hatte sie vom Packeisrande oder den Küsten der Polarländer noch nicht abgelöst. Später trug die Strömung sie bis zum fünfzigsten Breitengrade – auf der nördlichen Erdhälfte dem von Paris und Quebeck – hinauf.
Der Himmel, dessen Klarheit abzunehmen begann, drohte, sich nach Osten hin mit Wolken zu beladen. Ein kalter, mit Regen und Graupelschauern auftretender Wind wehte mit ziemlicher Stärke, doch da er uns günstig war, hatten wir keine Ursache, darüber zu klagen. Es genügte, sich den Südwester etwas dichter um die Ohren zu ziehen.
Etwas belästigender waren die dicken Nebelbänke, die häufig den Horizont verhüllten. Da diese Gegenden aber noch keine Gefahren boten und ein Zusammenstoß mit Eisbergen oder Packeismassen nicht zu befürchten war, konnte die »Halbrane« ihre Fahrt nach Südosten auf die Sandwich-Gruppe zu ohne Besorgnis fortsetzen.
Durch die Nebel zogen große Völker laut kreischender Vögel, die trotz des Gegenwindes die ausgespannten Flügel kaum zu bewegen schienen, wie Sturmvögel, Taucher, Eisvögel, Seeschwalben und Albatrosse, die vom Lande wegflogen, als wollten sie uns den Weg zeigen.
Die dichten Nebel verhinderten den Kapitän Len Guy offenbar auch, im Südwesten zwischen Neu-Georgia und den Sandwichs, die von Bellingshausen entdeckte Insel Traversey zu sehen, ebenso wie die kleinen Inseln Welley, Polker, Prince's Island und Christmas, deren Lage, nach Fanning, der Amerikaner James Brown mit dem Schooner »Pacific« genau bestimmt hatte. Vor allem kam es uns ja aber nur darauf an, nicht an ihre Klippen zu stoßen, wenn der Gesichtskreis sich auf zwei bis drei Kabellängen beschränkte.
An Bord wurde deshalb der Ausguck streng durchgeführt und die Wachthabenden überblickten allemal sorgsamst das Meer, wenn eine vorübergehende Lichtung ihnen einen erweiterten Gesichtskreis bot.
In der Nacht vom 14. zum 15. leuchtete ein unbestimmter, flackernder Schein am westlichen Horizont auf. Der Kapitän hielt ihn für den Widerschein eines Vulcans – vielleicht von dem der Insel Traversey, dessen Krater oft von einer Flammengarbe bekrönt ist.
Da wir aber keine der lange anhaltenden Detonationen zu vernehmen vermochten, die jeden vulcanischen Ausbruch zu begleiten pflegen, schlossen wir, daß die Goëlette sich zur Zeit in beruhigender Entfernung von den Klippen jener Insel befinden müsse.
Eine Aenderung des Curses erschien also unnöthig, und so steuerten wir weiter auf die Sandwich-Inseln zu.
Der Regen hörte am Morgen des 16. auf und der Wind drehte sich um ein Viertel nach Nordwesten. Das war nur freudig zu begrüßen, denn damit mußten sich die Dunstmassen bald zerstreuen.
Gerade zu dieser Zeit glaubte der Matrose Stern, der zum Ausguck auf einem Querholz saß, einen großen Dreimaster zu erkennen, dessen Segelwerk sich vom nordöstlichen Himmel abhob. Zu unserm lebhaften Bedauern verschwand das Fahrzeug eher, als es uns möglich war, seine Nationalität festzustellen. Vielleicht war es eines der Schiffe von der Expedition Wilkes' oder ein Walfänger, der sich nach seinen Fangplätzen begab, denn Spritzfische zeigten sich hier in großer Menge.
Am 10. November um zehn Uhr morgens peilte die Goëlette den Archipel, dem Cook zuerst den Namen Südliches Thule gegeben hatte, als dem südlichsten Lande, das bis dahin entdeckt war und das er später Sandwich-Land taufte, mit dem Namen, den diese Inselgruppe auf den Seekarten behalten hatte und auch 1830 schon allgemein führte, als Biscoë von hier segelte, um weiter östlich eine Durchfahrt nach dem Pole zu suchen.
Seit jener Zeit haben gar viele Seefahrer die Sandwichs besucht, und die Fischer stellen in ihren Gewässern eifrig Walen, Pottfischen und Robben nach.
Im Jahre 1820 war der Kapitän Morel hier in der Hoffnung, Brennholz, das er nöthig brauchte, zu finden, ans Land gegangen. Der Kapitän hielt zum Glück nicht aus gleichem Grunde daselbst an. Es wäre auch vergebliche Mühe gewesen, denn das Klima dieser Insel macht jeden Baumwuchs unmöglich.
Wenn die Goëlette für achtundvierzig Stunden an den Sandwichs vor Anker ging, geschah es, weil es rathsam schien, alle Inseln des südlichen Erdtheils, auf die wir bei unserer Fahrt trafen, eingehend zu besichtigen. Patterson war ja auf einer Eisscholle hinweggetrieben, und das konnte doch auch dem oder jenem seiner Gefährten widerfahren sein.
Hier galt es also, nichts zu vernachlässigen, zumal da die Zeit uns nicht drängte. Von Neu-Georgia steuerte die »Halbrane« deshalb nach den Sandwichs, von hier sollte sie nach den New-South-Orkneys gehen und von da nach Ueberschreitung des Polarkreises geraden Wegs auf das Packeis zu segeln.
Geschützt von den Felsen der Insel Bristol, konnten wir noch am nämlichen Tage in einem kleinen, natürlichen Hafen der Ostküste landen.
Der unter 59° südlicher Breite und 30° westlicher Länge gelegene Archipel besteht aus mehreren Inseln, deren bedeutendste Bristol und Thule sind. Eine Anzahl anderer verdient höchstens die Bezeichnung als Eilande.
Jem West erhielt den Auftrag, sich mit dem großen Boote nach Thule zu begeben, um da alle zu einer Landung geeigneten Stellen abzusuchen, während wir, der Kapitän Len Guy und ich, am Strande von Bristol ans Land gingen.
Ein trauriges Stückchen Land, nur von Vögeln der antarktischen Länder bevölkert. Die dürftige Vegetation gleicht der von Neu-Georgia. Moose und Flechten bedecken den nackten, sonst unfruchtbaren Boden.
Hinter dem Strande erheben sich einzelne magere Föhren bis ziemlich weit an den Flanken der sehr zerrissenen Hügel hinauf, von wo zuweilen Geröll mit betäubendem Lärm herunterpoltert. Ueberall die abschreckende Einöde. Nichts verrieth die vorübergehende Anwesenheit eines menschlichen Wesens oder den Aufenthalt von Schiffbrüchigen auf der Insel Bristol. Die Ausflüge, die wir an diesem und dem folgenden Tage unternahmen, lieferten keinerlei Ergebniß.
Dasselbe galt von den Untersuchungen des Lieutenant West auf Thule, dessen furchtbar zerklüftete Küste dieser nutzlos besichtigt hatte. Einige, von unserer Goëlette abgegebene Kanonenschüsse hatten keine andere Wirkung, als daß sie Massen von Sturmvögeln und Seeschwalben von der Küste vertrieben und die Reihen der beschränkten Fettgänse am Strande einmal erschreckten.
Beim Umhergehen mit dem Kapitän Len Guy sagte ich gelegentlich zu ihm:
»Es ist Ihnen zweifelsohne bekannt, welche Ansicht Cook von der Sandwich-Gruppe, als er diese eben entdeckt hatte, hegte. Ganz zuerst glaubte er nach einem Festlande gekommen zu sein. Seiner Meinung nach lösten sich hier die Eisberge ab, die nachher von den Strömungen nach wärmeren Meeren getragen würden. Später erkannte er, daß die Sandwichs nur einen Archipel bildeten. Seine Vermuthung eines polaren Festlandes weiter im Süden hielt er aber trotzdem aufrecht.«
»Ich weiß das, Herr Jeorling,« antwortete der Kapitän Len Guy, »doch wenn es dieses Festland giebt, muß man annehmen, daß es einen tiefen Einschnitt hat, den, wohin Weddell und sechs Jahre später mein Bruder eindringen konnten. Daß unser großer Seefahrer diese Wasserstraße nicht auffand, da er über den einundsiebzigsten Breitengrad nicht hinauskam, das ist ja eine Sache für sich. Andere haben sie befahren und noch andere werden es thun . . .«
»Und zu denen gehören wir, Herr Kapitän . . .«
»Ja . . . mit Gottes Hilfe! Wenn Cook sich nicht scheute zu behaupten, daß niemand sich weiter als er selbst hinaufwagen und das Festland, wenn es dann wirklich vorhanden wäre, nie entdeckt werden würde, so wird die Zukunft lehren, daß er sich geirrt hat. Das vermuthete Land ist bis zum vierundachtzigsten Grade thatsächlich gesehen worden.«
»Und – wer weiß? –« fiel ich ein, »von dem waghalsigen Arthur Pym vielleicht gar bis noch weiter hinauf!«
»Ja . . . vielleicht . . . Herr Jeorling. Doch mit Arthur Pym persönlich haben wir hier nichts zu schaffen, da er wenigstens und mit ihm Dirk Peters nach Amerika zurückgekehrt ist.«
»Wenn er nun aber doch nicht zurückgekehrt wäre . . .«
»Diese Möglichkeit geht uns nichts an,« erklärte einfach der Kapitän Len Guy.